Baccara Collection Band 485 - Rachel Bailey - E-Book

Baccara Collection Band 485 E-Book

Rachel Bailey

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Beschreibung

EINE WOCHE IST NIE GENUG von RACHEL BAILEY

Mae hat Anteile an einem Milliarden-Imperium geerbt und möchte in der Chefetage sitzen. Davon will CEO Sebastian Newport nichts wissen. Sein Plan: Eine Woche soll Mae ihn begleiten, dann hat sie sicher genug. Aber er hat seine Rechnung ohne die Leidenschaft gemacht …

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Rancher Barrington „Bear“ Fortune braucht einen Nachfolger. Als es zwischen ihm und seiner neuen Haushälterin Morgana verführerisch prickelt, hat er eine Idee: Er könnte mit der temperamentvollen Schönheit einen Erben zeugen! An Liebe denkt er dabei nicht …

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Zwei Dinge kann Huck Monroe hervorragend: ermitteln und Gefühle unterdrücken! Beide Fertigkeiten benötigt er, als Olivia Ballard nach Sunset Cove zurückkehrt. Einst waren sie ein Paar, jetzt braucht Olivia ihn, um herauszufinden, wer ihren Großvater auf dem Gewissen hat …

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rachel Bailey, Makenna Lee, Debra Webb

BACCARA COLLECTION BAND 85

IMPRESSUM

BACCARA COLLECTION erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/82 651-370 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Deutsche Erstausgabe 2025 by Verlagsgruppe Harper Collins Deutschland GmbH, Hamburgin der Reihe BACCARA COLLECTION, Band 85

© 2023 by Rachel Robinson Originaltitel: „Overnight Inheritance“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: DESIRE Übersetzung: Monica S. Westing

© 2024 by HARLEQUIN ENTERPRISES ULC Originaltitel: „Fortune’s Convenient Cinderella“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: FORTUNES OF TEXAS Übersetzung: Brigitte Marliani-Hörnlein

© 2023 by Debra Webb Originaltitel: „Murder at Sunset Rock“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: INTRIGUE Übersetzung: Christine Schmidt

Abbildungen: VitalikRadko / Depositphotos, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2025 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751530743

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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Rachel Bailey

Eine Woche ist nie genug

1. KAPITEL

Mae Dunstan – oder Mae Rutherford, wie sie auf der Party von allen genannt wurde – stand in der Terrassentür des Hauses ihrer Tante Sarah in den Hamptons und seufzte. Hinter ihr feierten ihr zu Ehren die Reichen und Schönen, und sie wollte einfach nur weg.

Vor ihr lag der samtene Nachthimmel und die vielversprechende Aussicht, ein paar Minuten allein zu sein.

Kurz entschlossen ging sie hinaus. Mit jedem Schritt wurde es dunkler, und leiser. In der lauen Sommerluft konnte sie sich nun ein wenig entspannen.

Seit ihrer Ankunft in den USA vor drei Wochen war sie kaum zur Ruhe gekommen. Alle wollten irgendetwas von ihr. Das war nicht weiter verwunderlich, nachdem bekannt geworden war, dass sie die verschollene Erbin eines Milliardenvermögens war. Auf einmal interessierte sich alle Welt für sie, entweder aus Neugierde oder des Geldes wegen. Die Glücksritter waren die schlimmsten: Männer, die versuchten, sich erst über ihre Mailkonten und dann über ihr Bett einen Weg zu ihrem Bankkonto zu bahnen.

Sie betrat den gepflegten, mit Lichterketten geschmückten Garten und holte tief Luft. Das half nicht viel. Seitdem sie aus Australien angereist war, hatte sie das Gefühl, kaum noch zu Atem zu kommen. Nein, schon vorher. Seit ihr Bruder Heath ihr erzählt hatte, dass der Vater, vor dem sie sich ihr ganzes Leben lang versteckt hatten, tot war und sie jetzt Milliardäre wären. Sie wusste noch immer nicht genau, ob das nicht ein Irrtum war und bald jemand auftauchen würde, um sie zur Rückgabe des Geldes zu zwingen. Wenigstens würde ihr Dasein dann wieder normal werden – ihr Job als Lehrerin, das gemütliche Leben in einer australischen Kleinstadt – und nicht der Zirkus sein, zu dem es inzwischen geworden war.

Ein schattiger Ort bei der hohen, dichten Hecke, die das Haus ihrer Tante Sarah vom Nachbargrundstück trennte, lockte sie mit der Aussicht auf Ruhe, und so machte sie sich in der Dunkelheit auf den Weg dahin. Dort angekommen, schlang sie die Arme um sich und blickte in den Himmel. Die Sternbilder waren anders als die, mit denen sie auf der Südhalbkugel aufgewachsen war, aber der Anblick eines Himmels voll funkelnder Sterne gehörte zu den wenigen vertrauten Dingen, die ihr noch geblieben waren.

„Die Party ist ein Reinfall, was?“

Sie erbebte vor Schreck und schnellte herum. Es war niemand zu sehen, aber auf der anderen Seite der Hecke raschelten Blätter.

Sie spähte hindurch, doch das Laub war zu dicht, um etwas zu erkennen. „Kriechen Sie etwa ernsthaft im Gebüsch herum?“

„Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.“ Die tiefe Männerstimme klang amüsiert.

„Ich schnappe nur etwas Luft“, sagte sie knapp.

„Sie sind ein ganzes Stück von der Party entfernt. Ich dagegen schlendere durch meinen eigenen Garten. Verraten Sie mir doch, weshalb Sie sich vor etwas verstecken, was eigentlich nach einer beeindruckenden Veranstaltung klingt?“

Dieser Mann war ein Fremder, und sie hatte kaum vor, jemandem, den sie nicht einmal sehen konnte, ihre Geheimnisse zu offenbaren. Die einzige Person, die sie im ganzen Land wirklich kannte, war ihr Bruder Heath, und der turtelte zurzeit heftig mit Freya, seiner Verlobten. Wenn sie mit ihm reden wollte, würde er natürlich für sie da sein, aber er hatte schon sein ganzes Leben damit verbracht, auf sie und ihre Mutter aufzupassen. Und jetzt, wo er mit Freya auf Wolke sieben schwebte, war es ihr zuwider, sein Glück mit ihren Zweifeln und Ängsten zu belasten.

„Ich genieße die Party, nehme mir aber gerade einen Moment Zeit, um den Nachthimmel zu bewundern.“

„Schwindlerin“, antwortete er lächelnd.

„Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Stimmt.“ Sie hörte das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas. „Das beweist, dass ich recht habe. Sie reden lieber mit jemanden, den sie noch nie getroffen haben, anstatt auf der Party zu sein, die Ihnen angeblich so gut gefällt.“

Leider lag er richtig. „Sie sind ja auch nicht da.“

„Ich bin nicht eingeladen. Außerdem bin ich erst vor einer halben Stunde zurückgekommen.“

„Woher denn?“ Ihre Neugier war geweckt. Seit sie auf amerikanischem Boden war, hatte sich fast jedes Gespräch um ihre Person gedreht. Es war eine Wohltat, über jemand anderen zu sprechen, der noch dazu nichts mit ihrer Situation zu tun hatte.

„Aus New York. Dort habe ich eine Wohnung, in der ich die meiste Zeit über lebe. Ich bin nur am Wochenende hier. Jetzt, wo Sie meine Geheimnisse kennen, verraten Sie mir doch, warum Sie hier draußen sind und nicht im Haus bei der Prominenz.“

Sie schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht sollte sie das tun. Darüber zu reden, wäre eine Erleichterung, und hieß es nicht, es sei einfacher, einem Fremden die Wahrheit zu sagen?

„Ich gehöre nicht dazu“, sagte sie. „Und ich verstehe diese Leute nicht. Sie scheinen zwar alle nett zu sein, aber ich kann mit niemandem etwas anfangen.“

„Ah, da liegt das Problem. Wissen Sie, eine Party in den Hamptons ist kein Ort, an dem man enge Beziehungen knüpft. Jeder ist vorsichtig. Haben Sie irgendwelche Berühmtheiten getroffen?“

„Mehrere.“ Sie hatte entweder verlegen geschwiegen oder aber losgeplappert, wenn ihr Menschen vorgestellt wurden, die sie von der Kinoleinwand oder aus Musikvideos kannte.

„Diese Leute haben ständig Angst, dass man mit dem Smartphone Fotos von ihnen macht, die man verkaufen könnte, oder dass man der Klatschpresse erzählt, was sie gesagt haben. Also sind sie auf der Hut. Und die Reichen warten nur darauf, dass man ihnen Avancen macht.“

„Was für Avancen?“

„Dass man sie um Geld bittet.“ Sein Ton war neutral und sachlich. „Vielleicht in Form einer Investition, einer Spende für wohltätige Zwecke oder einfach nur eines Almosens.“

Ihre Mutter hatte ihnen immer gesagt, dass man mit Geld kein Glück kaufen könnte. Sicher, genug für die Miete und das Essen zu haben, war für jeden lebenswichtig, aber noch mehr Geld machte die Dinge eher schlechter als besser. „So ein Leben ist ja furchtbar.“

Er kicherte. „Aber besser als die Alternative. Außerdem gewöhnt man sich daran.“

„Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Angst mehr davor, in der Klatschpresse zu landen, oder davor, dass man Sie um Geld bittet?“

Sebastian Newport kochte innerlich bei der Vorstellung, sie würde ihn mit der Familie Rutherford und deren Freunden vergleichen.

