Axolotl Roadkill - Helene Hegemann - E-Book

Axolotl Roadkill E-Book

Helene Hegemann

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Beschreibung

Helene Hegemanns knallhartes Debüt

Die sechzehnjährige Mifti lebt seit dem Tod ihrer Mutter in Berlin und im heranwachsenden Ausnahmezustand. Als ›pseudo-belastungsgestörtes‹ Problemkind tanzt, vögelt und kokst sie sich durch die Hauptstadtszene. Das Besondere an Mifti ist ihre Hypersensibilität und ihr offener, fragender Blick auf eine Elterngeneration, die weder auf sich noch ihre Kinder aufpassen kann. Hin- und hergerissen zwischen Genie und Wahn entlarvt Mifti Sprache, Lebensentwürfe und Konventionen der Erwachsenen als das ›allgemeine Dahinschimmeln‹ ihres wohlstandsverwahrlosten Umfelds.

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Die sechzehnjährige Mifti lebt seit dem Tod ihrer Mutter in Berlin und im heranwachsenden Ausnahmezustand. Als ›pseudo-belastungsgestörtes‹ Problemkind tanzt, vögelt und kokst sie sich durch die Hauptstadtszene. Das Besondere an Mifti ist ihre Hypersensibilität und ihr offener, fragender Blick auf eine Elterngeneration, die weder auf sich noch ihre Kinder aufpassen kann. Hin- und hergerissen zwischen Genie und Wahn entlarvt Mifti Sprache, Lebensentwürfe und Konventionen der Erwachsenen als das ›allgemeine Dahinschimmeln‹ ihres wohlstandsverwahrlosten Umfelds.

HELENE HEGEMANN, 1992 geboren, lebt in Berlin. ›Axolotl Roadkill‹ ist ihr Debüt, das in 20 Sprachen übersetzt wurde.

Die Verfilmung, ›Axolotl Overkill‹, bei der sie selbst Regie führte, wurde beim Sundance Festival 2017 mit dem World Cinema Dramatic Special Jury Award for Cinematography ausgezeichnet.

Helene Hegemann

AXOLOTL ROADKILL

Roman

 

Das Werk erschien erstmals 2010 bei Ullstein, Berlin.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Genehmigte Ausgabe Mai 2020© btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright der Originalausgabe © Helene HegemannCovergestaltung: semper smile Münchennach einer Gestaltung von Sabine Wimmer, Berlinmr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26748-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

 

Für Lilly Sternberg

 

»We love to entertain you«

(Pro7)

O.k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen angstgequälten Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen schreien. Kein Hauptstraßenlärm und kein Stöhnen von leidenden, sich durch Stärke und Hässlichkeit hervorhebenden Monstern, die gerade entfesselt werden. Nur die Klaviatur der absoluten Dunkelheit, das Kreischen im Kopf, dieses unrhythmische Trommeln, scheiße. Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur.

Um 16 Uhr 30 wache ich orientierungslos in einen Bettbezug gewickelt auf und bin in allererster Linie von mir selber gelangweilt. Ich kauere. Irgendwie läuft mir zu Lorbeerkränzen geflochtenes Blut aus dem rechten Ohr. Vor mir leuchtet etwas auf, das ich als die Hässlichkeit der High Society entziffere: zwei Zigaretten, zwei aus hygienischen Gründen statt durch einen Geldschein durch einen Kassenbon gezogene Lines Ritalin, pulverisierter Parmesankäse und ein besorgniserregende Ausmaße annehmender Nervenzusammenbruch, das Ketaminloch wahrscheinlich, ich habe seit etlichen Monaten die wildesten Krebsdiagnoseträume, keine Alpträume, sondern irgendwas Tiefergehendes, wo ich dann immer schreiend erwache, weil so viele Gedanken da sind, dass man seine eigenen Gedanken gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann. Vor lauter mit Angstanfällen gekoppelten Magen-Darm-Exzessen will ich mich aus dem dritten Stock stürzen, schalte stattdessen jedoch RTL II ein und da läuft eine super Tiersendung. Die ist wie ein Wahnsinnsfernsehevent aufgelöst. Plötzlich steht da so ein aufgeweckter Schakal, und dann gibt es einen Gegenschuss auf die Erdmännchenherde, die in einer Totale von dem Schakal zerfleischt wird sozusagen und der Zuschauer denkt voller Liebe: Ja, diese Scheißerdmännchen sehen leider Gottes auch echt so unglaublich bescheuert aus, die haben irgendwie nichts anderes verdient, als gefressen zu werden.

Ich kann entweder zu qualitativ hochwertigen Hardcorepornos wichsen oder zuerst auf die Fingernägel und danach in den Spiegel gucken. Meine Hautanhangsgebilde sind zu ineinander verkrusteten Ekzemen geworden und meine Wimpern brechen ab.

In diesem Moment kehrt plötzlich wieder Stille ein.

