Bahnhof Nord - Andrea Behnke - E-Book

Bahnhof Nord E-Book

Andrea Behnke

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Beschreibung

Am Bahnhof Nord stehen Menschen am Gleis. Über die Jahrzehnte hinweg halten hier Züge, Menschen steigen aus und ein, kommen an und fahren weg. Ihre Herkunftsorte unterscheiden sich ebenso wie die Zielorte ihrer Reisen – und mit ihnen die Gefühle und Gedanken, die die unterschiedlichen Passagiere auf diesem Bahnhof begleiten. Die Autorin wirft Schlaglichter auf den Bahnsteig – beginnend mit der Eröffnung des Bahnhofs im Jahr 1874 bis zur Gegenwart. Wir begegnen im Buch hoffnungsvollen Einwander*innen, fröhlichen Ausflügler*innen, aber auch traumatisierten Kriegsheimkehrern, Kindern und Eltern, die sich trennen müssen, und Menschen, die deportiert werden. Andrea Behnke schildert in kurzen literarischen Episoden die unterschiedlichen Schicksale und lässt uns das Innenleben der Personen am Bahnsteig miterleben: Wie es mit ihnen weitergeht, bleibt jedoch der Fantasie der Leser überlassen. Ein Buch, das unterhält und zum Nachdenken anregt!

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Seitenzahl: 100

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Andrea Behnke

BAHNHOF NORD

Ein Kurzroman aus dem Ruhrgebiet

DAS PROJEKT WURDE GEFÖRDERT VON DER ALFRIED KRUPP VON BOHLEN UND HALBACH-STIFTUNG.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

Impressum

1. Auflage September 2025

Layout und Satz: Joachim Bartels

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Lektorat: Stefanie Döring, Jacqueline Meyer

Umschlagabbildung: Adobe Stock: ©ON-photography

Autorinnenfoto: privat

Druck und Bindung: totem, ul. Jacewska 89, 88-100 Inowrocław, Poland

© Klartext Verlag, Essen 2025

ISBN 978-3-8375-2731-5

ISBN ePub 978-3-8375-2732-2

Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk und Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland sind geschützt.

www.klartext-verlag.de

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG

Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen

[email protected]

www.klartext-verlag.de

INHALT

1874 – EIN PROST AUF DEN BAHNHOF

1880 – DOPPELNAMEN

1898 – BURGHERR IM BERGBAU

1914 – LUFTKÜSSE

1916 – ZITTERNDE HÄNDE

1917 – WIEDER-SEHENSFREUDE

1918 – HAMSTERFAHRT

1919 – GERUCH NACH FREIHEIT

1923 – FLIEGENDE WORTE

1928 – ABENTEUER UMSTIEG

1934 – DER WEINENDE HIMMEL

1935 – KIRMES MIT PFERDEVERBOT

1936 – DEN KOPF VOLLER MUSIK

1938 – SAMMELN ALS WIDERSTAND

1939 – SCHNEE-FLOCKENTANZ

1939 – KAPPENSITZUNG MIT KAPELLE

1939 – KLOPFEN IM KOPF

1942 – VITAMINE PER EXPRESS

1942 – STRAFTAT-BESTAND LIEBE

1942 – WEHENDER WIND

1942 – SCHATTEN

1943 – DIE LÖFFELFAMILIE

1943 – KARUSSELL IM KOPF

1943 – KIND IM BAUCH

1943 – MÖBEL AUF REISEN

1944 – MENSCHEN WIE NUMMERN

1944 – GLÜCKSKATZE OHNE GLÜCK

1945 – BLINDGÄNGER

1945 – AUSRADIERTE ERINNERUNGEN

1945 – HASENPFEFFER UND SÜSSER KOMPOTT

1945 – SCHWERE RÜCKKEHR

1946 – BITTERE KÄLTE

1946 – ARBEIT GEGEN DIE ANGST

1952–WILLKOMMENS-GLOCKEN

1953 – FAHRT ZUM MOND

1957 – BERUFSWUNSCH LOKOMOTIVFÜHRER

1964 – LEBEN IM KOFFER

1965 – HEIMWEH VOR DER ABFAHRT

1979 – DER ALLERLETZTE ZUG

2025 – RADWEG DER ERINNERUNGEN

NACHWORT

DANKE

HINTERGRUND DER RECHERCHE

1874 – EIN PROST AUF DEN BAHNHOF

Pferdegetrappel, Kutschen, die kurz hielten. Menschen ließen ihre Blicke an dem Bauwerk emporgleiten, schauten hin und her, staunend. Auch der Landrat stand vor dem dreigeschossigen Gebäude des Rheinischen Bahnhofs. Stolz wirkte der Bau, so als wollte er sagen: Es ist geschafft, nach all den Strapazen.