„Ich bin nicht wie sie.“ In seiner Stimme lag mehr Nachdruck, als er beabsichtigt hatte.

„Seltsam“, sagte sie in ihrem niedlichen, australischen Akzent. „Sie haben ein Haus in den Hamptons, das Sie am Wochenende nutzen, und außerdem eine Wohnung in New York. Ich wage zu behaupten, dass Sie wohl kaum an der Armutsgrenze leben. Also geht es in diesem Gespräch entweder darum, dass Sie darauf warten, dass ich Sie ausnutze, oder ...“

„Oder?“, zischte er, weil sie zögerte.

„Oder ich bin es, die sich vor Ihnen in Acht nehmen sollte.“

„Glauben Sie, ich habe dieses Treffen arrangiert, um Sie auszuspionieren?“

Er war in seinem eigenen Garten auf und ab gegangen, um den Stress der Autofahrt abzuschütteln. Zuvor hatte er seinen Sohn Alfie ins Bett gebracht und sich anschließend einen Drink eingeschenkt. Dann war er mit dem Babyfon in der Hand nach draußen gegangen. Die Wochenenden waren stets ein Kampf. Eigentlich hasste er es, so weit von der Arbeit entfernt zu sein, denn sein Instinkt sagte ihm, dass er jederzeit verfügbar sein musste. Aber er hatte seiner verstorbenen Frau versprochen, dass er Alfie zuliebe eine bessere Work-Life-Balance finden würde. Und Schwüre am Sterbebett durfte man nicht brechen. Also wurde sein Sohn unter der Woche von einem Kindermädchen betreut, während er selbst Überstunden im Büro machte. An den Wochenenden waren sie nur zu zweit in ihrem Ferienhaus. Das Letzte, woran er gedacht hatte, als er hier ankam, war die Begegnung mit einer Frau über den Gartenzaun hinweg.

„Vielleicht haben Sie dieses Treffen nicht arrangiert, aber Ihre eigene Theorie besagt, dass alles auf Partys entweder interaktiv ist oder dass eine Interaktion um jeden Preis vermieden wird.“

Er gluckste. „Touché. Aber Sie vergessen, ich bin nicht auf Ihrer Party.“

„Damit ist dieses Gespräch jenseits Ihrer Theorie.“

„Es ist fast jenseits der Realität“, sagte er.

„Klingt gut. Mein ganzes Leben ist im Moment praktisch jenseits jeder Realität.“

Er zögerte. Wahrscheinlich hielt sie ihr Treffen für eine anonyme Begegnung, aber er hatte schon bei ihren ersten Worten erkannt, wer sie war. Die verschollenen Erben des Bellavista-Vermögens, Heath und Mae Rutherford, waren derzeit in aller Munde, und er hatte gehört, dass seine Nachbarin Sarah heute Abend eine Party für Mae gab. Zusammen mit ihrem Akzent und ihrer Verwirrung darüber, wie die hiesigen gesellschaftlichen Kreise funktionierten, konnte es sich nur um Mae Rutherford handeln.

Sein einseitiges Wissen war ihm etwas unangenehm, aber er genoss das Gespräch mit ihr und war sich nicht sicher, ob sie es fortsetzen würde, wenn sie wüsste, wer er war. Offenbar hatten ihre Tante und ihr Bruder sie nicht vorgewarnt, dass der andere Hauptanteilseigner der Firma, die sie geerbt hatten, das Haus nebenan besaß. Sonst wäre sie bestimmt misstrauisch geworden und hätte ihn komplett ignoriert. Aber er wollte ihr nichts Böses. Tatsächlich war das Gespräch mit ihr der größte Spaß, den er seit Langem mit einem anderen Erwachsenen gehabt hatte. Sie war wie ein frischer Wind, und den hatte er im Moment bitter nötig.

„Warum wurden Sie nicht eingeladen?“, fragte sie. „Wusste Sarah nicht, dass Sie übers Wochenende hier sein würden?“

Er nippte an seinem Drink, bevor er antwortete: „Es gibt eine Vorgeschichte. Im Allgemeinen gehen wir uns aus dem Weg. Aber ich habe gehört, dass sie hervorragende Partys gibt.“

„Das ist toll, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich mit all diesen Leuten amüsieren soll.“

Er erinnerte sich an ähnliche Gefühle in seiner Teenager-Zeit, als er angefangen hatte, derartige Partys zu besuchen, und eine Welle des Mitgefühls erfasste ihn. Sie würde ihn wahrscheinlich hassen, wenn sie herausfand, wer er war, und dagegen konnte er nichts tun. Bis es so weit war, konnte er Mae Rutherford jedoch helfen, indem er ihr die Einsichten vermittelte, die er selbst als Teenager gewonnen hatte.

„All diese Menschen zeigen Ihnen nur eine Fassade“, sagte er. „Sie haben sich überlegt, wie sie von anderen Menschen und der Welt gesehen werden wollen, und sie haben diese Maske vor ihrer Ankunft aufgesetzt. Alles, was Sie tun müssen, ist herauszufinden, welche Maske Sie selbst tragen wollen.“

„Und wenn ich die Antwort nicht weiß?“, fragte sie zaghaft.

„Vielleicht fangen Sie damit an, herauszufinden, was Sie selbst wollen.“ Er rollte die Schultern und spürte, wie der Stress des Tages langsam von ihm abfiel.

„Sie meinen, was ich vom Leben will? Das ist eine ziemlich weitreichende Frage.“

„Und, kennen Sie die Antwort?“

„Nicht wirklich“, gab sie seufzend zu.

Er konnte sich nicht vorstellen, etwas so Grundlegendes wie die Richtung seines Lebens nicht zu kennen. Bereits in der Grundschule hatte er eine Vision davon gehabt. Allerdings gab es auch Rückschläge, wie den Tod seiner Frau nach drei Jahren Ehe. Danach hatte er sich gefragt, ob er sein Schicksal wirklich selbst in der Hand hatte. Im Moment konzentrierte er sich jedoch auf Mae.

„Ich denke, dass es Ihnen einige Chancen bietet, bei Sarah Rutherford eingeladen zu sein und Kontakt mit den anderen Gästen aufnehmen zu können. Was versprechen Sie sich davon?“

Ein Zweig knackte im Gebüsch, ungefähr an der Stelle, von der ihre Stimme kam. „Warum soll ich mir davon etwas erwarten?“, fragte sie verwundert.

„Jeder will etwas.“ Das wusste er aus eigener Erfahrung. „Was flüstert Ihnen Ihre innere Stimme zu? Ruhm? Macht? Einfluss?“

Nach längerem Schweigen antwortete sie schließlich leise. „Die Welt zu einem besseren Ort machen.“

Fast hätte er verächtlich geschnaubt, konnte sich aber zum Glück noch rechtzeitig beherrschen. Gab es wirklich Menschen, die von Hoffnung und Güte erfüllt waren?

„Es gibt viel Schlimmes auf der Welt“, sagte er. „Was genau würden Sie gern besser machen?“

„Ich möchte Kindern helfen. Und Müttern, die versuchen, sie zu beschützen.“

Diese simple Emotion versetzte ihm einen solchen Schlag vor den Bug, dass er unter der Bedeutung des Gedankens förmlich taumelte. Jeder wusste, dass ihr Vater, Joseph Rutherford, ein schrecklicher Mensch gewesen war, und viele vermuteten, dass seine Frau geflohen war, um ihren kleinen Sohn vor ihm zu schützen.

Heath war vor ein paar Monaten wiederaufgetaucht, und später stellte sich heraus, dass er eine Schwester hatte. Ihr Vater hatte nichts von ihrer Existenz gewusst, was bedeutete, dass ihre Mutter in der Frühschwangerschaft geflohen sein musste. Sebastians eigener Vater – Rutherfords Geschäftspartner – war niemand, an den er gerne dachte, aber im Vergleich zu Joseph war er ein Engel. Maes Mutter hatte mit ihrer Flucht wahrscheinlich das einzig Richtige getan.

„Das ist eine gute Idee. Wenn Sie das wirklich wollen, dann legen Sie sich die Maske einer Person zu, die das erledigen kann, und gehen Sie wieder hinein.“

Er hörte sie tief durchatmen und stellte sich vor, wie sie sich gerade aufrichtete und ihre Maske aufsetzte.

„Danke. Ich bin bereit.“ Er hörte Blätter knistern. „Schön, Sie kennengelernt zu haben, Schattenmann.“

Er wartete, bis ihre Schritte verklungen waren, dann flüsterte er: „Gleichfalls, Mae.“

Mae fühlte sich nun selbstsicherer. Sie hatte die Party eine halbe Stunde zuvor verlassen, weil sie so weit wie möglich von diesen Leuten entfernen wollte. Nach ihrem Gespräch mit dem Fremden von nebenan fühlte sie sich verändert und gesellte sich mit einer gewissen Zielstrebigkeit zurück zum Partyvolk. Sie begann, mit ihren Gesprächspartnern über ihre Leidenschaften und ihre Wohltätigkeitsarbeit zu reden, wobei sie sich vortastete und nach Hinweisen suchte, was sie mit diesen neuen Verbindungen anfangen könnte.