Ein Hauch von Gesellschaftsfähigkeit, durch den sich kein harter Track mehr bohrt, sondern ein frühsommerlicher, ernüchternder Scheißwind. Ich bin nicht in der Schule gewesen. Fünf Minuten vor der ersten großen Pause habe ich mich in Todesangst, mit Herzrasen und einem bei jedem Schritt gegen die Schädeldecke prallenden Kopfschmerz unter meine Bettdecke gekämpft, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich hätte denken müssen:

Na ja, gut, heute trete ich zur Abwechslung mal mit einer Tomate in Kontakt, ich muss sie schließlich von einem Schulbrot entfernen, auf das sie von einem verantwortungsbewussten Elternteil draufgelegt wurde.

Eine Stunde nach Schulschluss stehe ich dann breitbeinig vor dem Spiegel, im leeren Fluss der Erinnerungen an das verschwitzte Lächeln der letzten Nacht und die zu eigenem Leben erwachte Kraft dieser repetitiven Tanzrhythmen.

Ich will ein Kinderheim in Afghanistan bauen und viele Anziehsachen haben. Ich brauche nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf, sondern drei titanweiß ausgestattete Villen, jeden Tag bis zu elf Prostituierte und ein mich in plüschigen, güldenen Zwanziger-Jahre-Chic hüllendes Sowjet-Uniform-Kostüm von Chanel. Begriffe wie Selbsterfahrung und Borderline gibt es dann nicht mehr. Und keinen, der so tut, als würde er dich besser kennen als du selbst, denn alles, was da zählt, ist Geld. Jetzt haben wir es. Plötzlich merke ich, wie mich alle anstarren. Ich gehe, die fünfte Zigarette rauchend, auf den Balkon und saufe einfach so lange weiter, bis das Geld endlich WEG ist. Meine Existenz setzt sich momentan nur noch aus Schwindelanfällen und der Tatsache zusammen, dass sie von einer hyperrealen, aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselintitten-Installation halb zerfleischt wurde.

Ich sage: »Sobald wir beginnen, etwas für andere als uns selbst zu tun, lösen wir uns aus dem Gefängnis in unserem Inneren. Alice hasst sich selbst, aber das ist ja das Geile, ich sehe, dass sie durchdreht und sich zunehmend selbst zerstört. Ich habe so große Angst, dass ich nicht mehr denken kann. Ich will alles tun, um dich weiterhin kennen zu dürfen. Wenn du nicht mehr mit mir ficken willst, ist das völlig in Ordnung. Jetzt bist du aus meinem Leben verschwunden. Es ist ja nicht so, dass ich mich die ganze Zeit selbstreflexiv und selbstquälerisch hier abquälen kann, keine Ahnung, da müsste eigentlich auch noch was anderes sein, so ein irrationaler Moment, einer dieser Momente, in denen du mich unverwandt anguckst mit diesen vollkommen farblosen Augen und ich sehe in denen dann immer dass du überlegst, wie viele Leute gerade zwischen uns stehen. Erinnerst du dich da noch dran? Wie man immer überlegen musste, wie viele Meter man gerade voneinander entfernt ist? Und wie ich dir dann irgendwann gesagt habe, als wir endlich alleine waren, was für eine Vollkommenheit das für mich ist? Diese Momente, in denen wir das Meer angeguckt haben. Die so vollkommen waren, dass ich sie gar nicht genießen musste. Ich spüre, ich werde verrückt. Ich kann nicht mehr zwischen Träumen und dem, was du Realität nennst, unterscheiden. Weil sich alles gleich anfühlt. Der Wind, deine Haut, alles Dreidimensionale.«

Unter der Dusche prasseln mir in Zeitlupe Tropfen entgegen, die durch den Einfluss der Oberflächenspannung bestrebt sind eine Kugelform zu erlangen.

Entgegen der allgemeinen Annahme hat ein Wassertropfen zu keinem Zeitpunkt eine Tropfenform, diese zweidimensionale Scheiße, die auf der einen Seite rund ist und auf der anderen spitz zuläuft. Um mich abzutrocknen zerre ich ein türkisfarbenes Laken aus der Schmutzwäsche, das die letzten beiden Monate gemeinsam mit zwei vollgekotzten Kleidungsstücken in einem großen Behälter verbracht hat. Ist das die Kotze eines Wildfremden, der mich in einer stark frequentierten Unisextoilette überrascht hat? Ist das meine Kotze? Bringt mich das mir jetzt irgendwie näher? Ich fange offenbar echt an, die wichtigsten Details zu vergessen.

Ich stehe zu Tode deprimiert im Flur auf einem Teppich, der aus einem mir unerfindlichen Grund in grauer Vorzeit mal ausgelegt wurde und der ist halt irgendwie graugrün, der ist schmutzig, der ist mit Brandlöchern übersät. O Gott, ist das alles schrecklich.

1.Ich habe meine von Analsex, Tränen und Leichenschändung geprägte Patchworkgeschichte verloren.

2.Ich habe eine offene Entzündung im Rachen.