Dass der neue Bahnhof am Rande der Stadt, für den der Landrat sich so eingesetzt hatte, nun wirklich wahr geworden war, konnte er kaum glauben. Ihm kamen die mühsamen Verhandlungen in den Sinn. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er mit unzähligen Sitzungen des Komitees verbracht, in dem sich Zechenvorstände, Honoratioren der Stadt und der umliegenden Landgemeinden sowie Vertreter der Unternehmen getroffen hatten.

Alles hatte er gegeben, damit auch der westfälische Teil des Kohlereviers an die Rheinische Bahn angeschlossen wurde, denn zunächst sollte nur bis Essen gebaut werden. Eine Schande für Bochum mit seinen Zechen und Betrieben. Bochum sollte schließlich nicht hinter der Nachbarstadt zurückstehen. Irgendwann, nach zähem Ringen, wurden dann doch Bahnstrecken bis Bochum verlängert. Auch der Bau des neuen Bahnhofs wurde besiegelt, an den manch einer schon nicht mehr geglaubt hatte. Im Herbst war es endlich so weit gewesen: Das, wofür der Landrat so lange gekämpft hatte, setzte sich buchstäblich in Bewegung. Die Strecken wurden abgenommen, während die ersten Loks die Trasse befuhren. Nie hätte der Landrat gedacht, dass ihm das schnaufende Geräusch der Lokomotiven Tränen in die Augen treiben würde. Ihm, den eigentlich nichts so schnell aus der Bahn werfen konnte.

Und heute würde der allererste Personenzug fahren! Schon den ganzen Tag hatte sich der Landrat kribbelig gefühlt. Doch leider war es nicht gelungen, einen Festakt zu organisieren. So wenig Ehre für den Landrat, obwohl ihm doch Ehre gebührte. Kein großer Zeitungsbericht. Keine Rede. Gar nichts.

Daher öffnete er, als er vor dem neuen Bahnhof stand, seine Tasche, holte eine kleine Flasche Schaumwein heraus und ein Glas, ein gutes, aus Kristall mit Bleischliff. Mit einem Knall zog er den Korken aus der Flasche und goss sich mit Schwung ein, sodass es schäumte. Er hob das Glas und prostete dem Bahnhof zu. Ein Tusch – nur leise in seinem Kopf. Schnell schaute er sich um. Als er sah, dass ihn niemand beobachtete, füllte er noch ein zweites Glas, das er in einem Zug austrank. Heute war das erlaubt, obwohl es mitten am Tag war. Der Landrat hatte es verdient. Noch ein weiteres Glas, vielleicht, und dann würde er in den Zug einsteigen, hier am Rheinischen Bahnhof, und nach Hause fahren.

1880 – DOPPELNAMEN

Julius blickte sich hektisch um. „Bahnhof Bochum Nord.“ Wusste er doch, dass er falsch ausgestiegen war. Bochum, das stimmte – aber es war der verkehrte Bahnhof. Da, wo er herkam, gab es nur einen einzigen Bahnhof, und auch dorthin musste er lange laufen.

Er hatte noch die Dame gefragt, die neben ihm in der Eisenbahn saß. Die hatte ihm klar und deutlich gesagt, er müsse an der nächsten Station aussteigen. Dann wäre es nicht mehr weit bis zu dem Viertel, wo er gleich einen Termin hatte.

Und nun? Nun stand er hier.

„Wie komme ich am schnellsten zum Rheinischen Bahnhof?“, fragte Julius eine Frau, die mit ihrem Kind über den Bahnsteig hastete. Fast hätte sie ihn gar nicht gehört, so eilig war sie. Doch dann blickte sie sich noch einmal um. „Wie bitte?“ Er wiederholte seine Frage, woraufhin die Frau eine tiefe Falte zwischen den Augen bekam. Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete: „Sie sind doch schon da.“ Sprach's und ging schnellen Schrittes weiter.