Sie wollte nicht dauerhaft in den USA bleiben – sie war in Australien aufgewachsen, dort war ihr Zuhause. Aber solange sie hier war, konnte sie etwas tun, um Frauen zu helfen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden wie ihre Mutter damals, als sie von ihrer zweiten Schwangerschaft erfuhr.

Tante Sarah kam von der Champagnerbar herüber. „Du siehst anders aus als noch vorhin“, sagte sie freundlich. „Nicht mehr wie ein aufgeschreckter Vogel.“

Mae kicherte. Sie mochte Sarah wirklich. „Ich hatte gerade ein interessantes Gespräch mit deinem Nachbarn.“

„Welcher Nachbar?“ Sarah schien verwundert zu sein.

„Der hinter der Hecke dort.“ Sie zeigte in die entsprechende Richtung. Ihre Tante fluchte leise, was sie völlig überraschte. Sarah hatte ihr in den wenigen Wochen, seit sie sich kannten, offensichtlich nur ihre Schokoladenseite gezeigt. Auch ihr Gesichtsausdruck wirkte plötzlich aufgebracht. Der Schattenmann hatte gesagt, dass zwischen ihnen etwas vorgefallen war und sie sich nach Möglichkeit aus dem Weg gingen.

Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich weiß nicht, welches Problem ihr miteinander habt, aber er war heute Abend wirklich nett zu mir. Außerdem hat er mir ein paar gute Tipps gegeben.“

„Ich wette, das hat er getan.“ Sarah zog ihre Nichte am Arm hinter sich her in eine ruhige Ecke. „Ich wollte, dass du dich noch etwas länger eingewöhnen kannst, bevor der Termin bei den Anwälten stattfindet, wo dir dein Erbe erklärt wird. Wie viel hat dir Heath bisher eigentlich über das Vermächtnis eures Vaters erzählt?“

„Wir hatten noch nicht viel Zeit, um im Detail darüber zu sprechen. Nur, dass unser Vater den größten Teil seines Vermögens Heath hinterlassen hat und dass du in der Zwischenzeit als Nachlassverwalterin darüber wachst. Und dass er, nachdem du und Freya ihn gefunden und seine Identität mit den DNA-Tests nachgewiesen habt, das Geld gerecht mit mir teilen würde.“

„Das ist die Geschichte des Geldes. Aber weißt du auch etwas über die Zusammensetzung des Vermögens?“

Mae dachte an ihre wenig konkreten Gespräche mit Heath. Sie hätte wirklich mehr Fragen stellen sollen. „Eigentlich nicht.“

„Okay, hier ist ein kurzer Überblick. Ihr habt beide ein Portfolio geerbt, das Bargeld, Anleihen und Investitionen enthält. Aber der Hauptbestandteil sind Aktien einer Immobilienentwicklungsgesellschaft, die mein Vater – euer Großvater – und sein Geschäftspartner gegründet haben: Rutherford and Newport. Dieses Unternehmen ging auf die Söhne über – euren Vater, Joseph Rutherford, sowie Christopher Newport. Sie führten das Unternehmen viele Jahre lang gemeinsam, obwohl sie sich nicht ausstehen konnten. Sie versuchten beide mehrmals, den anderen auszubezahlen, aber keiner wollte verkaufen. Als dein Vater starb und wir Heath nicht finden konnten, dachte Christopher, er hätte gewonnen. Aber ich weigerte mich, die Aktien zu verkaufen, und stellte stattdessen ein Team ein, das die Firmengeschäfte weiter betreiben sollte, um Heath und jetzt auch dir den Platz frei zu halten.“

Mae umarmte ihre Tante spontan. „Wahnsinn, dass du die ganze Zeit daran geglaubt hast, dass du ihn finden würdest.“

„Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben.“ Sarah streckte die Hand aus, um Maes Wange zu streicheln. „Und du warst mein Extrabonus.“

In der Berührung spiegelte sich bedingungslose Zuneigung wider, was Mae an die Liebe ihrer Mutter erinnerte.

„Und was hat das alles mit deinem Nachbarn zu tun?“

Sarah warf einen Blick hinüber zum angrenzenden Grundstück. „Das ist Christophers Sohn, Sebastian Newport. Christopher ist dabei, in den Ruhestand zu gehen, und Sebastian hat die meisten seiner Aufgaben übernommen. Dieser Mann, dein sogenannter guter Berater, hat persönliches Interesse an jeder deiner Entscheidungen.“

Maes Herzschlag stotterte, ihr wurde flau im Magen. Doch dann erinnerte sie sich an etwas Wichtiges. „Ich habe ihm nicht gesagt, wer ich bin. Somit hätte ich jeder beliebige Gast auf der Party sein können.“

„Mae, was glaubst du, wie viele meiner heutigen Gäste einen australischen Akzent haben? Er hat sicherlich eine dicke Akte auf seinem Schreibtisch liegen mit allen Details über dein Leben, die seine Ermittler bisher herausfinden konnten. Er wusste genau, wer du bist.“

Mae fing an, innerlich vor Wut zu kochen. „Verdammter Mistkerl.“

„Ja“, sagte Sarah und reichte ihr ein Glas Champagner.

2. KAPITEL

An den Küchentresen gelehnt, stürzte Sebastian Newport den zweiten Kaffee des Tages hinunter und betete, er möge wirken, bevor sein Sohn aufwachte. Zum Glück war Alfie immer ein guter Schläfer gewesen, anders als er selbst.

Letzte Nacht war er lange aufgeblieben, um das Gespräch mit Mae Rutherford gedanklich durchzuspielen. Er hatte versucht, den Eindruck, den er von ihr durch die Fotos im Dossier gewonnen hatte, mit der Stimme, die er im Garten gehört hatte, in Einklang zu bringen. Aber das war ihm nicht ganz gelungen. Sie hatte sich in der neuen Umgebung zaghaft und unsicher verhalten. Die Aufnahmen des Privatdetektivs zeigten hingegen eine lächelnde, selbstbewusste Frau, über die er gern mehr erfahren wollte.

Als es plötzlich an seiner Haustür klingelte, lauschte er, ob aus Alfies Zimmer im Obergeschoss Geräusche zu hören waren. Aber alles blieb ruhig, und so steckte er das Babyfon ein und ging zur Haustür.

Die Kaffeetasse in einer Hand, öffnete er mit der anderen die Tür, um die Frau zu erblicken, an die er gerade gedacht hatte. Blinzelnd fragte er sich, ob sie es wirklich war. Aber das lange, dunkle Haar, die grauen Augen und die Grübchen verrieten sie. Außerdem sah sie ihrer Tante unheimlich ähnlich. Das war eindeutig Mae Rutherford.

Anders als auf den Fotos lächelte sie jetzt kein bisschen. In ihren mandelförmigen Augen schienen sich Gewitterwolken zusammenzubrauen, die kurz vor der Entladung standen.

„Wissen Sie, wer ich bin?“, fragte sie, ehe er etwas sagen konnte.

„Hallo, Mae. Wie Sie sicher schon erraten haben, kenne ich Sie von Fotos. Ich muss allerdings sagen, dass sie Ihnen nicht gerecht werden.“ Die Frau vor ihm schien vor intensiver Emotionalität nur so zu sprühen, was bei Berührung bestimmt auf ihn überspringen würde. Und verdammt, am liebsten hätte er sie jetzt auch direkt angefasst ...

„Seit wann wissen Sie, dass ich es bin?“

„Das habe ich bereits gestern Abend vermutet. Ihr Akzent ist hier selten, also habe ich eins und eins zusammengezählt.“

Sie verschränkte ihre Arme. „Warum haben Sie mir das nicht gesagt, sondern mich in dem Glauben gelassen, dass wir ein anonymes Gespräch führen?“

Die gleiche Frage hatte er sich gestern Abend im Bett gestellt. „Dann wären Sie bestimmt gegangen, und ich habe unser Gespräch sehr genossen.“

Sie sah ihn einen Moment lang eindringlich an und nickte dann langsam. „Also war der Rat, den Sie mir gestern Abend gegeben haben, eher ein Manipulationsversuch.“

Er zuckte zusammen. Das war eine berechtigte Schlussfolgerung, die er selbst gezogen hätte, wenn ihre Rollen vertauscht gewesen wären.

„Es mag Ihnen anders erscheinen, aber ich habe unser Gespräch gestern Abend im Geiste zweier Fremder geführt, die sich im Gebüsch begegnen. Ich habe Ihnen denselben Rat gegeben, den ich jedem in Ihrer Situation gegeben hätte.“

„Entschuldigen Sie meine Skepsis.“

„Zu Ihrer Information, es war nicht derselbe Rat, den ich Ihnen heute Morgen geben würde.“

Sie beäugte ihn kritisch. „Und was raten Sie mir dann heute Morgen?“

„Verkaufen Sie mir Ihre fünfzig Prozent Firmenanteile an Bellavista Holdings. Wir wissen beide, dass Sie damit überfordert sind, also stoßen Sie sie an mich ab und gehen Sie mit einer großen Tasche voller Geld vom Platz.“

„Haben Sie mich gerade dumm genannt?“

„Ganz und gar nicht. Ich habe keine Ahnung vom Unterrichten. Darin sind Sie gut ausgebildet. Ich hingegen habe mein ganzes Leben lang hierfür trainiert. Also, verkaufen Sie an mich.“

„Zunächst einmal ist das alles vorläufig. Heath und mir gehört noch gar nichts. Die rechtlichen Dinge werden noch geklärt. Aber wie kommen Sie darauf, dass ich eine Firma verkaufen will, die ich gerade erst geerbt habe? Vor allem nicht an Sie, wo es doch eine so unerfreuliche Vorgeschichte mit meiner Familie gibt.“

„Weil ich von unserem gestrigen Gespräch her weiß, dass Sie keine Firma leiten wollen. Und das Geld aus dem Verkauf könnte für alle möglichen guten Zwecke verwendet werden.“

„Was ich will oder nicht will, ist ...“

Sebastian hob eine Hand, als schwache Geräusche vom Babyfon ertönten. Es war kein Geschrei, nur ein Murmeln von Alfie, der aufgewacht war. Bald würde er jedoch anfangen zu weinen.

