Azurblau für zwei - Emma Sternberg - E-Book
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Azurblau für zwei E-Book

Emma Sternberg

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Beschreibung

Ein Sommer auf Capri. Zwei Herzen im Glück.

»Ein Sommer auf Capri. Persönliche Assistentin für Recherche- und Schreibarbeiten gesucht« Als Isa diese Anzeige liest, ist sie gerade an einem seelischen Tiefpunkt angekommen. Also packt sie kurzentschlossen ihre Koffer, fliegt nach Capri und findet sich in einer wunderschönen Villa am Meer wieder. Hier lebt die glamouröse Schriftstellerin Mitzi, die mit über 80 ihre Erinnerungen aufzeichnen möchte. Während der Arbeit an dem Buch kommt Isa zur Ruhe - und Mitzi wird immer aufgewühlter. Denn tief in ihrer Erinnerung verbirgt sich eine große Liebe, die nie erfüllt wurde …

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Seitenzahl: 439

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Zum Buch

»Ein Sommer auf Capri. Persönliche Assistentin für Recherche- und Schreibarbeiten gesucht«.

Isa ist an einem Tiefpunkt angekommen, als sie diese Anzeige liest. Also packt sie ihre Koffer, fliegt nach Italien und trifft die glamouröse Schriftstellerin Mitzi, die mit 75 Jahren ihre Memoiren aufschreiben will. Im Schatten der Zitronenbäume findet Isa langsam ihre Leichtigkeit wieder. Mitzi dagegen wird immer aufgewühlter. Denn in ihrer Erinnerung wird ein Sommer vor sechzig Jahren lebendig. Und eine große Liebe, die immer unerfüllt blieb.

Zum Autor

Emma Sternberg wurde 1979 in Hamburg geboren. Nach acht Semestern Medienwissenschaft hat sie einen Job beim Radio bekommen und ihre Magisterarbeit nie zu Ende geschrieben, was sie bis heute bereut – wenn auch nur ein bisschen.

EMMA STERNBERG

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 06/2018

Copyright © 2018 by Emma Sternberg

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: © Eisele Grafikdesign, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-21104-2V002

www.heyne.de

1

HEUTE IST DER dreißigste April 2017, draußen blühen die Bäume, und vor ganz genau einem Jahr endete mein Leben. Nicht dass ich gestorben wäre, im Gegenteil – angesichts dessen, wie ich mich innerlich fühle, bin ich geradezu erschreckend lebendig: Ich höre nach wie vor jeden Morgen Radio, bekomme immer noch schwitzige Hände, wenn ein Kontrolleur meine Fahrkarte sehen will, und gerate jeden Abend außer Atem, wenn ich die Treppe zurück in den vierten Stock hinaufsteige, wo meine kleine Altbauwohnung liegt. Ich wechsle täglich meine Unterwäsche, putze morgens und abends Zähne, nehme Multivitamintabletten, koche zu große Portionen Pasta, atme, verdaue, menstruiere. Sogar meine Haare wachsen immer weiter, zumindest muss ich spätestens alle drei Monate zum Friseur.

Aber mein Leben, wie ich es kannte? Das ist vorüber.

Bis vor einem Jahr wäre ich zum Beispiel nie, nie, niemals an einem Sonntagmorgen ins Café Brel geflüchtet, bloß um nicht allein zu Hause sein zu müssen. Noch vor einem Jahr wäre ich sonntags entweder ins Fitnessstudio gegangen, um meine vierzig Minuten auf dem Crosstrainer zu absolvieren, oder Alex und ich hätten Freunde zum Frühstück eingeladen – Anni und Peter oder Evelyn und Jo oder alle gemeinsam. Bei gutem Wetter hätten wir vielleicht einen Ausflug gemacht, aber wahrscheinlich wären wir einfach zu zweit im Bett geblieben und hätten das wohlige Gefühl genossen, dass nichts da draußen so wichtig war, als dass wir dafür hätten die warmen Federn verlassen müssen. Wir hätten gekuschelt und Zeitung gelesen, über Alex’ iPad gebeugt den nächsten Urlaub geplant oder zärtlich darüber gestritten, wie wir unseren Sohn oder unsere Tochter nennen würden, wenn es eines Tages – möglichst bald – so weit wäre. Irgendwann wäre Alex vielleicht aufgestanden, um uns Cappuccino zu machen und etwas Leckeres aus dem Kühlschrank zu holen, der mit allen Köstlichkeiten der Welt gefüllt war: frisch gepresster Orangensaft und Schokopudding, Käse und gesalzene Butter aus dem kleinen französischen Käseladen in der Vorbergstraße, Parmaschinken und Mortadella, halbe Ananas, kleine Kressebeete und knackiges Gemüse. Später hätte er sein Fahrrad aus dem Keller geholt, um bis an die Stadtgrenze und wieder zurück zu fahren, und ich wäre mit ein paar neuen Büchern aus dem Laden vom Bett aufs Sofa umgezogen, um den Nachmittag über nach Lektüreschätzen zu suchen, die ich meinen Stammkunden in der nächsten Woche empfehlen würde.

So sah mein Leben einmal aus: Ich hatte einen Mann, den ich liebte. Einen Job, auf den ich mich am Morgen freute. Und Pläne für die Zukunft. Ich machte Sport, traf mich so oft es ging mit meinen besten Freundinnen und hatte Rohmilch-Camembert im Kühlschrank.

Und jetzt? Habe ich nichts mehr von alledem. In unserer einst gemeinsamen Wohnung lebe ich seit einem Jahr allein. Im Fitnessstudio war ich nicht mehr, seit die Buchhandlung, in der ich fast 15 Jahre lang mit Leidenschaft und Herzblut gearbeitet habe, vor acht Monaten plötzlich geschlossen hat. Weil sich Iris, meine Chefin, im zarten Alter von 63 Jahren in einen anderen Buchhändler verliebt hat. Der allerdings seinen Laden nicht in Schöneberg und auch sonst nirgendwo in Berlin hat, sondern in Palma de Mallorca. Wo die beiden seitdem den zahlreichen deutschen Ganzjahres-Mallorquinern Terrassenlektüre verkaufen. Okay, französischen Käse gibt es immer noch in meinem Kühlschrank, aber nur faden Supermarkt-Weichkäse.

Und meine besten Freundinnen? Tja. Die habe ich natürlich auch noch. Und ich habe sie auch immer noch so gern wie niemanden sonst auf der Welt – wir kennen uns schließlich schon ewig! Es ist nur so, dass Anni und Evelyn vor Kurzem Kinder bekommen haben und dann aus unserem Kiez weggezogen sind. Erst Anni: Als sie schwanger wurde, haben Peter und sie verzweifelt eine größere Wohnung gesucht, aber die Mieten sind in den letzten Jahren so stark gestiegen, dass sie sich nicht mal mehr eine neue Zweizimmerbude hätten leisten können. Sie haben hin und her überlegt und sind schließlich allen Ernstes in Lichterfelde-West gelandet, einem Stadtteil, den ich nur kenne, weil dort eine alte Schulfreundin meiner Oma lebte, die ich ein- oder zweimal mit besuchte. Gut, schon klar: Dort haben sie Kinderzimmer, Wohnküche und Gartenanteil, es gibt immer einen Parkplatz vor der Tür, und die S-Bahn-Anbindung ist auch nicht so übel. Aber für mich bedeutet das, dass ich, wenn ich mal einen Kaffee mit ihr trinken will, eine halbe Weltreise unternehmen muss. Und ich kann nicht mal mehr auf Evelyn ausweichen, denn die hat kurz darauf nachgezogen, und zwar in wirklich jeder Hinsicht: Schwangerschaft, Wohnungssuche, nach Lichterfelde-West. Seither streune ich durch meinen Kiez wie eine ausgesetzte Hündin, während die beiden gemeinsam ihre Hightech-Kinderwagen durch den Schlosspark schieben und über Babyphone-Apps, Schlafprobleme und die horrenden Honorarvorstellungen mäßig mobiler Granny-Nannys diskutieren.

