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Ein packendes neues Kapitel der Avatar-Chroniken. Dieser Roman mit Avatar Roku in der Hauptrolle spielt in der Welt von "Avatar: Der Herr der Elemente" und "Avatar: Die Legende von Korra". Roku hat nie damit gerechnet, dass er einmal der Avatar sein würde. Bei der Bekanntmachung des Feuerweisen zweifelt selbst sein bester Freund, Kronprinz Sozin aus der Feuernation. Immerhin ist er der stärkste Feuerbändiger seiner Generation, während Roku schon mit den grundlegenden Luftbändigerprinzipien zu kämpfen hat – selbst nach Monaten des Übens unter Schwester Disha, seiner Luftbändigermeisterin. Sozin erhält eine schwere Aufgabe: Er muss verhindern, dass das Erdkönigreich sich eine entlegene Insel der Feuernation einverleibt. Er bittet den neuen Avatar um Unterstützung, ist jedoch nicht überrascht, als Schwester Sisha rät, den Antrag abzulehnen. Roku ist jedoch überzeugt, dass der Erdkönig mit seiner aggressiven Expansion eine noch heimtückischere Agenda verfolgt; mithilfe eines lästigen jungen Luftbändigers namens Gyatso schleicht er sich davon. Auf ihrer Mission geraten die ungleichen Gefährten immer mehr auf Abwege und müssen schließlich begreifen: Die nebelumhüllte Insel birgt ein Geheimnis, das in den falschen Händen zu einer Katastrophe führen könnte. Avatar Roku wird von Selbstzweifeln gepeinigt, brennt jedoch darauf, sich den Gefahren zu stellen. Er muss lernen, wem er vertrauen kann und was es bedeutet, ein Geist keiner Nation zu sein … auch wenn die Lektion ihm einen hohen persönlichen Preis abverlangt.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2025
FÜR ALL JENE, DIE DIESE WELTERSCHAFFEN UND GELIEBT HABEN.
PROLOG
EIN GEIST KEINER NATION
DAS LOSLASSEN
EINE LÖSUNG
EIN BESUCHER
EINE CLEVERE REDEWENDUNG
EIN VERFRÜHTES ENDE DER ÄRA ROKUS
FÜR ALLE ANDEREN
ASCHE IN DER LUFT
WISSEN, UM ZU ZERSTÖREN
EINE ENTZÜCKENDE SCHLANGENLINIENTOUR
BEI DEN GEISTERN SCHWÖREN
NICHT SO DER VOGELTYP
DER BAUCH EINER RATTENSCHLANGE
EIN SCHMERZ SO TIEF
KNOCHEN IN DER ERDE
UNTER DEM FREMDEN HIMMEL
POLITISCHES FINGERSPITZENGEFÜHL
EIN WEITERER FALSCHER AVATAR
KONTROLLE
INFORMATIONSAUSTAUSCH
ROKU, ALLEIN
ERSCHRECKEND UND VERLOCKEND
ALLES FÜR NICHTS
SCHARFES MESSER
ERLÖSCHENDE GLUT
VON SOLCHEM VERFALL BETROFFEN
DER WEG DES GERINGSTEN WIDERSTANDS
LOKALE METALLE
MARODIERENDE BANDEN VON LUFTBÄNDIGERN
DER UNTERSCHIED
NICHT ALLEIN
FEUER, UM DEN GEIST ZU SCHMIEDEN
DER PLAN
DER ANGELPUNKT
DIE FALLE
DIE GUNST DER GEISTER
DIE MASCHINE
AUSATMEN
DIE WUNDERBAR GLATTE MELONE
SICH VOR DER WELT VERSTECKEN UND AUFS BESTE HOFFEN
DIE DRECKFRESSER
NICHT AUSREICHEND
IRREPARABEL
EIN GEIST ALLER NATIONEN
IHRE LETZTE TAT
DAS SCHICKSAL KNAPP VERFEHLT
SCHWINDENDE WÄRME
ZWEI DOCHTE
LASS DEN LEICHNAM ZURÜCK
UND DANN HAT SIE LOSGELASSEN
DRUCKMITTEL
ETWAS BEDEUTUNGSVOLLES
FORTWÄHREND WECHSELNDE STRÖMUNG
EPILOG
DANKSAGUNGEN
ZOSIN HASSTE FEIERN und diese bildete keine Ausnahme. Als Kronprinz der Feuernation wusste er, wie man den Schein wahrte und so tat, als amüsiere man sich – aber es fiel ihm schwerer als sonst, sein Lächeln aufrechtzuerhalten oder die Falschheit hinter seinem gezwungenen Lachen zu verbergen, während er sich mit Emporkömmlingen und Speichelleckern umgab, von denen es in den Gärten des Palasts anlässlich der abendlichen Festlichkeiten nur so wimmelte.
Was gab es denn auch zu feiern? Sicher, die Feuernation hatte nach Jahrhunderten endlich wieder den Avatar, für Zosin bedeutete das im Augenblick allerdings nichts anderes, als dass sein engster Freund am Morgen fortgehen würde.
Mit einem höchst fadenscheinigen Vorwand entzog er sich dem aktuellen Gespräch und entfernte sich. Unter den roten Papierlaternen schlenderte er dahin, spazierte durch die überfüllten Gärten, wich Gästen aus und erwiderte jeden Gruß mit dem kleinsten Nicken. Seine Eltern, Feuerlord Taiso und Lady Hazei, saßen an der großen Tafel und hielten Hof. Zosins Schwester, Prinzessin Zeisan, stand am Rand des Schildkrötenententeichs, in eine Unterhaltung mit ihrer Hauslehrerin für Wissenschaft vertieft, einer braunhäutigen Einheimischen der Ascheninsel, deren Verstand Gerüchten zufolge ebenso scharf und flink war wie ihr Seilspeer.
Zosin schnappte sich einen Kelch mit starkem Pflaumenwein, nahm einen Schluck und verkniff sich ein Husten, als die Flüssigkeit ihm die Kehle versengte. Den Rest des Getränks ließ er auf dem Kopf einer Löwenschildkrötenstatue stehen und entfernte sich dann von seiner Familie. Er wanderte durch den Skulpturengarten und durchs Heckenlabyrinth, bis er endlich Roku erspähte, unter dem uralten Bergginkgo in der Mitte des östlichen Hofs. Das Oberhaupt eines unbedeutenden Clans belagerte den neuen Avatar und versuchte gerade, ihm seine Tochter vorzustellen. Das Mädchen, das mürrisch aussah, konnte nicht älter als elf oder zwölf sein. Roku beherrschte es immer noch nicht, seine wahren Gefühle zu kaschieren: Ganz offenkundig wünschte er sich, der Situation zu entkommen, war jedoch zu freundlich und zu passiv, um sich loszueisen. Zosin würde ihn retten müssen.
»Ich bitte um Verzeihung«, unterbrach er das Gespräch, »aber ich muss Avatar Roku mal kurz entführen. Feuerlord Taiso verlangt nach seiner Aufmerksamkeit.«
»Natürlich, mein Prinz«, erwiderte der Mann und verbeugte sich tief, während ein Ausdruck der Erleichterung auf das Gesicht seiner Tochter trat.
»Es war mir eine Ehre«, sagte Roku hastig und folgte Zosin dann. »Irgendeine Ahnung, was dein Vater will?«
Zosin seufzte. Sein Freund war schon immer zu vertrauensselig gewesen. Diesen Fehler hatte Zosin stets als liebenswert empfunden, fürchtete nun jedoch, dass er Roku in seiner hohen Stellung eines Tages in Gefahr bringen könnte.
»Oh …« Roku kam langsam dahinter. »Der Feuerlord will mich gar nicht sehen.«
Zosin rollte mit den Augen. »Das Feuerwerk geht gleich los.«
Er führte Roku fort von den Festlichkeiten, an den Wachen vorbei und in den beglückend leeren Palast hinein. Ihre Schritte hallten, während sie durch die Gänge gingen und schließlich die Treppe des Südturms hinaufstiegen. Sie kletterten gerade aufs Dach, als über dem Krater die ersten Feuerwerkskörper explodierten.
Schweigend sahen sie zu, wie am Himmel bunte Blumen erblühten, und Zosins Gedanken wanderten zu seinem Vater und dessen Reaktion auf die Verkündigung der Feuerweisen, dass Roku der Avatar sei.
»Ich bin enttäuscht, dass du es nicht bist, jedoch nicht überrascht«, hatte Feuerlord Taiso zu ihm gesagt und Zosin hatte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn das verletzt hatte. »Du kannst unserer Nation dennoch von großem Nutzen sein. Hege diese Freundschaft wie ein Feuer und dann lerne, wie du sie deinem Willen unterwerfen kannst.«
Der Vorschlag – oder war es ein Befehl gewesen? – hatte ihm gar nicht gefallen. Roku war sein letzter noch verbliebener Freund und wahre Freunde manipulierten einander nicht. Er hatte jedoch nicht gewagt, dies seinem Vater zu sagen. Stattdessen hatte er einfach genickt und war folgsam weggetreten. Doch die Worte hingen in seinem Geist wie eine kratzige Klette im Gewand.
