Der Wind und die Wellen und wir - Emma Sternberg - E-Book

Der Wind und die Wellen und wir E-Book

Emma Sternberg

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Beschreibung

Loslassen. Und das Herz frei bekommen.

Hanna und Moritz haben einen festen Plan: Heiraten und dann das traditionsreiche Hotel seiner Eltern übernehmen. Doch in der Nacht vor der Hochzeit packt Hanna die Panik. Will sie das alles wirklich? Hals über Kopf setzt sie sich in den Campingbus, in dem es eigentlich auf Hochzeitsreise gehen sollte, und fährt los - immer weiter nach Norden, bis nach Schweden. Sie kommt an einsame Strände, blickt über weite Felder, lässt sich den Wind um die Nase wehen und findet dann einen Stellplatz auf dem Katrinegård, ganz nah am Strand. Iris, die alte Besitzerin des Hofs, braucht Hilfe bei der Renovierung. Eigentlich nur für ein paar Tage. Doch das Leben will es anders, und ganz langsam kommt Hanna an. Am Meer, aber nicht nur. Sondern auch bei sich ...

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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Hanna und Moritz haben einen festen Plan: Heiraten und dann das traditionsreiche Hotel seiner Eltern übernehmen. Doch in der Nacht vor der Hochzeit packt Hanna die Panik. Will sie das alles wirklich? Hals über Kopf setzt sie sich in den Campingbus, in dem es eigentlich auf Hochzeitsreise gehen sollte, und fährt los – immer weiter nach Norden, bis nach Schweden. Sie kommt an einsame Strände, blickt über weite Felder, lässt sich den Wind um die Nase wehen und findet dann einen Stellplatz auf dem Katrinegård, ganz nah am Strand. Iris, die alte Besitzerin des Hofs, braucht Hilfe bei der Renovierung. Eigentlich nur für ein paar Tage. Doch das Leben will es anders, und ganz langsam kommt Hanna an: am Meer, aber nicht nur, sondern auch bei sich …

Die Autorin

Emma Sternberg ist die Autorin zahlreicher Bestseller, darunter Fünf am Meer. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg, wo sie gerade ein Bauernhaus renoviert. Seither vergöttert sie jeden, der mit Lehm, Kalk, Holz und Liebe alte Häuser wieder zum Leben erwecken kann.

Lieferbare Titel

Fünf am Meer

Azurblau für zwei

Ein Garten für zwei

EMMA STERNBERG

Der Wind und die Wellen und wir

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 04/2025

© 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

Redaktion: Regine Weisbrod

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung von © FinePic®

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-24266-4V002

www.heyne.de

Ich atme ein und schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist sie immer noch da: die alte, schwere Kirchentür. Hinter ihr warten unsere Hochzeitsgäste, warten Moritz und unsere Eltern, wartet mein zukünftiges Leben, mein ganzes Glück. Gleich, gleich, gleich wird die Orgel erklingen, wird unsere Floristin Ina die Tür öffnen, werde ich den Kirchengang hinab- und auf Moritz zugehen. Doch noch lässt das dicke Holz der Tür nicht den leisesten Laut aus dem Inneren hinaus, und so fühlt es sich beinahe so an, als würde all das gar nicht wirklich passieren. Alles, was ich höre, ist Vogelgezwitscher, das Klopfen eines Spechts, ein Eichhörnchen, das mit hastigen Sprüngen einen Baum erklimmt. Ich drehe das Gesicht noch einmal in die Sonne, spüre, wie mich ihre warmen Strahlen kitzeln.

Drüben auf dem Parkplatz steht Schnuffi. Schnuffi, so habe ich den Van getauft, mit dem wir nachher zurück zum Hotel fahren werden. Er ist uralt, Baujahr 1978, und zitronengelb, hat Chromleisten und ein hochklappbares Dach – Moritz’ Hochzeitsgeschenk für uns beide. Eigentlich hatte er vor, das alte Gefährt von einem Luxusjachtbauer am Starnberger See neu ausstatten zu lassen, aber genauso edel und gelackt hätte der Wagen dann auch ausgesehen. Deshalb habe ich Schnuffi zu meinem ehemaligen Nachbarn Tommy gebracht, der nebenbei eine Werkstatt für Vans und Tiny Houses betreibt. Mit ihm zusammen habe ich jedes Detail geplant und fertiggestellt – die nigelnagelneue Schlafcouch genauso wie den ausklappbaren Tisch und die winzige Küche aus hellem Holz – alles, was man braucht für vier superromantische Flitterwochen in Italien. Moritz fand das Resultat erst ein bisschen zu hippiemäßig – aber dann hat er doch noch Gefallen daran gefunden. »Passt zu dir«, hat er lachend gesagt und mich fröhlich aufs Bett geschmissen. Vorhin hat er ihn umgeparkt, damit er sich nicht zu sehr aufheizt, aber jetzt knallt die Sonne schon wieder direkt durch die Windschutzscheibe.

Der Kirche hingegen steckt noch der Winter in den dicken Mauern, das weiß ich, denn in der letzten Woche war ich ungefähr ein halbes Dutzend Mal dadrin – allein zweimal, um zu üben, in hohen Brautschuhen möglichst mühelos zum Altar zu schweben. Die Gäste haben sich fast alle Strickjacken drübergezogen, auch das habe ich gesehen. Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, ebenfalls mein Bolerojäckchen aus dem Wagen zu holen, aber dann wäre mein wunderschönes und absurd teures Brautkleid nur noch die halbe Show, und die Schneiderin hätte die letzten Details am Bustier völlig umsonst abgeändert, also habe ich eben beschlossen zu frieren.

Begierig tanke ich noch ein bisschen Sonnenwärme, doch da geht es plötzlich los. Die Orgel erklingt, erst noch gedämpft, dann öffnet sich wie von Geisterhand die Tür, und die Musik dröhnt mir aus vollen Registern entgegen. Das Herz rutscht mir bis in die beinahe unsichtbare Nylonstrumpfhose von Wolford, die ich mir eigens für diesen Anlass geleistet habe. Und im nächsten Moment schlägt es mir bis hinauf zum Hals.

Und wie es schlägt, oh weh!

Egal. Da musst du durch, Hanna.

Los geht’s.

Ich umfasse meinen Brautstrauß mit beiden Händen. Dann mache ich den ersten Schritt. Die Gäste, die aufgereiht in den langen Bankreihen sitzen, drehen sich alle zu mir um – und wie auf Kommando erheben sie sich. Ich mache noch einen Schritt, dann einen dritten, erkenne unter den Gästen Herrn Leopold, neben ihm Nadine aus dem Spa und einen von Moritz’ Studienfreunden aus Cambridge. Doch dann kann ich mich nicht länger mit unseren Gästen aufhalten. Das Laufen in hohen Schuhen ist plötzlich seltsam schwierig, viel schwieriger als bei den Proben, ich weiß nicht, was das ist. Die Absätze fühlen sich an, als wären sie meterhoch, und der harte, steinerne Kirchenboden ist gefährlich glatt, beinahe wie Eis. Ich umschließe meinen Brautstrauß ein bisschen fester, ganz so, als könnte ich Halt darin finden. Warum habe ich mich eigentlich von der Idee abbringen lassen, dass mich Josef zum Altar führt? Ich meine, klar, er ist nicht mein Vater, sondern der Vater des Mannes, den ich heiraten werde. Trotzdem ist er schon fast wie ein Papa für mich. Ich fand dann zwar selbst, dass ich mich mit meinen achtunddreißig Jahren von niemandem mehr irgendwo hinbringen lassen muss, dass ich alt genug bin, meine Entscheidungen selbst zu treffen und meinen Weg alleine zu gehen. Doch jetzt, in diesem Moment, mutterseelenallein und auf Acht-Zentimeter-Absätzen, da ahne ich, dass es bei der Sache mit der Übergabe der Braut an ihren Ehemann gar nicht nur um eine patriarchale Geste geht, sondern vielleicht auch einfach darum, die Braut sicher über den glatt gelatschten Steinfußboden jahrhundertealter Kirchen zu geleiten.