„War nett, Sie kennenzulernen, Mae. Ich muss gehen“, sagte er und griff nach der Türklinke.

„Sie können nicht einfach ausbüxen, nur weil ich Sie erwischt habe ...“

Alfies Laute veränderten sich in Richtung Weinerlichkeit. „Hören Sie, ich werde jetzt wirklich anderweitig gebraucht. Sie können bleiben oder gehen, aber machen Sie auf jeden Fall die Tür hinter sich zu.“

Damit drehte er sich um und stürmte zur Treppe, wo er jeweils zwei Stufen auf einmal nach oben nahm.

Mae stand an der Türschwelle und beobachtete Sebastians Rückzug, ohne zu wissen, was gerade passierte. Sie war auf eine Konfrontation vorbereitet gewesen – sie hatte den Großteil der Nacht wach gelegen und sie geplant – und hatte erwartet, einige Antworten zu erhalten. Aber sie war nicht weit gekommen, bevor er sich zurückgezogen hatte. Und stammte das Wimmern etwa von einem Baby? Das Vernünftigste wäre jetzt, die Haustür hinter sich zu schließen und zurück zu Sarah zu gehen. Aber Vernunft war noch nie ihre Stärke gewesen.

Außerdem hatte er sie hereingebeten.

Sie fühlte sich wie ein Eindringling, als sie die Haustür zumachte und ihm die Treppe hinauffolgte. An deren oberen Ende wandte sie sich nach links, wohin Sebastian verschwunden war. Dort horchte sie, woher das leise Gemurmel kam, und ging bis zur entsprechenden Tür weiter.

Dort befand sich ein Kinderzimmer, und im Gegensatz zum restlichen Haus war es freundlich und hell eingerichtet. Sie trat gerade in dem Moment ein, als Sebastian sich über ein Babybett beugte, um ein etwa anderthalbjähriges Kleinkind herauszuheben.

Wie gebannt sah sie zu, wie er das Baby auf den Wickeltisch legte und es anlächelte. Dann sicherte er es mit der linken Hand und holte mit der rechten eine Windel vom Regal über dem Tisch. Die Bewegung brachte seine breiten Schultern zur Geltung, und sie war einen Moment lang abgelenkt. Er murmelte dem Baby etwas zu, während er ihm routiniert die Windel wechselte.

Er blickte auf und schien sie erst jetzt zu bemerken, und sie kämpfte gegen den Impuls an, wegzulaufen. Der Moment erschien ihr zu privat zu sein, um von einer fremden Person beobachtet zu werden.

Aber er war nicht böse. „Darf ich vorstellen: Alfie“, sagte er und hob das Baby an seine Brust, sodass ihre Gesichter aneinanderlagen. Die Intensität der vier ozeanblauen Augen war verblüffend. Alfie hatte lange Wimpern, und sein T-Shirt war hochgerutscht, sodass sein niedlicher Babybauch zu sehen war.

Verdammt, er spielte nicht fair. Sie hatte sich über ihn geärgert, und jetzt war ihr der Wind aus den Segeln genommen worden. Zuerst, weil sie nicht mit einem so ausnehmend attraktiven Mann gerechnet hatte, und später, als sie erkannt hatte, dass sein Baby ein süßes Engelchen war.

„Hi, Alfie.“ Sie winkte dem Kind zu. „Wie alt ist er?“

„Vierzehn Monate.“ Sebastian kitzelte seinen Sohn am Bauch. „Du bist schon ganz schön groß, nicht wahr?“ Alfie gluckste vergnügt.

„Kommen Sie“, sagte er zu ihr. „Er ist hungrig.“

„Sicher“, sagte sie mechanisch.

Sebastian ging voran, und sie folgte den beiden in die Küche, wo er Alfie in einen Hochstuhl setzte. Dieser Morgen wurde immer surrealer. Sie war zu ihm gekommen, um ihn zur Rede zu stellen, aber stattdessen sah sie ihm nun dabei zu, wie er sein niedliches Kind versorgte.

„Schläft seine Mutter noch?“, fragte sie und bemerkte erst danach, wie indiskret die Frage war. Trug er überhaupt einen Ring?

„Wir sind nur zu zweit. Nicht wahr, Alfie?“

„Sind Sie geschieden?“, fragte sie unvermittelt.

„Verwitwet.“ Er sah nicht auf, während er Alfie ein Lätzchen um den Hals band und einen Teller vor ihn hinstellte.

Ihr Innerstes krampfte sich zusammen. „Tut mir leid. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen.“

„Schon gut. Sie sind nicht die erste Person, die danach fragt.“ Er sah endlich auf. Da waren wieder diese Augen. Ozeanblau und zu magisch für ihren Seelenfrieden. Sie musste sich konzentrieren.

Sie hatte viele Fragen – wie konnte er als alleinerziehender Vater eines Kleinkindes Bellavista Holdings leiten, aber das ging sie eindeutig nichts an.

„Okay, ich bin bereit“, sagte er und straffte seine Schultern.

„Wofür?“, fragte sie misstrauisch.

„Sie sagten an der Tür, wir seien noch nicht fertig, und ich sagte, das müsse warten. Jetzt können Sie weitermachen.“

„Oh, richtig. Wissen Sie, ich verstehe immer noch nicht, was es mit unseren Familien auf sich hat. Sarah hat mir erzählt, dass Ihr Großvater dieses Haus zur gleichen Zeit gebaut hat wie meiner seines nebenan.“

Er nickte. „Sie waren beste Freunde und hatten gehofft, die Verbindung würde sich über Generationen fortsetzen. Aber wie Sie wissen, sollte es nicht sein.“

„Haben Sie Ihren Großvater gekannt?“ Sie beobachtete Alfie dabei, wie er sich eine Beere nahm und sie in seinen rosigen Mund steckte.

„Ich kannte meine Großeltern gut.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Und Ihre auch. Meine Eltern wollten mich nicht bei sich haben und schickten mich so oft wie möglich hierher.“

„Das tut mir leid.“ Von den eigenen Eltern abgelehnt zu werden, musste für ein Kind schrecklich sein. Sie hatte zwar keinen Kontakt zu ihrem Vater gehabt, aber das war etwas ganz anderes, als mit Eltern aufzuwachsen, die einen nicht um sich haben wollten. Ihre Mutter hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Zeit mit ihr und Heath verbracht.

„Es war nicht so schlimm. Ich war viel lieber hier bei Nan und Pop und wäre am liebsten bei ihnen aufgewachsen.“

„Ist Ihr Vater jetzt öfter bei Ihnen?“

„Hier?“ Er reichte Alfie eine Schnabeltasse. „Er setzt nie einen Fuß über unsere Schwelle. Ihm fehlen die hellen Lichter und die Bequemlichkeit des Stadtlebens. Außerdem gehört das Haus mir, und mein Vater ist gern dort, wo er das Sagen hat.“

Nachdem Alfie sein Obst aufgegessen hatte, fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum. Sebastian wischte sie mit einem feuchten Tuch ab, bevor er seinen Sohn aus dem Stuhl hob und ihn auf den Arm nahm. Wieder musste sie sich zusammenreißen, um nicht vom Thema abzuschweifen.

„Sebastian“, fing sie an, „für einen geschäftlichen Konkurrenten geben Sie ohne Not viele Informationen preis.“

„Freiwillig würde ich das kaum nennen. Sie stellen viele Fragen. Ich versuche nur, sie zu beantworten.“

„Es sei denn“, fuhr sie unbeirrt fort, „das ist alles Berechnung. Sie versuchen, den Anschein von Transparenz zu erwecken, halten die wirklichen Geheimnisse aber vor mir verborgen.“

„Oder ich habe gar nichts zu verbergen.“

„Das wollen Sie mich nur glauben machen.“

„Weil es die Wahrheit ist“, sagte er, während ihm Alfie die Wange streichelte.

Sie musterte die beiden einen langen Moment lang. „Ich werde schon mit Ihnen klarkommen, Sebastian Newport.“

Er grinste. „Damit wollen Sie mich wohl warnen, aber seltsamerweise freue ich mich darauf.“

Mae ging Sebastians Auffahrt hinab und dann den Weg zu Sarahs Haus wieder hinauf. Eine dichte Hecke verlief über die gesamte Länge der Grenze und sorgte dafür, dass niemand zufällig jemanden aus dem Haus des anderen sehen musste. Dabei waren die Häuser einst nebeneinander von zwei besten Freunden errichtet worden.

Als das Haus in Sicht kam, sah sie, wie Sarahs Assistentin Lauren ein paar Taschen in den Kofferraum des schwarzen SUV ihrer Tante lud und winkte.