Ein besonders lauter Knall holte ihn in die Gegenwart zurück. Ringsherum regneten rote Lichtfunken nieder und in der kurzen Stille danach schaffte er es endlich, etwas zu sagen: »Ich weiß, dass du zu ängstlich bist, um mit Ta Min zu sprechen, aber das Mädchen, mit dem du unter dem Ginkgobaum geredet hast, schien mir ein bisschen jung für dich.«
Roku lachte. »Halt die Klappe.«
»Ich weiß nicht, warum du immer noch nervös bist. Wenn du je eine Chance bei Ta Min hattest, dann heute Abend. Wirklich unglaublich, wie jede infrage kommende Feuernationsbürgerin sich seit der Verkündigung bei dir einschmeichelt.«
»Ich reise morgen ab.« Roku ließ die Schultern hängen. »Was sollte das also jetzt noch bringen?«
»Hast wahrscheinlich recht.« Zosin stieß Roku den Ellenbogen in die Rippen. »Avatar oder nicht, hässlich bist du immer noch. Koh würde dein Gesicht nicht haben wollen, selbst wenn du’s ihm umsonst gibst.«
Roku stieß Zosins Ellenbogen weg. »Und es wäre ein Jammer, wenn du mit deinem hübschen Gesicht gleich vom Dach fällst.«
»Was für ein Licht würde es wohl auf den neuen Avatar werfen, wenn er den Kronprinzen ermordet?«
Roku zuckte mit den Schultern. »Ich sag einfach allen, dass ich das Gleichgewicht nur bewahren konnte, indem ich dich aus dem Gleichgewicht bringe.«
»Als ob du das könntest.«
Roku stand auf, krempelte dramatisch die Ärmel hoch und knöpfte sich den Kragen auf. Zosin grinste, erhob sich und begab sich ans gegenüberliegende Ende des Dachs. Sie verbeugten sich voreinander und gingen in Kampfstellung, als stünden sie sich zum Agni Kai gegenüber.
Fetzen von Musik und Gesprächen schwebten von der Stadt herauf, begleitet von gelegentlichem Gelächter. Ein Feuerwerkskörper schoss pfeifend durchs Dunkel aufwärts und zerbarst zu einer Blüte aus goldenen Lichtern, die flackernd und knisternd herabschwebten. Keiner von beiden schaute hin.
Zosin griff zuerst an, mit einer halbherzigen Feuerfaust. Roku fegte sie mit einem geschwungenen Tritt beiseite, doch als er sein Bein wieder senkte, glitt er aus und geriet auf dem Dach ins Rutschen.
Zosin packte ihn am Arm, während mehrere Ziegel, die sich durch die jähen Bewegungen gelöst hatten, über die Traufe segelten. Lautlos stürzten sie durch die Finsternis, bis sie einige Sekunden später auf dem Boden weit unter ihnen zersprangen. Beiden kam schlagartig die Erkenntnis, dass dies Roku hätte sein können. Sofort zog Zosin ihn wieder auf die Beine und sie ließen sich lachend auf den Hintern fallen.
Das Gelächter verebbte. Sie kamen wieder zu Atem. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
Roku seufzte. »Ich hab nie daran gedacht, dass ich es sein könnte. Klar, wir wussten alle, dass es jemand aus unserem Geburtsjahr und unserer Nation sein würde. Trotzdem. Es glaubt ja niemand ernsthaft, dass es ihn selbst treffen könnte, stimmt’s?«
Zosin schwieg.
»Vielleicht hätte ich zu den Feuerweisen sagen sollen: ›Nein, danke.‹«
»Das wäre bestimmt gut angekommen.« Zosin stützte die Hände hinter sich auf.
Roku lachte traurig in sich hinein.
»Du kriegst die Gelegenheit, dir die Welt anzusehen, Avatar Roku.«
Roku zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum. »Ich würde lieber hierbleiben.«
»Denk an all die Fähigkeiten, die du meistern wirst.«
»Mein Leben hätte nach der Akademie leichter werden sollen.«
»Denk an all die Erfahrungen, die du machen wirst«, entgegnete Zosin.
»Du meinst all die Schlachten, die ich schlagen muss.«
»Du wirst dich mit den Mächtigsten der Welt umgeben.«
Roku beugte sich zu Zosin herüber und schnippte gegen den goldenen Kopfschmuck, der seinen Haarknoten einfasste. »Dafür muss ich nirgendwohin, Prinz Zosin.«
Zosin stieß Rokus Hand weg. »Du wirst buchstäblich der mächtigste Mensch auf dem Planeten sein. Alles, was du machst, wird in die Geschichte eingehen.«
»Ist es denn so schlimm, sich nach einem einfachen Leben zu sehnen?«
»Wenn man zu Großem bestimmt ist, dann ja.«
Roku schnaubte. »Ich mach mir nichts aus Größe.«
Es entsprach der Wahrheit, das wusste Zosin. Rokus Mangel an Ehrgeiz war der Hauptgrund dafür, dass Zosin sich in seiner Gegenwart unbefangener fühlte als in der Gesellschaft von irgendeinem ihrer anderen Klassenkameraden. Dennoch stellte er fest, dass dieser Mangel an Dankbarkeit ihn zunehmend frustrierte. »Zumindest kommst du von deinen Eltern weg«, gab er zu bedenken.
Abermals seufzte Roku. Als er diesmal sprach, war es kaum mehr als ein Flüstern. »Zosin. Was, wenn … ich das nicht schaffe?«
»Was meinst du?«
Roku setzte zum Sprechen an, unterbrach sich und murmelte schließlich: »Ach, nichts. Egal.«
»Du wirst großartig sein«, sagte Zosin einen Herzschlag zu spät. »Falls das was mit deinem Bruder zu tun hat …«
»Hat es nicht.«
»Wenn du es sagst.«
Roku verlagerte leicht das Gewicht, um sich Zosin zuzuwenden. »Ich meine bloß … Wie machst du das?«
»Was denn?«, fragte Zosin, den Blick nach wie vor auf das Feuerwerk gerichtet.
»Nicht zu ersticken unter dem Gewicht der Erwartungen, die alle in dich setzen? Macht dir der Gedanke, so viel Verantwortung zu haben, keine Angst? Dass so viele Menschen sich auf dich verlassen? Ich fühl mich jetzt schon, als könnte ich nicht atmen, und ich hab gerade erst herausgefunden, wer ich bin. Du aber weißt es schon dein ganzes Leben und dir scheint es gut zu gehen.«
Zosin dachte über die Frage nach. Bei jedem anderen hätte er jetzt irgendeinen Witz gerissen: So etwas sei eben ein Klacks, wenn man dermaßen klasse sei wie er. Stattdessen suchte er nach einer ehrlichen Antwort. Obwohl sie einander extrem nahestanden, hatten sie nie darüber gesprochen, wie Zosin sich wegen seiner Bestimmung fühlte, schließlich hatte Roku bisher nie einen echten Grund gehabt, danach zu fragen.
»Wer sagt denn, dass ich keine Angst habe?«, antwortete Zosin schließlich.
»Du hast also welche?«
Zosin lachte. »Ständig.«
»Und wie gehst du damit um?«
»Ich tu so, als hätte ich keine. Das solltest du auch lernen.«
»Und das klappt?«
»Offenbar schon, wenn sogar mein bester Freund auf der ganzen Welt nichts davon merkt.«
Die Feuerwerkskörper wurden nun in rascher Folge abgefeuert und störten ihr Gespräch. Ein Knall nach dem anderen, der Abendhimmel ein Strauß flüchtig flackernder Flammen. Wortlos sahen Roku und Zosin zu, das Gesicht erhellt vom aufblitzenden Licht und die Ohren taub von dem lauten Zischen, Knallen und Knistern. Das Finale bildete ein gewaltiger Drache aus Feuer, der über den Himmel schoss, zum Viertelmond aufstieg und sich einen Herzschlag später auflöste. Einen Moment lang herrschte ehrfürchtiges Schweigen, dann brachen die Gäste in Beifall aus und bejubelten das Team talentierter Feuerbändiger, das für diese Darbietung verantwortlich war.
Allmählich verebbte der Applaus, und Gespräche, Musik und Gelächter begannen von Neuem, die Nachtluft zu erfüllen. Auf Rokus und Zosins Höhe hing allerdings noch der dicke graue Qualm des Feuerwerks, der die Sterne verdunkelte und den Geruch von Schießpulver mit sich trug.
»Wir sollten wieder zurückgehen«, sagte Roku nach einigen Minuten, »ehe dein Vater noch die panischen Diener hinrichten lässt, die er wahrscheinlich schon nach uns ausgeschickt hat.«
»Wenn das doch nur ein Witz wäre!« Zosin erhob sich und half Roku auf. »Ich lass dich erst mal packen und komme später zu dir aufs Zimmer, um mich angemessen von dir zu verabschieden. Die Geister wissen, dass ich am Morgen, während des Spektakels der offiziellen Abreise des Avatars, keine Gelegenheit dazu haben werde.«
»Sehr wohl, mein Prinz.« Roku verbeugte sich übertrieben und wäre dabei um ein Haar erneut in den Tod gestürzt.
Sie kletterten wieder übers Dach in den Turm. Zosin legte den Arm um Rokus Schulter, um seinen Freund aus dem Palast zu führen, womöglich zum letzten Mal.
Am nächsten Morgen versammelten sich alle im Schlosshof, um den historischen Moment zu bezeugen, wenn der erste Feueravatar seit Avatar Szeto abreiste, um seine Ausbildung zu beginnen. Zosin befand sich ganz vorn, gemeinsam mit der übrigen königlichen Familie, Roku, dessen Eltern und der zierlichen Luftnonne mit dem geschorenen Kopf, die nun Rokus Luftbändigermeisterin war. Hinter ihnen standen die Feuerweisen, die Generäle und die Oberhäupter der bedeutendsten Clans. Bürgerliche und Pilger füllten den Rest des Hofs, die Massen der Zuschauer erstreckten sich durch die Tore bis nach draußen. Über der ganzen Szene ragte der Palast auf und die Sonne erhob sich am klaren Himmel.
