Bahula - Jürgen Ebner - E-Book

Bahula E-Book

Jürgen Ebner

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Beschreibung

Eine glückliche Familie am schönen Bodensee. Der Vater war bekannt als erfolgreicher Architekt. Die Ehefrau und Mutter besaß eine Boutique und ihre Tochter und ihr Sohn besuchten das Gymnasium. Als dann noch ein Hundewelpe in das Leben der Familie trat, war ihr Glück perfekt. Es vergingen fünf glückliche Jahre mit ihrem Hund, diesem Tibet Terrier, der auf den Namen Bahula hörte.  Nicht nur die Familie erkannte, dass dieser Hund etwas Besonderes war.  Doch eines Tages schlug das Schicksal zu. Nichts war mehr so, wie es vorher war. Für die Familie brach eine Welt zusammen. Was geschah damals? Wo war Bahula?

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jürgen Ebner

Bahula

Impressum:

Texte:   © 2024 Copyright by Jürgen Ebner

Umschlag: © 2024 Copyright by Jürgen Ebner

Verantwortlich für den Inhalt:

Jürgen Ebner

Röttler Str. 9

79595 Rümmingen

[email protected]

Druck:

Er wird nicht aufgeben.

Geduldig und mit seiner List

schleicht er sich an dich ran.

Leise und klammheimlich.

So, dass du es zuerst nicht bemerkst.

Doch schon bald spürst du es.

Er hat dein Herz erobert.

Und er weiß das auch.

Von nun an möchte er für immer bei dir bleiben.

Jeder Tag mit ihm

wird für dich eine Bereicherung sein.

Eines Tages, wenn seine Zeit gekommen ist

und er gehen muss, wird es dir vorkommen,

als ob es dir dein Herz zerreißt.

Er kam als Hund zu dir, begleitete dich viele Jahre

und wird dich eines Tages verlassen

als deinen besten Freund.

1

Die Steinmanns

Als Ehefrau und Mutter von zwei Teenagern stand Sabine mit ihren fünfunddreißig Jahren mitten im Leben. Sie besaß eine Boutique und hatte eine Angestellte. Ihr Traum, eine eigene Kollektion zu verwirklichen, wurde wahr.

Ihre Tochter Lisa war mit ihren dreizehn Jahren fünfzehn Monate jünger als ihr Bruder Steve und feuerte als Cheerleaderin ihr Rugby-Team an.

Steve engagierte sich neben Schule und Sport ehrenamtlich in einer Tierschutzorganisation.

Sam, der Familienvater, galt als erfolgreicher Architekt und plante beachtliche Gebäudekomplexe. Er fand zusammen mit seinem Sohn den Ausgleich beim Segeln. Das schöne Städtchen Meersburg am Bodensee war die Heimat der vier. So war es naheliegend für Sam, sich einen lang ersehnten Wunsch zu erfüllen.

Im Hafen von Meersburg lag Sams traumhaft schöne Segelyacht, die vor zwei Jahren von der Familie Steinmann feierlich mit dem Namen „Aurelia“ getauft wurde. Die Yacht war sehr gepflegt und in einem technisch einwandfreien Zustand. Der Anlegeplatz in Meersburg lag zwanzig Gehminuten entfernt von ihrem Zuhause.

„Männersache“, so beschrieb Lisa ihre knappe Meinung zum Segeln.

***

Damals, nach der Bootstaufe, fuhren Sabine und Lisa mit hinaus auf den Bodensee. Die paar aufquellenden Cumulus, welche sich schnell und majestätisch über dem 1062 Meter hohen Berg, dem Pfänder am Ostende des Sees auftürmten, beeinflussten die Wetterverhältnisse mit zunehmenden Fallwinden. Die drei Stunden von Meersburg bis Bregenz sollten aber sicher kein Problem sein, dachte sich Sam.

Auf halber Stecke kreuzten heftige Böen die zehn Meter lange, weiß glänzende Yacht. Aufschäumende Wellen hoben und umklammerten regelrecht Boot und Crew. Kapitän Sam gab seinem Sohn die Anweisung: »Klar zur Wende.«

Der Mast fegte knarrend von Backbord nach Steuerbord. Das Wendemanöver gelang zwar nicht besonders elegant, aber keiner wurde verletzt.

»In die Kojen«, rief Steves Vater seiner weiblichen Besatzung zu. Doch Wind und aufklatschende Wellen verschlangen seine Zurufe, während sich Mutter und Tochter an die Sitzbank am Heck klammerten. »Ich brauche dich an Deck, Steve.«

Sein Sohn verstand sofort, hob seinen rechten Daumen nach oben und nickte seinem Vater zu. Die beiden waren ein gut eingespieltes Team, auch wenn ihre bisherige Segelerfahrung bei dieser rauen See auf eine harte Probe gestellt wurde.

»Papa, das Wetter am Ostende scheint noch schlimmer zu sein.«

»Ich sehe es, mein Sohn. Ich denke auch, dass wir nach Meersburg zurückfahren sollten.«

Eine Stunde später erreichte die Familie nass und völlig erschöpft ihre Anlegestelle.