Beinahe wäre ich gestolpert.

Als ich mich wieder berappele, bin ich schon fast bei Moritz angekommen. Er strahlt mich an, als sei ich tatsächlich das Schönste, was ihm seit langer Zeit passiert ist. Seine weißen Zähne blitzen, und auf seiner linken Wange zeigt sich das Grübchen, das immer nur dann entsteht, wenn er lächelt, weil er wahrhaft glücklich ist. Er streckt mir die Hand entgegen, und ich ergreife sie dankbar.

Puh, jetzt ist es also so weit. Der Bund fürs Leben.

Der Pfarrer erhebt die Stimme. »Liebes Brautpaar, ihr seid in dieser entscheidenden Stunde nicht allein. Gott ist bei euch. Er ist der Gott eures Lebens und eurer Liebe …« Der Pfarrer leiert weiter, doch mein Herz klopft so laut, dass ich kaum verstehen kann, was er sagt. Moritz hält meine Hand immer noch ganz fest in seiner. Ich würde mir wünschen, dass er sie ein klein wenig lockerer halten würde, doch er umschließt sie so eng, als hätte er Angst, dass ich davonrennen könnte. Als ich meine Hand ganz sanft ein Stückchen aus seiner ziehen will, drückt er sie sogar noch fester. Warum lässt er sie nicht los? Ist es unhöflich, sie ihm jetzt einfach zu entwinden?

Der Pfarrer spricht zu Moritz. Moritz antwortet, dann redet der Pfarrer weiter. Er sieht plötzlich sehr streng aus, und Moritz nickt artig. »Ja«, sagt er unvermittelt, und ich höre, wie jemand im Publikum laut aufschluchzt – vermutlich Gisela, seine Mutter.

Nun richtet sich der Pfarrer an mich, und mit einem Mal ist es so still, dass ich mich kurz frage, ob mein Herz überhaupt noch schlägt, denn ich höre jedes seiner Worte laut und deutlich: »Hanna, ich frage dich: Bist du hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit deinem Bräutigam Moritz den Bund der Ehe zu schließen?«

Er sieht mich an. Moritz hält meine Hand jetzt so fest, dass ich meine Finger fast nicht mehr spüre. Ich sehe auf sie hinab, sehe, wie weiß die Knöchel aussehen. Es wirkt fast so, als gehörten die aufwendig gemachten French Nails zu einer Puppe.

Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich bewege die Lippen, aber nicht ein Laut kommt aus meiner Kehle.

»Hanna?«

Plötzlich stehen Moritz’ Eltern links und rechts neben ihm. Sie stehen da und sehen mich an, auffordernd, drängelnd, dann drohend. Ihre Augen werden immer größer, und ihre Gesichter verzerren sich wie in einem sehr alten Spiegel. Die Halskette, die seine Mutter sonst immer nur bei Beerdigungen trägt, fängt plötzlich an, sich wie eine Schlange um ihren Hals zu bewegen.

Gisela lächelt, dann Josef, und schließlich lächelt Moritz auch. Er sagt nun nichts mehr, aber als ich genauer hinsehe, zwängt sich plötzlich ein kleiner, schwarzer Käfer mit vorsichtig um sich tastenden Fühlern zwischen seinen Lippen hervor.

1

Ich schlage die Augen auf und starre ins Dunkel. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Mein Schlafanzugoberteil ist nass geschwitzt, mein Herz rast, ich atme flach und hektisch. Moritz’ Finger haben sich tatsächlich um meine Hand gelegt, aber als ich den Arm erschrocken zurückziehe, hält er mich selbstverständlich nicht fest – seine Hand fällt einfach schlaff auf die Matratze. Ganz entspannt liegt er auf der Seite, sein Kopf sinkt in das weiche Daunenkissen, das braune Haar zerstrubbelt, eine Strähne fällt ihm in die Stirn. Sein Mund steht leicht offen, aber sosehr ich die Stelle auch fixiere, da ist kein Käfer zwischen seinen hübsch geschwungenen Lippen.

Natürlich nicht.

Es war bloß ein Traum, das ist alles.

Einfach nur ein blöder, böser Traum.

Ich horche in mich hinein und warte darauf, dass sich mein Herzschlag verlangsamt, doch nichts dergleichen geschieht. Mein Herz pumpt und pumpt und pumpt. Es pumpt, als würde ich rennen, als würde ich vor etwas fliehen. Und dann, mit einem Mal, glaube ich, ein leises Fiepen zu vernehmen. Ist das die Heizung? Es klingt wie die Heizung. Aber kann das sein? Ist unsere Suite nicht eine von denen, die vor Kurzem renoviert worden sind? Damals wurden doch Fußbodenheizungen eingebaut, und Fußbodenheizungen fiepen nicht. Oder?

Außerdem ist es der fünfzehnte Mai. Die Heizungen laufen seit Wochen nicht mehr.

Mit wackeligen Knien stehe ich auf. Ich tapse ins Badezimmer und schließe die Tür. Um nicht auch noch einen Helligkeitsschock zu bekommen, schalte ich nur das kleine Nachtlicht neben dem Klo an – ebenfalls eine Neuerung nach der Renovierung. Eine ziemlich angenehme, wie ich finde, denn das Nachtlicht reicht gerade so aus, um sich beim nächtlichen Toilettengang in der Dunkelheit zu orientieren.

Auch hier im Bad ist das Fiepen hörbar. Es ist sogar ein bisschen lauter als vorhin.

Bestimmt nur der Widerhall von den Fliesen.

Ich nehme den kleinen Papierdeckel von einem der Zahnputzgläser, fülle es mit Wasser aus dem Hahn und leere es in einem Zug. Ich atme immer noch zu schnell, viel zu schnell, darum gehe ich zum Fenster und öffne es leise. Weit, ganz weit, lehne ich mich hinaus. Ich nehme nichts wahr, nicht den Nachthimmel über der Stadt, nicht die Silhouette der Hausdächer um mich herum, nicht die Türme der Frauenkirche, die sich hell in die Höhe schieben. Ich halte die Augen geschlossen, sauge die kühle Frühlingsluft durch die Nase ein. Ich atme und atme.

Doch das Herzrasen geht nicht weg. Und das Fiepen – es ist sogar noch lauter als gerade eben.

Ist das die berühmte Panik kurz vor der Hochzeit, von der man manchmal liest?