Zosin wartete, während Roku die vordersten Reihen abschritt und sich dabei durch die nach politischer Wichtigkeit geordneten Ränge vorarbeitete. Auf die meisten wirkte der neue Avatar vermutlich ruhig und gefasst – vielleicht sogar ein wenig arrogant –, während er jede Verbeugung erwiderte.
Doch Zosin konnte er mit dem gezwungenen Grinsen und der aufrechten Haltung nicht täuschen. Er versuchte lediglich, seinen Ratschlag zu befolgen und so zu handeln, wie er wahrgenommen werden wollte. Nicht Selbstvertrauen erfüllte ihn, sondern Furcht.
Zosin beobachtete, wie Roku von allen Abschied nahm: von den Feuerweisen, den höchstrangigen Beamten der Nation und den eigenen Eltern. Als er die königliche Familie erreichte und Prinzessin Zeisan Lebewohl sagte, zwang sich Zosin, breiter zu grinsen, und er legte sich seinen Abschiedsscherz für Roku parat: Er würde ihm sagen, dass sein Kopf bestimmt wie ein blasser, unförmiger Kohl aussehen würde, wenn die Luftnomaden ihn erst geschoren hatten.
Doch als Roku vor ihn trat und ihre Blicke sich begegneten, erstarrte Zosin.
Die Wirklichkeit traf ihn wie ein Schlag.
Sein Freund ging fort. Sein einziger wahrer Freund.
Die immense Verantwortung, die die Zukunft für sie beide bereithielt, würde sie gewiss in alle erdenklichen Richtungen zerren. Wann würden sie einander wiedersehen? Und unter welchen Umständen? Vielleicht würden sie auseinanderdriften. Sich verändern. Möglicherweise so sehr, dass sie sich bei ihrem Wiedersehen kaum wiedererkennen würden.
Womöglich würde Zosin nie wieder einen Freund wie Roku finden.
Feuerlord Taiso räusperte sich und riss ihn damit aus seiner Grübelei.
Zosin blinzelte und verneigte sich. Mit einem traurigen Lächeln erwiderte Roku die Geste und ging dann weiter zu Feuerlady Hazei. Als er Feuerlord Taiso erreichte, war es der neue Avatar, der zuerst das Haupt senkte – und Zosin entging nicht, dass ein Anflug von Ärger über die Miene seiner Luftbändigermeisterin huschte.
Nachdem Zosins Vater eine seiner weitschweifigen Reden gehalten hatte, folgte Roku der Luftbändigerin zu ihrem Himmelsbison am Rand des Hofs. Bevor er in den Sattel stieg, wandte er sich noch ein letztes Mal um. Sein Blick fand Zosin und er tippte sich an den goldenen doppelflügeligen Kopfschmuck, den er nun anstelle von Zosins trug. Es handelte sich um die Prinzenkrone, die bisher in der königlichen Familie weitergegeben und von jedem Thronerben getragen worden war, bis Zosin sie Roku geschenkt hatte, letzte Nacht, als sie sich endgültig Lebewohl gesagt hatten.
Roku dieses wertvolle Artefakt zu schenken, war Feuerlord Taisos Einfall gewesen. »Eine greifbare Erinnerung daran, wem seine wahre Loyalität gebühren sollte«, hatte er Zosin erklärt. »Eine Leine, wenn man so will.«
Zosin verspürte einen Anflug von Schuld, doch als er Rokus Geste mit einem kleinen Nicken erwiderte, sagte er zu sich selbst, dass er Roku den Kopfschmuck gegeben hatte, weil es ihm richtig erschienen war und nicht mit der Absicht, ihn zu manipulieren.
Roku wandte sich wieder um und stieg auf den Himmelsbison.
»Yip, yip!«, befahl die Luftnonne und das massige Tier erhob sich in die Lüfte, wobei es mit seinem breiten Schwanz schlug; die entstehende Bö schleuderte alle zurück, die sich zu nahe herangewagt hatten.
Zosin blickte dem Himmelsbison nach, der Roku und die Luftnonne weiter und weiter forttrug, immer höher in den Himmel hinauf. Ihre Silhouette schrumpfte, bis sie bloß noch ein Fleckchen am Horizont waren, das bald darauf in den Wolken verschwand.
Sein Freund war fort.
Auf dem Weg zum Südlichen Lufttempel, um dort als Luftbändiger ausgebildet zu werden, unterwegs Richtung Zukunft als Avatar.
Zosin entschuldigte sich und schob sich durch die Menge. Mit eingezogenem Kopf huschte er in den Palast, lief die langen Korridore entlang, wich dabei den richtenden Blicken der Porträts seiner Vorfahren aus und schlüpfte in sein Gemach. Er schob die Tür zu, setzte sich hin und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Position erforderte, dass er niemals öffentlich ein Zeichen der Schwäche erkennen ließ, doch nun, da er allein war, ließ er seine Maske fallen.
Sein Freund war fort.
Und sein Herz brannte lichterloh.
Einsam würde Zosin niemals sein, wenn er es nicht wollte. Er musste nur mit den Fingern schnippen, wenn es ihn nach einem Gegner für eine Partie Pai Sho verlangte, einem Trainingspartner oder Gesellschaft beim Abendessen. Er hatte jedoch früh herausgefunden, dass alle – abgesehen von Roku – etwas von ihm wollten. Sie waren allesamt Blutegel, die stets so nah wie möglich an die Macht herankrochen.
Zosin ballte die Hände zu Fäusten und ließ sie links und rechts von seinen Beinen herabfahren, womit er den Boden versengte.
Sein Freund war fort. Der einzige Mensch auf der Welt, zu dem er völlig ehrlich sein konnte.
Jetzt war er allein.
Verflucht sollten die Feuerweisen sein, die jene unwillkommene Kunde gebracht hatten!
Verflucht die Luftnomaden, die verlangt hatten, dass Roku in ihren Tempel zog!
Verflucht die Welt, die einem solche Freunde bescherte, nur um sie einem dann zu entreißen!
Je länger Zosin über seinen Verlust nachdachte, desto lauter hallten Rokus Worte des Vorabends in seinem Geist wider. Und desto heftiger züngelte die Flamme seines Kummers.
Roku hatte recht: Es hätte nicht ihn treffen sollen.
ROKU SCHNÜRTE die Schicht getrockneter Nipawedel fest, um das Dach zu vollenden, dann setzte er sich auf, um sein Werk hier oben auf der Hütte zu begutachten. Er war kein Baumeister – tatsächlich hatten seine Eltern dafür gesorgt, dass ihre Söhne niemals körperliche Arbeit verrichteten –, aber das hier sah ganz anständig aus. Zumindest hatte die Hütte Wände und ein Dach; zuvor hatte es sich bloß um einen Haufen gesplitterter Holzreste gehandelt, wie es bei nahezu jedem anderen Gebäude in diesem Fischerdorf am Meer der Fall gewesen war, als er mit den Luftnomaden vor fast zwei Wochen angekommen war, im Zuge eines der mächtigsten Taifune, die in jüngster Geschichte über das südwestliche Erdkönigreich hinweggefegt waren.
Sie alle waren in Schweigen verfallen, als ihre Himmelsbisons an jenem Tag durch die Wolken hinabgestoßen waren. Das Dorf hatte ein Bild der Verwüstung geboten. Kein einziges Bauwerk hatte noch gestanden. Trümmer hatten die Bucht und den sichelförmigen Strand übersät. Scharfkantige Baumstämme hatten aus dem Boden geragt wie abgebrochene Speere, während andere entwurzelt und über Land und See verstreut worden waren. Der kleine Hafen war zerstört gewesen, die Boote vom Sturm versenkt – und mit ihnen die Existenzgrundlage der Dorfbewohner. Das Ganze hatte den Anschein erweckt, als hätte ein rachsüchtiger Geist mit seinem gigantischen Arm über den Küstenstrich gewischt.
Die Luftnomaden und der neue Avatar waren eilig zu Hilfe gekommen, die Sättel ihrer Himmelsbisons mit so viel Nahrung, sauberem Wasser, Medizin und anderen Versorgungsgütern beladen, wie die großen Tiere tragen konnten. Roku hatte sie schon den ganzen Sommer über auf eine humanitäre Reise nach der anderen begleitet. Dennoch hatte ihn Hoffnungslosigkeit überspült angesichts der Verheerung und der Arbeit, die vor ihnen gelegen hatte.
»Warum ziehen sie nicht einfach woanders hin?«, hatte er seine Luftbändigermeisterin gefragt, eine kleine und zarte ältere Frau namens Schwester Disha, die ihren tätowierten Kopf komplett kahl ließ, statt sich nur die vordere Hälfte zu rasieren wie die meisten anderen Luftnonnen, die Roku bisher gesehen hatte.
Schwester Disha hatte ihm geduldig geantwortet, während sie ihren Himmelsbison Amra auf eine Lichtung außerhalb des Dorfs zugesteuert hatte. »Dies ist ein armes Dorf, Avatar Roku. Viele der jüngeren Generation sind bereits fortgegangen, um in Gaoling, Omashu oder den anderen Städten Arbeit zu finden, und jene, die noch hier sind, haben nicht die Mittel, um anderswo von vorn anzufangen. Und selbst wenn sie sie hätten, bezweifle ich, dass sie es tun würden.«
»Aber warum?«
»Dies ist ihr Zuhause.«
Dieses Argument hatte Roku ausnahmsweise einmal besser verstanden als jeder Luftnomade. »Und was wird passieren, wenn die ältere Generation stirbt?«
»Vermutlich stirbt dann auch das Dorf«, hatte sie in ebenmäßigem Ton erklärt. Dann hatte sie seinen unzufriedenen Blick bemerkt. »Alles in dieser Welt ist vergänglich.«
Und so hatten sich die Dorfleute – mit der Hilfe der Luftnomaden und ihrer Himmelsbisons – an die Arbeit gemacht. Vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang, in der Hitze des Spätsommers, hatten sie gemeinsam geputzt, geräumt, geschleppt, begraben, repariert, neu gepflanzt und wiederaufgebaut. Was die Dörfler Monate gekostet hätte, wenn sie das alles allein hätten erledigt müssen, hatte auf diese Weise nur ein paar Wochen gedauert. Es gab immer noch einiges zu tun, aber nun, da der Großteil des Wiederaufbaus geschafft war und die Saison zu Ende ging, würden die Luftnomaden zum Südlichen Lufttempel zurückkehren.