Noch einmal zog Julius den Zettel aus der Tasche, den er zuvor schon der Sitznachbarin im Abteil gezeigt hatte. Da stand es fein säuberlich: Ausstieg Rheinischer Bahnhof. Weiter Richtung Pauluskirche. Dort in der Nähe würde er nämlich ein Vorstellungsgespräch haben. Verkäufer in einem Spezialgeschäft für Haushaltsartikel, Porzellan und Glas, feinste Waren. Doch nun hatte er das Gefühl, die Tassen und Teller schon zerschlagen zu haben, bevor er sie überhaupt auch nur in der Hand halten durfte.

„Kann ich helfen?“, lallte Julius ein Betrunkener entgegen.

Julius hielt sich die Nase zu, um die Fahne nicht riechen zu müssen, und schüttelte den Kopf. Da lief ein Bahnwärter an ihm vorbei.

Noch einmal versuchte Julius sein Glück: „Wie komme ich zum Rheinischen Bahnhof?“

Der Betrunkene stolperte auf ihn zu und zeigte in alle Richtungen. „Da entlang!“

Der Bahnwärter schmunzelte unter seinem Zwirbelbart.

„Sie sind schon da“, sagte er. Das hatte Julius doch gerade schon einmal gehört. Von der Frau mit dem Kind. Er merkte, wie er anfing zu schwitzen. Nicht, dass er gleich müffeln würde, fuhr es ihm durch den Kopf.

Als der Bahnwärter bemerkte, wie erschöpft Julius aussah, fügte er hinzu: „Der Bahnhof wurde umbenannt. Verstaatlicht. Heißt jetzt Bochum Nord, unser guter alter Rheinischer.“

1898 – BURGHERR IM BERGBAU

Dieses Kohlerevier musste eine Goldgrube sein. Da war sich Josef sicher. Zu Hause in Posen hatte er auf dem Land geschuftet. Hart gearbeitet, wenig verdient. Die Löhne sanken von Monat zu Monat, zu viele Menschen, zu wenig Arbeit.

Die Städte an der Ruhr wirkten wie ein Magnet auf ihn. Kohle und Stahl, so viel zu tun. Zu viel für die Menschen, die in der Region lebten. Schon lange hörte er Lobeshymnen, die den Weg gen Westen besangen, wo man gutes Geld verdienen könne. Und als die ersten seiner Freunde dorthin gefahren waren, bekam Josef Briefe, in denen stand, dass die Arbeit gut sei in den westfälischen Kohlestädten.

So entschloss er sich, mit gerade einmal 17 Jahren, nach Bochum zu gehen. Auf der Zeche Hannover suchte man junge Männer wie ihn. Erst war er verwirrt – sollte er nun nach Bochum oder nach Hannover? Dabei war es nur der Zechengründer, der im einstigen Königreich Hannover gelebt und dessen Heimatort der Zeche den Namen gegeben hatte. Das erfuhr Josef aber erst später.

Er hatte Alfons, seinem kleinen Bruder, eine Zeichnung von der Zeche gezeigt. „Da werde ich arbeiten“, hatte er geprahlt, und Alfons hatte große Augen gemacht und gerufen: „Das ist ja eine Burg!“ Josef hatte geschmunzelt und gesagt: „Ja, dein Bruder wird ein Burgherr.“

Und jetzt saß er im Zug, auf dem Weg zu eben jener Burg. Je weiter der Zug fuhr, desto mulmiger wurde es ihm. Zu gerne wäre er in Posen geblieben. In seiner Heimat. Da, wo er Wurzeln geschlagen hatte, wo seine Kirche stand, deren Turm bis in den Himmel ragte. Dort, wo es grün war. Und wo seine Eltern, seine Großeltern und seine Geschwister lebten. Doch gleichzeitig war ihm klar, dass seine Entscheidung richtig war. Er musste in die Zukunft blicken.