„In etwa zwanzig Minuten geht es zurück nach Manhattan, Mae“, rief Lauren ihr zu. Heath erschien mit einem Rucksack und lächelte, als er sie erblickte. „Du hast das Frühstück verpasst.“

„Ich esse später etwas“, sagte sie, in Gedanken noch immer bei ihrem Gespräch mit Sebastian. Heath packte seinen Rucksack in den Kofferraum, dann drehte er sich zu ihr um. „Warst du spazieren?“

„Ich war nebenan, um mit unserem Nachbarn zu reden.“

„Newport?“, fragte Heath interessiert.

Da sie und ihr Bruder gemeinsam die Anteile an Bellavista Holdings besaßen, hätte sie sich zuerst bei ihm erkundigen sollen. Aber Sebastian gegenüberzutreten war etwas, das sie allein tun musste. „Wir haben uns gestern Abend kennengelernt, und ich musste ihn noch etwas fragen.“

„Und, irgendwelche Antworten bekommen?“

„Nicht wirklich. Wusstest du, dass er ein Baby hat?“

„Keine Ahnung.“ Er beäugte sie skeptisch. „Sei nicht so nachgiebig, nur weil er ein Kind hat. Es braucht keine Moral, um sich fortzupflanzen – sieh dir nur unseren Vater an.“

Heath hatte recht, aber die Art und Weise, wie Sebastian Alfie angelächelt und sich um ihn gekümmert hatte, warf in ihr Fragen auf. Ihr Vater hatte zwar Kinder gezeugt, war ihnen gegenüber aber nicht fürsorglich gewesen. „Was weißt du über Sebastian?“

„Persönlich nicht sehr viel. Ich habe ihn nur ein paarmal getroffen. Alles, was ich über ihn sagen kann, ist, dass er besser ist als sein Vater.“

Aber sie wussten beide, dass das nichts zu bedeuten hatte. „Und in puncto Ethik und Transparenz?“, hakte sie nach.

„Nun, ich traue ihm nicht über den Weg.“

„Aha, aber wem haben wir in unserem Leben denn überhaupt jemals vertraut? Dass wir Sarah und Freya im selben Jahr in unseren Dunstkreis aufgenommen haben, ist schon rekordverdächtig.“

Heath zuckte zusammen. „Freya sagt, dass unsere Erziehung mich traumatisiert hat.“

Das machte Sinn. Auch sie selbst hatte früh festgestellt, dass sie anders war als andere Kinder. „Aber es hat uns selbstsicher gemacht.“

„Genau das habe ich auch zu ihr gesagt.“

Sie waren normalerweise fremden Menschen gegenüber misstrauisch, aber als Heath von der Identität ihres Vaters und ihrem Erbe erfahren hatte, hatte er das vor ihr zunächst geheim gehalten. Sie verstand zwar, dass er erst nachforschen wollte, bevor er sie einem Risiko aussetzte, aber es hatte trotzdem wehgetan.

„Und was hast du mir noch von Sebastian Newport zu berichten?“, fragte sie.

„Als ich im Büro war, um mich umzuschauen, hat er mich mit einem Trick von Sarah und Freya wegzulocken versucht, um mit mir allein zu reden. Aber ich bin nicht darauf reingefallen.“

„Hast du herausgefunden, was er dir unter vier Augen sagen wollte?“

„Er wollte mich dazu überreden, meine Hälfte der Firma an ihn zu verkaufen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Danach hatte Sebastian sie auch gefragt. „Warst du in Versuchung?“

„Ehrlich gesagt wäre der Verkauf die einfachste Lösung. Aber damals wusstest du noch nichts von der Erbschaft, und ich konnte das nicht allein entscheiden. Ganz zu schweigen davon, dass die Firma damals wie heute noch nicht auf unseren Namen lief. Letztlich sollten wir beide über diese Angelegenheit gemeinsam nachdenken.“

Sie kannte ihren Bruder – wahrscheinlich gab es noch einen anderen Grund. „Worüber nachdenken? Wie Sebastian schon sagt, wir beide haben keine Ahnung von Immobilienentwicklung.“

„Aber hierbei handelt es sich um das Lebenswerk unseres Großvaters.“

Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. „Wir können ein großes Unternehmen nicht aus Nostalgie betreiben, Heath.“

„Stimmt. Aber wir sind es uns selbst und allen Angestellten schuldig, unsere Entscheidung zumindest gründlich zu überdenken.“

Sie erschauerte. Dieser eine Satz berührte sie mehr als alles andere, was er hätte sagen können. „Hast du einen Plan?“

„Ich arbeite daran und muss mich zuerst mit den Investitionen und dem gesamten Portfolio vertraut machen.“

„Jetzt, wo ich hier bin, kann ich dir dabei helfen.“ In seinem Testament hatte ihr Vater alles dem einzigen Kind vermacht, von dem er wusste – Heath –, aber ihr Bruder teilte fifty-fifty mit ihr, und sie musste sich der Aufgabe stellen.

„Das wäre großartig. Für den Anfang habe ich von Freya und Sarah einen Berg an Berichten zu lesen bekommen, und wir müssen die Unternehmen besuchen, die wir besitzen oder an denen wir beteiligt sind.“

„Schrecklich. Berichte? Das klingt nach Hausaufgaben, und normalerweise bin ich diejenige, die anderen Leuten etwas aufgibt“, scherzte sie, aber ihre Aussage enthielt ein Körnchen Wahrheit. Geschäftsberichte lagen ihr überhaupt nicht.

„Es gibt eine gemeinnützige Stiftung. Vielleicht fängst du damit an – lies dich ein, besuche die Betreuer, was auch immer, um dir den Start zu erleichtern. Sobald du dich eingearbeitet hast, kannst du dich mit anderen Themen beschäftigen.“

Mae atmete tief durch, um sich nicht überfordert zu fühlen. Sie blickte zurück zu Sarahs Haus und scharrte mit dem Fuß über den Boden. „Meinst du, Sarah hätte etwas dagegen, wenn ich noch hierbliebe?“

Er runzelte die Stirn. „Allein?“

„Ich muss erst einmal Kraft schöpfen.“ Der Gedanke, zurück nach Manhattan zu fahren, bereitete ihr Kopfschmerzen. Der Lärm, die Hektik und all die Leute, die Dinge von ihr erwarteten, von denen sie keine Ahnung hatte. „Ich könnte ja in ein paar Tagen nachkommen.“

„Damit ist sie bestimmt einverstanden, solange du am Freitagabend zurück bist.“

Für Freitag war ein Abendessen zur Feier der Verlobung von Heath und Freya geplant, und sie freute sich darauf, auf ihren Bruder und seine neue Liebe anzustoßen. „Das möchte ich nicht verpassen. Außerdem will ich an einem Abend in der Woche bei Mutters Familie vorbeischauen. Also werde ich noch vor Freitag zurückkommen.“

„Gute Idee. Wenn Lauren dich nicht abholen kann, komme ich mit dem Motorrad bei dir vorbei.“

Er breitete seine Arme aus und zog sie an sich. Seit dem Tod ihrer Mutter war Heath der einzige Mensch auf der Welt, dem sie wirklich vertraute. „Ich liebe dich“, murmelte sie.

„Ich liebe dich mehr“, sagte er.

3. KAPITEL

Später am Nachmittag klopfte Sebastian an Sarah Rutherfords Tür, mit Alfie auf dem Arm. Seit seiner Kindheit war er nicht mehr hier gewesen – damals hatten ihn seine Großeltern mitgenommen, um ihre Freunde zu besuchen. Nach dem Ableben dieser Generation waren unsichtbare Mauern hochgezogen worden, und jede Verbindung zwischen den Familien hatte sich aufgelöst. Mehr noch, sein Vater und Joseph Rutherford waren zu Erzfeinden geworden, und das distanzierte Verhältnis hatte sich seit Josephs Tod nicht gebessert.

Die Tür öffnete sich, und da stand Mae, mit hochgesteckten Haaren und verwundertem Blick. Er atmete zischend aus. Manche Leute würden sie vielleicht nicht als schön bezeichnen – ihre Mimik war zu streng, um den gängigen Schönheitsstandards zu entsprechen –, aber was waren Normen schon wert bei einer Frau wie Mae Dunstan? Aus jeder ihrer Poren strömte so viel quirliges Leben, dass sie beinahe glühte.

Sie schwieg. Vielleicht war sie überrascht, ihn so schnell wiederzusehen. Er stand einfach da und saugte ihren Anblick in sich auf, bis Alfie auf seinem Arm zu zappeln begann und so den Bann brach.

Er räusperte sich. „Ich wollte fragen, ob wir uns kurz unterhalten könnten. Unter vier Augen.“

„Das war ja klar“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe gehört, dass Sie die Strategie Teilen und erobern mögen.“

„Was? Nein, ich wollte nur ...“

Sie winkte ab. „Die anderen sind ohnehin vor ein paar Stunden gegangen.“

„Und Sie sind allein zurückgeblieben?“, fragte er skeptisch.