»Sieht gut aus.« Gerade kam Schwester Disha aufs Dach geschwebt, um sich Rokus Werk anzusehen. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. »Die Familie wird sich bestimmt freuen, dass sie aus ihrem Zelt ausziehen kann.«
»Ich hätte Zeit gehabt, noch viel mehr Familien glücklich zu machen, wenn du mir schon ein bisschen Luftbändigen beigebracht hättest.« Roku nickte in Richtung einer jungen Luftnomadin, die mithilfe ihrer Bändigerfähigkeiten ein Dutzend Palmwedel in Sekundenschnelle an die richtige Stelle blies.
Schwester Disha sank wieder zum Erdboden. »Um zu fliegen, muss man zuerst lernen, sich vom Erdboden zu trennen.«
Roku seufzte und stieg die Bambusleiter hinab. Mit dem Saum seiner safranfarbenen und gelben Robe wischte er sich den Schweiß von der Stirn, band sich das Haar frisch zusammen und setzte sich den Kopfschmuck wieder auf, den Zosin ihm geschenkt hatte. »Fangen wir mit den Lehrstunden an, wenn wir wieder im Südtempel sind?«
»Sie haben bereits begonnen.«
Roku lachte, seine Luftbändigermeisterin hingegen verzog keine Miene. »Ich will nicht respektlos erscheinen, Schwester Disha, doch bisher haben wir nichts anderes gemacht, als von einer Hilfsmission zur nächsten zu sausen. Ich weiß jetzt, wie man Hosen flickt, Eintöpfe umrührt, Wunden verbindet, Hütten repariert, Vorräte verteilt – aber das war’s.« Roku schwang den Arm, die Imitation einer Grundbewegung des Luftbändigens. Nichts geschah.
»Sind diese Fähigkeiten denn unbedeutend?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Roku ohne Überzeugung. »Aber ich bin nicht hier, um eine Ausbildung zum …«
Schwester Disha wartete ab, wie Roku seinen Gedanken zu Ende bringen würde. Als er es nicht tat, hakte sie nach: »Ja?«
Roku zögerte, der Frust trieb ihm die Antwort schließlich über die Lippen. »Um eine Ausbildung zum Diener zu machen.«
Über das Gesicht der Luftnonne huschte ein Ausdruck der Enttäuschung. »Gehen wir ein Stück spazieren, Avatar Roku.«
Sie begaben sich auf den Hauptfußweg. Leute nickten ihnen zu oder starrten sie einfach nur an, während sie den Avatar und seine Luftbändigermeisterin vorübergehen sahen, und Roku versuchte, ihre Grüße mit der gebotenen Würde zu erwidern. Sie passierten die neuen Hütten, die neue Schule, den neuen Tempel und die neuen Stände des wiederaufgebauten Fischmarkts, bis sie schließlich den Strand erreichten, wo frisch gezimmerte Boote schwankten, deren Bambusausleger sacht aufs Wasser patschten. Eine Gruppe aus Luftnomaden- und Erdkönigreichskindern rannte vorüber. Sie lachten und wirbelten Sand auf, während sie einem runden Dutzend Schildkrötenentenküken hinterherjagten.
Es wehte ein schwacher Wind und über dem Horizont hingen Sturmwolken. Schwester Disha schaute auf die Wellen hinaus, die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt. Und verharrte in dieser Position. Roku kreuzte die Arme vor der Brust und senkte den Blick zum Sand; in der Nähe offenen Wassers war ihm nach wie vor unwohl. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während er darauf wartete, dass sie etwas sagte. Er war noch nicht an die langen Phasen der Stille gewöhnt, mit denen die Luftnomaden ihre Unterhaltungen würzten.
Roku wusste nichts mit sich anzufangen; schließlich wanderte seine Aufmerksamkeit zu seinen wunden Füßen, den schmerzenden Armen, seinem fettigen Haar und dem leeren Magen. Wie sehr sehnte er sich nach dem Palastbad, in dem Zosin und er nach dem Training meist mehrere Stunden verbracht hatten. Sie hatten in Wannen voll dampfendem Wasser gelegen, Tee getrunken und angebrütete Schildkrötenenteneier genascht, während Diener ihnen die Nägel gekürzt, das Haar gebürstet und die Schultern massiert hatten. Wenn dieses Gespräch mit Schwester Disha vorbei war, hatte er kaum etwas, worauf er sich freuen konnte – höchstens ein Lagerfeuer, das er selbst von Hand würde entzünden müssen, ein weiteres fleischloses Mahl, einen abgewetzten Schlafsack und ein hartes Stück Boden.
Die Geduld ging ihm aus und er brach das Schweigen. »Warum tun wir nicht mehr?«
Schwester Disha dachte über seine Frage nach. »Mehr wovon?«
»Mehr Gutes.«
»Und wie definierst du ›Gutes‹?«
»Fortschritt«, antwortete er, diesmal ohne zu zögern.
»Erzähle mir mehr.«
»Wie du selbst gesagt hast, befindet sich dieses Dorf im Niedergang. Trotz all der Arbeit, die wir in den Wiederaufbau gesteckt haben, wird es zusammen mit seinen Ältesten verschwinden – oder beim nächsten Taifun.«
Schwester Disha widersprach ihm nicht.
»Wir könnten einen Fonds ins Leben rufen, zu dem jede Nation einen Beitrag leisten kann. Dann könnten wir das Geld verwenden, um Katastrophenhilfe zu leisten und dabei noch Dörfern wie diesem unter die Arme zu greifen«, schlug Roku vor und gab sich Mühe, überzeugter zu klingen, als er sich fühlte. Aber es war eine schlaue Idee – eine, die seinem geschäftsbesessenen Vater hätte einfallen können. »Wir helfen ihnen, Boote zu bauen, die mit den größeren Schiffen aus Gaoling mithalten können. Bringen ihnen bei, Händler zu sein statt bloß Fischer. Bieten jenen Kredite an, die ein neues Unternehmen ins Leben rufen wollen. Im Wesentlichen geben wir somit denen, die fortgegangen sind, einen Grund zurückzukehren, und denen, die noch hier sind, einen Grund zu bleiben. Innerhalb einer Generation könnte das hier ein geschäftiger Handelshafen sein.«
Schwester Disha, die im Stehen einen ganzen Kopf kleiner als Roku war, hielt den Blick auf die Wellen gerichtet. »Ein interessanter Plan. Aber was werden wohl die Oberhäupter davon halten, dass man ihre Ressourcen benutzt, um die Wirtschaft anderer Nationen in Schwung zu bringen?«
»Solange wir alle gleichermaßen unterstützen, glaube ich nicht, dass sie etwas einzuwenden haben.«
»Hmm.«
»Was?«, fragte Roku, bereit, seinen Einfall zu verteidigen.
»Dann sollen wir das also überall auf der Welt machen?«
»Wo auch immer diese Hilfe gebraucht wird.«
»Und wer bestimmt darüber, wo sie gebraucht wird?«
»Das machen wir.«
»Du und ich?«
Roku brauchte einen Moment, bis ihm die Lösung einfiel. »Der Ältestenrat jedes Lufttempels könnte das für die jeweilige Region tun. Ich – als der Avatar – könnte helfen, wenn es nötig ist.«
Schwester Disha nickte. »Das klingt vernünftig. Aber wer verwaltet die Geldmittel?«
Roku geriet ins Stocken, als ihm die Tragweite und die Vielschichtigkeit seines Unterfangens bewusst wurden. »Ebenfalls die Räte, nehme ich an. Nein, warte … Wie wäre es mit einer Gruppe aus Repräsentanten jeder Nation?«
»Und wie werden diese Repräsentanten bestimmt?«, drängte die Luftnonne. »Wer wählt aus, welche Anträge angenommen werden? Wer setzt die Verträge auf? Bildet die Leute dafür aus?«
Diesmal wusste Roku keine Antwort mehr. Sie hatte ihm ihren Standpunkt klargemacht.
»Wer überwacht die Geschäfte? Prüft die Konten? Beurteilt die Auswirkungen auf das Menschenreich und die Geisterwelt? Schlichtet in Streitfragen? Befasst sich mit etwaigem Missbrauch der Mittel?«
Eben hatte Roku angesichts seiner Klugheit noch aufkeimenden Stolz empfunden, doch die Nonne erstickte das Gefühl mit ihren Fragen im Handumdrehen.
»Und aus dem Grund bist du noch nicht bereit zum Luftbändigen«, erklärte Schwester Disha. »Du hast noch nicht gelernt, den Erdboden zurückzulassen.«
Rokus Schultern spannten sich an. »Und das heißt?«
»Du denkst noch immer wie ein Bürger der Feuernation.«
»Ich bin ein Bürger der Feuernation.«
»Du bist der Avatar«, berichtigte sie ihn mit der beißenden Enttäuschung einer Lehrerin, deren Schüler ständig daran scheiterte, eine offensichtliche Lektion zu erfassen.