Atme, Hanna. Atme.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich in den letzten Tagen und Wochen immer wieder mal, aber da habe ich es stets zur Seite schieben können. Diesmal offenbar nicht.

Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Wir haben die Verdunkelungsvorhänge vor den Fenstern gestern Abend nur halb geschlossen, und so zeichnen sich die schneeweißen Kissen und Laken in der Düsternis wie ein leichter Nebel ab. Irgendwo darin kann ich Moritz’ Kopf erahnen, und wenn ich die Luft anhalte, kann ich ihn trotz des Fiepens leise schnaufen hören.

Ganz friedlich liegt er da. Und das kannst du auch. Also leg dich wieder hin, Hanna.

Leg dich hin und schlaf ein, und dann wacht ihr morgen früh auf, und alles ist wieder gut, du wirst sehen. Du wirst verschlafen in den Tag blinzeln, und er wird dich verliebt anschauen, während du dich streckst und gähnst. Er wird dich küssen und seine Nase in deinen Nacken stecken. »Kaffee?«, wird er raunen, und du wirst »gerne« flüstern, und dann werdet ihr Sex haben, zärtlich, aber unkompliziert und schön. Danach wirst du quietschfidel unter die Dusche springen, und weil er dir hier im Zimmer keinen Kaffee machen kann, wird er dir unten einen im Restaurant besorgen, nicht zu stark und mit schön viel Milch. Es wird alles so sein wie immer.

Gut, vielleicht werdet ihr den Sex auch auslassen, immerhin ist morgen eure Hochzeit. Um acht kommt die Friseurin, und um zehn startet der Konvoi erst zum Standesamt und gleich danach weiter zur Kirche. Aber so oder so: einfach wieder ins Bett legen und schlafen, das wäre jetzt die beste Idee.

Die einzig richtige Idee.

Leg dich hin, Hanna.

Ich tapse zum Bett, gleite hinein, fühle die Wärme, die noch darin steckt. Ich ziehe mir die Decke über die Schultern, ruckele mir das Kissen zurecht und kuschle mich hinein. Ich schließe die Augen, mache mich bereit für den Schlaf.

Mein Puls rast. Und das Fiepen wird so laut, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme.

Ich setze mich wieder auf, gehe zurück ins Bad, hocke mich auf den geschlossenen Klodeckel und versuche angestrengt, so zu atmen, wie ich es in einem Yoga-Präventionskurs gelernt habe – vier Takte ein, acht Takte aus. Das beruhigt, das weiß ich, schließlich habe ich so ja auch die Panikanfälle in den letzten Tagen besiegt. Also ziehe ich die Luft durch die Nase ein und zähle: eins, zwei, drei, vier. Doch beim Ausatmen komme ich durcheinander. Ich setze erneut an, doch je mehr ich mich zu beruhigen versuche, desto nervöser werde ich.

Es war nur ein Traum, Hanna. Ein Traum. Es ist nichts passiert. Morgen werdet ihr aufstehen, in die Kirche fahren, euch das Jawort geben. Ihr werdet unter dem Jubel von Freunden und Verwandtschaft aus der Kirche kommen, Konfetti wird fliegen, und ihr, ihr werdet euch glücklich in den Armen liegen. Ihr werdet Champagner trinken und das Menü essen, das die Küche unten schon seit zwei Tagen vorbereitet. Ihr werdet Reden hören und Reden halten. Ihr werdet lachen und tanzen und glücklich sein und nach einer viel zu kurzen Nacht mit Schnuffi in die Flitterwochen düsen. Dahinten hängt dein Hochzeitskleid mit dem Bolerojäckchen, es bauscht sich im Dunkeln wie ein sattes, zufriedenes Gespenst.

Es wird alles ganz genau so, wie ihr es euch ausgemalt habt.

Wahrscheinlich sogar noch viel besser.

Atme, Hanna.

Atme.

Atme!

Himmel, was ist denn das nur mit meinem Herzen?

Ich fahre hoch, schlüpfe in Jeans und T-Shirt, ziehe eine Strickjacke über und meine Sneakers an. Ich bin peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, und die luxuriösen Teppiche und Polster helfen mir dabei gnädig. Nur als ich die Suite verlasse, macht das Türschloss leise klick, aber als ich innehalte und lausche, ist von drinnen nichts zu hören oder zumindest nichts, das lauter ist als das Fiepen in meinen Ohren, in das sich jetzt ein unangenehm rasselndes Klingeln gemischt hat, ein Klingeln wie von einem alten Wecker.

Ich laufe los, Bewegungssensoren erleuchten die Wandlampen im Flur. Lautlos schwebe ich über den Läufer in Richtung Lift. Mein hoher Puls sorgt dafür, dass sich meine Füße so rasch über den Boden bewegen, dass die Zimmertüren links und rechts wie im Flug an mir vorüberziehen.

Seit gestern Abend wohnen wir in der Hochzeitssuite des Hotels von Moritz’ Eltern. Das war ihre Idee, und ursprünglich fand ich ihren Vorschlag albern. Immerhin wohnen wir keine zwanzig Minuten weit weg, sodass es keinen Grund gibt, irgendwo anders zu übernachten als in unserer Wohnung. Außerdem arbeiten wir beide hier im Hotel, Moritz als Juniorchef, ich als Rezeptionsleiterin und, na ja, eigentlich auch Juniorchefin. Juniorchefin in spe. Da kam mir der Vorschlag, im Hotel zu schlafen, ungefähr so vor, als hätte man uns ans Herz gelegt, unsere Hochzeitsnacht auf einer Couch im Büro zu verbringen. Aber nach einer Weile fand ich den Gedanken dann doch ganz charmant: zur Hochzeit den ganzen Service eines Fünfsternehotels zu genießen, statt sich zu Hause darum sorgen zu müssen, ob noch genug Milch fürs Frühstücksmüsli da ist. Außerdem war Gisela der Meinung, dass das die einmalige Gelegenheit sei, die Zimmer aus der Perspektive des Gastes zu erleben.

Und wie sollten wir ihr, die die ganze Veranstaltung, ohne zu murren, zahlt, widersprechen?

Eben.

Noch sind die Zimmer fast alle leer – schon für heute haben wir kaum noch Fremdbuchungen angenommen. Nur in einzelnen Zimmern sind bereits Gäste untergebracht, die von weiter weg angereist sind – in diesem Kreis gab es am Abend bereits ein kleines, eher familiäres Essen. Aber morgen, da werden die restlichen Gäste anreisen, und dann wird hier so viel Trubel sein, dass es nicht mehr möglich sein wird, so heimlich, still und leise durch die Flure zu spazieren.

Fast kann ich die Gegenwart all jener Menschen jetzt schon zu spüren.

Es fühlt sich an, als könne jede Sekunde irgendwo eine Tür aufgehen, und heraus kommt irgendeine Tante – oder, schlimmer noch, meine Mutter.

Um ehrlich zu sein, ich habe nicht mal eine Vorstellung davon, was es Gisela und Josef kostet, den Hotelbetrieb für zwei Tage komplett auszusetzen und das Hotel ausschließlich mit Hochzeitsgästen zu füllen. Es ist sicher ein Vermögen, aber sie wollten das unbedingt – ich vermute, es ist ihnen wichtig, nicht knauserig zu wirken, wenn ihr einziges Kind in den heiligen Stand der Ehe tritt. Außerdem habe ich als Braut leider keine Eltern, die mit einem pompösen Fest aufwarten könnten, denn mein Vater ist bei uns ausgezogen, als ich vier war, und lebt inzwischen nicht einmal mehr. Und meine Mutter, na ja, die hat ihren Lebensunterhalt immer nur gerade so bestritten.