„Mir war nicht bewusst, dass ich Ihre Erlaubnis brauche.“

Das Ganze lief nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Als Mae vorhin gegangen war, hatte er gedacht, sie würden sich einigermaßen verstehen. Aber jetzt war sie wieder auf der Hut. „Können wir noch einmal von vorn anfangen? Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu machen.“

Ihr Gesichtsausdruck war unverändert. „Um uns unsere Firma abzukaufen.“

„Dieses Mal nicht. Aber das Angebot gilt immer noch, falls Sie Ihre Meinung geändert haben.“

„Nein, keinesfalls. Wie lautet Ihr neues Angebot?“

Er rang um Professionalität. Dabei stand er uneingeladen auf der Treppe seiner Erzfeinde, mit vom Wind zerzaustem Haar und einem Baby auf dem Arm. „Kommen Sie in mein Büro und beobachten Sie mich eine Woche lang.“

„Wie, ich soll Sie beschatten?“

„Sie lernen so das Unternehmen von Grund auf kennen und werden feststellen, dass ich nichts Hinterhältiges vorhabe.“

„Ist das eine neue Version vom Teilen und erobern? Isoliere mich und halte mich zum Narren?“

Mae Dunstan war wirklich die misstrauischste Person, die er je getroffen hatte. Das gefiel ihm an ihr. „Das scheint mir der schnellste Weg zu sein, um alle Verdächtigungen aus dem Weg zu räumen.“

„Was genau würde die Beschattung beinhalten?“

„Sie wären bei Besprechungsterminen dabei. Ich werde alle Anrufe laut stellen und Sie können lesen, woran ich arbeite.“ Auch wenn das manchmal unangenehm sein konnte, immerhin gehörte ihrem Bruder und ihr das halbe Unternehmen. Außerdem ließ sich ihre Anwesenheit so viel besser begründen.

„Wenn Sie mir etwas verheimlichen wollen, könnten Sie nächste Woche nur Termine planen, die unverfänglich sind.“

Als Alfie zu zappeln begann, zog Seb ein Plüschtier aus seiner Tasche und gab es seinem Sohn. „Sie sind schlau“, sagte er zu Mae. „Es dürfte Ihnen auffallen, wenn ich etwas aufschieben oder bestimmte Anrufe nicht annehmen würde.“

Mae beobachtete Alfie einen Moment lang und sah dann wieder zu ihm. „Welchen Zugang zu Informationen bekomme ich?“

Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Sie können mich alles fragen, und ich verspreche, Ihnen alle Informationen zu geben, die ich habe. Sie können auch den Rest des Personals befragen und bekommen freien Zugang zu allen Akten.“

„Und was haben Sie davon?“, fragte sie, das Kinn gereckt.

„Ich hoffe, Sie werden feststellen, dass ich nichts zu verbergen habe, und dass Immobilienentwicklung nicht gerade der aufregendste Beruf ist. Ich prophezeie Ihnen, dass Sie am Ende der Woche dazu neigen werden, an mich zu verkaufen.“

Sie nickte. „Okay, ich akzeptiere. Aber, dass das klar ist, ich mache das nur, weil ich sehen will, was Sie vorhaben.“

„Sie sind nicht sehr vertrauensselig.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ein Familienmerkmal. Wann fangen wir an?“

„Wann immer Sie Zeit haben.“

„Diese Woche?“

„Sicher.“ Seine Assistentin musste ihm den Montagmorgen freischaufeln, damit er Zeit hatte, Mae auf den neuesten Stand zu bringen. „Wann fahren Sie zurück nach New York?“

„Das steht noch nicht fest. Wie gesagt, die anderen sind schon weg.“

„Sie können gern morgen Nachmittag mit Alfie und mir zurückfahren.“ Das Kind schlief normalerweise im Auto. Somit konnte er noch früher damit anfangen, sie mit der Realität des Unternehmens zu konfrontieren.

Sie sah ihn einen Moment lang an und nickte dann. „Okay.“

„Großartig.“ Vorerst hatte er sein Ziel zwar erreicht, aber insgeheim fragte er sich, ob nicht Mae irgendwann die Oberhand gewinnen würde.

Sie lockerte ihren Sicherheitsgurt in Sebastians Geländewagen. Alfie war kurz, nachdem sie losgefahren waren, eingeschlafen, und sie und Sebastian hatten höflichen Small Talk betrieben. Aber ihre Toleranz für Geplauder war begrenzt, vor allem, weil es sie unruhig machte, so nah bei ihm zu sitzen. Sein Eau de Cologne erfüllte das Wageninnere und ihre Sinne. Jedes Mal, wenn er vor dem Überholen eines Autos in den Spiegel schaute oder seine Hand bewegte, um den Blinker zu betätigen, schien er noch näher zu sein, und das verursachte ein Kribbeln auf ihrer Haut.

Während der letzten anderthalb Tage in Sarahs Ferienhaus hatte sie über die bevorstehende Woche und vor allem über ihn nachgedacht. Einige Videotelefonate mit Freunden in Australien hatten sie für kurze Zeit abgelenkt, aber ihre Gedanken waren immer wieder bei Sebastian gelandet. Bei seinem gewellten Haar und der Art, wie er beim Sprechen seine Lippen bewegte oder sie zu einem Lächeln verzog. Und dass ihr warm wurde, wenn er sie mit seinen blauen Augen ansah.

Aber sie war alarmiert, seit er ihr sein Angebot gemacht hatte. Nein, schon vorher. Wahrscheinlich hatte es angefangen, als sie ihn an seiner Haustür zur Rede gestellt hatte und er anders reagiert hatte als von ihr erwartet.

Verknall dich bloß nicht in Sebastian Newport.

Ihr Leben war auf den Kopf gestellt worden – sie war in einem neuen Land, wohnte bei einer Familie, von der sie ein paar Monate zuvor noch nichts geahnt hatte, und sie hatte unvorstellbar viel Geld geerbt. Dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um sich zu verlieben. Und dann ausgerechnet in die Person, die Sarah und Heath als ihren erklärten Feind bezeichneten? Ja, das wäre eine Riesendummheit. Wenn nur ihr Herz nicht jedes Mal ein bisschen schneller schlagen würde, wenn er in der Nähe war.

„Wann tritt unser Vertrag in Kraft?“, platzte sie heraus, um ihre Gedankenspirale zu stoppen.

„Die Beschattung? Ich bin morgen um acht im Büro. Ab diesem Zeitpunkt können Sie gern dazukommen.“

Sie freute sich schon darauf. Heath hatte das Büro bereits besichtigt, und nun konnte sie sich eine eigene Meinung bilden. „Was ist mit meinen Fragen? Sie sagten, Sie würden mir alle beantworten.“

„Wir können diese Autofahrt konstruktiv nutzen, indem Sie schon jetzt damit anfangen.“

Sie zögerte. Es gab etwas, das ihr wirklich unter den Nägeln brannte, aber das war wahrscheinlich zu persönlich. Andererseits konnte er immer sagen, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. „Erzählen Sie mir die Geschichte von Ihrer Frau und Alfie.“

Er sah sie von der Seite an. „Ich wollte damit sagen, dass Sie mich nach Geschäftlichem fragen können.“

Sie wusste, dass er es so gemeint hatte, aber sie wollte unbedingt verstehen, wie er tickte, und dazu musste sie ihn von allen Seiten abklopfen. „Das betrifft doch die Firma. Es interessiert mich, wie ein alleinerziehender Vater ein Unternehmen dieser Größe leiten kann. Diese Frage ist für den Kontext relevant.“

„Okay, ich antworte, aber nur der vollständigen Transparenz wegen.“

„Ihr Engagement für die Sache wird zur Kenntnis genommen“, sagte sie gespielt ernsthaft.

Als er leise lächelte, wurde sein Gesichtsausdruck nostalgisch. „Ashley und ich kannten uns schon seit Kindertagen. Unsere Eltern waren befreundet, und so liefen wir uns gelegentlich über den Weg. Als wir in unseren späten Teenagerjahren waren, fand unser Umfeld, dass wir zusammengehörten. Wir mochten uns und hatten eine Menge gemeinsam. Also fingen wir an, uns zu verabreden, und dann habe ich ihr einen Antrag gemacht.“

„Das klingt nicht nach einer Liebesgeschichte für die Ewigkeit“, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Seine Ehe zu kritisieren war wahrscheinlich nicht der beste Start für ihre Kooperation.

„Zu Beginn war unsere Beziehung vielleicht nicht sehr leidenschaftlich, aber unsere Liebe ist stetig gewachsen. Mit Ash hatte ich eine großartige Partnerin an meiner Seite und eine hervorragende Mutter für Alfie. Zumindest für die fünf Monate, die sie zusammen hatten.“

„Was ist passiert?“, fragte sie mit gesenkter Stimme.

„Krebs. Sie wurde behandelt, aber der Tumor war aggressiv und hat sie ziemlich schnell dahingerafft.“

Der Gedanke, dass Alfie sich wahrscheinlich nie an seine Mutter erinnern würde, weil er sie schon als Baby verloren hatte, schnürte ihr die Kehle zusammen. „Und Sie ziehen Alfie seither alleine auf?“

„So ziemlich. Meine Mutter ist nicht vor Ort, und meinen Vater würde ich nicht in Alfies Nähe lassen, selbst wenn er interessiert wäre. Ashleys Eltern sind toll, aber sie wohnen im Norden. Sie versuchen, ihn regelmäßig zu sehen, und wir besuchen sie, so oft es geht.“

Ein paar Minuten lang sah sie nach draußen auf die Straße. Sie selbst war bei einem alleinerziehenden Elternteil ohne zusätzliche Unterstützung aufgewachsen und wusste, wie schwierig diese Aufgabe war. Und er leitete obendrein noch ein großes, komplexes Unternehmen.