Natürlich bemühe ich mich nach Kräften, weiterhin Anteil an Annis und Evelyns Leben zu nehmen: Ich rufe regelmäßig an, erkundige mich nach dem aktuellen Stand von Kita-Suche, Durchschlafproblemen und Windeldermatitis, interessiere mich für Beikost und erste Trotzattacken und diskutiere leidenschaftlich mit, wenn sich die Frage stellt, wie man einem unwilligen Baby Antibiotika einflößt. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, fahre ich sogar raus zu ihnen, schiebe Kinderwagen, halte Decaf-Cappuccino-Becher, positioniere Sonnensegel. Aber irgendwie … bin ich halt nur eine gute Freundin ohne Kinder und keine Vollblutmami wie sie. Ich kann ein Baby zwar halten, es schaukeln, ihm sogar Fläschchen geben, und natürlich sind sie nach wie vor meine alten Mädels, und sie fangen auch so langsam wieder an, sich neben den Kindern für ihre Jobs, den Weltfrieden und die Frauenquote zu interessieren – trotzdem ist es so, als hätten die beiden einen anderen Raum betreten, während ich immer noch diesseits der Türschwelle stehe und nur ahnen kann, wie es sich auf der anderen Seite anfühlt.

Dabei würde ich es so gerne wissen. Schließlich war ich die von uns dreien, die schon zu Uni-Zeiten so oft über Babys sprechen wollte, dass ich den anderen fast schon peinlich war, wenn wir nachts in irgendwelchen Kneipen saßen und Männer in der Nähe waren.

Und deshalb ist das ganze Kinderthema, so sehr ich die süßen Kleinen von Anni und Evelyn ins Herz geschlossen habe, nicht ganz, na ja – unbelastet.

Ich bin die Frau, die immer Kinder wollte, und Alex, der wollte es genauso. Mindestens zwei, wenn nicht drei Kinder hatten wir uns ausgemalt, für den Anfang. Aber dann … tja. Wir haben es lange probiert, auch mit medizinischer Hilfe, und als irgendwann klar war, dass ich nicht schwanger werden konnte, na ja. Wir haben uns natürlich versichert, dass sich nichts ändern würde, nicht an unserem Leben, nicht an unserer Liebe. Aber natürlich änderte sich etwas: und zwar alles. Und das Wissen darum nahm so viel Raum zwischen uns ein, dass wir nicht mehr zueinanderfanden, so sehr wir auch versuchten, uns am anderen festzuklammern.

Und so sitze ich jetzt, ein Jahr später, alleine im Café und nippe an einem Cappuccino, der nicht halb so gut schmeckt wie der, den Alex mit seiner Maschine zaubern konnte. Aber gut, wegen des Kaffees bin ich ja auch nicht hier. Um mich abzulenken, gehe ich vor zum Tresen, wo fein säuberlich aufgereiht Lesezirkelhefte und Magazine ausliegen. Ich ziehe die Sonntagszeitung hervor, nehme sie mit an den Tisch und versuche, ein interessiertes und aufgeräumtes Gesicht zu machen, das Gesicht eines zufriedenen Großstadt-Singles in seinem Stammcafé – und nicht das einer einsamen und mutlosen Frau, die ihre stille Wohnung nicht erträgt.

Dabei habe ich mal regelmäßig Zeitungen gelesen. Die Buchhandlung war ja immer voll von Leuten, die oft nur auf eine Tasse Earl-Grey-Tee und einen Plausch vorbeikamen und für die der Laden so etwas wie ein zweites Wohnzimmer war. Und da empfand ich es quasi als Selbstverständlichkeit, mich jeden Morgen zumindest grob darüber zu informieren, welche politischen Themen gerade das Land bewegen, wie die wirtschaftliche Stimmung im Allgemeinen ist und vor allem, welche Bücher empfohlen oder verrissen werden. Ich mochte das Gefühl, Bescheid zu wissen, die Sprache meiner Kunden zu sprechen und ihr Vertrauen zu gewinnen – Beraterin zu sein und nicht nur Verkäuferin. Und nichts genoss ich mehr als den Moment, wenn in der ZEIT oder der FAZ ein Buch emporgejubelt wurde, das ich meinen Stammkunden schon vor Wochen ans Herz gelegt hatte.

Doch seit der Buchladen zugemacht hat, ist es nicht mehr dasselbe. Irgendwie macht es keinen Spaß, sich über Politik und Literatur informiert zu halten, wenn man niemanden hat, der mit einem darüber diskutiert.

In dem Laden, in dem ich jetzt arbeite, brauchen die Kunden keine Beratung. Sie wollen nicht einmal, dass irgendjemand überhaupt mit ihnen spricht. Das Presse-Paradies ist ein fensterloser, aber grell beleuchteter kleiner Zeitungsladen in den Untiefen des Bahnhofs Zoo, in dem sich niemand länger aufhält als unbedingt nötig. Die meisten Kunden kommen bloß schnell rein, schnappen sich die Zeitung, die sie wollen, ihre Pfefferminzbonbons oder den Softdrink dazu, lassen das abgezählte Kleingeld in die Wechselgeldschale rasseln und beeilen sich dann, ihre S-Bahn zu erwischen. Nur wer die verpasst hat, nimmt sich die Zeit, sich ein wenig in die Auslage mit den Magazinen zu vertiefen. Aber selbst dann würde er sich nie, nie, niemals für den Menschen hinter dem winzigen Kassentresen interessieren – geschweige denn dafür, welche neue Wochenzeitschrift er empfiehlt. Er würde wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn man sich direkt vor seinen Augen in eine Yuccapalme verwandelte.

Natürlich, klar: Einerseits bin ich froh, überhaupt so schnell wieder einen Job gefunden zu haben. Aber andererseits: Die Buchhandlung war mehr als nur eine Buchhandlung – sie war so etwas wie Heimat. Ich liebte den Laden, den Duft nach Earl Grey und Papier, liebte die Plaudereien mit Stammkunden und natürlich mit Iris. Nach wie vor finde ich, dass es keine schöneren Gespräche als Gespräche über Bücher gibt, denn wer übers Lesen redet, redet immer auch über Gefühle – er redet über sich, auch wenn er vermeintlich nur über die Figuren im Buch spricht. Man kann Menschen irrsinnig nahekommen, wenn man sich mit ihnen dar-über unterhält, was sie warum gerne lesen, darüber, was sie lachen oder weinen lässt, was sie abstößt, erschreckt oder berührt.

Und so lebe ich zwar noch dort, wo ich seit vielen Jahren jeden Winkel kenne, fühle mich aber weniger zu Hause als je zuvor. Ohne die Arbeit, die mir am Herzen lag, ohne Anni und Evelyn, ohne Alex. Zumal sich der Kiez auch sonst verändert hat. Eine ganze Reihe alteingesessener Läden musste Kinderboutiquen und Gourmet-Eisdielen weichen. Seit letztem Monat ist sogar der Spätkauf in der Grunewaldstraße geschlossen, zu dem man immer schnell laufen konnte, notfalls im Bademantel und ohne sich die Haare zu machen. Von den Geschäften aus der Zeit, als meine Oma hier noch lebte, ist kaum mehr eines übrig. Und nach dem zu urteilen, wie Bettina aus dem Blumenladen über die regelmäßig erhöhte Ladenmiete stöhnt, wird es wohl so weitergehen. Eine ganze Weile lang sah es ja so aus, als bliebe Schöneberg verschont von der Gentrifizierung – anders als in Mitte oder in Kreuzberg kann man hier immer noch einen einfachen Kaffee trinken gehen und muss nicht mit Vollbartträgern aus Brooklyn über die beste Röstung diskutieren. Doch nun hat der Hipster auch das ehemalige Westberlin entdeckt, und die Immobilienspekulanten folgen ihm. Das fast dörfliche Kiezleben kehrt jedenfalls nicht mehr zurück.

Ich blättere weiter in der Zeitung und will mich gerade in einen Artikel über das erschreckende Mediennutzungsverhalten von Kindergartenkindern vertiefen, doch dann blicke ich auf, denn ein kühler Windhauch streift meine Schulter. Die Eingangstür hat sich geöffnet und eine unglaublich hübsche Frau mit braunen Locken, vollen Lippen, rosigen Wangen und großen strahlenden Augen kommt in das Café. Sie bleibt in der Tür stehen, scannt das Lokal nach einem freien Tisch ab und sieht sich nach ihrem Begleiter um, der nun ebenfalls den Raum betritt – ein großer dunkelhaariger Mann.

Alex.

Der Mann, den ich seit einem Jahr nicht gesehen, mit dem ich nicht mal mehr telefoniert habe, nachdem ich sieben Jahre lang geglaubt hatte, ich würde mit ihm mein Leben verbringen.