3.Meine Familie ist ein Haufen von in irgendeiner frühkindlichen Allmachtsphase steckengebliebenen Personen mit Selbstdarstellungssucht. Im äußersten Fall wird von deren Seite aus mal ein popkultureller Text über die Frage verfasst, weshalb die Avantgarde TROTZDEM bauchtanzt, aber das war’s dann auch schon.

You’ve made my shitlist

(L7)

Ich so: »Entschuldigung? Kannst du mir vielleicht helfen mit dem Huhn, ich weiß nicht, was für ein Huhn ich kaufen muss.«

Ich stehe vor einer großen Tiefkühltruhe im LIDL.

O-Ton heterosexuelle Kommunikationsdesignerin in blaugraugestreifter Strickjacke:

»Bitte?«

»Ich soll ein Huhn einkaufen für das Abendessen, und es gibt hier aber Brathuhn und Suppenhuhn, ich weiß nicht, was ich da jetzt nehmen muss.«

»Ja, sorry, aber ich weiß doch dann auch nicht, ob deine Mutter ein Suppenhuhn oder ein Brathuhn braucht.«

»Meine Mutter ist schon lange tot.«

»Und dein Vater?«

»Der ist eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und in der Auguststraße wohnen. Jeden Tag bis zu elf Prostituierte, jeden Tag Haarwachs und jeden Tag mit Textmarkern melancholisch expressionistische Kunstwerke ausmalen, die er aus schwarzweißen Plattencovern zusammensetzt. Nachts werden die dann auf LSD mit seinem Galeristen in die Wand genagelt. So sieht sein Leben aus: depressive Musik. Die Melvins, Julie Driscoll, Neil Young, als gäbe es außer Neil Young und Bob Dylan keine Leute, die Musik machen, er bestellt jede Woche Platten für dreihundert Dollar. Ich kenne ihn kaum.«

»Und wo wohnst du dann?«

»Bei meinen Geschwistern.«

»Und was machen deine Geschwister beruflich?«

»Meine Schwester heißt Annika und ist so eine durchtriebene Marketing-Bitch. Mein Bruder entwirft Motive, mit denen man eine Auswahl der vom Social-Commerce-Unternehmen mit Hauptsitz in Leipzig angebotenen Textilien bedrucken lassen kann. Er stellt seine entworfenen Motive auf einer Onlineplattform zur Verfügung und geduldet sich, bis jemand auf die schwachsinnige Idee kommt, in einem cremefarbenen Kapuzenpullover herumlaufen zu wollen, auf dem in Schwarzrotgold der Satz ›Unsere Nationalfarben sind beschissen‹ steht. Edmond entwirft auch allen Ernstes T-Shirts, auf denen ›I’m not an Alcoholic, I’m drunk – Alcoholics go to meetings!‹ steht. Der ist dreiundzwanzig, eine Mischung aus Marlon Brando und äh, wem denn noch, keine Ahnung, er besitzt eins der weltweit nur fünfhundertmal existierenden Paare goldener Pro Bowl 2007 Air Force 1 von Nike. Arbeitslos, demonstrativ arrogant, Fan von Ray Davis.«

If found please return to the club.

»Und du so?«

»Wie bei jeder drogenabhängigen Minderjährigen mit Reflexionsvermögen äußert sich mein Hang zur Realitätsflucht in einer ausgeprägten Lesesucht. Ich verschlinge gleichermaßen aufgeklärte Belletristik über pakistanische Psychoanalytiker und Diplomarbeiten über den Zusammenhang von Moby Dick und dem Nationalsozialismus. Tageslicht gilt es mit einer lässigen Geste abzuwinken.«

»Es freut mich ja sehr, mit dir darüber gesprochen zu haben!«

»Super, wir sehen uns!«

Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich bei gutem Wetter etwas anderes gemacht habe als die Jalousien runter. Niedergeschlagen ziehe ich mir einen sagenumwobenen Sachtext über die Praxis der DJ-CULTURE rein:

Die Situation auf der Tanzfläche hat sich in den vergangenen knapp zwanzig Sekunden drastisch verändert. Jubel, Schreie, neue Level von Extremität überall da draußen.

»Ja, hallo, Edmond, wann kommst du denn?«

»Keine Ahnung, ich bin gerade bei Luther in dem Store in der Alten Schönhauser, und gleich kommt diese Penny, die immer PCP am Start hat.«

»Und wann kommst du wieder?«

»Das weiß ich nicht genau, jetzt sind gerade Dingsda und Kleini gekommen, du weißt schon, dieser Typ da mit der Freundin, die immer irgendwas durchsetzen will – Is it mixed by you? It’s mixed like shit! Berlin is here to mix everything with everything, Alter!«

»Ist das von dir?«

»Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …«

»Straßenschilder, Wolken …«

»… Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.«

»Es ist also nicht von dir?«

»Nein. Von so ’nem Blogger.«

»Aber wann kommst du denn?«

»Ja, das weiß ich halt noch nicht so genau, vielleicht bald.«

»Wann denn?«

»Bald. Vielleicht auch gleich.«

»Wie jetzt?«

»Ja, gleich, sofort.«

»O. k., tschüs.«

Ich öffne unserer neuen Haushälterin die Wohnungstür, und in ihrem dümmlichen Gesicht macht sich gerade der Schock über diesen ganzen Verwahrlosungsexzess breit. Die guckt mich an, als hätte sie Angst davor, hier auf irgendwelche verwesenden Tiere zu stoßen.

