Ein Garten für zwei - Emma Sternberg - E-Book
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Ein Garten für zwei E-Book

Emma Sternberg

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Beschreibung

Lu ist smart, schnell und als Anwältin in einer Top-Kanzlei supererfolgreich. Doch dann stirbt ihr großer Bruder Pip und mit einem Mal weiß Lu nicht mehr, wo oben und unten ist. In Pips Gartenlaube will sie sich erst nur verkriechen, doch dann wird es Frühling. Die Natur erwacht, und während Lu in der Erde wühlt, entdeckt sie nicht nur, dass Glück etwas ist, das man mit den Händen greifen kann. Sondern auch, was sie vom Leben wirklich will.

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Seitenzahl: 450

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Das Buch

Die Liebe ist wie ein Garten: Sie ist niemals fertig.

Lu ist smart, schnell und als Anwältin in einer Top-Kanzlei supererfolgreich. Doch dann stirbt ihr großer Bruder Pip, und mit einem Mal weiß Lu nicht mehr, wo oben und unten ist. In Pips Gartenlaube will sie sich erst nur verkriechen, doch dann wird es Frühling. Die Natur erwacht, und während Lu in der Erde wühlt, entdeckt sie nicht nur, dass Glück etwas ist, das man mit den Händen greifen kann. Sondern auch, was sie vom Leben wirklich will.

Die Autorin

Emma Sternberg ist die Autorin zahlreicher Bestseller, darunter Fünf am Meer. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und einer windschiefen Datsche in Brandenburg, wo sie Ohrwürmer rettet, alte Apfelsorten pflanzt und gerade versucht, eine Wildblumenwiese anzulegen.

EMMA STERNBERG

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- und Jugendliteratur

Umschlaggestaltung: Favoritbüro

Illustrationen: © Elisabeth Moch

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-24261-9V004

www.heyne.de

1

Es gibt Momente in meinem Leben, in denen ich heilfroh bin, dass meine Mutter mich nicht sieht.

Dieser hier ist so einer: Meine Aktentasche ist gepackt, ich bin geduscht, frisiert, dezent geschminkt, die Nägel sind in einem zurückhaltenden Rosenholzton lackiert. Es ist genau 8:58 Uhr, und in zwei Minuten wird der Chef der Malerfirma klingeln, um meine Wohnung zu besichtigen und mir danach einen Kostenvoranschlag zu erstellen. Für 9:15 Uhr habe ich meinen Lieblingstaxifahrer bestellt, damit ich um 9:30 Uhr in der Kanzlei sein kann, wo um Punkt 9:45 Uhr die Sitzung zur Übernahme von A-Z Hotels beginnt. Der Morgen ist also ganz genau durchgetaktet – und ich? Renne in meiner Wohnung hin und her und finde meinen Schlüsselbund nicht.

Ich suche wirklich überall: In allen Mantel- und Jackentaschen, auch von jenen, die ich seit Wochen nicht mehr anhatte. Neben, in und unter der Alessi-Schale auf dem Sideboard, in die ich ihn normalerweise immer lege. Ich suche auf dem Küchentresen, wo außer einer Packung Aspirin direkt nur eine Nespressomaschine und ein noch nie benutzter Smoothiemaker stehen. Ich suche auf dem Nachttisch neben meinem Bett, auf dem aber nur meine Schlafbrille und das Ladekabel fürs Smartphone liegen (wer auch immer behauptet, man solle auf keinen Fall neben seinem Smartphone schlafen, der ist noch nie nachts aufgewacht, weil ihm plötzlich eingefallen ist, mit welcher Argumentation man die Fusion zweier Sportartikelhersteller garantiert beim Bundeskartellamt durchkriegt). Ich suche alle relevanten Ecken des Wohnzimmers ab: den Esstisch mit dem riesigen Kerzenleuchter in der Mitte, auf dem ich fein säuberlich die Rechnungen sammle, die ich immer sonntags beim Anne-Will-Gucken in einem Schwung überweise. Den Couchtisch, den ein Stapel ungelesener Magazine und ein Schälchen Studentenfutter zieren. Das riesige, hellgraue Sofa, das ich mir nach meinem Eintritt bei Steinkopf Ahmadi LLP selbst geschenkt habe, und das, weil ich eigentlich immer nur Sonntagabend darauf sitze, immer noch wie neu aussieht. Ich sehe im Bad nach, wobei ich in der Badewanne eine tote Spinne entdecke, die ich angewidert mit viel Wasser hinunterspüle (und die mich wieder einmal darin bestätigt, dass die Frau, die mir die Putzfirma neuerdings schickt, entweder schludrig oder blind ist). In meiner Verzweiflung suche ich auch noch im Gästezimmer, obwohl ich das eigentlich kaum betrete, seit dort der gigantische Crosstrainer steht, den ich mir zugelegt habe, als ich irgendwann keine Zeit mehr fürs Fitnessstudio hatte (und den ich ebenfalls nicht benutze, weil einem nämlich schwindelig wird, wenn man versucht, darauf irgendwelche Akten zu lesen). Am Ende gucke ich sogar auf mein Handy, das ich nach dem Aufstehen stets bis zur letzten Minute an meinem Zweitladekabel im Flur hängen lasse, um mit möglichst vollem Akku in den Tag zu starten. Aber das zeigt natürlich nichts an – außer, dass meine Mutter heute schon dreimal angerufen haben muss, und dass es bereits drei Minuten nach neun ist. Hatte ich dem Mann nicht klargemacht, dass ich Anschlusstermine habe?!

Wieder laufe ich durchs Wohnzimmer. Wo ist, verdammt noch mal, mein Schlüssel?

Ich gehe ins Bad und kontrolliere meinen Dutt. Mein Haar ist ziemlich störrisch, und natürlich hat sich wieder eine lockige, dunkelbraune Strähne gelöst. Dann sehe ich noch einmal auf mein Smartphone. 9:05 Uhr.

Ich denke gerade daran, Kumar in seinem Taxi Bescheid zu geben, dass sich mein Zeitplan etwas nach hinten verschiebt, da klingelt es. Endlich.

Wenig später schiebe ich einen kleinen, irgendwie windig aussehenden Mann in blauen Latzhosen durch meine Wohnung, der sich mit Müller vorstellt. Hastig zeige ich ihm die verschiedenen Macken und Flecken an meinen Wänden und diktiere ihm, was in welchem Farbton aus der Farrow-&-Ball-Palette gestrichen werden soll:

»Das Schlafzimmer bitte in Farbton Nummer 229, Elephant’s Breath …«

»… Nummer 229 …«, notiert er artig auf seinem Klemmbrett, während ich weiter Ausschau nach dem Schüsselbund halte.

»Das Gästeklo in Nummer 32, Cooking Apple Green …«

»… Cooking Apple Green …«

Wo ist dieses blöde Ding nur? Warum habe ich nicht schon längst einen Ersatzschlüssel machen lassen? Wieso habe ich überhaupt zugelassen, dass Konstantin nach New York zieht, ohne mir den Zweitschlüssel zurückzugeben?

»… und das Bad in Dead Salmon, Nummer 28.«

»Dead Salmon?« Herr Müller sieht mich irritiert an.

»Wieso fragen Sie?«

»Toter Lachs, so heißt der Farbton?«

»Äh, ja?«

»Sie zahlen 150 Euro pro Eimer für eine Farbe, die wie ein verwesender Fisch heißt?«

Jetzt bin ich es, die ihn irritiert ansieht. Ich meine, ich weiß, dass die Wandfarben von Farrow & Ball leicht überteuert sind, aber sie halten dafür auch jahrzehntelang und sind wirklich irrsinnig schön. Und die Namen … tja. Bis jetzt fand ich eigentlich, dass sie die Farben sogar noch schöner machen. Ich meine, Dead Salmon, das ist doch geradezu poetisch! Leider habe ich gerade aber wirklich keine Zeit, das mit Herrn Müller auszudiskutieren. Schließlich habe ich immer noch keinen Schlüssel.

»Wollen Sie den Auftrag oder nicht?«, kürze ich das Gespräch kurzerhand ab.

»Alles gut. Habe nichts gesagt«, pariert er.