„Wie schaffen Sie das bloß?“, fragte sie schließlich.

„Glücklicherweise habe ich ein Kindermädchen, das bei uns wohnt und einen großen Teil der täglichen Betreuung übernimmt, während ich arbeite.“

Das war wirklich von Vorteil – die meisten Alleinerziehenden konnten sich keine Vollzeitkraft leisten.

„Sie haben Ihr Kindermädchen aber nicht mit in die Hamptons gebracht?“

Er räusperte sich. „Als es Ashley zusehends schlechter ging, musste ich ihr ein paar Dinge versprechen. Zum Beispiel, dass ich Alfie zuliebe eine Balance zwischen Job und Elternschaft finden würde. Ich habe ein Kindermädchen für die Wochentage und versuche, an den Wochenenden mit Alfie in die Hamptons zu fahren. Das schaffe ich nicht immer, aber ich tue mein Bestes.“

Seine Ehrlichkeit war verblüffend. „Sie haben es ernst gemeint, als Sie sagten, dass Sie alle Fragen beantworten würden.“

„In Ihrem Fall bin ich ein offenes Buch. Ansonsten teile ich nur ungern private Informationen.“

„Sie tun das also nur, um mir die Firma abkaufen zu können?“

„Nicht nur deswegen. Zwischen uns besteht eine sonderbare Offenheit. Ich glaube, das liegt an den Umständen, unter denen wir uns kennengelernt haben. Wir waren in dieser Nacht in einer Blase, weit ab von der Welt.“

„Sie wussten aber, wer ich bin.“

„Stimmt, aber es fühlte sich trotzdem speziell an. Dass Sie mir nicht glauben, ist verständlich. Aber mein Rat an Sie war ehrlich gemeint.“

Sie dachte daran, was er damals gesagt hatte, an seine Stimme in tiefschwarzer Nacht, und sie musste sich eingestehen, dass er recht hatte. Ihr Gespräch war anders gewesen als jedes andere zuvor. Wahrscheinlich wollte er sie austricksen, um die vollständige Kontrolle über das Unternehmen zu erlangen, aber sie musste sich auch noch etwas anderes eingestehen.

Als sie durch die Hecke seine tiefe, sanfte Stimme gehört hatte in jener mondlosen Nacht, hatte sie begonnen, sich in Sebastian Newport zu verlieben.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen betrat Mae die Eingangshalle von Bellavista Holdings. Sie war zu Fuß hergekommen und hatte sich beeilen müssen, um nicht zu spät zu kommen, und jetzt war sie verschwitzt.

Da sie keine Businesskleidung besaß, hatte sie sich von Sarah einen Hosenanzug geliehen, der kratzte und ein wenig zu groß war. Das Outfit war weit entfernt von den leichten Sommerkleidern, die sie zu Hause in Noosa trug.

Der großzügige Empfangsbereich wirkte durch viel Glas und spiegelnde Oberflächen hell und steril. Hinter einer langen Theke lächelte sie ein Mann mit Headset an. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Mae, und ich will zu Sebastian Newport.“

„Haben Sie einen Termin?“

„Eigentlich nicht, aber er ...“

„Mr. Newport hat einen vollen Terminkalender, aber ich kann schauen, was ich für Sie tun kann. Oder Sie rufen an und vereinbaren einen Termin mit seiner persönlichen Assistentin.“

Mae zögerte. „Er wartet wirklich schon auf mich. Wenn Sie nur ...“

Von links kam eine Frau in den Empfangsbereich gestürmt, das Haar in Unordnung, die leuchtend gelbe Brille schief auf dem Oberkopf. „Mae?“

„Ja?“

„Ich bin Rosario, die Assistentin von Mr. Newport. Kennen Sie Reuben bereits?“

Mae fühlte sich zunehmend überfordert. Der Mann am Tresen mischte sich ein. „Wir hatten kurz Kontakt. Sie hatte keinen Termin, also wollte ich gerade oben anrufen.“

Rosario streckte eine Hand aus. „Das ist Mae Rutherford“, erklärte sie.

Reuben riss die Augen auf. „Oh, es tut mir so leid, Ms. Rutherford. Ich hatte ja keine Ahnung. Sie würden sich wundern, wie viele Leute unangemeldet den Chef sprechen wollen.“

„Hier entlang.“ Rosario führte Mae zum Aufzug und fuhr mit ihr eine Etage nach oben. Dort ging es einen breiten Korridor entlang und an vielen Büros vorbei, in denen Menschen in ihre Headsets sprachen oder am Rechner arbeiteten. Am Ende des Flurs betraten sie ein großes Büro.

„Hier sitze ich“, sagte Rosario, „und durch diese Tür geht es in das Büro von Mr. Newport. Sie können hineingehen.“

„Danke“, sagte Mae und griff nach der Türklinke. Als sie eintrat, erblickte sie Sebastian, der konzentriert telefonierte und dabei Notizen machte. Sein Ton war dominant und doch kollegial.

Wenigstens hatte einer von Ihnen die Situation unter Kontrolle. Sie persönlich hatte schon Mühe, geregelt ein- und auszuatmen.

In den Hamptons war er lässig in Shorts und T-Shirt gekleidet gewesen. Jetzt trug er einen grauen Anzug, der seine breiten Schultern und schmalen Hüften betonte. Das weiße Businesshemd darunter kontrastierte mit seiner olivfarbenen Haut, die gemusterte Krawatte saß perfekt geknotet an seinem Hals. Warum machte der Anzug so einen Unterschied? Ein Alarm in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie wahrscheinlich bald ohnmächtig umfallen würde, wenn sie weiter die Luft anhielt. Deswegen atmete sie tief durch.

Als er aufsah und sie erblickte, fing er an zu lächeln. Dadurch wandelte sich sein Gesichtsausdruck von kühler, in Stein gemeißelter Schönheit hin zu warmer Attraktivität. Am liebsten hätte sie ihre Finger ausgestreckt und ihn berührt ...

Nein, sie durfte sich auf keinen Fall von seinem netten Lächeln ablenken lassen. Es ging darum, ihn einen Monat lang zu begleiten, um herauszufinden, was in der Firma vor sich ging. Natürlich würde er versuchen, etwas vor ihr zu verbergen, egal, was er versprochen hatte. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie davon überzeugen wollte, an ihn zu verkaufen, und jetzt musste sie nur noch herausfinden, womit er hinter dem Berg hielt.

Wahrscheinlich würde er versuchen, sie abzuschütteln – vielleicht würde er sie einem seiner Mitarbeiter zuordnen, wenn er vertrauliche Besprechungen hatte oder eine sensible Akte öffnen wollte. Doch sie würde sich nicht hinters Licht führen lassen, denn als ehemalige Lehrerin fiel es ihr leicht, Ablenkungsversuche aufzuspüren und sich durchzusetzen.

Sie ging auf die andere Seite des Zimmers, wo ein cremefarbenes Sofa unter einem Fenster stand. Von dort hatte man einen umfassenden Blick auf Manhattan – eine ganz andere Welt als ihre entspannte Heimat Queensland mit Sandstränden und Nationalparks. Heath schien sich hier niederlassen zu wollen, und sie konnte sich ein Leben ohne ihren Bruder in nächster Nähe nicht vorstellen. Würde sie sich an das hiesige turbulente Leben gewöhnen?

Sebastian beendete seinen Anruf, und sie drehte sich zu ihm, als er seinen Schreibtisch umrundete. „Mae. Sie sind hier.“

„Waren wir nicht um diese Uhrzeit verabredet?“

„Absolut korrekt.“ Er legte sein Telefon auf den Tisch. „Ich war nur nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass Sie auftauchen würden.“

Er trat auf sie zu und streckte ihr die Hand zur Begrüßung hin. Sie spürte, wie seine glatte, warme Haut über ihre glitt und er seine Hand mit ihrer verschränkte.

Er deutete auf das Sofa, und sie setzte sich seitlich darauf, woraufhin er am anderen Ende Platz nahm. „Ich habe heute Morgen vieles klären können, aber da wir dieses Vorgehen erst am Wochenende geplant haben, hat sich ein Treffen mit meinen Anwälten nicht mehr verschieben lassen. Es fängt gleich an, wird aber verdammt langweilig werden. Rosario kann sie währenddessen herumführen und Ihnen unsere Mitarbeiter vorstellen. Danach habe ich wieder Zeit für Sie.“

Mae horchte auf. Versuchte er etwa jetzt schon, ein geheimes Treffen zu arrangieren? „Die Abmachung ist, dass ich Ihnen über die Schulter schaue. Ich nehme an dem Treffen natürlich teil.“

Sebastian hob die Arme. „Wie Sie wollen.“

Innerhalb kürzester Zeit führte er sie zu einem Konferenzsaal in einem anderen Stockwerk. Die Größe der Firma war beeindruckend. Nachdem man sich begrüßt hatte, saßen alle um einen langen Tisch herum. Sebastian und die jungen, ehrgeizig aussehenden Männer und Frauen in Businesskleidung befanden sich umgehend in einer munteren Diskussion, in der über das Kleingedruckte in einem Vertrag gestritten wurde. Es war ermüdend. Wären das ihre Schüler gewesen, hätte sie die Sitzung unterbrochen und ihnen Manieren beigebracht – zum Beispiel leiser zu sprechen oder abzuwarten, bis jemand anderes ausgeredet hatte. Nach einer Weile öffnete sie ihr Notizbuch und machte einen Eintrag.