»Warum willst du eine Haushälterin, Annika?«

»Weil es doch total geil ist, wenn die Bettwäsche gebügelt ist und überhaupt.«

»Aber findest du es denn nicht wahnsinnig schlimm, diese vielen Menschen in deinem Besitz zu haben?«

»Weißt du, Mifti, früher warst du einfach nur verwahrlost, und jetzt bist du halt wohlstandsverwahrlost. In zwei Monaten hast du dann vor lauter Wohlstandsverwahrlosung sogar vergessen, dass Haushälterinnen Menschen sind, ehrlich.«

Frau Messerschmidt ist pensioniert und arbeitet zwölf Stunden am Tag schwarz, weil ihr Mann ein streitsüchtiges Arschloch und halt ununterbrochen zu Hause ist. Es stellt sich die Frage, ob ich mit Personal umgehen kann, das bereits nach sechzig Minuten aufopferungsvoller Arbeit auf dem Balkon über seine familiären Zusammenhänge und meine Tendenz zur Schulverweigerung spricht. Ich will Personal, das kein Deutsch kann und mir nicht mit jedem in meine Richtung abgeschossenen Blick vergegenwärtigt, wie schrecklich alles ist, vor allem das mit dem seit zwei Jahren nicht gebügelten Ethnomusterkleid, und dass das Leben einfach nicht besser wird später. Die Bügelwäsche ist ein Kapitel für sich. Das Tageslicht ist ein Kapitel für sich.

Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden. Ich werde in wenigen Jahren nicht mehr genug Kraft haben, um mir ernsthafte Gedanken über die Farbe meines ersten, eigenständig gekauften Sofabezuges machen zu können. Ich werde traurig auf einen Entwicklungsprozess zurückblicken, der von überdurchschnittlich kontraproduktiven Abstürzen geprägt war und mich zu Tode schämen für alles, was ich hier gerade so mit-der-Wurst-nach-der-Speckseite-werfend in diesen Computer reinhacke, so nennt man das, glaube ich. Weil ich dann vermutlich endlich Foucault kapiert habe, weil ich andere Maßstäbe und meine Familie umgebracht haben werde und plötzlich weiß, dass das hier gerade, also dieser aus unstrukturierten Tagesabläufen und Schulverweigerung und verschwitzten Bettlaken zusammengesetzte Müllberg, die beste Zeit meines Lebens war.

Edmond kommt nach Hause. Er hat Zigaretten und drei Haschischplatten in einer Aldi-Tüte mitgebracht. Er sieht nicht nur aus wie Marlon Brando, er hat sich aus dessen gleichnamiger Biographie auch einen wichtigen Bestandteil seines Lebens zusammengesetzt – das minimalistische Inneneinrichtungskonzept unserer Wohnung. Zwei mit insgesamt dreizehn Matratzen ausgelegte Räume, zu denen auch jeder unbekannte Halbjunkie von der Straße freien Zugang hat. Edmond findet es gut, jede Nacht an einem anderen Ort in der Wohnung zu schlafen, und im Sommer lässt er immer die Wohnungstür offen, damit dieser Durchzugsexzess irgendwie besser funktioniert. Es wurde noch nie bei uns eingebrochen. Einbrechen könnte man das dann ja auch nicht nennen, man müsste, um bei uns einzubrechen, ja bloß durch die offene Tür gehen und dann zufällig das MacBook Pro einstecken oder so und dann wieder rausgehen. Einmal hat Edmond unwissentlich Einbrechern die Haustür aufgemacht, so dass alle unsere Nachbarn ausgeraubt wurden. Ein Boxensystem, ein raffiniert platzierter Beamer, Aschenbecher und mit Comicfiguren bedruckte Tagesdecken. An den unverputzten Wänden hängt ein weißes Poster mit der winzig kleinen Aufschrift: Nowhere better than this place.

Scheißmusik ist einfach Scheißmusik, das finde ich auch nicht witzig. Good Day von den Kinks ist ganz o. k., das fängt mit einem Wecker an, danach kommt Patsy Cline, überbewertet, Sunday Morning von Margo Guryan, die Violent Femmes singen The Love is Gone, und ich rede mir ein, da irgendeine Wahrheit drin zu erkennen und denke an zerfetzte Leichenteile im Schnee. Das sind alles in erster Linie Songs, die in einer Zeit geschrieben wurden, in der es noch kein Ecstasy gab.