Alex steht in der Tür, neben ihm die schönste Frau, die das Café Brel an diesem Tag und wahrscheinlich noch öfter betreten wird, und schaut mich an.

2

MIT EINEM MAL ist es, als hätte jemand der Welt den Ton abgedreht. Es ist verrückt: Ich weiß, dass um mich herum geredet und gerührt und gegessen wird, dass die Espressomaschine hinterm Tresen keift und leise Musik aus den Boxen in den Ecken dringt, aber alles, was ich höre, sind mein eigener Puls und das Blut, das laut rauschend durch meinen Kopf fließt.

Ich sehe, dass Alex sich wie immer, wenn er unsicher ist, mit einer unbeholfenen Handbewegung über den Kopf streicht – eine Geste, die ich immer wahnsinnig niedlich fand und die mich auch jetzt irgendwie berührt. Dass er kurz zögert, der Frau etwas zuflüstert, sich dann langsam von ihr löst und auf mich zukommt.

»Isa«, sagt er, als wäre es eine unglaubliche Überraschung, mich in dem Café zu treffen, das direkt gegenüber unserer ehemals gemeinsamen Wohnung liegt. Aber immerhin gelingt ihm ein Lächeln, das warme, weiche Alex-Lächeln, in das ich mich damals verliebt habe, ehe ich auch nur ein Wort mit ihm gesprochen hatte.

»Hey«, sage ich und schaffe es irgendwie, mir ebenfalls ein Lächeln abzuringen. »Hast du Heimweh gekriegt?«

»Du wirst es nicht glauben, aber wir haben uns gerade eine Wohnung hier um die Ecke angeschaut. In der Vorbergstraße, direkt über dem Käseladen.«

Sein Lächeln wird breiter, als würde er darauf warten, dass ich ihn beglückwünsche. Und während ich um Fassung ringe, kann ich seinen unschuldig strahlenden dunkelbraunen Augen ablesen, dass seine Worte tatsächlich völlig arglos gemeint sind. Doch mich treffen sie wie ein Kugelhagel. Ich könnte mich noch nicht einmal entscheiden, welchen Teil der Information ich am schlimmsten finde. Dass er von sich und der schönen Frau da vorn als einem »Wir« spricht? Dass dieses »Wir« auf Wohnungssuche ist? Oder dass die Wohnungssuche offenbar direkt unter meinem Fenster, in unserem einst gemeinsamen Kiez stattfindet? Denkt er ernsthaft, ich freue mich schon auf unsere schöne Nachbarschaft?

Ich starre Alex an und bringe schließlich ein »Ah« hervor. Zu mehr bin ich nicht in der Lage.

»Wir müssen aber erst noch gucken, ob wir sie nehmen, sie ist eigentlich ein bisschen zu teuer«, rudert er erschrocken zurück – offenbar kapiert er jetzt doch, dass ihn die Kombination aus »Wir« und »Wohnung« und »Vorbergstraße« auf ganz schön dünnes Eis führt. Stattdessen wechselt er schnell das Thema: »Sag mal, musstet ihr schließen? Wir sind vorhin am Buchladen vorbeigekommen, und plötzlich ist da ein Architekturbüro drin?«

»Na ja, wir mussten nicht«, sage ich und lache kurz auf. Dann erzähle ich Alex die Geschichte von Iris und dem Buchhändler auf Mallorca, woraufhin auch Alex, der die eigentlich gar nicht impulsive Iris ebenfalls gut kannte, lachen muss.

»Sie hat den Laden einfach so dichtgemacht?«

Ich nicke. »Hat sie, ja. Sie hat remittiert, was ging, und was sich nicht remittieren ließ, hat sie in den Container geladen, mit dem sie nach Palma umgezogen ist, um es einfach im Laden ihres Lovers ins Regal zu stellen.«

»Und dann? Hat alles funktioniert? Ist das alte Mädchen glücklich da unten?«, fragt er.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich gehe davon aus, ja. Zumindest lässt sie seit dem Umzug kaum mehr etwas von sich hören.«

»Und du?«, fragt er.

»Und ich?«

»Geht es dir gut?«

Es geht mir beschissen. Aber es reicht mir, dass er sich das denken kann, wenn er mich hier allein vor meinem traurigen Kaffee sitzen sieht. Ganz bestimmt werde ich ihm nicht von meiner Stelle im Presse-Paradies erzählen, denn dann gibt es gar keine Zweifel mehr – wenn einer weiß, wie viel mir meine Arbeit und die Buchhandlung bedeutet haben, dann Alex. Außerdem ist die Stelle nicht einmal eine richtige Stelle, sondern bloß ein Job auf Aushilfsbasis. Die können mich dort rausschmeißen, wann immer ihnen danach ist.

»Alles wunderbar«, versichere ich.

»Gut«, sagt er. »Das freut mich.«

Wir lächeln uns pflichtschuldig an, und mir fällt auf, dass er zugenommen hat seit unserer Trennung. Nicht dass ihm die paar Pfunde nicht stehen würden, er sieht immer noch gut aus, und jemand, der ihn nicht so gut kennt wie ich, würde wahrscheinlich gar nichts bemerken. Aber für mich ist es unübersehbar: Nachdem er in den letzten Monaten unserer Beziehung ziemlich abgenommen hatte, ist er jetzt wieder ganz schön rund geworden ums Kinn.

Vielleicht sollte mir das Genugtuung verschaffen: den Ex treffen und feststellen, dass er langsam aus dem Leim geht. Stattdessen tut es mir weh, unglaublich weh, weil ich weiß, dass Alex nur dann zunimmt, wenn es ihm richtig, richtig gut geht. Er ist ein klassischer Gesellschaftsesser, der sich nach Herzenslust gehen lassen kann, sobald er sich im Kreise seiner Freunde entspannt – eine Eigenschaft, die ich immer mochte, weil es auch mir am besten geht, wenn ich von Menschen umgeben bin, die ich mag und die mich mögen. Und, na ja, wie soll ich sagen: Während ich in den letzten Monaten meistens allein am Tisch saß, ist ihm das, zumindest seinem Kinn nach zu urteilen, vermutlich ziemlich selten passiert.

»Dir offenbar auch«, sage ich, um es endlich hinter mich zu bringen.

Er errötet. »Ich …«

Plötzlich spüre ich mein Herz wieder klopfen, und ich weiß, dass es Alex genauso geht. Aber wir kommen an dem Thema nicht vorbei: Es gibt eine neue Frau in seinem Leben.

»Wie lange kennt ihr euch schon?«, frage ich.

»Seit ein paar Monaten«, sagt Alex.

»Und?«

»Na ja«, sagt er. »Es ist was Ernstes. Was wirklich Ernstes.«

Er sieht mich mit großen Augen an.

Und plötzlich begreife ich, dass das noch nicht alles ist. Dass er mir noch etwas anderes sagen will. Ich blicke hinüber zu der Frau, die inzwischen ihren Mantel ausgezogen hat und nun neben dem Garderobenständer darauf wartet, dass Alex mit seinem Gespräch fertig ist. Und plötzlich sehe ich, was genau an ihr so rosig und strahlend ist.

Unter dem hübschen Gesicht trägt sie einen noch viel hübscheren kugelrunden Bauch. Sie ist schwanger. Und zwar ziemlich. Keine Ahnung, wie sie das mit dem Mäntelchen vorhin kaschieren konnte.

»Oh«, sage ich, beinahe tonlos.

»Ich wollte es dir sagen. Aber ich wusste nicht, wie«, sagt Alex langsam. »Es ist ziemlich schnell gegangen, ich weiß. Es war ungeplant, mit einem Mal war Sylvie schwanger, und da haben wir uns natürlich nicht dagegen entschieden.«

Natürlich nicht, denke ich.

Natürlich.

»Wann …?«, frage ich und bereue es im gleichen Moment, denn eigentlich will ich es gar nicht wissen. Eigentlich will ich nur verschwinden.

