Bahnwärter Thiel - Gerhart Hauptmann - E-Book

Bahnwärter Thiel E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Eine fesselnde Novelle über ein Familiendrama: Bahnwärter Thiel ist ein frommer, schweigsamer Mann, der seine Frau bei der Geburt ihres Sohnes Tobias verliert. Als er nur ein Jahr später die herrische Lene heiratet, steht er zu Hause unter ihrer Fuchtel und schafft es nicht, seinen geliebten Tobias vor ihren Schlägen zu beschützen. Nur in seinem einsamen Bahnwärterhäuschen im Wald kann er seiner verstorbenen Frau gedenken. Als er Lene und seine beiden Kinder mit in den Wald nehmen muss, geschieht ein schrecklicher Unfall, der Thiel in den Wahnsinn treibt.-

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Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

Saga

Bahnwärter Thiel Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1888, 2019 Gerhart Hauptmann und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726404593

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

I

Allsonntäglich sass der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau, ausgenommen die Tage, an benen er Dienst hatte oder krank war und zu Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen; das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Ausser diesen beiden Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der Kirche fernzuhalten.

Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen. Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepasst hatte. Und wiederum eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre nun sass das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter gebräunten in das uralte Gesangbuch —; und plötzlich sass der Bahnwärter wieder allein wie zuvor.

An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet: das war das Ganze.

An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und militärisch gescheitelt wie immer, nur dass er den breiten, behaarten Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht, dass ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.

Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam, einige Bedenken zu äussern:

„Ihr wollt also schon wieder heiraten?“

„Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!“

„Nun ja wohl — aber ich meine — Ihr eilt ein wenig.“

„Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.“

Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.

„Ach so, der Junge,“ sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die deutlich zeigte, dass er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. „Das ist etwas andres — wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im Dienst seid?“

Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von ihrem Schoss auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als eine grosse Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte er, zudem sa der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. —

Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten die Leute äusserlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht ganz so grob geschnitten wie das seine, nur dass ihm im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging.

Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man bedauerte den Wärter.

Es sei ein Glück für „das Mensch“, dass sie ein so gutes Schaf wie den Thiel zum Manne bekommen habe, äusserten die aufgebrachten Ehemänner; es gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein „Tier“ müsse doch kirre zu machen sein, meinten sie und wenn es nicht anders ginge, denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so, dass es zöge.

Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten schien ihm wenig Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau liess er gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so stand das schleppende Zeitmass, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die Aussenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt.

Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in denen er nicht mit sich spassen liess. Es war dies immer anlässlich solcher Dinge, die Tobiaschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.