Es ist Edmonds iTunes-Bibliothek. Ich erkläre ihm, dass es mir prächtig geht. Er erklärt mir, dass der Song Hey hey, my my die Verbindung zwischen Altrock und Punk darstellt und es nach allgemeingültigen Standards als absolut hinterwäldlerisch gilt, dem Wort ›Techno‹ das Wort ›Kultur‹ anzuhängen und das Ganze mit einer sich als alternativ betrachtenden Jugendbewegung in Verbindung zu bringen anstatt mit Prolldiskotheken für Besserverdienende. Ecstasy, Techno und sich selbst als eine Grenzen sprengende Übereinkunft zu betrachten sei Neunziger, so wie Koksen Achtziger sei und so wie gelocktes Haar das neue glatte Haar ist.

»Aber diese Übereinkunft, wie du das nennst, ist alles, was ich noch habe«, sage ich.

Wir breiten die Haschischplatten auf dem Flurteppich aus und strecken das Zeug, indem wir zerbröselten Lebkuchen zuerst gleichmäßig darauf verteilen und die Scheiße danach einbügeln.

»O Gott, guck mal, ich hab so ’ne unglaublich krasse Delle in der Augenhöhle, das wird bestimmt ein fetter Pickel!«, sage ich.

Edmond putzt sich die Zähne, und als er »Vielleicht wird es ja auch ein Furunkel« antwortet, tropft die schäumende Zahnpasta auf sein Christopher-Kane-T-Shirt mit dem Affenkopf.

»Du Arschloch!«

»Karl Marx hatte immer Furunkel am Arsch und hat sich die dann grundsätzlich aufschneiden lassen.«

»Gibt es eigentlich Frauen, die Actionfilme gedreht haben? Abgesehen von Karl Marx?«

»Angelina Jolie. Lara Croft.«

»Regie, du Spast.«

»Ach so, keine Ahnung.«

»Gibt es nicht, oder?«

»Gibt es nicht, stimmt. Vielleicht ist das deine Aufgabe.«

»Ich revolutioniere einfach den weiblichen Actionfilm.«

»Das Actionmelodram sozusagen.«

»Das weibliche Actionmelodram.«

»Das feministische Actionmelodram.«

»Nein, das antifeministische Actionmelodram! Mir wurde heute Angst vor Nähe bescheinigt. Was sagst du dazu?«

»Ich sage: Wo Mifti herkommt, werden unsere schlimmsten Alpträume zum Frühstück gegessen. Wo auch immer Mifti hinkommt, hinterlässt sie eine Aschenbahn aus verbrannten Herzen. Sie ist heute hier, morgen weg. Aber für die meisten ist sie die Inkarnation des zur Frau gewordenen Sputnik-Schocks. Ich werde einfach scheiße zu dir sein.«

Der Tag nimmt keine entscheidende Wendung. Unterhalten wir uns über den dreijährigen Äneas. Der hat vor wenigen Stunden noch an einem Spielgerät gebaumelt und einem seiner Elternteile zugerufen: »Nein, Mann, ich will nicht ins Yoga!«

Seine in einem cremefarbenen Nylonmantel steckende Mutter wurde von meiner Schwester zum Essen in unsere Wohnung eingeladen und hat ihn zu allem Überfluss mitgebracht. Er spielt jetzt gerade mit einer aus Legosteinen gebastelten Kanone, die kleine Zinnsoldaten quer durch das Wohnzimmer katapultieren kann und die ganze Welt erwartet von mir, dass ich ihm aus so komischen Abdichtungsfolien ein Ritterkostüm bastele. Ich biete nichts anderes als ein Bild des Chaos und der Auflösung und des Kinderhasses, und diese Mutter unterbricht mich und sagt:

»Entschuldige, stört dich der Lärm?«

»Nein, das ist doch nur ein Kind«, antworte ich.

Wir essen Fischstäbchen. Äneas sitzt in seinem Ritterkostüm in einem Regal und wartet auf irgendwas.

»Was machst du denn?«, frage ich und kriege keine Antwort.

»Äneas, wo sitzt du denn da?«

»Im ICE.«

»Und wohin fährst du?«

»Nach Barcelona. Kämpfen.«

»O Annika, ich kenne außer dir niemanden, der wirklich alles tragen kann!«

»Danke schön, das macht mich ja ganz …«

»Ernsthaft, du kannst echt alles tragen.«

»Ach, ich wähle das alles einfach immer sorgfältigst aus, deswegen wirkt das bestimmt nur so, als ob ich alles tragen könnte.«

»Ja, du kannst einfach alles tragen.«

Annika ist das, was man eine Mischung aus Beate Uhse, Alice Schwarzer und Mutter Teresa nennt. Sie hat sich eine Stellung erarbeitet, deretwegen zu ihr aufgeschaut wird, sieht umwerfend aus und isst am liebsten argentinisches Rindfleisch; das Ding ist: In neonfarbenen T-Shirts irgendwelchen traumatischen Odysseen durch den Berliner Szene-Untergrund nachzulechzen, leider bringt es das in ihren Augen nicht mehr so ganz. Äneas’ Vater ist ebenfalls zu Besuch. Er sitzt mir da fett gegenüber, ist überfordert und hat keine Ahnung, wie man diesem sozial gestörten Kind zuliebe ein Familienleben aufrechtzuerhalten vortäuscht, das an seinem Mangel an Intelligenz und den überschwänglichen Emanzipationsambitionen seiner Exfrau gescheitert ist. Die spricht gerade darüber, dass ihre neue Affäre für vierhundert Euro Glaskaraffen auf eBay ersteigert hat.