Gerade fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Josef kam alles grau vor. Der Blick nach draußen war ebenso farblos wie sein Inneres. Er fühlte sich schwer wie eine Kohlenlore. Einzig der Gedanke daran, bald ein Bergmann zu sein, der einen anständigen Lohn bekommt, ließ ihn nicht in sich zusammenzusacken, sondern aufrecht bleiben. Als ältester Sohn musste er für die Familie da sein und sie unterstützen. Und vor allem für Alfons wollte Josef Burgherr werden.

„Es ist nur der Bahnhof, der so aussieht“, sagte er sich, als er den Blick schweifen ließ.

Er steckte seine Hand in die Manteltasche und umschloss einen glänzenden Kieselstein, den er schon als Kind gefunden hatte. Ein Glücksstein, der ihm auch hier, so viele Bahnstunden entfernt, Hoffnung geben sollte.

Als der Zug hielt, nahm er seine beiden Koffer und hievte sie auf den Bahnsteig. Beim Aussteigen stolperte er.

Hinter ihm flüsterte jemand: „Die sollen einfach alle zu Hause bleiben.“

Doch auf dem Bahnsteig war es so laut, dass Josef es nicht hörte.

1914 – LUFTKÜSSE

Noch einmal umarmte Waldemar Meta.

„Muss es wirklich sein?“, fragte sie und zuppelte am Kragen des Waffenrocks. Gut sah Waldemar aus, fand sie. Sie wusste schon, warum sie ihn geheiratet hatte.

„Es ist meine Aufgabe als Mann“, sagte Waldemar. „Chanukka bin ich wieder da.“

„Chanukka“, seufzte Meta, „das sind vier Monate. Vier Monate zu viel.“ Doch innerlich wusste sie, dass sie Waldemar nicht aufhalten konnte. Er wollte sich für sein Vaterland einsetzen, wollte seinen Beitrag leisten. Jede Faser seiner Uniform atmete seinen Stolz.

„Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder!“, hatte Kaiser Wilhelm II. gesagt.

Damit fühlte sich Waldemar so angesprochen, als ob der Kaiser wirklich ihn meinte. Als ob dieser Krieg eine Chance wäre, obwohl Waldemar natürlich wusste, dass Kriege furchtbar waren, und er sich ein bisschen schämte, dass er so dachte.

Rechts und links von Waldemar und Meta verabschiedeten sich immer mehr Familien. Der Zug fing schon an zu schnauben, so als ob er die abreisenden Soldaten loseisen wollte. Ein letzter Drücker, ein letzter Kuss, bevor auch Waldemar in den gefüllten Militärzug stieg, der ihn nach Belgien bringen sollte.

Meta hatte Mühe, Waldemar am Fenster zu entdecken, zu viele Männer drängelten sich dort, um noch einmal zu winken. Waldemar warf ihr eine Kusshand zu, die sie fing. Noch bevor ihr Kuss zurück durch den Wind flog, verließ der Zug den Bahnhof.

1916 – ZITTERNDE HÄNDE

Angekommen. Und doch wieder nicht. Denn wenn die Kranken und Verletzten, die in Bochum ins Lazarett kommen sollten, ausgeladen sein würden – ausgeladen, so sprach man über die Menschen –, dann würde es weitergehen für Schwester Auguste. Immer weiter, mit dem Geschrei, mit dem Blut, mit dem Sterben. Grausam verstümmelte Soldaten, deren Anblick sich in Augustes Hirn gebrannt hatten, selbst wenn sie schon lange nicht mehr in einem der Abteile lagen.

Gut ausgestattet waren die Wagen, das musste Auguste zugeben. Sie hatte sich blenden lassen, als sie sich so sehr gewünscht hatte, im „Vereins-Lazarettzug westfälischer Städte“ zu arbeiten. Sie wollte helfen. In dem Zug mit den 25 Krankenwagen mit 280 Betten für Verwundete sah sie sich genau an der richtigen Stelle. Sie wollte die Kranken pflegen, sie wollte sie so warmhalten, wie die wollenen Krankenmäntel und die gefütterten Krankenröcke und -hosen es taten. 400 Meter Fürsorge für jene, die für ihr Land gekämpft hatten. Fast hätte ihr Vater nicht zugestimmt, doch dann kam schließlich sein „Ja“, und Auguste war glücklich gewesen, ihrer Berufung nachgehen zu können.