Andererseits sind Gisela und Josef so reich, dass ich mir wahrscheinlich keine Gedanken machen muss. Es wird ihnen nicht wehtun. Das Grandhotel Grainer gehört der Familie in dritter Generation, die Immobilie mitten in der Altstadt ist ebenso lange ihr Eigentum. Die Umsätze aus dem Hotelbetrieb landen also mehr oder weniger ohne Abzüge in ihrer Tasche. Gut, sie bezahlen ihr Personal sehr ordentlich, ich habe durchgesetzt, dass das Hotel Ökostrom bezieht, und auf dem Frühstücksbüfett stehen nur Topprodukte. Aber bei Preisen um die vierhundert Euro für das kleinste Doppelzimmer mit Dusche statt Badewanne und mit Blick in den Hof bleibt da immer noch einiges übrig. Zumindest so viel, dass die beiden ausschließlich Business Class in den Urlaub fliegen, jede Woche Besuch von einem Personal Trainer bekommen, der mit ihnen ihre Walking-Runde dreht, und Moritz und mir zur Verlobung eine Reise nach Bali schenken konnten – drei Wochen in einem Fünfsterne-plus-Boutique-Resort. Als milde Gabe zur Hochzeit werden sie uns die Wohnung überschreiben, in der wir schon seit sechs Jahren mietfrei wohnen – immerhin vier Zimmer in München-Harlaching, mit eigenem Tiefgaragenstellplatz und zwei Balkonen, von denen einer in Richtung Isar-Hochufer geht. Und das ist nur das Geschenk, das mit Ankündigung kommt, denn eine Überraschung ist selbstverständlich ebenfalls geplant, doch über die schweigen sie nur lächelnd.

Ich will den Knopf des Lifts drücken, doch dann ziehe ich die Hand zurück. Stattdessen nehme ich die Treppe – es sind ohnehin nur vier Etagen. Auf dem Weg nach unten überlege ich, wer Nachtdienst hat. Herr Leopold ist es sicher nicht, leider, denn wenn er da wäre, würde ich ihn besuchen. Er ist einer der liebsten Menschen hier im Hotel, weiß immer eine Antwort auf alles, und wenn nicht, dann bringt er einen wenigstens zum Lachen – es ist schade, dass er schon bald in Rente geht. Herrn Leopold würde es vielleicht sogar gelingen, mich zu beruhigen.

Im Erdgeschoss angekommen, luge ich vorsichtig um die Ecke. Mist, das dachte ich mir. Herr Ludwig ist mit der Nachtschicht dran. Der ist dünn wie ein Besenstiel und auf eine so falsche Weise freundlich, dass es mir fast lieber wäre, er wäre gleich unfreundlich. Das wäre zumindest ehrlich. Gebeugt wie ein Fragezeichen döst er hinter dem Rezeptionstresen vor sich hin und starrt mit halb geschlossenen Augen auf den Monitor des Empfangscomputers. Wahrscheinlich läuft Fußball. Oder irgendeine Snooker-WM. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte ich heute überhaupt niemanden für den Nachtdienst eingeteilt, aber Gisela hatte Angst, dass irgendjemand nachts was braucht und dann denken könnte, wir hätten hier keinen ordentlichen Service.

Um nicht an ihm vorbeizumüssen, ziehe ich mich leise zurück und nehme die Treppe hinunter in die Tiefgarage. Wieder geht das Licht nach einem kurzen Flackern an, automatisch und unerbittlich. Endloser Beton erstreckt sich vor mir. Noch ist die Garage leer – leer bis auf eine Handvoll Autos der Verwandtschaft, die bereits angereist ist. Und bis auf den knallgelben VW-Bus T2, der, mit einer Margeritengirlande geschmückt, auf seinen großen Auftritt wartet. Morgen werden wir damit von der Kirche zurück zum Hotel fahren und übermorgen in die Flitterwochen verschwinden. Davon hab ich schon seit Ewigkeiten geträumt: einmal mit so einem uralten Gefährt einfach draufloszufahren – ins Ungewisse, ins Abenteuer, einfach dorthin, wohin mein Herz mich trägt. Stehen bleiben, wo es mir gefällt. Schlafen, wo der Nachthimmel am schönsten ist. Kaffee aus altmodischen Emaillebechern. Bunt geblümte Campingstühle. Ich meine, geht’s noch romantischer? Kann man noch lauter Ja zum Leben sagen, als wenn man sich direkt hineinbegibt?

Zugegeben, es hat ein bisschen gedauert, Moritz zu überreden, denn der ist eigentlich gar nicht so wirklich der Typ fürs Camping. Ungewissheiten bereiten ihm nämlich Bauchschmerzen – er ist eher so ein Rituale-Typ. Am glücklichsten ist er, wenn er sich schon montags auf seinen Donnerstagsstammtisch freuen kann, der mit den immer gleichen vier Jungs im immer gleichen Wirtshaus stattfindet, in dem es, selbstverständlich, das immer gleiche Essen gibt. Campen ist für ihn ungefähr so attraktiv, wie mit verbundenen Augen auf einem Hochhausdach herumzuspazieren.

Aber irgendwann, das hab ich gemerkt, da hat sich etwas in ihm verändert. Plötzlich habe ich gespürt, dass er es wirklich will. Also, vielleicht nicht das mit dem Campen. Aber er wollte mir unbedingt meinen Wunsch erfüllen. Denn wenn nicht zur Hochzeit, wann dann? Außerdem liebt er mich, und er würde alles für mich tun, alles, alles, alles. Er hat mich mit ganzem Herzen in sein Leben gelassen, und morgen werden wir heiraten, und dann werde ich endgültig zu seiner reichen Familie gehören.

Endgültig. Und für immer.

Bis der Tod sich dazwischenwirft.

Mein Herz setzt aus, und das Fiepen, das einen Moment lang fast verschwunden zu sein schien, kreischt so laut in meinem Kopf wie eine Feuersirene. Mit einem Mal weiß ich, dass ich dabei bin, einen Fehler zu machen. Einen großen, einen gigantischen, einen unwiderruflichen Fehler.

Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag.