Die beiden haben in grauer Vorzeit mal bei uns gebadet, weil sie Handwerker am Start hatten bei sich zu Hause. Durch den Türspalt hat man dann immer gehört, wie sie sich so pseudo-echauffiert über Feminismus gestritten haben und über die feministische Allianz mit dem Patriarchat und die weibliche, von Männern durch diese ganze Pornographie umstrukturierte Sexualität, die eigentlich gar keine mehr ist. Die Gebärmutter sei ja auch bloß was diskursiv Erzeugtes und so. Und das war so super, weil da währenddessen keiner von beiden aus der Badewanne rauskam, um sich kurz mal zu distanzieren, sie wollten ja nicht nackt durch unsere Wohnung laufen.

Schreckliche Leben sind der größte Glücksfall.

Als er bemerkt hat, dass ich ihn bemerkt habe, röchelt er plötzlich: »Hey, Mifti, warst du heute da auch mit bei Luther in dem Store in der Schönhauser? Die haben da so ’ne bescheuerte Sitzrave-Party abgezogen.«

»Oh, hallo, nein, wie kommst du darauf, Edmond war da ja nur alleine und so, ich weiß auch nicht mal, was du mit Sitzrave-Party meinst.«

»Was?«

»Wie jetzt?«

»Die Zeitverschiebung und alles. Du siehst aus, als hättest du so ’nen Mini-Jetlag und auf den Zigaretten steht alles auf Englisch.«

»Bitte?«

»Die Zigaretten, woher hast du die?«

»Die Zigaretten hat Edmond halt einfach mitgebracht.«

»Ach so, cool, als ich so alt war wie du, habe ich noch nicht geraucht, sondern gelernt, wie man einen Luftballon zuknotet.«

»Als ich so alt war wie du … ha ha ha.«

»Ha ha ha ha ha!«

Wie mich das alles ankotzt, diese Erwachsenenschwadroniererei, diese Unterhaltung darüber, dass der kleine Äneas mal im Restaurant auf jemanden am Nachbartisch gezeigt hat und die blöde Mutter sagen musste: »Äneas, mit nacktem Finger zeigt man nicht auf angezogene Leute!«, und Äneas hat dann seinen Finger in eine Bratkartoffel gesteckt und gemeinsam mit der Kartoffel weiterhin schonungslos draufgezeigt. Null Pointe, aber: »Ha ha ha ha ha ha ha!«

Annikas Handy klingelt. Mein Vater wurde von Frau Pegler darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich die letzten sechs Wochen nicht in der Schule war. Es ist mir scheißegal, wirklich.

»Du bist nicht das Opfer, du bist die alleinige Täterin.«

»Entschuldigen Sie, Ihr Dingsda brennt gerade ab!«

»Schulabschluss? Wozu denn? Ich habe doch ein Fahrrad und kann mich genauso gut mit französischen Studiofilmen bei Laune halten, in denen sämtliche Protagonisten gleichzeitig irgendeinen Scheiß aus handgetöpferten Lehmbehältern in sich reinstopfen und ihre Frauen betrügen.«

20 Uhr 13. SMS von Vater aus Tel Aviv mit folgendem Inhalt: »Was hast du jetzt vor?«

20 Uhr 29. SMS an Vater nach Tel Aviv mit folgendem, vielversprechendem Inhalt: »Zurück in die Kleinkriminalität, das geht jetzt nicht mehr.«

20 Uhr 33. »Warum rufst du nicht an?«

20 Uhr 34. SMS an Ophelia in ihrer androgynen Phase: »Weißt du, ich möchte dich auf der Stelle mit Liebe überschütten. Alles. Anytime.«

Vorwort

Ich bin wild aufgewachsen und ich will wild bleiben. Es ist drei Uhr nachts und mein kaputtgefeierter Körper sitzt zu Tode in seiner Opferrolle versunken in einem Taxi. Der Fahrer erzählt von seinem Sohn, der sich nach zehn Jahren von seiner Frau getrennt hat und von seiner eigenen Frau, die fremdgeht, und von Gott, zu dem er angeblich eine ziemlich gute Verbindung hat. Deswegen verzeiht er Schwulen auch, dass sie schwul sind, weil die können da ja eigentlich nichts für. Ich habe Fieber, Koordinationsschwierigkeiten, ein Promille im überhitzten Blut und mich zum wiederholten Mal auf eine Verabredung an einem Ort der absoluten, opportunistischen Hemmungslosigkeit eingelassen. Es geht um meine Achtungswürdigkeit, um Stahl und Beton, um eine riesige Fensterfront, die mit beweglichen Rollläden verschlossen werden kann, um meine Angst vor dem Tod, es geht um die Explosion der Wahrnehmung und vielleicht auch ein bisschen um eine organisierte Form von Schallereignissen.