»Brav«, sage ich und marschiere weiter mit ihm durch die Wohnung. »Dann hätten wir im Flur noch Dove Tale, Nummer 267, und im Gästezimmer noch Nummer 27, Parma Gray …«

Als wir wieder im Flur sind, gucke ich noch einmal auf mein Handy. 9:12 Uhr. Sehr gut. Eilig öffne ich Herrn Müller die Tür. »Danke«, sage ich und reiche ihm die Hand. »Wenn wir noch etwas besprechen müssen, können Sie mich jederzeit tele…«

»Alles gut«, sagt Herr Müller. »Wir sehen uns in zwei Wochen.« Er schlägt ein, doch statt sich umzudrehen und zu gehen, fügt er noch etwas an. »Übrigens …«

»Ja?«

»Falls Sie Ihren Schlüssel suchen …« Er deutet auf das Türschild neben mir.

»Oh«, sage ich und kann es kaum glauben. Da baumelt er friedlich vor sich hin.

2

Mein Herz rast, als ich unten aus der Haustür trete, aber immerhin: Es ist exakt 9:14 Uhr. So bleibt mir sogar noch eine Minute, um mich gedanklich zu sortieren. Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus. Ich spüre, wie mein Puls sich senkt, wie mein Herzschlag langsam entschleunigt. Gut so, denke ich, und freue mich, dass das immer funktioniert: dass ich mich stets zusammenreißen kann und auch in stressigen Situationen den Kopf nicht verliere. Sonst wäre ich wahrscheinlich auch falsch in einer internationalen Top-Kanzlei für Compliance, Wettbewerbs- und Kartellrecht. Ich meine, ich habe in den letzten Jahren schon Dax-Vorstände vor Nervosität weinen sehen – aber wer internationale Konzerne erfolgreich durch Firmenfusionen oder Ermittlungen aufgrund von kartellrechtlichen Verstößen führen will, der sollte besser gute Nerven haben und vor allem gut organisiert sein.

Als ich die Augen wieder öffne, kommt Kumars Taxi gerade neben mir zum Stehen.

»Guten Morgen, Kumar«, sage ich, als ich hinten eingestiegen bin.

»Morgen, Lu.« Kumar strahlt mich an, seine weißen Zähne blitzen. Wie immer trägt er hinterm Steuer Hemd und Krawatte und jetzt im Winter einen perfekt gepflegten Wollpulli darüber. »Alles gut?«

»Alles top!«, sage ich und lege das Smartphone auf den Sitz neben mir. Dann hebe ich unauffällig den Hintern an und streiche meinen Hosenanzug glatt – erst unterm Po, dann unter den Oberschenkeln. Schließlich beuge ich mich vor und entknittere den Stoff am unteren Rücken. Eigentlich bin ich gar nicht so eitel: Bis zu meinem Einstieg bei Steinkopf Ahmadi habe ich nie auch nur eine Bluse gebügelt. Aber inzwischen wird meine Arbeit mit 350 Euro pro Stunde berechnet, und da kann ich nicht wie eine zerfledderte Pendlerin in Klientenmeetings aufschlagen.

Ich will gerade zu meinem Smartphone greifen, doch da fällt mir etwas ein, und ich beuge mich zu Kumar nach vorn. »Und, hast du es gestern Abend noch zum Einkaufen geschafft?«

»Zum Glück, Lu, zum Glück. Frühstück und Abendessen sind gesichert!«

»Super«, sage ich und drücke ihm kurz die Schulter. Dann sage ich noch einmal: »Super!«

»Und du, Lu?«, fragt er zurück.

»Leider nein.« Ich sehe ihn durch den Rückspiegel lachend an.

Ich meine, Kumar und ich, wir führen wirklich komplett verschiedene Leben – er ist tagsüber Taxifahrer und schreibt abends an seiner Germanistik-Doktorarbeit, ich bin Anwältin für internationales Kartellrecht bei Steinkopf Ahmadi LLP, einer der besten Kanzleien Deutschlands. Er wohnt mit Frau und drei Kindern in einer kleinen Wohnung in Lichtenberg – ich in meiner Charlottenburger Eigentumswohnung. Ich verdiene ein Vielfaches von dem, was er mit nach Hause nimmt, und lebe natürlich eine Million Mal privilegierter. Vermutlich würde er sich nie im Leben ein Taxi nehmen, nur weil er ein bisschen in Zeitnot ist. Und doch sind wir beide uns irgendwie ähnlich: Denn wir haben weder Angst vor harter Arbeit noch eine besonders innige Beziehung zum Wörtchen »Feierabend«. Oft ist es so, dass ich morgens zwischen acht und neun seine erste Kundin bin und abends gegen zehn die letzte. Wie ich gibt Kumar alles: Obwohl er Nacht für Nacht über seiner Promotion über die poetischen Korrespondenzen in den Gedichten von Paul Celan und Ingeborg Bachmann brütet, kennt er jede Baustelle, beobachtet rund um die Uhr den Staumelder, weiß stets, welche Strecke zu welcher Uhrzeit am schnellsten ist. Es ist unter seiner Würde, dumm nach Navi zu fahren, und es gibt wenig, was für ihn befriedigender ist, als nörgelnden Kunden mittels Karte zu beweisen, dass der Weg, den er genommen hat, eben doch der kürzeste war. Außerdem hat Kumar Verständnis für Leute, die viel zu tun haben, und scheint stets instinktiv zu spüren, wann man hinten im Taxi arbeiten muss und wann man Lust hat, eine neue irre Geschichte über seine durchgeknallte tamilische Familie zu hören. Und noch etwas gibt es, das an Kumar toll ist: Ich muss nie umständlich beschreiben, wo ich hinwill. Er kennt genau meine Zeiten und Wege.

»In die Kanzlei, Lu?«

»Jep!«

Kumar gibt Gas, und ich habe zum ersten Mal seit dem Frühstück Gelegenheit, mich um meine Mails zu kümmern. Als ich mein Smartphone nehme, fällt mir auf, dass es immer noch im Nicht-stören-Modus ist – und dass meine Mutter schon wieder versucht hat, mich zu erreichen. Aber für einen Rückruf habe ich an diesem Vormittag wirklich keinen Nerv. Ich muss versuchen, wenigstens einen Teil der Mails abzuarbeiten, die über Nacht reingekommen sind. Eigentlich bräuchte ich jeden Tag zwei Tage. Einen für die europäischen und deutschen Mandate und einen für die Klienten, die wir in den USA haben. Andererseits macht es auch Spaß, doppelt so viel wie eigentlich möglich zu schaffen. Letztlich ist alles nur eine Frage der Organisation. Alles.

Meine Finger rasen nur so über den Bildschirm, während draußen vor dem Fenster Berlin vorüberzieht. Eigentlich liebe ich die Stadt, ihren Lärm, ihr Leben, aber jetzt nehme ich nur aus der Ferne wahr, wie es hupt und röhrt, quietscht und schimpft, wie Kumar leise vor sich hin flucht, wie der Verkehr an- und wieder abschwillt. Sonst merke ich nicht viel. Ich sehe nichts vom schicken Kurfürstendamm, nichts von den herrschaftlichen Häusern am Lützowufer, nichts von der Nationalgalerie, der Staatsbibliothek, der Philharmonie.

Erst, als wir vor einem der glitzernden Hochhäuser am Potsdamer Platz anhalten, schrecke ich auf. »Oh«, sage ich und schicke die E-Mail, die ich gerade geschrieben habe, hastig ab.

»Da sind wir.«

Kumar muss mir keinen Fahrpreis nennen.

»Ich warte immer noch auf den Tag, an dem ich endlich bei dir anschreiben kann«, witzle ich, während ich mein Portemonnaie herauskrame – ein Witz, den ich schon zweihundertmal gemacht habe.

»Dürftest du jederzeit gerne, Lu«, erwidert er, wie immer, und nimmt mit seiner gepflegten, hell-dunklen Hand das Geld in Empfang.

»Dann, vielleicht bis später«, sage ich und steige aus.

»Ja, vielleicht. Hab einen schönen Tag!« Und damit braust er davon.