»Im August«, antwortet Alex und fügt erklärend hinzu: »Sylvie sieht viel weiter aus, als sie ist. Sie ist eigentlich erst Anfang des sechsten Monats. Es ist nämlich so, dass wir …« Er räuspert sich. »… Zwillinge kriegen.«

Wieder sieht er mich an, und ich weiß, dass ich jetzt eigentlich etwas sagen müsste. Dass ich ihn beglückwünschen oder zumindest ein bisschen Freude für ihn zeigen müsste. Ich müsste mich zusammenreißen, zu der schönen Frau an der Tür hinübermarschieren, ihr die Hand schütteln, ihr etwas Nettes sagen und ihr gratulieren. Stattdessen springe ich ruckartig auf, reiße meine Jacke an mich, werfe den Stuhl um, stelle ihn umständlich wieder hin und stopfe mit kopfloser Geschäftigkeit die Zeitung in meine Handtasche.

»Isa«, sagt Alex und streckt die Hand nach mir aus, eine Geste aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der wir uns noch einfach so berühren konnten.

Einer Zeit, in der danach alles gut war, immer.

Ich schüttele den Kopf. Seine Hand greift ins Leere, und ich drängele mich fluchtartig und ohne die glückliche und offenbar fantastisch fruchtbare Sylvie noch einmal anzusehen dem Ausgang entgegen. Dort fällt mir ein, dass ich noch nicht bezahlt habe. Ich drehe mich hastig um, ziehe einen Zehn-Euro-Schein aus der Hosentasche, halte ihn wedelnd in Linas Blickfeld und lege ihn so auf den Tresen, dass sie ihn sich einfach nehmen kann.

Dann stürze ich hinaus auf die Akazienstraße, wo mich die viel zu kühle Berliner Frühlingsluft umfängt wie ein kalter Lappen. Und obwohl ich hier jeden Baum, jeden Parkautomaten, jeden Pflasterstein kenne, fühle ich mich wie auf einem fremden Kontinent an Land gespült. Ich mache ein paar Schritte, versuche, mich innerlich aufzurappeln, mir eine Richtung zu geben – doch ich habe keine Ahnung, wohin mit mir.

3

IN EINEM FILM würde ich jetzt einfach loslaufen, quer durch die Stadt, über Straßen, durch Parks, vorbei an anderen Menschen, anderen Schicksalen, anderem Unglück, anderem Glück. Aber das hier ist kein Film, sondern mein Leben, und weil mir wie so oft nichts Besseres einfällt, überquere ich einfach die Straße, sperre die Haustür auf und warte im Eingangsbereich ab, bis sie wieder zugefallen ist. Ich setze den Fuß auf die erste Treppenstufe, den anderen auf die zweite, erklimme die erste Etage, die zweite, die dritte und endlich die vierte. Ich schließe die Tür zu meiner Zweizimmerwohnung auf, streife die Schuhe ab und tapse den schmalen Flur entlang in Richtung Sofa.

In Sicherheit, denke ich noch, als ich mich erleichtert in die kuscheligen Polster sinken lasse.

In Sicherheit.

Doch schon im nächsten Moment springt das verhasste Kopfkino an und projiziert Szene um Szene um Szene. Es sind Bilder, die ich nicht sehen will, aber sie kehren so hartnäckig wieder wie Werbebanner im Internet, die sich ums Verrecken nicht wegklicken lassen.

Alex mit der schwangeren Frau, die so viel hübscher ist als ich, denn ich habe zwar auch braune Locken, aber meine sind immer krisselig und störrisch, und ich bin auch nicht groß und dünn, sondern klein und gerade mal so unvoluminös, dass man mich nicht ernsthaft dick nennen würde. Das Einzige, was ich mit dieser Sylvie gemeinsam habe, sind die großen, runden Kulleraugen, die bei mir aber eher drollig aussehen und nicht sexy oder gar schön.

Alex im Kreißsaal, Sylvies leicht verschwitzte, aber immer noch weiche Locken streichelnd.

Alex mit Maxi Cosi.

Alex mit zwei Maxi Cosis.

Alex beim Zwillingskinderwagenschieben im Park.

Alex beim Fläschchengeben, beim Windelwechseln.

Beim morgendlichen Schmusen zu viert.

Alex mit einem winzigen Säugling, der tief und fest auf seiner Brust schläft.

Alex beim Kuscheln auf dem Sofa.

Alex, in jedem Arm ein weiches Würmchen, das nach warmem Brot riecht.

Alex im doppelten Glück.

Alex im Glück.

Die Bilder hören nicht auf, auch nicht, als ich meinen kleinen Röhrenfernseher einschalte und durch die Programme zappe. Sie hören nicht auf, als ich mich vom Sofa erhebe und wie ein Zootier, das an Hospitalismus leidet, Runde um Runde durch meine Wohnung drehe, an den Bücherregalen entlang und den großen, alten Kastenfenstern, über knarrendes Parkett und durchgetretene Teppiche, vorbei an den alten Schwarz-Weiß-Fotos meiner Oma, die ich beim Einzug einfach hängen gelassen habe. Sie hören nicht auf, als ich Wasser in die winzige Badewanne in dem genauso winzigen Bad einlasse, mir irgendeinen Roman schnappe und damit im heißen Nass versinke. Sie hören nicht auf, egal, was ich tue.

Im Gegenteil: Es gesellt sich noch ein dumpf pochender Gedanke dazu. Anfang des sechsten Monats. Während ich noch jeden Tag so viel geweint habe, dass ich es fertiggebracht habe, auch dann noch in Tränen auszubrechen, nachdem ich Evelyn mit ihrem winzigen, vier Tage alten Mädchen das erste Mal besucht hatte – da hat Alex mit seiner schönen neuen Freundin Zwillinge gezeugt. Ungeplant. In den Herbsttagen, als ich mich von Tag zu Tag einsamer gefühlt habe, hat er sein Glück gefunden.

Der Gedanke löst tausend Gefühle auf einmal in mir aus, Eifersucht und Traurigkeit. Sinnlosigkeit. Schmerz. Ich fühle mich gleichzeitig wertlos und leer, verletzt und beleidigt, mangelhaft und unfähig. Alles um mich herum zeugt Kinder, nur ich nicht. Meine Chefin, die immer nur für Romanfiguren geschwärmt hat, findet die Liebe, ich verliere sie. Ich fühle mich so alleingelassen wie schon lange nicht mehr, aber auch bedroht und angegriffen. Ich habe das Gefühl, ich müsste mich gegen irgendetwas verteidigen und wehren, dabei will ich mich eigentlich bloß in meine Höhle verkriechen.

Aber nicht einmal mehr meine Höhle ist sicher, wird mir plötzlich klar. Wenn Alex wirklich in die Nachbarschaft zieht, wird aus meinem guten alten Kiez endgültig vermintes Terrain.

Dann ist nichts mehr von dem übrig, was mein Zuhause ausmacht.

Wie unbeschwert werde ich mich dann durch die Straßen bewegen?

Wie frei werde ich mich noch fühlen?

Ich atme ein und merke, wie eng es mir um die Brust ist.

Alex wird Vater.

Und ich?

4

DIE SACHE MIT Ausnahmezuständen ist ja, dass sie schneller zur Normalität werden als gedacht – man kann sich an extreme Temperaturen gewöhnen, an Krieg und Terror und natürlich auch daran, dass man verzweifelt ist. Der Grund dafür ist wahrscheinlich ganz einfach: Man muss pinkeln, auch wenn an einem anderen Ort gerade Menschen sterben. Man muss essen und trinken, auch wenn man Liebeskummer hat. Und vermutlich putzt man sich selbst dann noch vorm Zubettgehen die Zähne, wenn man weiß, dass am nächsten Morgen die Welt untergegangen sein wird. Man kann seine Atmung nicht einstellen, selbst wenn man es will. Egal, was um einen herum passiert: Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als zu leben.

Und so reiße auch ich mich irgendwann am späten Nachmittag aus meinem Trübsinn, wuchte mich von meiner riesigen Kuschelcouch hoch und schlappe hinüber in die Küche, die immer noch fast genauso aussieht, wie meine Oma sie mir hinterlassen hat: winzige Wandschränke aus den Fünfzigerjahren mit gläsernen Schubfächern für Zucker, Semmelbrösel und Mehl. Ein kleiner wurmstichiger Küchentisch mit Porzellanknopf. Ein etwa zweitausend Jahre alter, niemals richtig heiß werdender Gasherd. Und ein von mir weiß lackiertes, inzwischen aber auch schon wieder ganz schön ramponiertes Küchenbüfett. Ich mache mir eine Käsestulle und eine Tasse Yogi-Tee und ziehe dann die Sonntagszeitung aus der Handtasche, die ich vorhin kopflos eingepackt habe, obwohl gleich vorn auf der Titelseite ein großer blauer Stempel darauf hinweist, dass sie Eigentum des Cafés Brel ist. Kurz ärgere ich mich über meine Gedankenlosigkeit, aber dann beschließe ich, das Blatt einfach wieder zurückzubringen, sobald ich mit meiner kleinen Brotzeit fertig bin. Alex wird dann bestimmt nicht mehr dort sitzen. Im besten Fall ist er bei der nächsten Wohnungsbesichtigung in einem weit entfernten Viertel.