Meine Wildheit ist eine charakteristische Eigenart. Ich kann entweder tun, was ich will und meine Eigenschaften befriedigen oder es einfach lassen.

Es ist gefährlich, das zu tun, was ich will, weil mich das wirklich verletzbar macht. Es zu lassen ist vollkommen unmöglich. Deshalb lüge ich dich an. Ich sage:

Es geht hier gerade in allererster Linie um das Prinzip.

Ich bin sechzehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin.

Es geht um meine Wahnvorstellungen.

Unfassbar, wie ich mich hier schon wieder auf cognacfarbenen 9-cm-Absätzen dem ganzen Scheiß aussetze, Industriegebiet natürlich, von weitem sieht man ein ehemaliges Heizkraftwerk, in dem es sich in spätestens einer halben Stunde diesem Zwang zur Selbstvergessenheit auszusetzen gilt. Ich bewältige einen von Neonröhren umzäunten Weg, der als der geilste der Welt gilt und mich aus einem mir unerfindlichen Grund nie interessiert hat. Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt. Vor einem Securitychef, der Syd heißt und drei Meter groß ist, tue ich so, als würde ich auf der Gästeliste eines Barkeepers stehen, der tagsüber mit zeitgenössischen Kohlezeichnungen die verwirrenden Ansichten unserer urbanen Welt darzustellen versucht. Damit umgehe ich eine kilometerlange Schlange von overstylten Dreiundzwanzigjährigen aus geregelten familiären Zusammenhängen, in deren Augen ich kein Mensch bin, sondern ausschließlich underdressed und wankelmütig. Orale Inkontinenz. Mir wird Scheiße in die Fresse gefeuert. Ich bin eine motherfucking unmoralisch handelnde Fotze und soll auf mein Leben klarkommen, Alter.

Die Frage des Abends: »Ey, was geht ’n hier?« Die Antwort des Abends: »Ey, hier geht doch nichts.«

Das Resultat des Abends: »Geil, keine Schlange, Taxi steht dahinten, überall Definitionen der Weltgesundheitsorganisation, so.«

Vom DJ-Pult aus gesehen links befinden sich hinter einer großen Glaswand ein langer Bartresen und diverse Sitzmöglichkeiten; rechts davon liegt hinter der Tanzfläche einer der unübersehbaren Darkrooms. So weit das Auge reicht versuchen sich diese pseudovergewaltigten Mittzwanziger die Seele aus dem Leib zu dancen. Ich sitze zu irgendeiner absurden Musikrichtung unbeeindruckt auf einem Lederpolster und bekomme bereits nach zehnminütiger, unspektakulärer Ausgelassenheitsscheiße die wichtigste Frage des Abends gestellt. Achtzehn Meter Deckenhöhe, zweitausendfünfhundert Menschen und die HIV-positive Ophelia, mit der ich im Eingangsbereich verabredet bin. Sie sieht gleichermaßen umwerfend und magersüchtig aus, trägt eine halboffene Bomberjacke ohne was drunter zu schwarzen Leggins und Satinsandalen von Lanvin, mit verspiegelten Absätzen, und ich rede echt nur Scheiße zur Begrüßung.

»Hauptsache, irgendeine schlichte Silhouette wird mal wieder in ein unverzichtbares Musthave verwandelt, nicht wahr, Schatz? Traditionelle klassische Eleganz.«

»Ich würde jederzeit für dich in irgendeine Bresche springen, Mifti.«

»Und der geraffte Fall eines Seidenvorhangs verbirgt den größten Teil deines Körpers.«

»Ich wäre so gerne lustig heute.«

»Aber es ist einfach zu heiß hier drin.«

Sie fragt dann also irgendwann mit so einer Geste Richtung Damentoilette:

»Siehst du den Typen da vorne?«

Es ist der Typ, dessen Anwesenheit mich davon abgehalten hat, souverän an ihm vorbei zum Zigarettenautomaten zu rennen. Da werden mal zur Abwechslung keine sexuellen Gelüste wachgerufen, sondern nur ein paar emotionale Zuneigungsattacken, weil er so süß ist, weil er so bauchfrei ist und total gewaschen wirkt im Gegensatz zu all den aus der Form geratenen Chauvinistenhippies hier. Ich labere sowieso nur noch uninspirierte Scheiße.

Ophelia sagt: »Der hat Ecstasy.«

Ich gehe ungeachtet der Tatsache, dass sie auf eine schlagfertige Antwort wartet, in seine Richtung.