3

Seit meinem Examen vor acht Jahren arbeite ich nun schon bei Steinkopf Ahmadi LLP, erst als First-Year-Associate, dann als Associate, und inzwischen bin ich zum Senior Associate aufgestiegen. Ich habe eine Firmenkreditkarte, ein schickes Büro und verdiene mehr, als ein alleinstehender Mensch jemals ausgeben könnte. Und doch habe ich immer noch Herzklopfen, wenn der Lift im achten Stock zum Stehen kommt und sich die Tür fast lautlos öffnet. Es ist eine seltsame Mischung aus Vorfreude, Lampenfieber und Angst, die in meinem Bauch aufsteigt: Vorfreude auf die Arbeit und meine Kollegen, von denen manche inzwischen fast so etwas wie eine Familie geworden sind – immerhin verbringe ich mit niemandem mehr Zeit als mit ihnen. Lampenfieber, weil man als Anwältin immer performen muss, weil man ja irgendwie eine Rolle spielt. Und Angst, tja … die würde ich öffentlich natürlich niemals zugeben, aber da ist sie immer: Angst davor, eines Tages vor einer Aufgabe zu stehen, der ich nicht gewachsen bin. Angst, gezwungen zu sein, einen Klienten an eine erfahrenere Kollegin oder einen Kollegen verweisen zu müssen. Angst: zu scheitern.

All das strömt gleichzeitig durch meine Adern, wenn ich unsere perfekt designten Kanzleiräume betrete und meine Schritte durch die Eingangslobby hallen. Aber dann holt mich auch schon die Realität wieder ein, und während ich auf den Empfangstresen zulaufe, fallen mir all die Dinge ein, die ich als Erstes erledigen muss: E-Mails, Post, ein wichtiges Telefonat, eine noch wichtigere Akte.

»Morgen!«, grüße ich Romina hinter ihrem Tresen und marschiere an ihr vorbei.

»Guten Morgen, Frau Thome!« Romina sieht nur halb von ihrem Computer auf, und ihr dunkelrot geschminkter Mund verzieht sich zu einem säuerlichen Lächeln. Ich habe lange nicht verstanden, warum Carl Steinkopf sie eingestellt hat, denn für eine Empfangsdame ist sie wirklich unfassbar unfreundlich. Obendrein ist sie spindeldürr und vom Wesen her ungefähr so einladend wie ein Sack Nägel. Andererseits ist sie angstfrei und wirklich sehr penibel. Sie würde unter Einsatz ihrer langen Fingernägel verhindern, dass irgendjemand Unberechtigtes die Kanzleiräume betritt.

»Gibt es Post für mich?«

»Hat Frau Marquez schon abgeholt.«

Frau Marquez ist Cecilia, meine Sekretärin. Na gut, eigentlich ist sie nicht meine Sekretärin, sondern nur die von meinem Chef, Carl Steinkopf, dem Gründer der Firma. Als Senior Associate hätte ich gar keinen Anspruch auf eine eigene Assistentin – schließlich hat jede unserer Abteilungen eine ganze Handvoll Rechtsanwaltsgehilfinnen und -gehilfen. Aber vor ein paar Monaten hat Carl mich dabei ertappt, wie ich die ganze Nacht durchgearbeitet habe. Von dem Tag an bin ich irgendwie in seinem Ansehen ein Stück nach oben gerutscht, und er hat Cecilia angewiesen, in Zukunft auch mich zu unterstützen, zumal sich ihr Schreibtisch ohnehin fast direkt vor meinem Zimmer befindet.

Und tatsächlich, als sie mich sieht, wedelt mir Cecilia schon mit einem Stapel Dokumente entgegen. »Pohoost!«, ruft sie ungeduldig, und nimmt noch hastig einen Löffel von der veganen Vollwert-Bowl, die sie sich seit Neuestem jeden Morgen zum Frühstück mit ins Büro bringt. Unwillkürlich wandert mein Blick zu der offen stehenden Schreibtischschublade neben ihr. Früher war die randvoll gefüllt mit einem herrlichen Vorrat aus Schokoriegeln, Gummibärchen und diversem Knabberzeugs, den sie bereitwillig mit jedem teilte, der es mal wieder nicht zum Essen geschafft hatte. Aber seit sie vor ein paar Wochen eine angeblich Augen öffnende Fernsehdoku über die Lebensmittelindustrie gesehen hat, stapeln sich darin nur noch Trockenfrüchte und fair gehandelte Rohkostsnacks, die immer irgendwie nach Blumenerde schmecken und wahnsinnig krümeln. Ich meine, grundsätzlich finde ich es ja nicht falsch, halbwegs bewusste Konsumentscheidungen zu treffen – aber muss man sich deshalb so sehr selbst kasteien? Zumal die Lebensmittelbranche ja jetzt auch nicht schlimmer als alle anderen Branchen ist. Würde sie aufhören, Taxi zu fahren, nur weil die Ölindustrie böse ist? Steigt sie auf Jutekleidung um, bloß, weil Textilhersteller kein Gewissen haben? Schmeißt sie ihre Teakholz-Balkonmöbel weg, weil dafür Regenwald gerodet wurde? Na? Eben.

»Danke«, sage ich und sehe rasch die Briefe durch. Das klingt so langweilig, ist aber immer einer der aufregendsten Momente des Tages – schließlich werden alle wirklich ärgerlichen Schreiben immer noch mit der Post oder sogar per Fax versandt. Sind irgendwelche Bußgeldbescheide oder Klageschriften dabei? Heute offenbar nicht, hurra.

Obwohl, was ist das? Einen schweren, großen Briefumschlag aus handgeschöpftem Papier sehe ich mir genauer an. Patricia de Blasio & Konstantin Hildebrandt steht da in verschnörkelten Lettern als Absender auf dem Umschlag, dazu eine Adresse in New York, Lafayette Street, was, wenn ich mich nicht täusche, mitten im schicksten SoHo ist.

Puh, ein Brief von Konstantin. Das ist doch wohl nicht etwa …?

Ich merke, dass Cecilia mich kauend betrachtet, und lege den Brief unauffällig zurück auf den Stapel. Dann ziehe ich mich damit in mein Büro zurück. Doch als ich die Tür gerade hinter mir zuziehen will, fällt Cecilia noch etwas ein: »Ach so, und Ihre Mutter bittet dringend um Rückruf!«

»Ah, danke«, sage ich wie nebenbei, aber innerlich stöhne ich auf. Manche Leute finden im Rentenalter ja angeblich zur Ruhe, aber seit meine Mutter sich aus dem Berufsleben zurückgezogen hat, dreht sie erst so richtig auf. Sie hatte bis vor drei Jahren eine gut gehende Agentur, die sich auf PR für die Kosmetikbranche spezialisiert hat, und arbeitet immer noch als freie Beraterin für zwei kleine, aber feine Labels. Das nimmt sie aber längst nicht ausreichend in Beschlag, weshalb sie ununterbrochen Nachbarschaftsinitiativen gründet, Liederabende und Vernissagen organisiert, und die Welt von früh bis spät mit vermeintlich wichtigen Anrufen tyrannisiert. Mein Vater, der früher Patentanwalt war und nur unwesentlich länger als meine Mutter in Rente ist, hat seine beruflichen Kämpfe ebenfalls ins Privatleben verlagert: Er spielt nun täglich mit seinen alten Kollegen Tennis, und zwar mit einem Ehrgeiz, den ich schrecklich und gleichzeitig bewundernswert finde. Aber immerhin würde es ihm niemals einfallen, die ganze Kanzlei aufzuschrecken, nur um mich an die Strippe zu kriegen.

Ich signalisiere Cecilia mit einer Geste, dass ich mich bei meiner Mutter melden werde, und schließe endlich meine Bürotür hinter mir. Dann nehme ich Konstantins Brief noch einmal in die Hand und öffne ihn.

Und es ist wirklich wahr:

Together with their families Patricia de Blasio and Konstantin Hildebrandt request the pleasure of your company as they exchange marriage vows steht da in golden geschwungenen Buchstaben unter einem wirklich ausgesuchten und geschmackvoll illustrierten Blütenmotiv. Darunter in etwas schlichterer Schrift die Details: Old Whaling Church, Edgartown, Martha’s Vinyard, dinner and dancing to follow.Trauzeugen sind Konstantins alter Freund Alex und eine gewisse Dahlia McEwan. R.S.V.P. bis 31. Mai.

Ich klappe die Karte wieder zu und warte schicksalsergeben darauf, dass ich in Tränen ausbreche. Doch komischerweise empfinde ich: nichts. Keinen Schmerz. Keine Trauer. Nicht einmal ein eifersüchtiges Ziehen in der Brust. Dabei waren wir immerhin fast eineinhalb Jahre zusammen. Bin ich wirklich so wenig verliebt in Konstantin gewesen, dass es mir überhaupt gar nichts ausmacht, wenn er meine direkte Nachfolgerin schon nach wenigen Monaten heiraten will? Wo es ihm bei mir schon schwerfiel, beim Mittagessen mal sein Tiramisu mit mir zu teilen?