Schnell, ganz schnell versuche ich, ihn beiseitezuschieben, denn er ist dumm, dumm, dumm, dumm, dumm. Ich meine, wie um alles in der Welt kann ich nur so etwas denken? Alle beneiden mich um mein Glück! Meine Mutter, zu der ich eigentlich nicht sonderlich viel Kontakt habe, ruft mich seit der frohen Kunde unserer Verlobung alle paar Tage an, um sich aufgeregt zu vergewissern, ob es auch wirklich klappt, ob es immer noch wahr ist, dass ich diesen unglaublich netten und vor allem bestens situierten Mann ehelichen werde. Meine alten Freundinnen waren begeistert, als sie von meinen Plänen hörten, und das Team im Hotel hat mir mit herzlicher Diskretion gezeigt, wie sehr es sich freut, dass der Juniorchef in so gute Hände gekommen ist. Nadine zum Beispiel, die oben das Spa regiert und inzwischen eine echte Freundin geworden ist, war aufrichtig froh, als sie gehört hat, dass wir nach neun Jahren Beziehung, von denen ich wiederum schon acht Jahre im Hotel mitgearbeitet habe, endlich heiraten wollen. Und Herr Leopold, der alte Concierge, hat mir in einem vertraulichen Moment mitgeteilt, wie glücklich er sei, dass ich nun zur Familie gehöre. »Sie haben ein gutes Herz, liebe Frau Hanna«, hat er gesagt, »und vor allem ein großes Herz. Und das ist das Entscheidende, wenn man ein Hotel leitet.« Dann hat er noch etwas vom Wesen der Gastfreundschaft gesagt und davon, dass man sich für Menschen interessieren müsse und nicht für Geld, wenn man im Gastgewerbe glücklich werden will.

Auf alle Fälle sind alle irrsinnig happy, und es gibt mindestens eintausend Dinge, die für diese Hochzeit sprechen: Moritz ist ein treuer, lustiger Mann, der wirklich und wahrhaftig mit mir zusammen sein will. Er gibt mir, ohne zu murren, die Oberseite des Frühstücksbrötchens, er lässt mich entscheiden, welche Serie wir als Nächstes gucken, er weiß genau, welche Fragen er mir nach einem anstrengenden Tag stellen muss, und genauso gut, wann es Zeit ist zu schweigen und sich einfach nur früh mit mir ins Bett zu legen. Er hat eine tolle Familie, die mich herzlich aufgenommen hat und mir zutraut, den Laden irgendwann mit ihm zu übernehmen – immerhin eines der teuersten Hotels der Stadt und eine der ersten Adressen des Landes. Sollten er und ich ein Kind bekommen, dann hätte es eine Familie, wie man sie sich nur wünschen kann. Ich werde geliebt, ich werde geschätzt, ich erbe eines Tages eine Finca auf Mallorca und einen villenähnlichen Altbau im noblen Grünwald. Mir würde noch viel, viel mehr einfallen, was für diese Hochzeit spricht, aber kein einziger Grund dagegen.

Also, stell dich nicht so an, Hanna. Bring es einfach hinter dich. Ich meine, was soll schon passieren? Moritz liebt dich. Alles wird gut. Es wird eine wunderbare Ehe. Außerdem sind es nicht einmal mehr acht Stunden bis dahin. Du kannst die Hochzeit nicht mehr einfach so abblasen.

So.

So ist es.

Ich atme tief durch, dann drehe ich wieder um, drücke die schwere Brandschutztür auf und steige die Treppe zurück nach oben, Stufe für Stufe für Stufe. Der dunkle Gedanke jedoch, der ist leider nicht unten in der Tiefgarage geblieben. Im Gegenteil. Er holt mich ein, kommt zurück, wird mit jeder Stufe präsenter. Ich beschleunige meine Schritte, werde schneller und schneller, doch er hält mit.

Ich werde ihn nicht los, und ich weiß auch, wieso das so ist.

Er verschwindet nicht, weil er wahr ist.

Deshalb hört das Herzklopfen nicht auf. Deshalb werde ich seit Wochen jede Nacht wach, mit einem schlechten, mit einem ganz schlechten Gefühl. Deshalb habe ich Panik. Ich mache einen Fehler, das ist die Wahrheit, und diese Wahrheit ist es, die nach mir greift wie eine kalte, eine eiskalte Hand. Ich bin dabei, mich unglücklich zu machen.

Mich und Moritz.

Ich muss etwas tun, auch das wird mir jetzt klar.

Ich muss.

Selbst wenn auch das wieder ein Fehler ist.

Shit!

Mit pochendem Herzen gehe ich zurück zu unserem Zimmer. Zitternd lege ich die Schlüsselkarte an den Türöffner. Ich halte den Atem an und lausche dem leisen Sirren, als die Tür aufgeht.

Ich weiß, dass es verrückt ist.

Ich schleiche durchs Dunkel, nehme leise den Autoschlüssel vom Schreibtisch, meine Handtasche, das Handy. Ich wage es nicht, noch mehr einzupacken. Ganz kurz bin ich versucht, ein letztes Mal das Hochzeitskleid zu berühren, das an der offenen Tür des Kleiderschranks hängt. Es ist erst gestern von der Schneiderin zurückgekommen, die es noch mal etwas enger machen musste, weil mir in den letzten Wochen oft so flau im Magen war, dass ich abgenommen habe. Ich sehe es an, wie es da hängt, elegant und so dezent, dass man ihm seinen Preis kaum ansehen würde. Einmal noch die kühle, schwere Seide berühren? Ich lasse es bleiben.

Nur eine einzige Aktion verkneife ich mir nicht. Ich nehme die Acht-Zentimeter-Brautschuhe und stelle sie leise in den vergoldeten Mülleimer unterm Schreibtisch.

Klonk!

Ich halte den Atem an, denn das hat mehr Krach verursacht, als ich wollte, und so warte ich angespannt darauf, dass Moritz aufwacht und mich fragt, was um alles in der Welt ich dort unterm Schreibtisch tue. Denn das werde ich ihm nicht erklären können. Ich verstehe es nämlich selbst nicht.

2

Als ich auf den schmalen schwarzen Ledersitz des Campers schlüpfe, stehen die Zeiger der kleinen Uhr am Armaturenbrett auf 2:55 Uhr. Einen Augenblick lang halte ich inne und schließe die Augen. Mit den Fingerkuppen berühre ich das silbern glänzende VW-Logo auf dem alten Schlüssel in meiner Hand, befühle das zerkratzte Schlüsselschild aus schwarzem Kunststoff. Vorne am Kühlergrill prangt fröhlich der Blumenschmuck für morgen, aber ich habe nicht die Nerven, ihn vor dem Losfahren zu entfernen, denn überall in dieser Garage sind Überwachungskameras, die alles filmen – Aufnahmen, die sich Moritz und seine Eltern garantiert ansehen werden. Ehe ich vorhin aus dem dunklen Zimmer mit dem leise schnarchenden Moritz schlich, habe ich, ohne wirklich etwas zu sehen, doch noch ein paar Worte auf den kleinen Notizblock mit dem Grainer-Schriftzug neben dem Telefon gekritzelt, eine zusammengestammelte Entschuldigung, die nichts erklärt. Ganz sicher wird Moritz sich nach dem ersten Schreck die Aufnahmen ansehen, wieder und immer wieder. Er wird sie sich ansehen, um sich irgendeinen Reim auf mein Verschwinden zu machen.

Ich schiebe den Schlüssel ins Schloss, lasse den Motor an, lege den Rückwärtsgang ein und rolle aus der Parklücke in der Ecke. Ich habe Schnuffi noch nicht allzu oft gefahren und bin ein bisschen unsicher, als ich den Bus in Richtung Ausfahrt lenke. Der Betonboden der Hoteltiefgarage ist so perfekt glatt, dass sich die ersten Meter meiner Flucht unwirklich anfühlen, als würde ich über Eis hinwegschlittern. Fast so, als wäre sie immer noch Teil des Traumes, aus dem ich vorhin aufgewacht bin.