Roku sank vor Scham in sich zusammen und fragte sich, ob sie es schon bedauerte, dass sie ihr Leben im Östlichen Lufttempel aufgegeben hatte, um ihn auszubilden.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und sprach in milderem Ton weiter. »Wenn du ein guter Avatar sein willst, musst du begreifen, dass du ein Geist keiner Nation bist. Ein Geist mit dem einzigen Daseinszweck, das Gleichgewicht innerhalb der Welten und zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Aber du brauchst Geduld, vor allem mit dir selbst. Die Geschichte lehrt uns, dass dies besonders Feueravataren schon immer besonders schwergefallen ist.«
»Wie Szeto?«, fragte Roku.
»Wie Szeto«, bestätigte Schwester Disha und zog ihre Hand zurück.
Sie brauchte es nicht weiter auszuführen. Sobald Roku im Südlichen Lufttempel angekommen war, hatte er damit begonnen, jede verfügbare Schriftrolle über seine vorigen Leben zu verschlingen, begierig, mehr über seine Rolle zu erfahren. Avatar Szeto – der auch dem Feuerlord als Großer Ratgeber gedient hatte – wurde in der Feuernation verehrt, doch die Historiker der anderen Nationen schätzten ihn nicht in gleichem Maße. Jede Institution, bei deren Gründung er geholfen, jedes Protokoll, an dem er mitgewirkt, und jede Entscheidung, die er beeinflusst hatte, war ihrer Ansicht nach von seiner Befangenheit beeinflusst gewesen. Sie warnten, dass dies mit den Jahren noch offenkundiger zutage treten würde – und die Konsequenzen würden desaströs sein. Roku empfand diese Einschätzung als ungerecht; Schwarzmalerei, die sich auf zu wenig Belege berief und übermäßig von Spekulationen abhing.
Die Kinderschar, die zuvor an ihnen vorbeigelaufen war, kehrte zurück und holte Roku wieder in den Augenblick zurück. Diesmal waren jedoch die Schildkrötenentchen die Jäger. Lachend rannten die Kinder ins Wasser, als hätten sie vergessen, dass ihre winzigen Angreifer schwimmen konnten.
Schwester Disha lachte.
Roku gelang es allerdings nicht, den Kummer über sein Versagen so rasch zu überwinden. »Und wie lerne ich dann, die Verbundenheit zu meiner Nation loszulassen?« Die Frage war aufrichtig gemeint. Er wollte ein guter Avatar sein – er war nur nicht wirklich überzeugt, dass er das Zeug dazu hatte.
Ihr Lächeln wurde breiter, während sie weiter den Kindern zusah, die jetzt aus gespielter Furcht kreischten, während sie die vorrückenden Krötenentchen ausgelassen nass spritzten. »Geh eine Runde schwimmen.«
Roku zog eine Augenbraue hoch. »Ich soll schwimmen?«
Schwester Disha nickte.
»Das meinst du doch nicht ernst«, sagte er.
Statt zu antworten, zog sie ihre äußere Robe aus, womit sie die blauen Pfeiltattoos fast vollständig entblößte, die über ihre Arme und Beine, den Rücken hinauf und über ihren Kopf hinweg verliefen.
Sie trug noch ihre Unterwäsche, dennoch wandte Roku den Blick ab. Zwar lebte er schon lange genug unter Luftnomaden, um zu wissen, dass sie absolut keine Scham hinsichtlich ihres Körpers kannten, aber doch zu kurz, um sein aus der Feuernation mitgebrachtes Gefühl für Schicklichkeit abzulegen, besonders wenn es um Frauen ging.
Die Luftnonne beachtete ihn gar nicht. Sie faltete ihre Robe säuberlich zusammen und legte sie neben sich in den Sand. Dann lief sie lachend den Strand hinunter. »Ich rette euch!«, rief sie den Kindern zu und hechtete ins Wasser, begleitet von einem sanften Luftstoß, bei dem die Krötenentchen mit den Flügeln flatterten und ärgerlich quakten.
Roku blieb am Ufer stehen und beneidete sie alle. Wie sie sich bewegten: als würden sie keinerlei Sorgen kennen, als wären sie frei.
AN DIESEM ABEND kamen alle noch einmal zusammen, um die letzten gemeinsamen Stunden zu feiern, ehe die Luftnomaden und der Avatar bei Tagesanbruch zum Südlichen Lufttempel zurückkehren würden. Ansprachen wurden gehalten und Gebete rezitiert, es gab ein gemeinsames Mahl, Geschichten, Gedichte, Musik und Tanz. Den Abschluss des Festes sollte eine Rede des Avatars bilden. Der jedoch befand sich nicht unter den Feiernden.
Roku hatte den Abend allein verbracht, unter einer Palme außerhalb des Dorfs, wo er meditiert hatte. Zumindest glaubten das alle. Es handelte sich um eine Ausrede, von der er oft Gebrauch machte – und die sich unter Luftnomaden nie überstrapazieren ließ. Lügen mochte er überhaupt nicht und fühlte sich stets mulmig dabei. Aber das milde Unbehagen der Schuld war immer noch besser, als länger denn nötig den Avatar zu spielen.
Tatsächlich war er damit beschäftigt, Jinpas Die Leben des Avatars im Licht einer kleinen Flamme in seiner Handfläche erneut durchzulesen. Er konzentrierte sich auf den einleitenden Abschnitt zu jedem Avatar, in dem beschrieben wurde, wie man ihn identifiziert hatte. Je weiter das Leben eines Avatars zurücklag, desto spärlicher waren die Details, doch das Muster war hinreichend klar zu erkennen. Manche, wie Szeto und Yangchen, hatte man früh entdeckt, weil sie ein zweites Element gebändigt oder eine andere der spirituellen Gaben des Avatars zur Schau gestellt hatten. Andere, wie Kuruk, waren von den geistlichen Führern ihrer Nation erkannt worden, die mit ihrer Verkündigung gewartet hatten, bis der Avatar den Kinderschuhen entwachsen war. In solchen Fällen war nicht viel Zeit vergangen, bis der Avatar die Ausbildung aufgenommen und sich selbst bewiesen hatte.
Die Geschichte von Rokus Vorgängerin stellte allerdings eine Anomalie dar. Das Erdkönigreich hatte einen mächtigen Erdbändiger namens Yun als Avatar identifiziert, einen Jungen aus einfachen Verhältnissen. Doch sie hatten sich geirrt, denn schließlich hatte sich Yuns Hausmädchen Kyoshi als der wahre Avatar erweisen. Im weiteren Verlauf war sie zu einem der größten Avatare der Geschichte herangewachsen und hatte mehr als zweihundert Jahre gelebt. Yun hingegen würde auf ewig als der falsche Avatar bekannt sein, der dem Wahnsinn anheimgefallen war.
Seit der Verlautbarung durch die Feuerweisen fragte sich Roku, ob man sich auch bei ihm vertan hatte. Vielleicht hätte die Wahl eigentlich auf seinen Bruder oder Zosin fallen sollen – sie waren alle am selben Tag geboren worden. Was zwischen Yun und Kyoshi vorgefallen war, mochte durchaus ein Zeichen dafür sein, dass das Menschenreich und die Geisterwelt auseinanderdrifteten und Roku bloß ein weiterer falscher Avatar war. Als er diesen Sorgen Ausdruck verliehen hatte, waren die Feuerweisen spöttisch darüber hinweggegangen. Das Scheitern des Erdkönigreichs, so hatten sie ihm versichert, spiegele lediglich die Korruption und die spirituelle Unzulänglichkeit ihrer Anführer wider. Die Methode der Feuernation – bei der beschriftete Knochen verbrannt und die entstandenen Risse gedeutet wurden – sei rein und unfehlbar.
Zwar hatte sich Roku bereits als versierter Feuerbändiger erwiesen – in ihrer Klasse in der Akademie war ihm lediglich Zosin überlegen gewesen –, trotzdem war es ihnen mit ihren Beteuerungen nicht gelungen, seine Selbstzweifel zu zerstreuen. Nicht nur war Roku daran gescheitert, die anderen Elemente zu bändigen, er hatte auch vergeblich versucht, mit der Geisterwelt zu kommunizieren oder eine Verbindung zu seinen vorigen Leben herzustellen.
Entschlossen, es noch einmal zu probieren, ließ Roku das Feuer in seiner Hand ausgehen und legte die Schriftrolle beiseite. Er beäugte ein kleines Blatt ein paar Schritte vor ihm auf dem Boden und holte tief Luft. Mit angehaltenem Atem konzentrierte er sich darauf, seine Energie in der gleichen Weise zu lenken, wie er es beim Feuerbändigen tat. Dann stieß er die Luft lang und kraftvoll durch den Mund aus.
Das Blatt rührte sich nicht.
»Vorsicht«, sagte jemand ganz in der Nähe. »Ich glaube, einen weiteren Taifun übersteht das Dorf nicht.«
Roku blickte auf und entdeckte einen grinsenden Luftnomaden, der sich auf seinen Stab stützte. Der blasse, kahlköpfige Junge trug eine verschlafene Miene und wirkte klein und dürr. Er hatte seine Pfeile noch nicht, was nicht überraschend war, denn er schien zumindest ein paar Jahre jünger zu sein als Roku.
Roku hatte den Jungen schon öfter gesehen und wusste, dass er Gyatso hieß, richtig unterhalten hatten sie sich allerdings noch nie. Den Aussagen der anderen zufolge hatte er wohl Schwierigkeiten mit dem Luftbändigen und Schwester Disha besaß ein besonderes Interesse daran, ihm zu helfen – ein Interesse, das wahrscheinlich der Ausbildung des Avatars hätte vorbehalten sein sollen.