Unwillkürlich ziehen die Monate unserer Beziehung an mir vorüber. Nein, die große Liebe ist das wirklich nicht gewesen. Irgendwie hat sich das mit uns so ergeben. Er hat bei Snyder Schirmer Precht gearbeitet, einer Kanzlei für IT-Recht zwei Etagen tiefer, und so kam es, dass wir öfter mal zusammen zum Lunch draußen waren. Dann ist es nach einer Firmenfeier passiert. Aber eigentlich waren wir von Anfang an auf eine Weise zusammen, wie es andere Paare höchstens ganz am Ende ihrer Beziehung sind. Ich meine, wir haben uns wirklich gut verstanden, viel gelacht und hatten immer viel zu bequatschen – dämliche Konzern-Chefjustiziare, nervige Kartellamtssekretärinnen, die Fallstricke bestimmter Paragrafen, die Handgepäckverordnungen der Lufthansa. Wir mochten dieselben Serien auf Netflix, lasen die gleichen Zeitungen und konnten uns immer wunderbar auf eine Sushi-Auswahl von unserem Lieblingslokal auf Lieferando einigen. Und irgendwie passten wir auch im Bett gut zusammen. Klar, so richtig wild und leidenschaftlich wurde es bei uns nie, aber es machte Spaß und war schön, und wir kamen immer auf unsere Kosten. Lästerer würden vielleicht behaupten, dass unser Sex effizient war, aber das trifft es nicht und ist auch ein blödes Wort. Zugegeben: Hinterher griffen wir als Allererstes zu unseren Smartphones – aber auch das klingt viel unromantischer, als es gewesen ist. Denn meistens bekamen wir abends wirklich noch wichtige E-Mails, und oft lasen wir uns auch die neuesten Nachrichten gegenseitig vor. Also, eigentlich war es ganz schön mit Konstantin.

Trotzdem war uns in dem Moment, als er in die USA versetzt wurde, beiden klar, dass wir nicht zusammenbleiben würden. Für eine Fernbeziehung hatten wir zu viel um die Ohren, und unsere Leidenschaft war letztlich nicht groß genug. Wir probierten es nicht einmal aus – wir verabschiedeten uns einfach. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich ihn zum Flughafen brachte, wir uns zum Abschied umarmten, wir uns nicht einmal mehr küssten. Und wie ich dann doch irgendwie traurig im Taxi saß, und wie sich, als ich meine Wohnung aufschloss, in diese Traurigkeit über den Abschied noch eine viel größereTraurigkeit mischte: nämlich darüber, wie wenig Spuren er hinterlassen hatte. Es war fast so, als wäre er nie hier gewesen, als sei das mit uns nie wirklich passiert. Und als ich nach ein paar Wochen in dem Klamottenhaufen, der sich auf meinem Crosstrainer gebildet hat, einen vergessenen Pulli entdeckte, mit V-Ausschnitt und in dezentem Dunkelblau, da kam mir dieser Fund so unwirklich vor, dass es einen Augenblick lang dauerte, bis ich begriff, was ich in meinen Händen hielt.

War es sonderbar, dass Konstantin mir die Einladung zu seiner Hochzeit an meine Büroadresse geschickt hatte? Eigentlich nicht. Eigentlich war es sogar bezeichnend. Im Prinzip waren wir mehr ein Team als ein Paar gewesen, mochten einander mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen. Eigentlich hätten wir statt des Bettes lieber ein Büro teilen sollen.

»Ja, bitte?«

Es hat an der Tür geklopft, und im selben Moment steht Carl Steinkopf vor mir, mein Chef und Mentor. Ein Mann, den man schon allein dafür bewundern muss, dass er es geschafft hat, in einer so superernsten Branche wie der unseren Erfolg zu haben, und das, obwohl er selbst bei Terminen im Bundeskartellamt Comic-Socken trägt, den furchtbarsten Krawattengeschmack der Welt hat und bei Geschäftsessen mit DAX-Vorständen mit größter Selbstverständlichkeit Spezi trinkt, selbst dann, wenn alle anderen teuren Bordeaux nippen. Er hat wirklich ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, und, das vermute ich zumindest, in seinem ganzen Leben noch keine einzige Sekunde lang darüber nachgedacht, was andere von ihm halten. Auch bei anderen Leuten sind ihm Oberflächlichkeiten egal. Ob jemand dünn oder dick, schwarz oder weiß ist, ob er teure oder billige Anzüge trägt – ihn interessiert ausschließlich, was in einem steckt, und wie viel einer leistet. Deshalb war es für ihn auch überhaupt kein Thema, einen pakistanischen Einwanderer zum Partner zu machen – und das zu einer Zeit, als deutsche Top-Kanzleien fast ausschließlich von irgendwelchen »Von und Zus« geführt wurden. Und er hatte recht: Hamid Ahmadi ist einer der besten Wirtschaftsjuristen, die Harvard je verlassen haben. Auf alle Fälle bin ich irre stolz, dass Carl Steinkopf mich einfach so von der Uni weg eingestellt hat. Und noch viel stolzer macht mich die Tatsache, dass er mich so fördert und protegiert. Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich bin. Er scheint wirklich an mich und meine Fähigkeiten zu glauben. Mein Lieblingskollege Felix behauptet sogar, dass Carl Steinkopf mich demnächst befördern werde, und zwar zur Partnerin. »Lu Thome«, sagt er immer wieder, »ich bin mir sicher, dass du meine nächste Chefin wirst.« Ich antworte dann zwar, er solle sich jemand anderen suchen für seine dummen Witze, aber ganz ehrlich? Tatsächlich könnte da etwas dran sein. Schon klar, so eine Beförderung wäre natürlich eine riesige Anerkennung und würde mir noch mal einen ganz anderen Status verleihen. Immerhin müsste ich mich als Partnerin wahrscheinlich nie wieder von irgendwelchen CEO-Klienten mit Testosteron-High wie eine unfähige Studentin behandeln lassen. Und ich würde nie wieder Momente erleben wie den neulich, als mich der Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf vor Verhandlungsbeginn erst wie Luft behandelte und mich dann irgendwann fragte, wo mein Chef denn nun bliebe. Aber … es würde vor allem auch bedeuten: noch mehr Druck. Und noch viel mehr Stress. Und über noch mehr Stress kann ich im Augenblick nicht nachdenken.

»Guten Morgen, Carl!« Ich lasse Konstantins Hochzeitseinladung hastig unter einem Stapel Akten verschwinden und ziehe mit geschäftigem Gesichtsausdruck den nächstbesten Ordner zu mir heran. Auch wenn Carl Steinkopf mich mag – er ist immer noch Partner in einer Top-Kanzlei, und wenn Partner in Top-Kanzleien gegen etwas allergisch sind, dann dagegen, dass man sich im Büro mit Privatkram beschäftigt, statt ohne Unterbrechung billables zu produzieren. Billables, das sind all jene Tätigkeiten, die wir unseren Klienten in Rechnung stellen können, und zwar in Einheiten von genau sechs Minuten. Wer in unserer Branche etwas auf sich hält, sieht zu, dass er 1800 davon im Monat schafft, und leistet also neun Stunden abrechenbare Arbeit am Tag. Das heißt natürlich auch, dass er bei allen nicht abrechenbaren Tätigkeiten sehr, sehr schnell sein muss, also beim Tippen, beim Hin- und Herlaufen, beim Sprechen und bei der Zufuhr und Abfuhr von Kaffee.

»Hören Sie, Luise.« Carl Steinkopf ist der einzige Mensch, der mich außer meiner Mutter nicht bei meinem Spitznamen nennt, was ich anfangs befremdlich fand, woran ich mich aber inzwischen gewöhnt habe. Ich glaube, für ihn ist es eine Geste des Respekts, anders als für meine Mutter, bei der es immer auch ein bisschen Ausdruck der Distanziertheit war. »Könnten Sie sich bitte bis zu unserem Meeting nachher noch mal diese Dokumente ansehen? Ich habe das Gefühl, dass sich darin noch ein paar Daten verstecken, die wir im Argumentationsentwurf für die Ossietzki-Übernahme berücksichtigen sollten.«

Er legt eine Akte aus hellrotem Karton zu den vielen anderen Akten auf meinem Tisch. Eigentlich arbeiten Kartellrechtsanwälte heute fast ausschließlich digital, aber Carl Steinkopf ist einfach alte Schule und druckt wichtige Dokumente grundsätzlich aus. Er ist überzeugt, dass man mehr entdeckt, wenn man Schriftstücke vor sich hat und nicht nur digitale Datensätze mittels Stichwortsuche durchstöbert.