Ich kurbele das Fenster runter und ziehe an der rot-weißen Kette, woraufhin das schwere Eisengitter ächzend nach oben fährt. Die Kameras fallen mir wieder ein. Eine davon ist auf die Ausfahrt gerichtet, und ich gebe mir alle Mühe, so neutral wie möglich dreinzugucken. Aber kaum rolle ich auf die Straße, verdrängt mein vor Aufregung rasendes Herz den Gedanken an das, was Moritz denken wird oder nicht.

Ich bin draußen. Ich habe es geschafft.

Die Maximilianstraße schimmert golden in dem Licht, das aus den Edelboutiquen auf die Straße dringt. Ich gleite durch die Innenstadt wie ein Kanu über einen stillen See. Das Herz Münchens wirkt so leer und verlassen, als käme nie wieder jemand auf die Straßen zurück. Durch das immer noch geöffnete Fenster streift die Nachtluft meine Wangen, klar und kühl. Ich atme ein und wieder aus und stelle verwundert fest, wie ruhig ich geworden bin. Die blanke Panik von gerade eben ist wie weggeblasen, und obwohl ich immer noch etwas zittrig bin, fühle ich mich wach und konzentriert. An einer roten Ampel am Odeonsplatz fällt mir mein Handy ein. Ich stelle es aus – denn mir ist klar, dass Moritz versuchen wird, mich zu erreichen, sobald er merkt, dass ich nicht mehr da bin.

Im Film würde ich das Gerät aus dem Fenster werfen, aber so pathetisch bin ich nicht.

An einer Nachttankstelle will ich Benzin nachfüllen, aber als das Zählwerk der Zapfsäule nach ein paar Sekunden stoppt, fällt mir ein, dass Moritz erst gestern noch einmal getankt hat – natürlich. Denn Moritz plant nicht nur aus Lust gut, nein, er hat immer auch Angst, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Im Shop kaufe ich eine Dose kalten Kaffee, Kekse, Schokolade und Chips. Die Schränke in der winzigen Küche hinten sind mit dem Nötigsten gefüllt, aber sicher ist sicher. Ich werfe die Sachen auf den Beifahrersitz, ohne mich weiter um sie zu kümmern. Als ich nach dem Weiterfahren ein paar Hundert Meter weiter das leuchtende Logo einer Bankfiliale entdecke, halte ich noch einmal an.

Ich muss fast alle Karten aus dem Portemonnaie ziehen, bis ich endlich die EC-Karte zu meinem alten Konto finde. Ganz hinten steckt sie, noch hinter dem Mitgliedsausweis für ein Car-Sharing-Unternehmen, das gar nicht mehr existiert. In den letzten Jahren habe ich sie kaum gebraucht, denn Moritz und ich haben ein gemeinsames Konto. Einen Teil meines Gehalts überweise ich dorthin, um mich an den Kosten zu beteiligen – wobei der Betrag eher symbolisch ist. Denn für unsere Wohnung zahlen wir keine Miete, und das meiste, na ja … Moritz hat eben ein viel besseres Gehalt und fand es deshalb nur fair, den größten Teil der Kosten zu tragen. Das hat nicht einmal etwas mit Großzügigkeit zu tun – Geld, das muss man so sagen, ist ihm egal.

Mir war Geld nie egal, dafür hatte ich zeit meines Lebens viel zu wenig davon. Und deshalb klopft mir das Herz auch bis zum Hals, als ich meine Bankkarte in den Schlitz schiebe und meine PIN eintippe. Ich habe keine Ahnung, wie viel Geld im Augenblick auf dem Konto liegt, und bekomme erst mal einen riesigen Schreck, als mir der Automat keine fünftausend Euro auszahlen will. Doch dann fällt mir ein, dass man an Bankautomaten grundsätzlich nicht mehr als tausend Euro abheben kann. Besser als nichts, denke ich und schiebe das Bündel Hunderter und Fünfziger in die Hosentasche. Besser als nichts. Ich steige wieder in den Camper, starte den Motor und fahre, um mich nicht der Tatsache stellen zu müssen, dass ich überhaupt kein Ziel habe, einfach los.

3

Puh, ist das zäh! Ich meine, ich habe schon gewusst, dass Schnuffi kein Rennwagen ist. Aber wenn man sich auf der Flucht befindet und jedes Mal bis zehn zählen muss, ehe der Wagen auf das Gaspedal reagiert, dann ist das doch etwas mühselig. Von null auf siebzig Stundenkilometer brauche ich ungefähr viereinhalb Minuten. Vorhin hat mich sogar eine alte Vespa überholt, aber na gut, die war wahrscheinlich frisiert.

Langsam, ganz langsam rolle ich über die Autobahn. Links und rechts ziehen Felder und Wälder vorbei, und am Horizont scheint schon der nächste Tag auf. Ich sehe auf die Uhr: Es ist fünf Uhr morgens. In zwei Stunden wird der Weckdienst des Hotels klingeln. Moritz hat seinen Handywecker eine Viertelstunde später gestellt, zur Sicherheit, damit wir auf gar keinen Fall verschlafen.

Fünf Uhr, und ich bin immer noch in Bayern. Fast fühlt es sich so an, als bräuchte ich nur in den Rückspiegel zu schauen, um das Hotel zu sehen. Frustriert stemme ich den Fuß gegen das Gaspedal – und beschleunige auf … achtundsiebzig. Mann!

Zudem werde ich müde.

Eine Weile fahre ich noch weiter, doch irgendwann fallen mir fast die Augen zu. Aus Angst, am Steuer einzunicken, setze ich an einer der nächsten Ausfahrten den Blinker. Die Ortsschilder am Straßenrand sagen mir nicht viel, doch als ich nach ein paar Kilometern Landstraße schließlich an einem kleinen See lande, weiß ich, dass ich hier richtig bin. Ich finde einen verwaisten Parkplatz unter Bäumen, klettere nach hinten in den Wagen und ziehe die Schlafcouch aus. Ohne mich weiter um Bettzeug zu bemühen, lege ich mich hin, nur eine Decke hole ich aus dem Bettkasten unter der Matratze. Total erschöpft kuschele ich mich ein. Ich denke nichts, ich fühle nichts und sinke in tiefen Schlaf.

Und plötzlich ist es taghell.

Wie lange habe ich geschlafen? Ich weiß es nicht. Die Sonne strahlt mir mitten ins Gesicht. Ausgeschlafen bin ich noch lange nicht. Doch weil es keine halbe Sekunde dauert, bis mir einfällt, in welcher Situation ich mich befinde, setze ich mich hastig auf. Um mich herum parken nun mehrere Autos – zwei Kombis, ein Kleinwagen, ein SUV. Rasch, als könnte mich jemand verraten, klettere ich auf den Fahrersitz und fahre davon. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es gerade mal halb acht ist. Moritz ist wach.

Wieder Ortsschilder, die mir nur entfernt etwas sagen. Ein Nagelstudio, ein Friseursalon, ein Getränkemarkt, ein Lidl. Die Stadt, in die ich komme, scheint ziemlich klein zu sein, wie von selbst finde ich den Marktplatz. Ich parke Schnuffi vor einer Kettenbäckerei, die bereits geöffnet ist. Erfüllt von der irrationalen Angst, erwischt zu werden, hole ich mir ein Schokocroissant und einen großen Pappbecher Kaffee. Fast habe ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, als ich die Sachen hinaustrage und mich an eines der Alu-Tischchen setze, die vor der Filiale in der Sonne stehen.