»Willst du mir zeigen, wie es geht?«, fragte Roku, womit er Salz in die Wunde streute, von der sie beide wussten.
Gyatso ignorierte die Frage und gab sich ungerührt. »Ich soll dir von Schwester Disha ausrichten, dass du deine Rede nicht mehr halten musst.«
Rokus Augen wurden groß. »Im Ernst?«
»Nö, im Unernst. Natürlich musst du sie halten, und zwar jetzt. Außerdem hoffe ich wirklich, dass diese Rede besser wird als deine letzte. Versuch wenigstens, den Namen dieses Dorfs richtig auszusprechen.«
»Pah! Letztes Mal war’s wirklich kalt.« Roku sammelte seine Sachen zusammen und stand auf. »Und Wasserstammnamen sind eben schwer auszusprechen.«
»Klar – für gewisse Leute. Aber sag mal ehrlich: Du kennst doch den Namen, oder?«
Mit wachsender Verärgerung wechselte er das Thema, während sie sich auf den Rückweg machten. »Stimmt es eigentlich, dass dein Luftbändigen ohne Grund einfach nicht mehr klappt?«
»Es gibt einen Grund«, murmelte Gyatso.
»Und der wäre?«
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Warum nicht?«
»Weil du ein verwöhnter Fratz aus der Feuernation bist«, sagte Gyatso, und obwohl er sich Mühe gab, es leichthin zu sagen, spürte Roku einen Unterton echter Feindseligkeit.
»Na, hör mal! Ich hab gedacht, Luftnomaden sind immer nett und sanftmütig.«
»Und mein Luftbändigen hat auch nicht komplett den Geist aufgegeben«, fügte Gyatso hinzu, ohne auf Roku einzugehen. »Es klappt nur manchmal nicht.«
»Deswegen hab ich dich also noch nie deinen Gleiter benutzen sehen.«
»Genau. Dass die eigenen Fähigkeiten versagen, kann man am allerwenigsten gebrauchen, wenn man sich gerade hundert Meter über der Erde befindet.«
Bald erreichten sie den Dorfplatz. Schweigen senkte sich über die Menschen und alle Blicke hefteten sich auf Roku, als er sich näherte. Die Menge teilte sich, damit der Avatar zu Schwester Disha und den Dorfältesten treten konnte, in der Mitte, unter einem sternlosen Himmel.
Er nahm seinen Platz ein und musterte die Leute, die sich vor ihm versammelt hatten. Gyatso stand hinten in der letzten Reihe, hüpfte auf und ab und schnitt Grimassen – aber Roku ignorierte ihn und stellte sich aufrechter hin. So tun, als ob. Wie Zosin. Das hätte er alles unter Kontrolle. Innerlich wand er sich unter den eindringlichen Blicken aller Anwesenden.
»Denk daran«, hatte Schwester Disha vor seiner ersten Rede zu ihm gesagt, um seine Nerven zu beruhigen, »du bist Kyoshi. Du bist Kuruk. Du bist Yangchen. Du bist Szeto. Und so weiter, ganz bis zum Anfang zurück. Ihre Errungenschaften sind deine Errungenschaften.«
Roku hatte ernst genickt, auch wenn der Gedanke ihm keine sonderlich große Zuversicht beschert hatte.
Nun, da er wieder vor einer Menge stand, drückte er die Faust gegen den Ballen der anderen Hand und verbeugte sich. Dann räusperte er sich. »Der Sturm hat versucht … ähm … diesen Ort zu vernichten.« Der Name des Dorfs wollte ihm nicht einfallen. »Aber das hat er nicht geschafft, stimmt’s? Wir haben zusammengearbeitet und ihn wieder aufgebaut.« Er öffnete den Mund, um mehr zu sagen – aber mit einem Mal war sein Kopf völlig leer. Er klappte den Mund wieder zu.
Die Stille dehnte sich aus, während die Menge wartete, dass er fortfuhr.
Menschen traten von einem Fuß auf den anderen. Jemand kratzte sich am Arm. Jemand räusperte sich. Jemand hustete.
Als Roku einen Blick zu Schwester Disha hinüberwarf, nickte sie ihm leicht zu, um ihn zu ermutigen. Erneut wandte er sich seinem Publikum zu. »Und das … zeigt dann wohl, dass … Zusammenhalt echt wichtig ist, was?«
Irgendwer weiter hinten prustete los – mutmaßlich Gyatso.
»Kann ich jetzt wieder spielen gehen?«, flüsterte ein kleines Mädchen etwas zu laut.
»Sei still«, erwiderte der Vater. »Der Avatar spricht noch … glaub ich.«
Doch Roku verneigte sich ein weiteres Mal. »Vielen Dank«, schloss er und vergaß diesmal vollkommen, mit tieferer Stimme zu sprechen.
»Das ist alles?«, fragte jemand.
Hier und da klatschten einige, dann wurden die Gespräche fortgesetzt. Die Dorfleute und die Luftnomaden begannen, sich voneinander zu verabschieden. Nachdem die Ältesten der Reihe nach dem Avatar für seine Unterstützung gedankt hatten, kam Schwester Disha herüber. »Mit Übung wirst du besser.«
Roku seufzte. »Wörter sind nicht so meins. Vielleicht kann ich die Art von Avatar sein, der seine Taten für sich sprechen lässt. Umso mehr Grund, mit dem Luftbändigen anzufangen, stimmt’s?«
Die Luftnonne legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Unser Atem verleiht sowohl unseren Worten als auch unseren Taten Leben. Schenke beidem Bedeutung.«
Die Luft wurde dünner und kühler, als sich das Patola-Hochland am Horizont abzeichnete. Die steilen, säulenartigen Gipfel und schartigen Kämme der Gebirgskette ragten in der Ferne über die Wolken hinaus wie ein Archipel steinerner Inseln, besprenkelt mit dem letzten Grün des Sommers.
Überall am Himmel reckten Luftnomaden auf ihren Himmelsbisons den Hals und begannen, aufgeregt zu schnattern. Schwester Disha und Roku hingegen blieben ungerührt – Erstere wahrscheinlich, weil sie das Prinzip der Loslösung gemeistert hatte, Letzterer hingegen, weil dies nicht seine Heimat war. Gyatso – Schwester Disha hatte ihn bei ihnen mitfliegen lassen – wurde unterdessen immer mürrischer.
Selbst Amra flog jetzt Schleifen und weite Bögen, während sie zwischen den vertrauten Gipfeln hindurchschossen. Roku hatte kaum Zeit, sich am Sattel festzuklammern, ehe der Himmelsbison hinabstürzte. Sein Magen vollführte einen Satz und sein langes Haar flatterte hinter ihm her wie ein Kometenschweif.
Sie brachen durch die Wolkendecke und sahen ein Tal in sattem Grün unter sich, gesprenkelt mit Siedlungen, die sich an die Gebirgsausläufer schmiegten. Manche Himmelsbisons gingen in einen sanfteren Gleitflug über, während andere, wie Amra, hinabtauchten und so knapp über den Boden fegten, dass sie das Laub der Bäume zum Flattern brachten. Es bildete bereits ein Mosaik aus braunen, roten, orangen und gelben Tupfen. Die Talbewohner – die gerade vorübergingen, kochten, der Landarbeit nachgingen oder Wäsche wuschen – schauten auf und winkten, ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
Roku und die Luftnomaden überflogen die Siedlung und sausten über die Gersten- und Tarofelder jenseits davon. Sie folgten dem Lauf des schimmernden Flusses, der durch das Tal strömte; ein paar Himmelsbisons flogen so niedrig, dass ihre Zehen die Wasseroberfläche streiften, ehe sie wieder ins sonnendurchflutete Reich über den Wolken aufstiegen.
Bald kam der Südliche Lufttempel in Sicht – eine Ansammlung hoher weißer Türme mit blauen Spitzen, die sich auf einem der höchsten Gipfel zusammendrängten. Steile Steintreppen, geschwungene Brücken und gewundene Tunnel verbanden die verschiedenen Ebenen der Ordensgemeinschaft miteinander, unterbrochen von einem gelegentlichen Hof oder einer Terrasse.
»Dieser Teil hat mir früher immer am besten gefallen«, grummelte Gyatso von seinem Sitzplatz gegenüber Roku, den Stab quer im Schoß. Er warf den anderen Luftnomaden neidische Blicke zu.
Roku folgte seinem Blick. Einer nach dem anderen standen sie auf und sprangen von ihren Himmelsbisons, mitten ins Nichts. Im Fallen ließen sie die Schwingen ihrer Gleiter herausschnappen, stiegen in einem Bogen wieder in die Höhe und schossen anschließend auf den Tempel zu wie ein Schwarm Kraniche.
»Nur Geduld«, tröstete ihn Schwester Disha.
Gyatso schaute beiseite.
Von ihren Reitern befreit, flogen die anderen Himmelsbisons davon, um zu grasen, zu rasten oder zu spielen. Mehrere geflügelte Lemuren schlossen sich ihnen an, die sich ebenso sehr darüber freuten, ihre pelzigen Freunde wiederzusehen, wie die Luftnomaden über den Anblick ihres Tempels.
Meisterlich bändigte Amra die Luft ringsum, um beim Sinkflug das Tempo zu drosseln, und landete dann sacht wie ein Flüstern in einem der Höfe auf der unteren Tempelebene. Abt Rabten und Mönch Youdron, zwei der Mitglieder des Ältestenrates, erwarteten sie neben einem Karren voller Kohlköpfe. Schwester Disha schwebte gemächlich vom Sattel, während Roku unelegant herunterrutschte und stolpernd auf dem Boden aufkam. Er streckte eine Hand aus, um Gyatso zu helfen, doch der hüpfte allein herab, verbeugte sich vor den älteren Mönchen und verschwand im Tempel.