»Mache ich«, antworte ich und ziehe die Mappe zu mir heran. Ich habe keine Ahnung, wie ich bis zu unserem Termin um zwölf noch irgendetwas durchsehen soll, das länger ist als die Bedienungsanleitung für eine Taschenlampe, denn ich habe vorher noch zwei andere Meetings, auf die ich mich ebenfalls vorbereiten muss. Eigentlich müsste das meinem Chef auch klar sein, immerhin ist er bei einem dieser beiden Meetings dabei, und über das andere ist er ebenfalls unterrichtet. Aber offenbar kommt es in Carl Steinkopfs Vorstellungskraft nicht vor, dass ausgerechnet seiner Lieblingsmitarbeiterin jemals irgendetwas zu viel sein könnte. Ich meine, er ist wirklich nett und alles, aber vor ihm gibt es auch keine Ausreden. Wenn jemand seine Arbeit nicht schafft, dann stellt er ihm jederzeit noch mehr Ressourcen zur Verfügung: seine Assistentin, einen Referendar, einen arbeitswütigen first-year. Und wenn er sie dann immer noch nicht schafft … na ja. So ein Steinkopf-Ahmadi-Vertrag ist auch ziemlich schnell wieder gekündigt. Ich habe in den letzten Jahren ganz schön viele verheißungsvolle Talente kommen und wieder gehen sehen. Letzteres selten freiwillig.

»Ich fange gleich damit an«, sage ich und schenke ihm ein zuversichtliches Lächeln.

»Danke«, sagt Carl Steinkopf.

Als er mein Büro verlässt, atme ich tief durch und mache mich an die Arbeit. Wenn ich in den Jahren bei Steinkopf Ahmadi etwas gelernt habe, dann, dass es nichts nutzt, mit den Aufgaben, die einem das Leben stellt, zu hadern. Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, ob man etwas schafft oder nicht, dann kann man eigentlich gleich wieder einpacken. Man tut einfach, was zu tun ist, und wenn es die ganze Nacht lang dauert. Eigentlich ist das sogar gut, weil so mehr billables zusammenkommen. Das kann wehtun in arbeitsreichen Zeiten, aber so what? Wir sind Anwälte. Von uns wird erwartet, dass wir unsere Arbeit unter Kontrolle haben. Dass wir keine Fehler machen, und niemals und zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise überfordert wirken. Für unsere Mandanten sind wir nur besonders ansprechend gestaltete Maschinen; Computer, die Leitz-Ordner am liebsten dann vertilgen, wenn möglichst viele Paragrafen darin stehen. Und keine Lebewesen, die sich abends gern in rosa Kuschelsocken vor den Fernseher legen würden, um sich bei Chips und Eiscreme zum siebenunddreißigsten Mal die erste Staffel von Suits anzusehen.

»Auf Wiedersehen, Herr Pasdorf«, verabschiede ich unseren Klienten, als das zweite Meeting dieses Tages pünktlich um zwölf Uhr zu Ende ist. »Seien Sie versichert, dass eine Selbstanzeige in Ihrem Fall am besten ist.«

»Sie haben bestimmt recht, Frau Thome«, sagt Herr Pasdorf, doch man merkt ihm immer noch an, dass er verwirrt ist. Der Chefjurist seiner Firma hat ihm dringend davon abgeraten, sich selbst anzuzeigen, trotz der ganz offensichtlich vorliegenden wettbewerbsrechtlichen Verstöße. Aber Felix und ich haben ihn mit vereinten Kräften überzeugt, dass das die beste und sauberste Möglichkeit ist. Schließlich ist die Pasdorf GmbH kein Weltkonzern, der die drohenden Strafzahlungen einfach so wegrechnen könnte, sondern ein mittelständischer Betrieb, der durch solche Summen leicht in die Insolvenz rutschen kann.

Er wendet sich noch einmal an Felix. »Danke auch Ihnen für Ihre Einschätzung, Herr von Loewen. Ich bin froh, dass ich noch einmal externen Rat eingeholt habe.«

»Wir auch, Herr Pasdorf«, sagt Felix und setzt sein schönstes Klienten-Lächeln auf: warmherzig, verschmitzt, aber doch seriös und verbindlich.

»Cecilia wird Sie rausbringen«, sage ich und winke Cecilia herbei, die sofort von ihrem Platz aufsteht.

»Auf Wiedersehen!«

»Tun Sie das Richtige!«

Als Herr Pasdorf um die Ecke ist, dreht Felix sich zu mir um und rollt mit seinen braunen Augen. »Manchen Leuten sollte man wirklich verbieten, als Juristen ihr Geld zu verdienen.«

»Du meinst den Pasburg-Justiziar?«

Felix nickt. Er holt Luft und seine Augen blitzen – man sieht ihm an, dass er noch etwas sagen will. Aber dann verkneift er es sich doch. Wenn man bei einer Top-Kanzlei anfängt, hat man zu Beginn noch das ständige Bedürfnis, über all die Feld-, Wald- und Wiesenrechtsanwälte da draußen zu lästern, aber irgendwann lässt man’s einfach. Immerhin muss es schlechte Juristen geben, damit es gute geben kann.

»Happahappa?«, fragt Felix stattdessen, und für einen Augenblick wirkt er mit seinem immer leicht zerzausten Schopf kein bisschen wie ein erfolgreicher Anwalt, sondern eher wie ein netter Student, der gern lang schläft, um den Rest des Tages im Café herumzuslacken.

Ich seufze. Eigentlich würde ich jetzt nichts lieber tun, als mit ihm essen zu gehen und den Pasdorf-Termin dabei noch einmal genüsslich durchzusprechen. »Analyse«, nennen wir solche Gespräche, vor allem dann, wenn sie spätabends im Negroni stattfinden. Doch statt mich bei Felix einzuhaken, mache ich ein gequältes Gesicht.

»Och Mensch, Thome«, sagt Felix enttäuscht. »Wirklich? Arbeit? Wir könnten zu Tonio gehen!«

Ich hebe entschuldigend die Schultern und nicke. Felix ist einer meiner engsten Kollegen, und seit er letztes Jahr bei Steinkopf Ahmadi angefangen hat, ist er definitiv der Mitarbeiter der Kanzlei, mit dem ich am allerallerliebsten essen gehe. Er ist ungefähr in meinem Alter, wir haben einen ähnlichen Humor, und wir verstehen uns blendend mit und ohne Worte. Und wir mögen beide den kleinen Italiener im Untergeschoss der nahen Einkaufspassage. Offenbar sind wir da die Einzigen in der Kanzlei, denn es kommt kaum vor, dass wir dort Kollegen begegnen, weshalb das Ristorante da Tonio der perfekte Ort für konspirative Treffen in der Mittagspause ist.

»Ich muss das Ossietzki-Meeting noch vorbereiten«, erkläre ich schließlich.

»Hast du das nicht gestern schon gemacht?«, fragt er, zurecht erstaunt, immerhin haben ich gestern lang und breit zwei wichtige Detailfragen mit ihm diskutiert.

»Dachte ich auch.«

»Aber?«

»Cheffe hat mir heute Morgen noch etwas auf den Tisch gelegt. Sieht ziemlich interessant aus. Ich glaube, ich muss mir das wirklich noch mal ansehen.«

»Mist.« Felix macht ein mitleidiges Gesicht. »Soll ich dir was mitbringen?«

»Gerne«, sage ich und bleibe stehen, denn wir sind vor meinem Büro angekommen. »Vielleicht ein Ciabatta?«

»Mit?«

»Lu?«

Verwirrt sehe ich mich um. Das war Cecilia. Eigentlich ist es nicht ihre Art, dass sie einen im Gespräch unterbricht. Irritiert versuche ich einfach weiterzureden.

»Gerne mit Parmaschi…«

»Lu?« Sie unterbricht mich schon wieder.

»Was ist denn?«, frage ich sie konsterniert.

»Telefon«, sagt sie und hält mir den Hörer entgegen.