Während ich mein Brot mümmele, schlage ich die Zeitung auf. Den Kulturteil habe ich vorhin schon angelesen, nun blättere ich durch Politik und Wirtschaft, lese hier eine Überschrift, dort einen Vorspann. Ich bin immer noch wahnsinnig traurig, aber irgendwie kann ich spüren, dass so eine altvertraute Ablenkung wie das Zeitunglesen ganz gut funktioniert. Fast kann ich wieder so etwas wie Freude dabei empfinden, den Sportteil zu überblättern und mich dabei zu fragen, warum Menschen freiwillig rennen, springen und schwitzen. Ich fand schon meine wöchentliche Fitnessstudio-Einheit schrecklich, obwohl so ein Crosstrainer vermutlich noch die zivilisierteste Art ist, seinen Körper zu schinden. Als ich schließlich den Lokalteil durch habe, ist immer noch Tee in der Tasse, nur deshalb gucke ich auch in den Stellenmarkt. Für eine gelernte Buchhändlerin ist natürlich nichts dabei, gesucht werden wie immer Ingenieure, IT-Spezialisten und Betriebswirte, gern auch mit Spezialisierung auf Marketing. Sie sollen flexibel, entscheidungsstark, teamfähig, stressresistent und kommunikativ sein. Was bedeutet, dass ich auch dann keinen gut bezahlten Job bekommen würde, wenn ich etwas Gefragtes gelernt hätte.

Ich denke an meine Arbeit im Zeitschriftenladen. Belastbarkeit? Kreativität? Kundenorientierung? Im Presse-Paradies braucht man vor allem stoische Ruhe, schonendes Schuhwerk und idealerweise noch gute Kompressionsstrümpfe. Man sollte einen Preisscanner halten und sich die blöden Sprüche verkneifen können, die einem einfallen, während man Tittenmagazine abkassiert. Ansonsten wird nicht viel von einem verlangt, nicht einmal Fremdsprachenkenntnisse sind nötig. Ich meine, ich kann ziemlich gut Englisch und seit einigen VHS-Kursen auch wirklich passabel Italienisch, aber mehr als mille grazie und have a nice day brauche ich selbst bei den geschwätzigsten Kunden nicht.

Gott, wo ich schon mal dabei bin, mich wirklich miserabel zu fühlen: Der Job ist wirklich das blanke Grauen. Jede Minute fühlt sich exakt so an wie die nächste, ein Tag wie der andere. Ich frage mich, wie meine Kollegin Hanne es geschafft hat, dort nun schon seit sechzehn Jahren zu arbeiten und sich nicht umzubringen. Manchmal reicht mir schon die Glutamatwolke, die morgens wie abends vom China-Imbiss gegenüber in den Laden weht, um ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, hoch zum Bahnsteig zu laufen und mich vor eine der Regionalbahnen zu werfen, die dort alle paar Minuten über die Gleise quietschen. Wittenberge nach Cottbus, Verspätung wegen Personenschaden.

Ich will den Stellenmarkt schon fast beiseitelegen und mich dem Immobilienteil widmen – eines der wenigen Themen, die im letzten Jahr Freude in mein Leben gebracht haben. Denn die Wohnung, in der ich lebe, hat mir meine geliebte Oma vererbt, als sie vor zehn Jahren starb, und jeder weiß, wie sehr die Berliner Immobilienpreise seitdem durch die Decke gegangen sind. Es ist mir jedes Mal eine Freude, die Anzeigen zu lesen und zu überschlagen, wie viel meine Wohnung jetzt wert sein müsste.

Doch dann bleibt mein Blick an einer kleinen Annonce hängen – einfach deshalb, weil darin ein Wort steht, das in einer Stellenanzeige normalerweise nichts verloren hat. Ich ziehe die Zeitung näher heran, und da steht tatsächlich »Capri« mitten im Stellenmarkt der Sonntagszeitung. Ich überfliege die Anzeige, die ein bisschen nach Bauernfängerei klingt, dann blättere ich weiter.

Doch als ich die Zeitung schon zugeschlagen habe, merke ich, dass mein Herz klopft, zum zweiten Mal an diesem Tag.

Ich schlage sie noch einmal auf. Und lese mir die Annonce durch, Wort für Wort.

Ein Sommer auf Capri. Autorin sucht persönliche Assistentin für Recherche- und Lektoratsarbeiten. PC-Kenntnisse undFührerschein Klasse 3 erforderlich, Diskretion erbeten. Bitte schicken Sie Ihre aussagekräftige Bewerbung an: [email protected]

Wer es noch nicht gemerkt hat: Ich bin nicht gerade der Typ, der verrückte Dinge tut. Im Gegenteil, ich mag meinen geregelten Alltag. Ich mag es, jeden Tag zur selben Zeit aufzustehen, dieselben Nachbarn zur selben Zeit im Hof zu treffen und jahrelang dieselben Kollegen zu haben. Ich mag den Tatort, und ich mag die Verlässlichkeit, mit der jeden Tag um zwanzig Uhr die Tagesschau gesendet wird – egal, was passiert ist, egal, wie chaotisch die Zeiten sind. Ich schminke mich immer noch genau so, wie ich es mir als Teenager angewöhnt habe. Ich habe im Großen und Ganzen auch immer noch dieselbe Frisur. Meine besten Freundinnen kenne ich aus der Schulzeit, und auch wenn ich sie zurzeit nicht so oft sehe, wie ich es gerne täte: Die beiden müssten schon sehr weit wegziehen und sehr viele Kinder bekommen, bis ihr Platz in meinem Herzen von jemand anderem besetzt wird.

Ich bin ein treuer Mensch, keiner, der seinem Leben einfach so aus einer Laune heraus eine neue Richtung gibt. Und ein Sommerjob auf Capri, als Assistentin einer Schriftstellerin – geht es noch launenhafter?

Warum also pocht mein Herz wie verrückt?

Andererseits: Bin ich nicht deshalb Buchhändlerin geworden, weil mich die Schriftstellerei fast magisch anzieht? Nicht nur, dass ich gerne lese, am tollsten fände ich es, selbst zu schreiben. Gut, besonders talentiert bin ich darin nicht, und es würde vermutlich nie eine ordentliche Autorin aus mir werden. Aber Spaß macht es mir. Während meiner Ausbildung habe ich ein paarmal an Creative-Writing-Kursen teilgenommen und dabei gemerkt, dass ich kein schlechtes Gespür für Sprache habe und obendrein in der Lage war, auch noch den allerkleinsten Fehler in den Texten der anderen Kursteilnehmer aufzuspüren. Einmal nannten sie mich sogar Special Agent Ritter, wegen meines untrüglichen Blicks. Obendrein habe ich einen Führerschein und bin fit am PC. Und ich kann Italienisch, wenn auch nicht ganz fließend.

Und so hole ich an diesem traurigen Sonntag im April meinen Laptop, um eine Nachricht an eine unbekannte Person zu schreiben, die auf Capri wohnt, sofern es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt. Verrückt? Vielleicht, aber irgendwie habe ich nicht so viel zu verlieren, oder? Und meinen Job im Presse-Paradies würde ich, wenn ich ganz ehrlich bin, aller Existenzängste zum Trotz gegen viel weniger eintauschen als einen Sommer auf einer Mittelmeerinsel.

Ich öffne das E-Mail-Programm. Ich tippe die Adresse ab und gebe in die Betreffzeile ein: Ihre Stellenanzeige vom 30. April. Und weil mich nun allem Wagemut zum Trotz erste Zweifel einholen, beeile ich mich – und tippe.