Sie müssen alle lernen, genau zuzuhören. Und wie man Kompromisse eingeht.

Sie schob das Heft zu Sebastian, der neben ihr saß. Er las unauffällig ihre Notiz, um sich sofort wieder am Gespräch zu beteiligen. Kurz darauf kritzelte er etwas unter ihren Kommentar und schob das Notizbuch zurück, wobei sich ihre Hände berührten. Durch den leichten Kontakt wurde ihr flau im Magen.

Sie werden nicht bezahlt, um Kompromisse zu machen, sondern um zu gewinnen.

Sie beobachtete den Schlagabtausch noch ein paar Minuten lang, bevor sie eine weitere Zeile hinzufügte.

Das hier dreht sich immer wieder im Kreis. Mir war noch nie so langweilig.

Ich hab’s ja gesagt.

Sie verkniff sich ein Lächeln und versuchte, sich auf die Diskussion zu konzentrieren, ohne sich zu sehr von dem Mann neben sich ablenken zu lassen.

Um die Mittagszeit war er der Verzweiflung nahe. Nach dem Treffen mit den Anwälten hatte er Mae ein leeres Büro gezeigt, das sie für die Woche als Basis hätte nutzen können.

Stattdessen hatte sie mit Rosario zusammen einen kleinen Schreibtisch aufgetrieben und in sein Büro gestellt. In der Mitte der Tischplatte stand nun ihr Laptop, und seitlich davon lag ihr Notizblock nebst Stiftehalter. Von ihrem Bürodrehstuhl aus konnte sie auf Manhattan hinabsehen. Wenn sie geradeaus schaute, wie gerade jetzt, hatte sie zwangsläufig ihn im Blick.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie.

Er hatte vorgehabt, für sie beide etwas zu essen zu bestellen und die nächsten Tage mit ihr zu besprechen. Doch jetzt saß sie neben ihm, und zwar so nah, dass ihm jedes Mal der Atem stockte, wenn er zu ihr hinübersah. Er versuchte, den Schauer zu ignorieren, der ihm über die Haut lief. Das Büro war für seinen Geschmack zu beengt und zu intim – er wünschte sich plötzlich eine belebtere Umgebung.

„Mittagessen“, sagte er und griff nach den Unterlagen, die er ihr zeigen wollte. „Nicht weit von hier gibt es ein Lokal, wo wir hingehen können.“

„Großartig. Als Neuling in diesem Land freue ich mich immer, etwas Unbekanntes kennenzulernen.“

Er führte sie in ein nahegelegenes gehobenes Restaurant. Ehrlich gesagt hatte er diese Wahl getroffen, um sie zu beeindrucken.

„Hier ist es“, sagte er, als sie den verglasten Eingang erreichten, neben der ein Mann in Uniform stand, um den Gästen die Tür zu öffnen.

Mae sah sich um und entdeckte auf der anderen Straßenseite einen Imbiss. „Können wir nicht lieber dahin gehen?“

Vor dem kleinen Lokal standen Schilder mit der Aufschrift „vegetarisch“ und „Montags halber Preis“. Keine Adresse, die er jemals aufsuchen würde. Aber Maes Augen leuchteten so hoffnungsvoll, dass ihm warm ums Herz wurde und er sofort zustimmte.

„Es ist bezaubernd hier“, sagte sie, nachdem sie Platz genommen hatten.

Er fand die enge Kneipe zu stickig, die Stühle zu hart, die Tische zu klein. Aber Maes Grübchen waren zu sehen, und er beschloss, dass dieser Anblick die Unannehmlichkeiten wert war.

Nachdem sie bestellt hatten, zog er fünf bedruckte Blätter aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. „Ich habe Rosario gebeten, meinen aktuellen Terminkalender auszudrucken. Das hilft uns bei unserem Zeitplan.“

Sie überflog die Seiten. „Bestimmt wollen Sie mich damit nur einschüchtern.“

Er verkniff sich ein Grinsen, denn das war wirklich seine Absicht gewesen, und sie hatte ihn durchschaut. Sie sollte sehen, wie kompliziert und arbeitsintensiv sein Job war, damit es ihr leichter fiel, an ihn zu verkaufen.

„Die heutigen Termine habe ich storniert, um Ihnen bei der Eingewöhnung zu helfen.“

„Abgesehen von dem Treffen mit Ihren Anwälten, das Sie mir zuerst vorenthalten wollten.“

„Richtig.“ Er breitete die Seiten auf dem Tisch aus. „So können Sie die für sie interessanten Sitzungen heraussuchen.“

„Wenn Sie da überall hingehen, werde ich mitkommen.“

Diese Reaktion hatte er erwartet. Aber sein Programm war sportlich, und er bezweifelte, dass sie die ganze Woche durchhalten würde. „Um sich nicht zu überlasten, sollten Sie das auswählen, was Sie am meisten interessiert.“

Sie reckte ihr Kinn. „Wollen Sie behaupten, dass ich Ihr Arbeitspensum nicht durchhalte?“

„Ich will damit nicht angeben. Seit Ashleys Tod versuche ich, meine Aufgaben zu reduzieren. Aber ich habe noch nicht das gewünschte Niveau erreicht. Allerdings bin ich jetzt jeden Abend um sechs zu Hause, was Alfies Leben einen gewissen Rhythmus verleiht. Wenn es sich einrichten lässt, kommt das Kindermädchen mit ihm tagsüber einmal im Büro vorbei.“

„Bewundernswert“, sagte sie. „Für eine Lehrkraft wie mich ist ein voller Terminkalender keine Besonderheit.“

Hatte er etwas übersehen? Lehrer konnten unmöglich so viel arbeiten wie er. „Arbeiten Sie normalerweise nicht von neun bis um drei? Kein Grund, die Heldin zu spielen – niemand hier erlaubt sich ein Urteil.“

„Neun bis drei? Davon können wir nur träumen. Wenn die Kinder nach Hause gehen, korrigieren wir Lehrer Klassenarbeiten, planen den Unterricht, beantworten die Mails von Eltern, haben Teambesprechungen und so weiter und so fort. Außerdem geht die Arbeit am Wochenende und in den Ferien weiter, und durch das Internet sind wir für die Familien und die Schulleitung oft rund um die Uhr erreichbar.“

Ihr Essen wurde serviert, und er räumte das Papier zur Seite. Sie war hochrot im Gesicht. Wahrscheinlich hatte er hinsichtlich ihres Arbeitspensums einen wunden Punkt getroffen. Offenbar musste sie sich oft rechtfertigen, und es tat ihm leid, dass auch er sie dazu gezwungen hatte.

Als die Kellnerin gegangen war, legte er ihr die Hand auf den Arm. „Von Ihren Arbeitszeiten hatte ich keine Ahnung. Deswegen hat sich mein Kommentar bestimmt herablassend angehört.“

Schaute sie ihn jetzt wegen seiner Entschuldigung so verwundert an oder weil er sie angefasst hatte? Normalerweise dachte er nicht im Traum daran, jemanden in seinem beruflichen Umfeld zu berühren. Allerdings arbeitete sie nicht für ihn, und sie war auch keine Geschäftspartnerin. Nein, es war viel schlimmer. Sie war eine Rutherford, und er stellte sich womöglich selbst ein Bein, indem er die Dinge verkomplizierte. Und doch hatten weder sie noch er sich bewegt. Er spürte ihre weiche Haut unter seinen Fingern und sah, dass der Pulsschlag an ihrem Hals raste. Wie es wohl wäre, sie zu küssen? Sie in den Armen zu halten, während sie sich lustvoll unter ihm wand?

Das Bild vor seinem geistigen Auge war zu intensiv, um es noch länger zu ertragen. Er zog seine Hand zurück und griff nach seinem Besteck. „Nur damit das klar ist: Meine Arbeitszeit ist von acht bis sechs.“

„Okay, verstanden“, sagte sie und nahm die Ausdrucke zur Hand. „Was bedeuten diese Kreuze in den Mittagspausen?“

„Ich habe mir vorgenommen, jeden Tag mit Ihnen zu speisen. So können Sie mich nach den Sitzungen befragen und sich Klarheit verschaffen.“

„Vielen Dank.“ Sie legte die Blätter weg und fing ebenfalls an zu essen.

Er schob sich eine Gabel seiner Mahlzeit in den Mund und tat sein Bestes, um zu ignorieren, dass er mehr Appetit auf Mae als auf sein Essen hatte.

5. KAPITEL

Am nächsten Morgen ging Mae zuerst zu Rosarios Schreibtisch und stellte einen Becher mit Kaffee vor sie hin. „Guten Morgen.“

„Morgen. Was haben wir denn da?“ Rosario griff nach dem Becher.

„Ein Vanille-Cappuccino mit Hafermilch.“ Mae hatte am Vortag aufmerksam zugehört, als Rosario sich ein Heißgetränk bestellt hatte.

„Perfekt.“ Rosario nippte genüsslich an ihrem Kaffee.

Mae lächelte. Rosario war ihr sympathisch und die Schlüsselperson, wenn es um einen reibungslosen Wochenablauf ging.

„Ein kurzes Wort, ehe du reingehst. Du solltest wissen, dass da gerade etwas vor sich geht ...“

Mae schaute sich um, aber Sebastians geschlossene Bürotür bot keine Anhaltspunkte. „Okay, danke für den Tipp.“