Etwas verwundert zögere ich. Normalerweise würde sie Anrufer immer in mein Zimmer durchstellen, vor allem dann, wenn es wichtig ist – schließlich sind die meisten Gespräche, die wir führen, streng vertraulich. Doch diesmal scheint irgendetwas anders zu sein, denn sie hält mir das Telefon noch ein Stückchen näher hin.

»Wer ist es denn?«, frage ich, doch da habe ich es schon in den Händen. »Thome?«, melde ich mich.

Am anderen Ende schnieft es.

»Mama?«, frage ich. Es fühlt sich seltsam an, mitten im Großraumbereich der Kanzlei so mit ihr zu reden. »Mama, was ist denn?«

»Es …« Sie weint immer noch.

»Ist etwas mit Papi?«, frage ich erschrocken. Die Vorstellung, dass meinem geliebten Papi etwas zugestoßen sein könnte, greift nach mir wie eine eiskalte Hand, und als meine Mutter nicht gleich etwas sagt, bleibt mir das Herz stehen.

»Mama?«, flüstere ich hilflos.

»Nein, Papa geht’s gut. Aber Philipp …«

»Pip?«

»Er … Er …«

»Mama?«, fiepse ich.

»Es gab einen Unfall. Er ist tot.«

4

Ich spüre, wie es mir den edlen, achatgrauen Teppich unter den Füßen wegzieht. Wie ich taumle, torkle, und nur zwei starke Arme verhindern, dass ich ganz zu Boden gehe. Ich habe das Gefühl, dass sich tausend Augen auf mich richten, dass jede einzelne Mitarbeiterin und jeder einzelne Mitarbeiter von Steinkopf Ahmadi mich ansieht. Irgendwie gelingt es Felix und Cecilia, meine zitternden Überreste fürsorglich in mein Büro zu bringen und mich vorsichtig auf das kleine Sofa gegenüber von meinem Schreibtisch zu bugsieren. Sie knien sich neben mich, reden beide auf mich ein, aber ich verstehe nicht, was sie wollen. Doch ich sehe ihre Gesichter wie durch eine Nebelwand hindurch, höre ihre Stimmen wie aus weiter Ferne. Irgendwann ist Cecilia verschwunden und nur noch Felix da. Nach einer Weile lässt auch er mich allein.

Pip.

Mein großer Bruder, Pip.

Pip, zu Tode gekommen am Rande eines Ackers, überrollt von einem Lkw. Ein banaler, lausiger Unfall, der ihn aus dem Leben riss.

Meine Wange liegt auf dem edlen Samtbezug des Sofas. Mir fällt auf, dass ich noch nie darauf gelegen habe, ja, dass ich eigentlich nicht einmal darauf saß. Ich betrachte meinen Schreibtisch und merke, dass ich aufgehört habe zu weinen, dass es plötzlich ganz still in mir ist.

Mir fällt ein, dass er mich letzte Woche angerufen hat, während ich in einem endlosen Meeting saß, und dass ich bis heute nicht dazu gekommen bin, ihn zurückzurufen. Ich will zu meinem Handy greifen und es sofort nachholen, aber das geht natürlich nicht. Warum habe ich es nicht gleich getan? Warum war wieder einmal alles andere wichtiger? Wann habe ich überhaupt das letzte Mal mit ihm telefoniert?

Plötzlich weine ich doch wieder.

Und weine.

Und weine.

Ich würde nichts lieber tun, als ihn anrufen. Seine Stimme hören.

Ich schließe schniefend die Augen, und dann höre ich sie tatsächlich. Pips Stimme, wie er sich am Telefon meldet. Pip, wie er meinen Namen sagt. Pip, wie er mich grinsend Workaholic nennt, und wie ich ihm zur Strafe dafür einen Klaps mit der zusammengerollten Zeitung gebe.

Plötzlich strömen tausend Erinnerungen auf mich ein.

Pip und ich, wie wir, eng aneinandergedrängt, unter dem Esstisch Höhle spielen.

Pip und ich, wie wir uns in der Krone der Buche in unserem Garten verstecken, und wie wir kichernd beobachten, wie unsere Mutter uns nicht findet.

Pip und ich, wie wir zusammen unter einer viel zu warmen Decke Bücher lesen.

Pip.

Ich.

Jetzt nur noch: ich?

Plötzlich wird es ganz still in meinem Kopf.

Das Gedankenkarussell bleibt stehen.

Ich atme ein, ich atme aus.

Und wieder.

Und wieder.

Ich weine nicht. Ich atme. Fast wundere ich mich darüber, dass so etwas Fundamentales wie Atmen noch funktioniert. Pip ist tot, doch ich atme. Ist das falsch? Oder nur verrückt?

Dann klingelt das Telefon, und ich bemerke die erste Sache, die nicht mehr geht: Ich schaffe es nicht, meine Füße auf den Fußboden zu setzen, meine Beine dazu zu bringen, sich zu bewegen. Ich schaffe es nicht, mich aufzusetzen, oder auch nur den Finger zu rühren. Ich liege einfach nur da, Das Gesicht auf dem Samt des unbequemen Sofas. Liege da, bis das Telefon wieder verstummt ist. Ich liege da, weine und weine nicht, liege da, bis es dunkel ist.

5

Ich weiß nicht, ob ich es schön oder absolut schrecklich finden soll, aber am Himmel steht eine quietschfidele Vormittagssonne und strahlt. Fast unbarmherzig heiter scheint sie auf uns herab, auf uns, die wir quälend langsam zur Grabstätte laufen. In dem hellen Licht wirkt die Szene fast unwirklich: unsere schwarzen, warmen Mäntel, unsere rot geränderten Augen, die Tatsache, dass Pip wirklich tot ist, immer noch tot. Da vorn in der Urne soll er drin sein, in diesem eckig-modernen Holzkasten, den Pips ältester Freund Johann vor sich herträgt wie ein heißes Blech Kuchen oder Pizza. Es sieht sonderbar aus, wie er da läuft, der lange, dürre Johann. So aufrecht und steif, fast, als hätte er in jeder Sekunde Angst zu stolpern.

Vorhin, als wir uns am Eingang des Friedwalds versammelt haben, hat Lara ein Lied auf der Geige gespielt, ein trauriges Stück von Händel, das uns alle noch trauriger machte und doch irgendwie tröstete. Jetzt jedoch ist es still. Man hört nur unsere vom Waldboden gedämpften Schritte, dazu ein leises Rascheln der immer noch winterlich kahlen Zweige und den Gesang eines Vogels, der sich irgendwo in den Baumkronen über uns versteckt hat. Ich starre auf den Boden vor mir, unfähig, irgendjemanden anzusehen.

Dabei sind so viele gekommen: ehemalige Klassenkameraden und Freunde aus unserer früheren Nachbarschaft. Studienkolleginnen und -kollegen aus der Kunstakademie. Langjährige Geschäftspartner, Mitarbeiter, ferne Verwandte. Menschen, die ich seit Kindertagen kenne, Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Und ich bin froh, dass so viele die Reise zu diesem Friedwald auf sich genommen haben.

Nach Pips Unfall habe ich mich mit meiner Mutter mehrmals fast gestritten, weil sie eine klassische Beerdigung wollte, am Friedhof Blankenese, mit Trauerfeier, Pfarrer, Grabstein und Sarg. Aber ich wusste einfach, dass Pip damit nicht einverstanden gewesen wäre. Er glaubte nicht an Gott, schon lange nicht mehr. Wenn überhaupt, dann hat er mit dem Buddhismus sympathisiert, zumindest, seit er in dieser Burn-out-Klinik gelernt hat zu meditieren. Er glaubte nicht an Gott, nicht an irgendein Schicksal, er glaubte an die Natur und ihren ewigen Kreislauf von Wachsen und Welken, von Werden und Vergehen. Außerdem hat er mir erst letztes Jahr von diesem Friedwald erzählt, den er zufällig einmal besichtigt hat, und den er so still und schön fand, so bescheiden und würdevoll, ganz anders als normale Friedhöfe, wo die Grabsteine voller Protz sind und voller Lüge. »In diesem Friedwald, Luilein, da geht der Mensch wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist.« Irgend so etwas hat er damals erzählt. »Da nimmt die Natur ihn wieder zurück.«

Ob er eine Ahnung hatte, wie schnell das passieren würde?