Die Turmuhr an der kleinen Kirche zeigt fast 8:15 Uhr. Spätestens jetzt müsste Moritz meinen Abschiedsbrief gefunden haben. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche – ist es auch ganz sicher ausgeschaltet? Mit klopfendem Herzen stelle ich mir vor, wie er im Minutentakt bei mir anruft, vermutlich noch davon überzeugt, dass das alles ein großes Missverständnis ist und er mich mit wenigen Worten davon überzeugen kann, zurück ins Hotel zu kommen, wo mein Hochzeitskleid hängt und die Friseurin wartet, wo die Fotografin bereitsteht und die Gäste auch.

Und nicht nur er ruft gerade an. Auch seine Eltern. Und meine Mutter. Meine Mutter vor allem. Nicht, dass wir besonders eng miteinander wären, im Gegenteil. Eigentlich macht sie sich schon lange nichts mehr aus mir, und umgekehrt ist es, ehrlich gesagt, nicht anders. Das klingt so hart – und traurig natürlich auch, aber ich habe mich damit abgefunden. Ich meine, sie ist eine waschechte Narzisstin. Mein Vater war ihr nicht gut genug, also hat sie ihn rausgeschmissen, als ich vier Jahre alt und aus dem Gröbsten raus war. Dann kam mein Stiefvater, Hans, aber auch an dem hat sie herumgekrittelt, bis er aus purem Selbstschutz Schluss mit ihr machte. Der nächste Mann war Matthias, ein ziemlich netter Typ aus Stuttgart, den sie nach ein paar Jahren wieder sitzen ließ, und zwar für João, Mann Nummer vier. Für João verließ sie nicht nur Matthias, sondern auch mich, denn der Kerl war Inhaber des größten Jetski-Verleihs an der Algarve – und so saß ich mit gerade mal sechzehn Jahren ganz allein in unserer Wohnung, nur mit einer Telefonnummer, unter der sie kaum je erreichbar war, und einem Girokonto, auf das João immer, wenn er daran dachte, etwas Unterhalt überwies. Das habe ich damals nicht ausschließlich schlecht gefunden, denn welche Sechzehnjährige hat schon etwas dagegen, ihr komplett eigenes Leben zu führen? Aber ein bisschen allein gelassen habe ich mich insgeheim natürlich trotzdem gefühlt. Manchmal sogar sehr allein, zumal in der Zeit auch mein leiblicher Vater starb, zu dem ich immer noch ein bisschen Kontakt hielt, auch wenn ich spürte, dass er kaum Kraft für eine Tochter hatte. Ich glaube, dass er die letzten Jahre seines Lebens depressiv gewesen ist – er war allein und arbeitslos, denn der Beruf des Schriftsetzers, den er ursprünglich gelernt hatte, war damals schon beinahe ausgestorben. Er erlitt einen Schlaganfall und starb in seinem winzigen Apartment, wo ihn die Nachbarn erst fanden, als sein Briefkasten überquoll. Zur Beerdigung musste ich alleine, weil meine Mutter angeblich keinen Flug bekommen konnte. Das waren ziemlich düstere Zeiten, ich so ganz allein zwischen Tod und Einsamkeit und Schule.

Zum Glück war ich jung und stark. Oder zumindest wollte ich stark sein. Um nicht schwach und traurig zu Hause zu sitzen, habe ich mich in eine Dummheit nach der anderen gestürzt – Jungs und Drinks und Partys. Jungs vor allem. Das war nicht immer ideal – aber es war definitiv besser, morgens in Begleitung eines netten Typen oder eines leichten Katers aufzuwachen, als so mutterseelenallein, wie ich es in Wirklichkeit gewesen bin.

Na ja. Auf alle Fälle hat sich meine Mutter erst dann wieder für mich interessiert, als sie erfuhr, was für eine gute Partie ich mit Moritz gemacht habe. Denn sie ist schon lange nicht mehr mit João zusammen, sondern lebt jetzt mit einem pensionierten Sonnenschutzfachhändler namens Andrew in einem Vorort von Wolverhampton – wo auch immer das sein mag. Ich unterstelle, dass sie an der Konstellation vor allem den kosmopolitischen Touch liebt, den ihr ihr neuer Nachname Schubert-Harrison verleiht, denn sie hat bereits durchklingen lassen, dass sie sich durchaus vorstellen kann, zurück nach München zu kommen, in der Hoffnung, dass ihre bald schon recht wohlhabende Tochter sie dabei unterstütze.

Unter Garantie versucht sie gerade im Minutentakt, bei mir durchzukommen. Wobei – ob sie überhaupt schon weiß, dass ich abgehauen bin? Bestimmt, denn Moritz muss sie angerufen haben, in der Vermutung, dass ich trotz unseres distanzierten Verhältnisses bei ihr untergeschlüpft bin.

Oh, wie still und unschuldig das dunkle Display in meinen Händen wirkt, während unter der glatten Oberfläche wahrscheinlich gerade meine Mailbox explodiert!

Mit klopfendem Herzen stürze ich den Rest des Kaffees hinunter und stehe auf. Um irgendetwas zu tun, gehe ich in den Drogeriemarkt schräg gegenüber, der bereits offen hat. Dort kaufe ich mir zwei Dreierpacks Socken, ein paar Unterhosen und einen Deoroller, der im Angebot ist. Was ich wohl sonst noch brauchen könnte? Eigentlich sind die Einbauschränke im Bus mit Klamotten gefüllt – vor allem mit meinen, denn Moritz wollte aus etwas irrationalen Gründen einen Koffer mit auf die Reise nehmen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich noch deutlich besser ausgestattet sein könnte. Also stürme ich die Woolworth-Filiale zwei Häuser weiter, wo eine Verkäuferin gerade die ersten Wühltische auf die Straße schiebt.