Abt Rabten sah dem Jungen seufzend nach. »Immer noch kein Fortschritt?«, fragte er Schwester Disha, während Mönch Youdron einen Kohlkopf nach dem anderen in Amras geöffnetes Maul warf.
»Ich fürchte nicht.« Schwester Disha kraulte sie hinter den Hörnern, was ihr ein zufriedenes Brummen entlockte, sie jedoch nicht vom Fressen abhielt.
Wäre Roku nicht dabei gewesen, hätten sie wahrscheinlich den gleichen Austausch über ihn statt Gyatso geführt. Er war jedoch hier, daher grüßte er die Mönche höflich und erduldete ihre Fragen über seine erste vollständige Saison von Hilfsmissionen mit den Luftnomaden.
Ja, es sei lehrreich gewesen, habe ihn Demut gelehrt.
Und ja, es sei ein schönes Gefühl, jenen in Not zu helfen, ungeachtet der Nation. Und natürlich ging es dabei ums Helfen, weil schließlich alle miteinander verbunden waren, nicht wegen des Gefühls, das man als Belohnung bekam, wenn man anderen unter die Arme griff.
Ja, Schwester Disha sei eine hervorragende Meisterin. Er habe schon so viel von ihr gelernt.
Ja, er werde weiterhin meditieren und über die neuen Erfahrungen nachsinnen.
Ja, er freue sich auf eine Zeit des Studiums und des Übens im Tempel, ehe die nächste Saison der Hilfsflüge begann.
Ja, er sei erschöpft von der langen Reise und werde sich ausruhen müssen.
Nach einer angemessenen Zeitspanne entschuldigte er sich, um zu meditieren. Er dankte Amra und Schwester Disha und kehrte zu seinem Quartier zurück.
Es handelte sich um ein kleines, einfaches Zimmer mit einem Bett, einem Schreibtisch, einem Meditationskissen aus Himmelsbisonwolle und einem Nachttopf. Die Decke war gewölbt, Boden und Wände kahl. Durch die offenen Fenster im Stein strömten Luft und Licht frei herein, sodass es ständig zugig war. Zwar war dies eines der Zimmer der tieferen Ebenen des Mittelturms, doch von der Ausstattung her unterschied es sich kaum von den anderen Zimmern, in die Roku bisher hineingespäht hatte.
Anfangs hatte es ihn überrascht, dass die Luftnomaden den Avatar in einem derart traurigen kleinen Kabuff untergebracht hatten. Dann hatte er erfahren, dass es zwar ein viel hübscheres Zimmer gab, das dauerhaft für die gegenwärtige Inkarnation des Avatars freigehalten wurde, Schwester Disha jedoch darauf bestanden hatte, es ihn noch nicht benutzen zu lassen. Aus Überraschung war Ärger geworden. Offenbar war dies eine von vielen Lektionen in Demut.
Die jüngste dieser Lektionen: ein Klopfen an der Tür.
Roku öffnete und sah sich einem jungen, erstaunlich muskulösen Mönch gegenüber, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Er hielt eine kleine hölzerne Kiste im Arm, die er Roku nun mit einer Verneigung übergab, mitsamt einem Zettel. Roku dankte dem bulligen Mönch, schloss die Tür und trug die Kiste zu seinem Schreibtisch hinüber. Gespannt las er die Nachricht:
Avatar Roku,
diese Kiste enthält Schriftrollen mit Briefen an dich, die während unserer Reisen angekommen sind. Einige stammen von deinen Freunden und Angehörigen in der Feuernation. Andere sind von Menschen aus der ganzen Welt, die in der einen oder anderen Angelegenheit den Avatar um Hilfe ersuchen. Du hast mich gefragt, wie du Loslösung lernen kannst. Dies ist ein guter Anfang: Lies keine einzige dieser Rollen.
– Schwester Disha
Roku legte den Zettel beiseite, setzte sich im Lotussitz auf sein Meditationskissen und schloss die Augen. Er nahm mehrere tiefe Atemzüge, um sich zu erden und seinen Geist zu leeren. Seine Feuerbändigerausbildung hatte ihn gelehrt, sich auf die Pause nach jedem Luftholen zu konzentrieren, auf die Transformation jedes Atemzugs in potenzielle Feuerbändigungsenergie. Stattdessen versuchte er nun, das zu tun, was Schwester Disha ihm nahegelegt hatte: Er verlagerte seinen Fokus auf den Moment nach jeder Ausatmung; die Leere, die Leichtigkeit, das Loslassen.
Doch sein Geist loderte vor Neugier auf den Inhalt der Nachrichten. Was seine Eltern ihm zu sagen hatten, war ihm gleichgültig, aber er sehnte sich nach den tröstenden Worten seiner Großmutter. Zosin hatte ihm mittlerweile bestimmt schon mehrere Briefe geschrieben und Roku brannte darauf, die Worte seines Freundes zu lesen. Die Klagen darüber, dass der Feuerlord ihm nicht genug Verantwortung anvertraute. Scherze darüber, wie unangenehm das asketische Luftnomadenleben für Roku sein musste. Neuigkeiten über ihre Klassenkameraden. Vielleicht war sogar eine Nachricht von Ta Min dabei. Wahrscheinlich war das zwar nicht, aber man wusste ja nie.
Roku fragte sich außerdem, wie viele Hilferufe er wohl bereits erhalten haben mochte. Womöglich lag in der Kiste sogar das Gesuch eines Monarchen des Erdkönigreichs oder Wasserstammhäuptlings.
Meinte Schwester Disha das ernst? Erwartete sie wirklich, dass er alle, die ihn liebten oder seine Hilfe gebrauchen könnten, einfach ignorierte?
Roku tat noch einen tiefen Atemzug, dann öffnete er die Augen. Er ging wieder zum Schreibtisch, hob den Deckel von der Kiste und atmete den Duft von Tinte und Pergament ein. Es konnte doch sicher nicht schaden, ein paar Briefe zu überfliegen. Verdient hatte er es sich gewiss, nach all der Arbeit, die er bei den Hilfsmissionen geleistet hatte.
Er wählte eine Nachricht aus, die nach Heimat roch, entrollte sie und begann zu lesen.
ZOSIN STUDIERTE das Pai-Sho-Brett eingehend, während er wartete, bis er an der Reihe war. Es ruhte auf einer flachen Kiste in der Mitte der beengten, fensterlosen Kajüte, die er auf dem Schiff gebucht hatte. Ihm gegenüber saß seine Gegnerin Dalisay, einstmals die Lehrerin, jetzt die Ex-Freundin seiner Schwester. Während sie über ihren nächsten Zug nachdachte, schwafelte sie irgendetwas über die Vor- und Nachteile verschiedener Flussmittel in der Stahlproduktion. Kozaru, die kräftige, kurzhaarige Begleiterin der beiden, sah zu, wie sich die Partie entfaltete. Sie lehnte an der Wand und hatte die muskulösen, mit Brandnarben überzogenen Arme vor der Brust verschränkt. Eine Kerze auf einem klapprigen Regal flackerte unablässig und der Raum schwankte mit dem Seegang.
Gerade eben hatte Zosin mit Absicht einen dummen Zug mit seinem Weißer-Lotus-Stein gemacht, um Dalisay zu testen. Sie war der schlauste Mensch, den er kannte, also dürfte sie mühelos in der Lage sein, zu erkennen, dass sie mit einem Rad oder Boot die Oberhand gewinnen konnte – in Anbetracht der noch ungespielten Steine hielt Zosin es für wahrscheinlich, dass sie über beides verfügte. Doch Dalisay fuhr mit ihrem Vortrag fort; ihre Finger ruhten dabei anmutig auf einem Stein, bis sie es sich anders überlegte, einen anderen berührte und dann noch einen. Endlich hatte sie alles herausgebracht, was sie über Unreinheiten im Metall und Legierungen hatte loswerden wollen, und setzte ihren Stein.
Zosin seufzte. Dalisay hatte seinen offenkundigen Fehler »übersehen«. Sie konnte ihm dabei nicht einmal in die Augen schauen.
Roku hatte ihn nie gewinnen lassen. Ihre Partien waren hart umkämpft gewesen; sie hatten Stunden gedauert und oft mit einem Unentschieden geendet. Zuletzt hatten sie ein paar Nächte vor Rokus Abreise gespielt. Zosin hatte sich mit seinem erbarmungslos aggressiven Stil übernommen und Rokus geduldiger, konservativer Ansatz hatte sich bezahlt gemacht: Er hatte einen Ring der Harmonie gebildet, den Zosin übersehen hatte. Zosin hatte das Brett in Brand gesteckt und Roku des Schummelns bezichtigt, doch der hatte sich lediglich mit einem selbstzufriedenen Lächeln zurückgelehnt und die Finger hinter dem Kopf verschränkt.
»Nächstes Mal«, hatte Zosin gedroht.
Jetzt ließ er seinen Blick von Dalisay zu Kozaru wandern. Letztere war schrecklich im Pai Sho, gehörte zu der Art von Spielern, die die Regeln kannten, aber keinerlei Wunsch verspürten, besser zu werden. Zumindest war ihre Niederlage bei der vorigen Partie ehrlich gewesen.