Jetzt verlangsamt sich Johanns Schritt, und wir sind endlich da, an der Buche, die mich gleich beim ersten Besuch irgendwie angesprochen hat. Sie passt zu Pip, weil sie nicht so alt und knorrig ist wie viele andere Bäume hier, weil sie noch wachsen wird und etwas vor sich hat, so, wie Pip doch eigentlich noch etwas vor sich gehabt hätte. Sie steht etwas abseits, und macht, ehrlich gesagt, nicht sonderlich viel her, aber das fand ich gerade schön. Meine Mutter hat sich natürlich erst mal geweigert, ihren Sohn unter einem solch unscheinbaren Baum zu bestatten, aber als sie bei der Verwaltung des Friedwalds anrief, um einen präsentableren Baum für ihn zu erzwingen, da erfuhr sie, dass ohnehin keine Plätze unter den ihr viel passender erscheinenden Jahrhunderteichen des Waldes mehr frei waren, und außer der Buche nur noch ein paar Büsche und dürre Birken zur Verfügung standen, sodass die Diskussion damit erledigt war.

Nun geht Johann in die Knie und kauert sich vor das kleine Loch, das man zwischen den Wurzeln der Buche für uns ausgehoben hat. Er legt einen Moment den Kopf nieder, dann setzt er die Urne hinein. Die Urne ist aus Kirschholz, eckig und schlicht. Ich glaube, sie hätte Pip gefallen. Und doch gehört sie nicht in dieses Loch, denke ich, Pip gehört nicht in dieses Loch. Ich spüre, wie die Tränen in mir aufsteigen, und kann mich nur mit Mühe dazu zwingen, an das kleine Grab zu treten, ein Schäufelchen Erde auf die Urne zu werfen und dann Platz zu machen für die lange, lange Schlange nach mir.

Es ist feucht hier im Wald. Mir fällt auf, wie wenig Wärme die Sonne im März spendet, obwohl sie so hell ist, so gleißend. Es ist so kalt, so klamm.

Plötzlich weine ich doch. Ich hatte gehofft, ich könnte die Beerdigung ohne Heulen durchstehen. Irgendwie habe ich mich davor gefürchtet, allen zu zeigen, wie schrecklich es mir geht. Aber jetzt fließen die Tränen einfach so aus mir heraus, und ich bin fast dankbar für sie. Sie sind wie ein Schleier, der mich von allem trennt – von diesem Ort, von all den Leuten, die jetzt zu mir treten, die meine Hände schütteln, mich schluchzend umarmen. Ich weine und bin fast froh darum, dass ich das darf, dass ich mich als Schwester des Verstorbenen von der Trauer der anderen umspülen lassen darf, dass ich nichts machen muss, nichts als nicken und weinen und umarmen. Es ist so stumpf und wohltuend und traurig.

Mein Vater steht neben mir und schafft es nicht, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Meine Mutter daneben weint hinter ihrer großen Sonnenbrille laut und heftig wie ein Kind. Wir stehen nebeneinander wie aufgereiht und ausgestellt, stehen da und nicken und weinen und murmeln danke. Einmal, als ich nach einer besonders innigen Umarmung ins Torkeln gerate, spüre ich, wie mein Papi mir seine Hand an den Rücken legt – nicht nur, um mir wieder zurück ins Gleichgewicht zu helfen, sondern auch, um mich zu unterstützen, um mir mitzuteilen, dass ich das hier irgendwie durchstehen muss, dass ich jetzt nicht einknicken darf.

Ich richte mich also auf und halte mein Gesicht wieder in die Trauer wie in einen Regenguss.

Plötzlich entdecke ich eine kleine, schmale Frau mit schwarzen, kurzen Haaren und akkurat gezogenem Lippenstift – und zucke innerlich zusammen.

Saskia.

Ich wusste natürlich, dass sie kommt, aber als sie jetzt plötzlich vor mir steht, bin ich nicht darauf vorbereitet, und sehe sie hilflos an. Ihr nervöses Gesicht sagt mir, dass sie ebenfalls verunsichert ist, und nach einem Augenblick, in dem wir uns ratlos anstarren, gelingt uns eine halbherzige Umarmung. Von außen könnte es so aussehen, als hätten wir Trost oder Mitgefühl füreinander übrig.

»Puh«, sagt sie, als wir unsere Umarmung lösen.

»Puh«, stimme ich ihr zu.

Irgendwie schaffe ich es, ihr ein Lächeln zu schenken. Sie lächelt dankbar zurück. Dann umarmt sie meine Mutter und meinen Vater und stellt sich neben mich. Man spürt, dass sie sich uns zugehörig fühlt, uns, Pips Familie. Dabei hatte sie nach Pips Unfall vor allem mit meiner Mutter Kontakt. Einmal habe ich sie angerufen. Immerhin ist sie sieben Jahre lang mit meinem Bruder verheiratet gewesen und ist es auf dem Papier immer noch, und irgendwie dachte ich, dass wir doch nun etwas gemeinsam hätten, nämlich die Trauer um Pip. Aber das Gespräch dauerte nicht lange. Kaum, dass sie meinen Anruf angenommen hatte, sprudelten die Tränen aus mir heraus, und ich konnte kaum etwas sagen. Saskia blieb seltsam wortkarg, und ich verstand, dass sie kein Interesse daran hatte, sich mir zu öffnen – mir, der kleinen Schwester, die irgendwie immer so etwas wie eine Konkurrentin um den Mann an ihrer Seite war. Und so ging der Moment vorüber, in dem ich dachte, ich könnte ihr verzeihen, dass sie Pip genau in dem Moment hängen gelassen hatte, in dem er am schwächsten war. Denn so war es: Als er ihre Liebe gebraucht hätte, stürzte sie sich in die Arbeit. Als Pip plötzlich nur noch ganz kleine Schritte machen konnte, ist sie auf Abstand zu ihm gegangen.

6

Leichenschmaus, was für ein grässliches Wort.

Es klingt, als würde man zusammenkommen, um eine Leiche zu verspeisen, sie mit Messer und Gabel genüsslich verzehren, und, na ja, irgendwie ist da ja auch was dran. Der Leichenschmaus ist die Verabredung, nach dem Weinen wieder zu lachen. Die Ordnung der Welt wiederherzustellen. Die Toten tot sein zu lassen und sich darüber zu freuen, dass man selbst noch lebendig ist.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Seit Pips Beerdigung sind gerade mal vier Stunden vergangen – ein Wimpernschlag, wenn man bedenkt, dass er vierzig Jahre lang gelebt hat. Und trotzdem sind alle, aber auch wirklich alle, sturzblau. Und das schon mittags! In der Gaststätte, die wir gemietet haben, herrscht eine Atmosphäre wie spätnachts: Es ist stickig, es ist laut, rote Wangen blühen, glasige Augen starren, Gläser klirren, es wird gekichert, gejohlt. Erst habe ich noch gedacht, dass alle zum Alkohol greifen, weil sie ganz schön was zu schlucken haben, aber inzwischen redet schon lange keiner mehr über Pip. Johann lallt einer alten Klassenkameradin etwas von seiner Firma ins Ohr, Onkel Justus palavert über den olfaktorischen Unterschied zwischen Weinen aus dem Rheingau und aus Rheinhessen. Mein Vater hat einen dicken Rotweinfleck auf dem Hemd, den er erst mit Salz bestreut und dann vergessen hat. Sogar meine Mutter, die am Anfang des Leichenschmauses noch geweint hat, lächelt inzwischen über die langweiligen Urlaubserlebnisse unserer ehemaligen Nachbarin in Othmarschen.

Und ich? Ich versuche ebenfalls mitzulachen, doch es gelingt mir nicht. Ich sitze da, nippe an meiner Weißweinschorle, die immer wärmer wird, ziehe alle paar Minuten mein Smartphone aus der Tasche, wo eine E-Mail nach der anderen eingeht. Einer unserer Klienten wird schon wieder wegen illegaler Preisabsprachen beschuldigt. Die Limburg GmbH stellt Schaltnetzteile her – das sind kleine Bauelemente, ohne die LED-Glühlampen flackern würden –, und gestern hat sich ein ehemaliger Mitarbeiter an uns gewendet und uns mitgeteilt, es hätte während seiner Zeit bei der Firma Absprachen im Sperrwandler-Geschäft gegeben. Das Blöde ist, dass wir bei Steinkopf Ahmadi erst letztes Jahr einen ganz ähnlichen Fall hatten, bei dem ein Limburg-Mitarbeiter genau das Gleiche über den Abwärtswandler-Bereich behauptet hat. Aber da haben wir am Ende eindeutig und zweifelsfrei nachweisen können, dass der Mitarbeiter nur seinem Chef schaden wollte, weil der seine Beförderung verhindert hatte. Dass es jetzt schon wieder so eine Behauptung gibt, macht mich wahnsinnig nervös. Am liebsten würde ich auf der Stelle hinauslaufen und den Mann anrufen, aber das geht natürlich allein aus juristischen Gründen nicht. Also bleibe ich sitzen, lasse mich doch wieder von meiner Traurigkeit einlullen und von all den Menschen zutexten, die sich zu mir setzen und versuchen, mich mit freundlichen Worten aufzumuntern. So wie jetzt gerade Georg, ein alter Schulfreund, den ich das letzte Mal vor über zehn Jahren beim Klassentreffen gesehen habe und dessen Bäuchlein seitdem noch größer geworden ist.