5

DIE EUPHORIE HÄLT natürlich nicht lange an. Schon als ich den Rechner wieder zuklappe, bin ich eher beschämt als mutig. Wie ein erwachsener Mensch, der gerade zugegeben hat, dass er an den Weihnachtsmann glaubt. Ich fühle mich ertappt und ein bisschen töricht. Und als ich wenig später die Wohnung verlasse, um die Zeitung zurück ins Café Brel zu bringen, überkommt mich die sichere Ahnung, dass hinter der ganzen Sache irgendwas anderes steckt, und hoffe nur, dass meine E-Mail-Adresse jetzt nicht für irgendwas Illegales genutzt wird. Und selbst wenn es diese Schriftstellerin wirklich gibt, werde ich bestimmt nichts von ihr hören.

Bevor ich die Zeitung zurück an ihren Platz lege, lese ich die Annonce noch ein letztes Mal. Ein Sommer auf Capri. Autorin sucht. Aber das Herzklopfen von vorhin, das kehrt nicht wieder. Es kehrt nicht wieder, als ich im Brel noch einen schnellen Espresso am Tresen trinke. Es kehrt nicht wieder, als ich zurück in den vierten Stock steige und dabei wie immer außer Puste gerate. Und es kehrt auch nicht wieder, als ich am Abend nach der Tagesschau den Tatort gucke und der ausnahmsweise mal richtig spannend ist.

Es kehrt auch am Montag nicht zurück, als ich im Presse-Paradies einen ganzen Tag lang neue Zeitschriften in die Regale sortiere und alte ins Lager bringe, wo der Grossist sie am nächsten Morgen abholen wird. Am Dienstag, während einer quälend langen Schicht hinter der Kasse, spüre ich es ebenfalls nicht mehr.

Am Mittwochmorgen vergesse ich sogar zum ersten Mal, in meinen E-Mails nach einer Antwort zu gucken – und als ich am Abend daran denke, finde ich natürlich auch keine, im Posteingang nicht und auch nicht im Spam-Ordner. Und irgendwie ist es ja auch logisch, oder? Ich meine, ein geheimnisvoller Sommerjob als persönliche Assistentin von wer-weiß-wem auf einer traumhaften Urlaubsinsel? Bestimmt haben sich Massen von bestens qualifizierten Bewerbern dort gemeldet, die nicht nur fließend Italienisch können, sondern auch Diplom-Rechercheure und zertifizierte Lektoren sind und nicht nur behaupten, ein ausgeprägtes Gespür für Grammatik und Orthografie zu besitzen, sondern es beweisen können. Und kurz überfallen mich entgegen meiner Gewissheit, dass die ganze Sache ohnehin Quatsch ist, leise Zweifel: Hätte ich nicht doch ein bisschen lügen sollen, so wie es vermutlich alle tun? Zumindest bei meinen Italienischkenntnissen hätte ich doch behaupten können, ich hätte den C1-Kurs an der Volkshochschule nicht abgebrochen, sondern mit Bravour absolviert. Andererseits: Wenn ich gelogen hätte, würde ich jetzt vermutlich Angst haben, als Lügnerin aufzufliegen. Denn ich habe zwar Routine darin, meine Sorgen und Nöte für mich zu behalten, aber aktives Lügen setzt mich so sehr unter Stress, dass ich es nur dann tue, wenn es mir wirklich unerträglich ist, mit der Wahrheit herauszurücken. Insofern bin ich erleichtert, auch wenn nun jemand Dreisteres die Stelle kriegen sollte. Die Stelle, an die ich ja ohnehin nicht richtig glaube.

Und so vergeht auch der Donnerstag, der Freitag. Eigentlich hatte ich vor, am Samstag nach Lichterfelde zu fahren, weil Anni mit Mann und Kind ein langes Wochenende auf Rügen ist und Evelyn und ich spazieren gehen wollten – aber dann hat die sich dafür entschieden, einen Großkampftag bei IKEA einzulegen, und da muss ich nun wirklich nicht mit.

Ich beschließe, den Vormittag bei Bettina im Blumenladen an der Ecke zu verbringen – seit dem Wegzug meiner Mädels ist das mein letzter Rettungsanker im Kiez. Bettina ist zwar erst vor elf Jahren aus der Nähe von Hannover nach Berlin gezogen, aber in der Zeit hat sie es geschafft, ein fester Anlaufpunkt in der Nachbarschaft zu werden. Wirklich jeder hier im Viertel kennt die etwas pummelige und burschikose, aber stets gut gelaunte Blondine mit dem breiten Lächeln – und wirklich jeder mag und schätzt sie. Und auch ich fühle mich irrsinnig wohl in ihrer Nähe. Und wenn ich samstagvormittags zwischen Freesien, Ranunkeln und riesigen Lilien in ihrem Laden sitze, kann ich beinahe vergessen, dass es sonst eigentlich keinen Ort auf der Welt gibt, an dem ich mich an einem sonnigen Samstag nicht einsam fühle.

»Morgen, Bettina!«, rufe ich, als ich ihren vor farbenfrohen Gewächsen fast überquellenden Laden betrete, ohne genau zu wissen, hinter welchem Tulpenstrauß oder Rosenbüschel ihr lustiges Gesicht gleich auftauchen wird.

»Hey, Isa, schön, dich zu sehen!« Sie richtet sich hinter dem Verkaufstresen auf und strahlt mir entgegen. Dann fällt ihr Blick auf die beiden Kaffeebecher in meinen Händen. »Oh! Ist einer davon etwa für mich?«

Ich halte ihr ihren entgegen. »Viel Milch, viel Zucker.«

»Du bist ein Engel!«, sagt sie und greift zu. »Und? Wie war die Woche? Wie geht’s?«

»Super«, sage ich, und das ist nicht einmal eine Lüge, denn Bettinas üppiges Blütenreich bereitet mir wie immer gute Laune. »Und bei dir?«

»Alles paletti«, grinst Bettina und fängt sofort an, mir den neuesten Klatsch aus der Straße zu erzählen – wer ist krank, wer im Urlaub, wo wurde eingebrochen, wo renoviert. Während wir plaudern, mache ich mich nützlich: Ich helfe ihr dabei, Blumenkübel zu verrücken und sorgsam gebundene Bouquets in schickes, pinkfarbenes Seidenpapier zu wickeln, ich hefte EC-Kartenbelege an handgeschriebene Quittungen und bereite manchmal sogar die Blumen zum Binden vor, indem ich sie anschneide oder überflüssige Blätter abzupfe. Wenn gerade keine Kundschaft da ist, quatschen wir mit Nachbarn, die vorbeikommen, ich erzähle, was Anni und Evelyn gerade umtreibt und wie es mir im Zeitungsladen so ergangen ist. Ein Samstagvormittag bei Bettina fühlt sich beinahe so an, als hätte ich einen Platz auf der Welt. Und als gegen Mittag etwas Ruhe im Laden einkehrt und ich noch einen Kaffee aus der Eisdiele nebenan geholt habe, findet sich endlich auch der Moment, um von meiner Begegnung mit Alex zu berichten, der immerhin auch ihr langjähriger Nachbar gewesen ist. Natürlich lasse ich unter den Tisch fallen, wie niederschmetternd diese Begegnung für mich gewesen ist. Bettina mag der bestgelaunte und beliebteste Mensch im ganzen Kiez sein – Schwäche zeigen mag ich vor ihr trotzdem nicht. Vermutlich ist es sogar gerade ihre gute Laune, die mich davon abhält. Wenn jemand so sehr in sich ruht, so stark, zufrieden und unabhängig ist wie sie, wie soll man sich da entblößen und zeigen, was für ein kleines und verwundbares Etwas man selbst ist? Man würde ja auch nicht auf die Idee kommen, Heidi Klum vollzujammern, weil man seinen Hintern zu dick findet.

Und natürlich reagiert Bettina mit einem Lachen, als ich ihr von Alex und seinem doppelten Nachwuchs erzähle, jenem Lachen, für das sie in der ganzen Straße bekannt ist, weil es so ansteckend wie eine Virusgrippe ist – es ist kaum möglich, sich nicht davon mitreißen zu lassen.

»Alex und Zwillinge? Hahaha, na, das kann ja was werden! Der war ja schon heillos überfordert, wenn er sich entscheiden sollte, ob er dir weiße oder gelbe Tulpen mitbringt!«

Ich lache mit ihr, auch wenn mir beim Gedanken daran schon wieder zum Heulen ist. Alex hat mir vor allem gegen Ende unserer Beziehung Tulpen mitgebracht, um mich zu trösten, mich aufzuheitern, mir zu beweisen, wie sehr er mich liebt. Bettina weiß davon nichts. Als Alex und ich uns damals trennten, habe ich ihr nur erzählt, wir hätten uns auseinandergelebt.