»Kannst du uns eventuell zwei Teile klarmachen?«

»Ähm …«

»Seit wann sind wir gute Freunde?«

»Ähm?«

»Achte mal bitte ganz kurz auf die Absätze von den Flechtoptikschuhen, die meine Freundin da anhat. Krass verspiegelt sind die.«

»Und modeinteressiert bist du also auch?«

»Seh ich so aus?«

»Allein dieser Mantel, das ist wirklich – mit dem Gürtel dazu nämlich. Gehört das zusammen?«

»Nein.«

»Das hast du also zusammengebastelt.«

»Ja, also, nein. Ich mag das ja auch bei Männern, wenn die so Anzüge anhaben und so was. Ausrangierte englische Minister zum Beispiel, ich finde das irgendwie geil.«

Der Typ guckt sich meinen kaputten Polyesterrock an und erwartet zwei Fünfer von mir. Ich hole Geld aus meinem Schuh und wirke währenddessen gleichermaßen geistesgestört wie aufgeregt. Er gibt mir die Pillen unauffälliger als unbedingt nötig und mustert mich wie den dünnhäutigsten Menschen der Welt.

Ich frage: »Hast du Lust auf Oralsex?«

Er antwortet: »Wie alt bist du? Dreiundsechzig?«

Damit werde ich zurück in diese nicht enden wollende Zeit der Traurigkeit entlassen.

Ophelia ist äußerst attraktiv und eine phlegmatische Actionheldin. Wenn ich Ophelia suche, finde ich sie grundsätzlich gemeinsam mit einer Rasierklinge vor einem Ganzkörperspiegel, und da sitzt sie dann vollkommen fertig. Sobald sie länger als sechs Stunden keine Drogen konsumiert und deswegen einen hysterischen Anfall hat, der sie töten will, versucht sie sich dort ihrer Gesichtsmuskulatur zu entledigen. Wir haben uns kennengelernt, weil sie trotz Höchststeuersatz aus so einem halbherzigen Bedürfnis nach Wirklichkeitsnähe heraus manchmal in Schulkantinen jobbt.

»Ich hätte hier gerne diese Rahmpolenta mit Spinat und kann ich statt Kartoffeln die Nudeln aus dem anderen Topf dazu haben, bitte?«

Sie: »Aus was für einem Topf?«

Ich: »Aus dem zweiten oder dritten von links da gegenüber.«

»Es hätte auch gereicht, wenn du einfach draufgezeigt hättest.«

»Und Nachtisch?«

»Du hattest schon einen Nachtisch.«

»Ich hatte definitiv noch keinen Nachtisch, ich bin hier eben gerade erst reingekommen, weil ich vorhin noch Gesellschaftswissenschaften im dritten Stock hatte.«

»Trotz deiner motherfucking Gesellschaftswissenschaften hast du dir hier gerade schon einen Nachtisch genommen, Baby!«

»Nein!«

»Ich kann hier nicht einfach so rumrennen und jedem Teenager vierzig Scheißvanillepuddings ins Gesicht schleudern, für die niemand bezahlt hat. Wie soll ich dich jetzt nennen? Impotenter Wichser?«

»Was reden Sie da?«

»Halt deine Fresse, du scharfsinniges Dreckskind.«

»Steh auf Fotze und verbeug dich.«

»Wie bitte?«

»STEH AUF FOTZE UND VERBEUG DICH!«

Ophelia hat mich mit einer großen Kelle Buchweizenauflauf beworfen. Ich habe sie mit dem Vanillepudding meiner Klassenkameradin Olivia Stüter beworfen, sie hat eine für zweihundert Siebt- bis Zehntklässler gedachte Portion Blattspinat über meinem Kopf ausgeleert, und dieser ganze Exzess plätscherte so vor sich hin mit einem konsequent gehaltenen Augenkontakt. Wir beschwörten da einen Kanal zwischen uns herauf, durch den es möglich war, uns gegenseitig anzustarren, als würden wir uns lieben.

Sie teilte mir mit, dass sie der perfekte Spiegel meiner wahren Gelüste sei. Und ich habe das einfach so hingenommen, ihre Telefonnummer gewählt, ihr zugehört, als sie sagte, dass ich dringend einige Kleidungsstücke, die sie nicht mochte, wegwerfen müsse, und geantwortet, dass sie eine Tote sei.

»Du kannst damit rechnen, in dieser Welt seelisch und körperlich verletzt zu werden.«

Das klingt zwar alles ziemlich unglaubwürdig, aber so war das halt damals.

Von:

Ophelia

An:

Mifti

Betreff:

Go Away Fuck Yourself

Datum:

So., 4. November 2007, 22:12

Ich muss dir meinen Traum erzählen. Er wird dir gefallen. Wir wollten uns treffen, und ich sollte dich in deiner Wohnung besuchen. Ein riesiger Altbau. Verspiegeltes Treppenhaus. Zwanzig Türen pro Stockwerk. Ich habe sogar eine Zeichnung davon gemacht, schade, dass ich sie nicht einscannen kann. Ich ging die Treppe hoch. Ein paar Hunde zerrten an den Überresten eines Esels. Es war relativ dunkel, weil es nur ein einziges kleines Fenster im kompletten Flur gab. In einer Ecke stand ein Tisch mit Stühlen. Ich sah mich um und realisierte, dass dieser von Aasgeiern zugeschissene Windfang zu deiner WG gehörte.