»Na?«, sagt er und setzt sich gegenüber von mir hin. Er trägt ein eigens für die Beerdigung gekauftes Hemd, was ich daran erkenne, dass es nach Plastiktüte riecht und man die Falten aus der Verpackung sieht. Darunter zeichnet sich ein T-Shirt ab, bedruckt mit dem Logo des HSV, dessen schwarz-weiß-blaue Raute vollständig durch den dünnen Stoff scheint. Plötzlich muss ich an Konstantin denken, der stets jene hautfarbenen Unterhemden trug, die ihm sein Maßschneider empfohlen hat, weil sie unter hellen Hemden komplett unsichtbar sind.

»Na?«, frage ich so freundlich, wie es geht, zurück.

Georg ist die halbe Gymnasialzeit über mein bester Freund gewesen, aber schon beim Klassentreffen hatte ich das Gefühl, dass uns nicht mehr viel verbindet. Als ich mein Studium begonnen habe, hat er eine Lehre zum Hotelfachmann gemacht. Als ich nach New York gegangen bin, hat er eine Frau geheiratet, die in seinem Ausbildungshotel als Frühstücksdame gearbeitet hat. Und als ich bei Steinkopf Ahmadi meine ersten internationalen Klienten übernommen habe, ist er in das Haus seiner Eltern gezogen und hat sein erstes Kind gekriegt.

»Wie geht’s dir?«, fragt er einfühlsam.

Ich zucke mit den Schultern. »Und dir?«

»Steffi ist wieder schwanger«, antwortet er.

»Wirklich«, sage ich und versuche erstaunt zu klingen.

Er zieht seine Brieftasche heraus und zeigt mir ein schwarzes Foto, auf dem ein weißes Geschwür zu sehen ist.

»Toll«, sage ich und bemühe mich, noch einmal zu lächeln. »Herzlichen Glückwunsch!«

»Es wird ein Mädchen«, sagt er stolz und nippt an seinem Bier.

»Und … äh …« Ich überlege, ob sein erstes Kind ein Junge oder ein Mädchen war.

»Leon?«

»Richtig. Freut er sich?«

»Und wie! Er gibt jetzt schon den großen Bruder.« Er grinst, dann fällt ihm plötzlich ein, mit wem er spricht. Erschrocken sieht er mich an. »Entschuldige«, sagt er.

Ich winke ab. »Alles gut«, sage ich. »Ich freue mich für dich.«

»Danke«, sagt er. Dann schiebt er hinterher: »Tut mir wirklich leid, das mit Pip.«

Ich lächle und sage nichts. Plötzlich fühle ich mich wahnsinnig einsam.

»Also«, sagt er. »Ich, äh … ich wollte noch mal mit Johann schnacken.«

»Klar«, sage ich und sehe ihn trauriger an, als mir lieb ist.

Als Georg weg ist, ziehe ich wieder mein Smartphone aus der Tasche. Ich habe elf neue Mails bekommen, was sich gut und zugleich bedrohlich anfühlt: Die Welt dreht sich weiter, ob ich will oder nicht.

Eine Weile sitze ich noch da, denke an Pip, an die Sache mit diesem Limburg-Mitarbeiter, dann wieder an Pip. Ich sitze da und spüre, wie mein Smartphone bei jeder neuen Mail leise vibriert. Es fühlt sich völlig falsch an, diese Mails zu bekommen, aber es fühlt sich mindestens genauso falsch an, sie zu ignorieren.

Und dann, irgendwann, halte ich es nicht mehr aus. Ich rufe die Deutsche-Bahn-App auf und suche die nächste Verbindung nach Berlin heraus. Einen Zug habe ich gerade verpasst, und es fährt erst wieder einer in zwei Stunden. Aber das ist mir in diesem Moment egal, ich werde trotzdem gehen. Ich sitze schon viel zu lange hier.

Ich lasse meine Weißweinschorle stehen und gehe hinüber zu meinen Eltern, die mit glühenden Wangen am Tisch sitzen und gerade für den Bruchteil einer Sekunde allein sind.

Schnell setze ich mich zu ihnen. »Ich haue ab«, sage ich ohne Umschweife.

»Luise«, sagt meine Mutter tadelnd, als hätte ich etwas absolut Unerhörtes vorgeschlagen.

»Ich kann nicht mehr«, sage ich müde – eine Begründung, die ich nach diesem Tag eigentlich ausreichend finde.

»Ich kann auch nicht mehr«, erklärt sie schnippisch. »Und ich gehe trotzdem nicht.«

Das ist so typisch: Sie spielt die Märtyrerin, die, die sich mehr aufopfert als irgendjemand sonst – aber mit nichts anderem im Sinne, als mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

»Lass sie doch«, mischt sich mein Vater ein. »Es war ein langer Tag. Lu ist extra aus Berlin angereist.«

»Und ich bin extra aus Ham…«

»Liebling.« Mein Vater legt ihr die Hand auf den Arm. Liebling, so nennt er sie wirklich nur im Notfall, und es funktioniert sofort: Sie verstummt. »Lu hat so viel um die Ohren«, sagt er mitfühlend.

»Das stimmt«, sage ich schnell. »In der Kanzlei ist natürlich ausgerechnet diese Woche der Teufel los.«

»Kommst du zurecht?«, fragt mein Vater mich besorgt.

»Klar«, sage ich, obwohl ich schon nervös werde, wenn ich nur an meinen E-Mail-Eingang denke.

»Soll ich dich nicht wenigstens zum Bahnhof zu bringen?«, fragt mein Papi, und plötzlich finde ich, dass der Rotweinfleck neben seiner etwas locker sitzenden Krawatte wie ein Orden aussieht.

»Danke, ich gehe lieber zu Fuß. Ein bisschen Luft tut mir vielleicht ganz gut«, sage ich.

»Ja, bestimmt«, nickt er, wahrscheinlich ganz froh, dass ich ihn nicht hinters Steuer zwinge.

Ich umarme ihn fest, danach meine Mutter, wenn auch nicht ganz so innig. Dann verschwinde ich. Als ich die schwere Holztür der Gaststätte öffne, schlägt mir eine feuchte Kälte entgegen, die mich sofort wieder daran erinnert, dass noch lange nicht so richtig Frühling ist, auch, wenn man das heute Vormittag hätte denken können. Wo vorhin noch eine surreale Sonne strahlte, drängen sich nun dicke, dunkle Wolken. Es muss geregnet haben, während wir im Gasthaus waren, denn der Boden glänzt nass. Das Licht versickert irgendwo am grauen Horizont, dabei ist es gerade einmal früher Nachmittag.

Ich laufe über den knirschenden Kies des Parkplatzes, vorbei an tropfnassen Kühlerhauben, an Anhängerkupplungen und Sylt-Aufklebern, an Kindersitzen, zerkratzten Rückspiegeln, kaltem Metall. Fast alle Trauergäste sind aus Hamburg gekommen, wo ich aufgewachsen bin, und wo Pip bis zum Schluss gelebt hat. Aber manche Autos haben andere Nummernschilder: Berlin, Potsdam, Köln. An der Parkplatzausfahrt biege ich nach rechts ab und folge der Straße, die nach etwas mehr als zwei Kilometern zum Bahnhof führen muss, so sagt es mir zumindest ein schneller Blick auf Google Maps. Fast freue ich mich darauf, endlich im Zug zu sitzen. Ich werde mich in irgendeinem Abteil verkriechen, die Stirn an die kalte Scheibe lehnen und die eineinhalbstündige Fahrtzeit dazu nutzen, mich in der