»Meinst du, er kriegt das hin?«, fragt Bettina jetzt, immer noch lachend.

»Aber klar«, sage ich und erröte ein bisschen. »Ich würde mir nur wünschen, er würde es woanders hinkriegen und nicht hier im Kiez, wo ich ihm alle naselang begegnen werden.«

»Soll ich ihm Hausverbot geben?«, fragt Bettina und wackelt grinsend mit den Augenbrauen.

»Das wäre nett, ja«, sage ich grinsend zurück.

»Mach ich«, lacht sie. »Und schwangere Frauen werden von mir ohnehin nicht bedient!«

Sie lügt natürlich: Bis jetzt hat Bettina ihre Herzlichkeit noch für niemanden gezügelt. Ihr gelingt es sogar, der stets schlecht gelaunten Inhaberin des Thai-Massagestudios am Ende der Straße ein Lächeln abzuringen.

»Klingelt da nicht dein Telefon?«, fragt sie aus heiterem Himmel.

»Bitte?«, frage ich zurück, dabei habe ich ihre Worte verstanden, es hat bloß einen Moment gedauert, bis ihre Bedeutung in meinem Hirn angekommen ist.

»Dein Telefon«, sagt sie noch einmal, doch da habe ich die gedämpfte Melodie bereits selbst vernommen und mir den bimmelnden Apparat in meiner Handtasche gegriffen.

»Ja«, sage ich überflüssigerweise. Das Display leuchtet und dort, wo normalerweise der Name des Anrufers erscheint, steht das unscheinbare Wörtchen »Anonym«.

Anonym ruft sonst nie jemand bei mir an, außer vielleicht die Nervensägen aus dem Kundencenter meiner Hausratsversicherung, die mich alle paar Wochen davon überzeugen wollen, dass es finanzieller Selbstmord wäre, sich nicht gegen Glasbruch, Fahrraddiebstahl und was weiß ich nicht alles zu schützen.

»Ich geh mal kurz raus«, sage ich augenrollend, zumal in diesem Moment eine Kundin den Laden betritt. Und während Bettina diese lächelnd begrüßt, marschiere ich eilig auf die Straße.

»Hallo?«, sage ich und erwarte eigentlich ein sanft säuselndes Versicherungsverkaufsgenie.

Fürs Callcenter ist die Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldet, allerdings eindeutig zu polternd – und zu alt. Sie klingt nach einem erfüllten Leben mit viel Wein, Zigaretten und langen nächtlichen Gesprächen.

»Spreche ich mit Isabell Ritter?«

»Am Apparat«, sage ich, etwas verwirrt.

»Sehr gut«, kommt es rau aus dem Hörer. »Hier spricht Mitzi Hauptmann.«

»Mitzi Hauptmann?«, wiederhole ich überrascht, denn der Name sagt mir etwas. »Die Schriftstellerin?«

»Sie kennen mich«, sagt die Dame mit lauter Reibeisenstimme. »Wusste ich doch, dass ich bei Ihnen richtig bin.«

Warum um alles in der Welt ruft mich Mitzi Hauptmann an?!

Doch dann dämmert es mir. Die Annonce. Ich schlucke. »Ich habe 15 Jahre lang als Buchhändlerin gearbeitet, natürlich kenne ich Sie! In fremden Gärten, das ist doch von Ihnen. Oder Ferne Boote, hieß das so? Und Ein letzter Tanz, das ist doch sogar Schullektüre!«, rattere ich in einem Atemzug runter.

»Richtig«, sagt Mitzi Hauptmann und klingt plötzlich ein bisschen gequält, beinahe so, als sei ihr meine Aufzählung unangenehm.

Dabei ist Mitzi Hauptmann wirklich ziemlich berühmt. Oder zumindest ist sie es einmal gewesen. Weil … wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht gewusst, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Ihre großen Werke stammen eher aus den Sechziger- und Siebzigerjahren.

»Die Anzeige … die war von Ihnen?«, frage ich überflüssigerweise.

»Ich wollte keine Journalisten oder verrückten Fans auf dumme Ideen bringen, drum hab ich meinen Namen in die Annonce nicht auch noch reingekritzelt. Aber ja, es stimmt: Ich suche jemanden, der mir diesen Sommer ein bisschen zur Hand geht.«

»Sie wollen wieder einen Roman schreiben?«

»Meine Memoiren«, sagt sie – und so vornehm sie das Wort auch ausspricht, bilde ich mir plötzlich ein, eine gealterte Berliner Göre zu hören. Stammt Mitzi Hauptmann etwa aus meiner Heimatstadt? Ich habe keine Ahnung und komme auch nicht dazu, mir länger Gedanken dazu zu machen. Trocken fügt sie hinzu: »Zumindest soweit ich mich an mein Leben erinnere.«

»Wieso brauchen Sie denn für Ihre Memoiren Hilfe?«, frage ich etwas dämlich.

»Na ja, Kindchen, ich bin ’ne olle Schachtel, das werden Sie vielleicht wissen. Als ich jung war, hab ich meine Bücher noch mit der Hand geschrieben, aber inzwischen sehe ich so schlecht, dass ich es kaum schaffe, mein Geschreibsel zu entziffern – zumal meine Handschrift inzwischen auch eher an ein EKG erinnert. Darum bin ich neuerdings dazu übergegangen, meine Texte zu diktieren.«

»Sie brauchen also jemanden zum Tippen?«

»Wusst’ ich’s doch, dass Sie nicht auf der Wurstsuppe hergeschwommen sind«, sagt sie und lacht dröhnend.

Und ich muss auch lachen, dabei weiß ich einen Moment lang gar nicht, ob ich beleidigt, enttäuscht oder panisch sein soll.

Enttäuscht, weil … na ja, ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt habe, aber irgendwas anderes, als bloß etwas abzutippen. Irgendwas … Kreatives. Und panisch, weil ich überhaupt nicht weiß, ob ich überhaupt mitschreiben könnte, was jemand anderer diktiert. Ich meine, klar habe ich mal einen Schreibmaschinenkurs gemacht. Aber ein ganzes Buch? In dem Kurs damals hat uns die Lehrerin allenfalls mal einen Brief diktiert. Außerdem sind seitdem ein paar Jährchen vergangen.

Ein paar? Knapp zwanzig.

»Sie können doch tippen?«, fragt Mitzi Hauptmann, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Das schon«, antworte ich unsicher und gebe dann zu: »Könnte sein, dass ich ein bisschen aus der Übung bin.«

»Glauben Sie, Sie könnten Ihre Fähigkeiten reaktivieren?«

»Äh … bestimmt«, sage ich, obwohl ich mir gerade überhaupt nicht sicher bin. Ob ich tippen kann und ob ich überhaupt tippen will.

»Und mit Computern und dem Internet kennen Sie sich auch aus?«

»Das ist kein Problem«, antworte ich, diesmal absolut reinen Gewissens.

»Na, fantastico«, sagt sie. »Sehr gut.«

»Was das Lektorieren angeht …«

»Ja?«

»Also, ich bin keine Lektorin. Keine richtige.«

»Aber Rechtschreibung und Grammatik beherrschen Sie.«

»Das schon, aber …«

»Das genügt mir. Sehen Sie, die Hauptsache ist, dass ich ein Manuskript abgebe, mit dem ich mich nicht komplett blamiere. Am Ende wird der Text ja auch noch mal im Verlag redigiert und korrigiert, um kleinere Details müssen wir uns da also keinen Kopf machen. Die sollen ja auch noch was zu tun haben, oder?«

»Okay«, sage ich.

»O-keeh«, wiederholt sie amüsiert, und inzwischen bin ich fast ganz sicher, dass das tatsächlich ein Berliner Einschlag ist.

»Ähm, ja«, sage ich.

Dann sagen wir beide einige Sekunden lang nichts.

»Frau … Frau Ritter«, setzt sie wieder an. »Ich biete Ihnen hier gerade eine Tätigkeit an, aber das kann ich nur, wenn ich das Gefühl habe, dass Sie daran auch echtes Interesse haben.«

»Das habe ich«, versichere ich hastig.