Zosin rieb sich das Kinn, blickte wieder aufs Brett und tat so, als rätsele er über seinen nächsten Zug, um seine Enttäuschung zu verbergen. Feuerlord Taiso hatte dem Prinzen stets eingeschärft, wie wichtig es sei, sich mit loyalen Leuten zu umgeben, die ihm in der Zukunft gute Dienste leisten konnten. Nun fragte Zosin sich, ob es ein Fehler gewesen war, die beiden anzuheuern.
Als Dalisay und Zeisan noch ein Paar gewesen waren, hatte seine Schwester einfach nicht aufhören können, davon zu erzählen, wie brillant dieses Mädchen doch sei, das den sozialen Aufstieg aus der Dienerklasse auf der Ascheninsel geschafft hatte. Doch was nützte ihr das schlaue Gehirn, wenn sie sich zurückhielt?
Auf Kozaru hingegen war Zosin dadurch aufmerksam geworden, dass sie vor ein paar Jahren einen seiner Privatlehrer im Feuerbändigen bei einem Agni Kai besiegt hatte. Sie war eine beachtliche Kämpferin, Roku hatte allerdings bereits nach der ersten Begegnung seine größte Sorge auf den Punkt gebracht: »Sie scheint die Art Mensch zu sein, der einem für ein Silberstück und ein gesundes Schweinehuhn die Kehle durchschneiden würde.«
Abermals seufzte Zosin.
Er setzte gerade an, diese Farce mit einer Abfolge von drei Zügen zum Abschluss zu bringen, da machte das Boot einen Satz nach vorn. Das Spielbrett rutschte von der Kiste, die Steine ergossen sich über den Holzboden, während Zosin, Kozaru und Dalisay sich gegen die engen Wände stemmten, um sich aufrecht zu halten. Durch die Deckplanken über ihnen drangen Schritte, laut wie wild gewordene Trommeln.
»Sieh nach, was das war«, befahl Zosin Kozaru.
Doch bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, platzte die Dschunkenkapitänin herein, eine rau aussehende Piratin. »Wir sind da, Lee«, sagte sie schlicht und war sofort wieder verschwunden.
»Lee« war der falsche Name, den er benutzt hatte, als er ihr Schiff gechartert hatte. Zwar stand ihm als Prinz gewöhnlich die Feuernationsmarine zur Verfügung, aber dies war keine offizielle Feuernationsangelegenheit. Der Feuerlord hatte Zosins Bitte um ein Schiff sogar ausdrücklich abgelehnt, denn dieser Tage waren ihre Streitkräfte wegen der Rebellionen auf den äußeren Inseln ohnehin schon überstrapaziert.
Also hatte er Dalisay und Kozaru rekrutiert, sie mit den Kleidern einfacher Bürger ausgestattet und einer Piratin so viel gezahlt, dass sie seine Befehle befolgte, ohne Fragen zu stellen.
Sogleich würde er herausfinden, ob sie ihr Geld wert war.
Mit Kozaru und Dalisay im Schlepptau stieg er die enge Treppe zum Deck hinauf und trat in einen Nebel hinaus, der so dicht war, dass die Matrosen wie Gespenster wirkten, die immer wieder auftauchten und verschwanden. Sie liefen herum und hissten die gerippten Segel der Dschunke, begleitet von dem Rascheln des Segeltuchs, dem Sirren der Seile und dem Klappern der Rollen. So dicht war der Nebel, dass Roku von seinem Standort aus weder Bug noch Heck sehen konnte, geschweige denn die Wellen, auf denen das Schiff dahinsegelte, oder etwaiges Land, das am Horizont aus den Fluten ragen mochte.
Damit hatte er gerechnet. Er hatte gelesen, dass die Insel immerzu in Nebel gehüllt war, der ihre Position seit Jahrtausenden vor allen verbarg, abgesehen von denen, die die exakten Koordinaten kannten. Jeder Seefahrer, der zufällig auf diese reglose Wolke mitten im Meer stieß, kam leicht zu dem Schluss, dass es das Beste sei, einen weiten Bogen zu fahren und den unbekannten Gefahren aus dem Weg zu gehen.
Doch der Nebel allein bewies noch nicht, dass es sich tatsächlich um die besagte Insel handelte, also unterdrückte Zosin seine wachsende Aufregung, als er vor die Kapitänin trat und sich zu voller Größe aufrichtete.
»Wir sind vor Anker gegangen«, erklärte sie, ohne den Blick von einem verschleierten Punkt in der Ferne zu lösen. »Ich bin nicht gewillt, näher heranzufahren.«
»Und du bist sicher, dass dies die richtige Insel ist?«
»Ich bin sicher, dass wir genau hier sind.« Sie zeigte auf die markierte Stelle auf der uralten Karte, die er ihr zur Verfügung gestellt hatte, und gab sie ihm zurück. »Es liegt an dir, herauszufinden, ob sich in dieser Geistersuppe eine Insel versteckt oder nicht.«
»Das Landungsboot ist bereit und mit Vorräten bestückt?«, fragte Dal.
Die Kapitänin nickte.
»Wie können wir darauf vertrauen, dass du nicht Anker lichtest und wegsegelst, sobald wir von Bord sind?«, fragte Kozaru mit finsterem Blick.
Die Kapitänin schnaubte. »Weil ich die andere Hälfte meiner Bezahlung brauche, um die Villa in der Hauptstadt zu kaufen, die ich im Auge hab.«
Die Kapitänin hatte ihnen ein paar Mitglieder ihrer eigenen Mannschaft als Begleitung angeboten – für einen Zusatzbetrag natürlich. Sie sollten dabei helfen, das Boot sicher an Land zu bringen. Zosin hatte abgelehnt. Sie brauchten die Hilfe nicht. Wer auf einem Archipel aufgewachsen war, wusste auch mit einem Ruderboot umzugehen und die drei stellten keine Ausnahme dar. Außerdem war es schon riskant genug, zuzulassen, dass eine ganze Piratenmannschaft von der Insel wusste. Er konnte es nicht gebrauchen, dass einer von ihnen dort herumschnüffelte und ihren wahren Wert erkannte.
Sie nahmen ihre Bündel und kletterten in das kleine Beiboot. Die Piraten ließen sie hinab, bis sie mit einem Ruck auf dem Wasser aufsetzten. Kozaru machte die Taue los, stieß sie von der Dschunke ab und packte eines der Paddel, während Dalisay das andere ergriff. Zosin nahm am Bug Platz und spähte voraus. Er konnte ringsum nur etwa einen Meter weit sehen, ehe sich alles in einer grauweißen Nebelwand auflöste.
»Wenn du uns sagen würdest, wonach du suchst, könnten wir dir besser helfen«, gab Dalisay zu bedenken, während sie und Kozaru zu rudern begannen und das Boot sich mit dem Seegang wiegte.
Zosin spähte blinzelnd voraus. »Wie ich schon sagte, etwas sehr Wichtiges.«
»Damit wäre dann ja alles geklärt. Aber was kann denn hier überhaupt sein, so weit draußen?«
»Ein Drache?«, riet Kozaru.
»Sobald ihr mehr wissen müsst, verrate ich euch mehr«, entgegnete Zosin scharf und beendete damit die Diskussion.
Dalisay stieß einen frustrierten Seufzer aus und ruderte weiter.
Zosin vertraute ihnen noch nicht vollends – auch deswegen offenbarte er ihnen nicht alles. Den zweiten Grund würde er nie geradeheraus zugeben.
Seit Roku vor drei Monaten abgereist war, bedrängte Feuerlord Taiso ihn in einem fort, seinem Freund zu schreiben, um das starke Band zwischen ihnen zu bewahren. Doch je mehr seiner Briefe unbeantwortet blieben, desto tiefer wurde die Enttäuschung des Feuerlords. Bestand nicht länger eine Verbindung zwischen Zosin und Roku, dann bekäme die Feuernation keinen zweiten Avatar als Großen Ratgeber. Und in dem Fall würde der Feuerlord womöglich denken, er habe seinen Sohn überschätzt.
Zosin hingegen gab niemals auf. Er würde einen Weg finden, sich unersetzlich zu machen, für seinen Vater und seine Nation. Und die Inspiration, wie er das erreichen könnte, stammte aus einer Erinnerung.
Als Kinder waren Zosin, Yasu und Roku oft durch die Geheimgänge des Palasts gehuscht und hatten sich in die Drachenknochenkatakomben unter dem Hohen Tempel geschlichen. Es war nicht nur der Nervenkitzel gewesen, sich an einem verbotenen Ort herumzutreiben; die Jungen hatten es zudem geliebt, jene Schriftrollen zu lesen, die die Feuerweisen umgeben von den Knochen von Zosins Ahnen verwahrten, um sie vor unbefugten Blicken zu schützen.
Wie so viele junge Feuernationsbürger waren die Jungen bereits mit den Sagen vertraut gewesen: über heldenhafte Feuerbändigermeister, die Feuer spuckten, blaue Flammen hervorbrachten oder Blitze lenkten. Durch die antiken Schriften erfuhren sie allerdings von noch selteneren Feuerbändigerfähigkeiten wie der Kraft des Fliegens, der Fähigkeit, ferne Ziele zu sprengen, und Wegen, sich die Macht eines Kometen zunutze zu machen – sogar von einer Methode, sein Leben unbegrenzt zu verlängern. Zosin war überzeugt gewesen, dass es möglich sei, diese Kräfte zu erlernen, Yasu dagegen hatte stets darauf beharrt, dass das alles pure Fiktion sei. Roku seinerseits war es so oder so egal gewesen. Er war einfach gern mit dabei gewesen.
Auf einem dieser Abenteuer war Zosin auf eine Schriftrolle aus der Szeto-Ära mit dem Titel Die lange Straße gestoßen, verfasst von jemandem namens Ashō. Darin