Im ersten Moment stößt mich der Geruch in dem Laden ab – was die Klamotten hier für einen chemischen Geruch ausdünsten! Andererseits hat mich dieser Mief früher auch nicht gestört – offenbar bin ich ihn nur nicht mehr gewöhnt. Wie lange bin ich eigentlich schon nicht mehr in einem ganz normalen Laden einkaufen gewesen? Ganz sicher war es in der Zeit vor Moritz. Klar, als BWL-Studentin habe ich wie jeder normale Mensch bei H&M und Zara geshoppt, etwas anderes hätte ich mir gar nicht leisten können, und da riecht es genauso wie hier. Doch dann lernte ich in den Endzügen meines Studiums Moritz kennen, und von da an änderte sich für mich alles. Auch in Sachen Kleidung: Schon nach wenigen Wochen hatten wir uns angewöhnt, samstags durch die teuersten Boutiquen im Glockenbachviertel zu flanieren. Noch bevor ich mein Studium abschloss, im Hotel seiner Eltern einstieg und wir zusammen in die Harlachinger Wohnung zogen, hat Moritz mir dort die herrlichsten Kaschmirpullis und Seidenblusen gekauft, einfach nur, weil er fand, dass sie mir stehen, und na ja, wahrscheinlich auch, weil er unbedingt wollte, dass seine Eltern mich gut fanden. Ich weiß noch genau, wie hilfsbereit und irgendwie auch angespannt er mir zur Seite stand, als ich das erste Mal mit zu seinen Eltern kommen sollte und ratlos in meinen Kleiderschrank starrte. Was sollte ich nur anziehen? Vielleicht den Faltenmini, den ich wenige Wochen zuvor auf dem Flohmarkt gefunden hatte? Von dem riet er mir beinahe dringend ab, genauso wie von meinen bequemen Jeans und den Turnschuhen. Am Ende trug ich einen beigefarbenen Pulli aus Alpakawolle, schlichte Loafer aus Wildleder und eine knöchellange Chinohose, die mir am Bauch zu eng war, weshalb ich den ganzen Nachmittag lang steif wie ein Stock auf dem teuren Sofa der Grainers saß – aus Angst, dass mir sonst der Hosenknopf wegfliegen würde. Wie auch immer, seine Eltern mochten mich, und seine Mutter schenkte mir sogar noch am selben Abend ein Seidentuch, dessen Grünton ihr nicht stand, aber mir umso besser. Doch an die Erleichterung, die ich verspürte, als ich zu Hause endlich die Hose ausziehen konnte, an die erinnere ich mich noch heute. Gut, dass ich damals noch nicht wusste, wie ich später herumlaufen würde, denn als ich später im Hotel von Moritz’ Eltern anfing, trug ich wie alle anderen Mitarbeiter nur noch Tracht. Und gegen so ein gestärktes Dirndl fühlt sich eine enge Chinohose fast so bequem an wie ein ausgeleierter Pyjama.

Hier bei Woolworth gibt’s dergleichen natürlich nicht – weder Dirndl noch Chinos noch Alpakapullis. Doch das ist mir gleichgültig, denn in Wahrheit mache ich mir nicht viel aus Luxuskleidung. Nichts gegen kuschelige Kaschmirpullis, aber am Ende sind auch die bloß Pullis, nur halt welche, die viel zu teuer sind. Außerdem: In nächster Zeit will ich ohnehin niemanden sehen. Zumindest niemanden, den ich mit meinen Klamotten beeindrucken müsste. Deshalb lege ich mir in aller Entspanntheit ein paar ganz okaye T-Shirts über den Arm, außerdem ein nett gestreiftes Herrenhemd und ein dunkelblaues Sweatshirt mit dem Aufdruck »Hooray«, in dem Moritz mich nicht einmal zum Bäcker gehen lassen würde. Es tut mir gut, einfach nur irgendwelche Klamotten zu kaufen, Kleidungsstücke, die kein Statussymbol sein wollen und keine Selbstvergewisserung, sondern einfach nur Shirt und Pullover. Die Summe, die ich an der Kasse begleiche, macht mir sogar richtig gute Laune. Für das Geld hätte ich bei der Cashmere Connection am Gärtnerplatz nicht einmal ein Fläschchen des hauseigenen Feinwaschmittels bekommen!

Beim Zahlen fällt mein Blick auf die Uhr an der Wand. Es ist kurz nach halb zehn. Eigentlich sollte gleich der Konvoi zur Kirche starten, mit mir als strahlender Braut, geschmückt und geschminkt und frisiert.

Allein bei dem Gedanken daran fängt mein Herz wieder an zu rasen.

Als ich im Auto sitze, denke ich, dass ich jetzt eigentlich eine Freundin anrufen müsste, jemanden, der mich verstecken kann. Hat nicht jede normale Frau für Momente wie diesen hier einen Menschen? Mir jedoch fällt niemand ein. In den letzten Jahren bin ich fast ausschließlich im Hotel oder eben mit Moritz zusammen gewesen – oder mit Freunden, die unsere gemeinsamen Freunde waren. Bei keinem von denen würde ich mich jetzt gerne melden. Und meine alten Freundinnen? Die aus der Zeit vor Moritz? Beschämt stelle ich fest, wie selten ich mich zuletzt bei ihnen gemeldet habe. Ich meine, klar, zur Hochzeit hatte ich Miri eingeladen und Steffi und Johanna, mit denen ich schon in der Schule war. Und natürlich haben die auch zugesagt. Aber eine von denen um einen Platz auf der Couch bitten? Das käme mir falsch vor, übergriffig sogar. Ich hätte das Gefühl, mich aufzudrängen. Manchen Menschen macht das nichts aus, aber irgendwie hat mir niemand beigebracht, mich einfach so zuzumuten.

Und meine Mutter? Tja. Nicht exakt die Person, deren guten Rat ich jetzt hören will.

Eine Schwester bräuchte man jetzt. Jemanden, dem man nichts erklären muss, jemanden, bei dem man einfach so Hausrecht hat.

Ich gondele weiter über die Landstraßen, weiter und weiter und weiter, zurück auf die Autobahn, einfach so drauflos, ohne Verstand, ohne Ziel. Eigentlich tue ich genau das, wovon ich immer geträumt habe – ich fahre der Nase nach. Nur dass es sich nicht anfühlt wie Freiheit und Abenteuer. Der Weg ist das Ziel? Von wegen! Je länge ich fahre, desto schlechter fühle ich mich. Schnuffis Sitze sind unbequem, und mühsam zu lenken ist das alte Ding auch, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich eine Art Kater bekomme, einen Kater nach der Flucht. In mir zieht sich alles zusammen, ich empfinde Reue, bekomme Schuldgefühle. Mache ich nicht gerade einen riesigen Fehler? Und ich frage mich, was ich eigentlich getan habe. Ich meine, wo will ich eigentlich hin? Und vor allem: Wovor laufe ich davon? Vor einem schönen Zuhause mit einem Mann, der mich liebt? Denn das tut Moritz, das weiß ich genau. Und ich habe immer gedacht, dass es mir genauso geht. Ich meine, wir haben immer ganz wunderbar funktioniert zusammen, haben uns nie groß gestritten, hatten keine Konflikte. Wir sind morgens zusammen aufgestanden, haben gelacht und gelebt. Nichts an uns hat sich je falsch angefühlt. Wir sind zusammen ins Hotel gefahren und waren auch dort das perfekte Team. Er der Kronprinz und ich seine Königin-to-be.

Es war eigentlich alles gut, oder nicht?

Und warum bist du dann abgehauen, Hanna?

Warum machst du alles kaputt?

Warum tust du Moritz so weh?

Je mehr Fragen es werden, desto heftiger fange ich an zu schwitzen. Ja, mit einem Mal habe ich sogar das Gefühl, in meinem eigenen Schweiß zu sitzen, aber ich kann gegen die Hitze nichts tun – egal, an welchem Regler der Lüftung ich drehe, es ändert sich nichts an der Temperatur. Das soll eine Klimaanlage sein? Das fühlt sich eher so an, als würde einen jemand warm anpusten! Ich überlege, was ich tun soll, und beschließe, die nächste Raststättenausfahrt zu nehmen – und tatsächlich, da ist schon ein Hinweisschild! Noch ein paar Minuten, und schon fahre ich von der Autobahn ab. Ich rolle über den Parkplatz, stelle Schnuffi neben einem Lkw ab und stürze aus dem Wagen in die Raststätte.