»Na schau. Dann will ich Ihnen mal die Eckdaten nennen. Also. Ich kann Ihnen fünfhundert Euro pro Woche anbieten, dazu kämen freie Kost und Logis. Sie müssten auch nicht den ganzen Tag arbeiten. Vormittags ein paar Stunden, nachmittags nur, wenn es mal so richtig flutscht, aber ich schätze mal, dass das wohl eher selten passiert. Die Sonntage bleiben ganz frei. Sie hätten also jede Menge Zeit, die Insel zu erkunden. Wenn Sie wollen, können Sie sogar meinen Wagen nehmen. Mich lässt man sowieso nicht mehr ans Steuer, und, na ja, ich will auch nicht.«

»Aber ich müsste nach Capri ziehen«, sage ich. Komischerweise fällt mir erst beim Stichwort »Insel« wieder ein, warum mir die Anzeige überhaupt ins Auge gestochen ist.

»Na ja, was heißt ziehen … Es wäre nur für einen Sommer«, sagt Mitzi Hauptmann. »Und die Anreise geht natürlich auf mich.«

Ich lasse meinen Blick über die Akazienstraße schweifen, wo ein viel zu kühler Wind durch die erst spärlich grünen Baumreihen weht. Ich blicke hinüber zum Café Brel, zu meiner Wohnung. In die Richtung des minimalistisch eingerichteten Architekturbüros, in dem bis vor einem halben Jahr unsere übervoll gestopften Bücherregale standen. Zwei Kinder laufen vorbei, ein Hund mit seinem Herrchen, drüben wird der Kleinen Kneipe eine Ladung Bier geliefert. Ich schaue hinein zu Bettina, die gerade einen großen Strauß Tulpen in Seidenpapier hüllt und dabei mit der Kundin plaudert.

Und plötzlich weiß ich, dass mein Zögern nichts mit der Vorstellung zu tun hat, nur Mitzi Hauptmanns Sekretärin zu sein. Ehrlich gesagt, finde ich die Vorstellung sogar ziemlich aufregend.

Aber ich merke, dass mir der Gedanke Angst macht, den Sommer irgendwo anders als hier zu verbringen. Und wenn ich mich noch so einsam fühle – hier ist mein Zuhause. Was, wenn ich in ein paar Monaten wiederkomme und mich endgültig fremd und entwurzelt fühle? Wenn ich zurückkehre und Alex mit seiner Familie an meinem Stammplatz im Café Brel sitzt? Was, wenn mich Evelyn und Anni ganz vergessen? Wenn Bettina sich eine andere Samstagsgesellschaft für den Laden sucht? Kann ich meine Wohnung überhaupt so lange leer stehen lassen? Und will ich wirklich einfach so meinem Job aufgeben und im Herbst arbeitslos sein?

»Frau Ritter?«

»Ums Geld geht es mir gar nicht«, gestehe ich. »Ich habe mir bloß noch nicht ernsthaft überlegt, ob ich hier meine Zelte so lange abbrechen soll.«

Mitzi Hauptmann schweigt, und ich schweige genauso.

»Wollen Sie mich zurückrufen, wenn Sie sich entschieden haben?«, sagt sie schließlich. »Wie viel Bedenkzeit brauchen Sie?«

»Ich weiß nicht, vielleicht bis morgen?«

Mitzi Hauptmann atmet durch. »Na jut«, sagt sie, aber ich kann die Mühe spüren, die es sie kostet, damit ihre Stimme zuversichtlich klingt. Mir wird klar, dass sie gerade Abstand von dem Gedanken nimmt, die Richtige für ihren Job ausgewählt zu haben. Vermutlich wandert ihr Finger schon in diesem Moment zur nächsten Telefonnummer auf der Bewerberliste.

»Obwohl, eigentlich …«, sage ich hastig, weil mir meine eigene Unentschlossenheit mit einem Mal auf die Nerven geht. Ich meine, was ist nur los mit mir? Ich habe nichts, was mich hier hält. Ich muss nicht einmal meine Wohnung untervermieten, denn ich zahle ja keine Miete. Und für irgendwas muss es ja gut sein, bloß einen dämlichen Aushilfsjob ohne Kündigungsfrist zu haben.

»Eigentlich?«

»Eigentlich muss ich es mir gar nicht überlegen.«

»Nein?«

»Nein«, sage ich.

»Sie sagen Nein?«

»Nein.«

Mitzi Hauptmann lacht. »Also, wie jetzt?«

»Ich sage nicht Nein.«

»Sie sagen also Ja.«

»Ja!«

»Härrr-lich!«, sagt Mitzi Hauptmann begeistert. »Das freut mich wirklich. Denn um ehrlich zu sein, die anderen Bewerbungen waren nur mäßig überzeugend – dass die Leute nicht mal in der Lage sind, in ihren Anschreiben Bezug auf den Anzeigentext zu nehmen …Wie soll man es so jemandem zutrauen, den Überblick über ein Manuskript zu behalten?«

Ich sage dazu nichts, denn ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich zu einem solchen Überblick fähig bin. Aber gleichzeitig bin ich natürlich froh, dass ich am vorigen Sonntag verzweifelt genug war, um mir ein bisschen Mühe zu geben.

Überhaupt bin ich froh, merke ich. Richtig froh! Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit erfüllt mich so etwas wie Lebenslust.

»Ich freue mich auch«, sage ich, und merke, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet – ein Lächeln, ein Lachen, ein Strahlen. Und obwohl es ein grauer Berliner Frühlingstag ist und ich in graue Berliner Gesichter blicke, spüre ich schon, wie mir eine sanfte Brise durchs Haar weht und die italienische Sonne mir die Haut wärmt. Ich sehe das Mittelmeer glitzern und Fischerboote auf den Wellen schaukeln.

»Wann soll ich denn eigentlich anfangen?«, frage ich Mitzi Hauptmann.

»Von mir aus sofort«, sagt sie.

6

UND DANN HOLT mich die Wehmut doch noch einmal ein.

Zwei Wochen später nämlich, als ich endlich mal wieder in vertrauter Runde an meinem Esstisch sitze: mit der lustigen Evelyn und der warmherzigen Anni, mit Peter und Jo, mit den Kindern. Bettina ist ebenfalls da, und bis vor ein paar Minuten sind es auch meine Lieblingsnachbarn aus dem Haus gewesen: der freundliche Herr Hofmann von nebenan und die alte Frau Siemes aus der Wohnung unter mir, die schon mit meiner Oma befreundet war. Ich schenke Kaffee und Sekt und Traubensecco aus, alles lacht, die Kinder glucksen und malen Muster in die feine Schicht aus Puderzucker und Kuchenkrümeln auf der Tischplatte.

Doch obwohl fast alles so ist wie früher, ist zugleich nichts wie zuvor. Wie zu der Zeit, als ich noch mit Alex hier lebte, als es noch keine Kinder gab, als nicht ständig jemand das Gespräch unterbrechen musste, um Fläschchen zu holen und Schnuller zu suchen und Windeln zu wechseln. Und als ich noch keinen gepackten Koffer im Flur stehen hatte.

Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, ein paar Worte zum Abschied zu sagen, irgendetwas in der Art, dass ich zwar verreise, mein Herz aber hierbleiben würde, bei meinen Freunden in Berlin, aber ich finde keinen passenden Moment dafür. Immer wenn ich ansetzen will, wird irgendwo ein Glas Saft verschüttet, kommen Feuchttücher zum Einsatz, fängt der eine an, über ein ganz anderes Thema zu reden, möchte eine andere noch einen Kaffee. Ständig ist etwas, und als mir im Laufe des Nachmittags nach dem dritten Glas Sekt dann doch noch einmal so besinnlich ums Herz wird, dass ich unbedingt etwas sagen will, ist es bereits so spät, dass Anni und Evelyn aufbrechen müssen und wir uns nur noch hektisch, aber herzlich drücken können, weil das erste Kind bereits vor Müdigkeit zu weinen beginnt.

»Tschüss, ihr alle!«

»Mach es gut, liebe Isa! Viel Glück!«

»Gute Reise!«

»Und melde dich, hörst du!«

Und dann sind Bettina und ich plötzlich allein, inmitten eines unfassbaren Chaos aus Servietten und Gläsern und Quetschie-Schraubdeckeln, und wir können kaum fassen, wie still es auf einmal ist.