Sitzend auf Deck, angelehnt an die glänzend polierte Reling, sahen sich die vier schweigend an. Das sonst wie immer perfekt geschminkte Gesicht von Sabine war von ihrem schwarz herablaufenden Kajal gekennzeichnet und erinnerte gerade eher an eine Kriegsbemalung. Strohig und dem Anschein nach von einem Blitz getroffen zu sein, präsentierten sich die sonst so perfekt gestylten Haare von Lisa. Sam und Steve gaben sich Mühe, als sich ihre Blicke kreuzten, konnten aber ihr Grinsen nicht wirklich verheimlichen. Doch die Gestik der beiden blieb nicht unbeobachtet. »Wenn Blicke töten könnten«, flüsterte Steve seinem Vater ins Ohr.

2

Die Entscheidung

Sabine versuchte schon immer, jeden Wunsch ihrer Tochter Lisa zu erfüllen. Die anstehende Vorweihnachtszeit motivierte sie zu einem Geschenk, das seinesgleichen sucht. Direkt nach der Arbeit, gegen achtzehn Uhr, rief sie zu Hause an. »Komme später, Leute, bestellt euch doch eine Pizza«, gab der Anrufbeantworter wieder, als Steve gerade den Hörer abnehmen wollte.

Die Fahrt mit ihrem Mercedes SLK von Meersburg bis Lindau dauerte knapp eine Stunde. Es dämmerte und die vom Seeufer einschwebenden Nebelfelder erschwerten die Sicht am See entlang.

»Weit kann es ja nicht mehr sein«, sprach Sabine laut und etwas gestresst zu sich selbst.

Ihr Navi bestätigte um neunzehn Uhr: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Das Scheinwerferlicht ihres schwarzen Sportwagens erfasste ein hohes Tor mit dicken, verrosteten Eisenstangen, welche sich in einem handbreiten Abstand bis zu einer Höhe von zweieinhalb Metern aufreihten. Drei Meter vor diesem Tor blieb sie stehen und drückte den Knopf der Parkbremse. Der Sechszylinder ihres Mercedes verstummte. Das Stahltor verschwand in der nebelumhüllten Abenddämmerung, als die Scheinwerfer erloschen.

Sabine öffnete zögernd und langsam die Autotür und stieg aus. Der Boden war mit den vom Herbst bemalten Laubblättern feucht und rutschig. Ein paar Geräusche aus dem kleinen Wäldchen waren schwer zuzuordnen. Wie ein Schleier bildete sich eine Gänsehaut auf ihrem Nacken. Nach ein paar Schritten hatte sie das Tor erreicht. Ein mit Patina bezogener Messingrahmen umschloss den schlichten Klingelknopf, der sich beim Hineindrücken kurz verkantete.

»Verdammt, was mache ich hier überhaupt?«, fluchte Sabine leise. Doch die Zeit zum Davonlaufen war nun vorbei, denn ein grelles Licht kam hinter dem Tor schnell auf sie zu. Geblendet von einer Taschenlampe, nur noch acht Meter von ihr entfernt, stand die sonst so taffe Frau wie versteinert da, hielt sich die rechte Hand schützend gegen den grellen Lichtstrahl vor ihre Augen und schrie laut: »Sind sie, Herr Bernstein?«

Es folgte keine Antwort. Immer lauter werdende Schritte näherten sich Sabine.

»Karsten, sagen sie Karsten zu mir«, rief der Unbekannte mit tiefer, ruhiger Stimme aus dem Nebel, während Sabine einen Schritt zurücktrat.

»Ich bin Sabine, wir haben vor drei Tagen telefoniert«, erwiderte sie.

Beide standen sich nun einen Meter voneinander entfernt gegenüber. Karsten wirkte mit seinen fünfundsechzig Jahren und einem grau gepflegten Vollbart seltsam vertraut auf Sabine. Vermutlich lag es an seiner ruhigen Stimme.

Wie ein sich langsam öffnender Vorhang zog sich der Nebel zurück und brachte die am Wegesrand stehenden Laternen zum Vorschein. Rechts und links vom Tor, den Weg entlang, schienen sie in einem warmen, gelb schimmernden Licht bis zu einem mit Efeu bewachsenen Haus.

»Ja«, erwiderte Karsten, »wir haben telefoniert. Die Bewohner in meinem Haus sind etwas empfindlich und sollen viel schlafen, daher möchte ich dich gerne bitten, deinen Sportwagen hier vor dem Tor zu parken. Keine Angst, dem geschieht nichts.«

»Klar, kein Problem für mich, erwiderte Sabine.«

Nach einem etwa zwanzig Meter mit Laub bedeckten Kiesweg erreichten die beiden eine kleine Villa. Das Efeu umklammerte die Sprossenfenster, hinter denen ein Kronleuchter mit Kerzenlicht zu erkennen war. Eine Sandsteintreppe führte über fünf Stufen zu einer antiken Eichenholztür.

»Bist du neugierig, was dich gleich hinter dieser Tür erwartet?«, fragte Karsten grinsend und zwinkerte Sabine kurz zu.

»Ja, ist ja gut«, erwiderte Sabine. »Ich habe keine Angst und weiß, warum ich hier bin. Auch wenn ich diese Entscheidung vielleicht noch mal bereuen werde.«

»Moment«, antwortete der rüstige Rentner und ließ die Messing-Türklinke wieder los.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Sabine ängstlich.

»Nur wenn du dir absolut sicher bist, diese Verantwortung zu übernehmen, gehst du mit durch diese Tür.«

Schweigend, den Kopf gesenkt, zupfte Sabine nervös an ihren Fingernägeln. Sie drehte sich weg von Karsten und ging eine Stufe hinunter. Die unmissverständlichen Worte von Karsten, »dann gute Heimfahrt noch«, drangen ernst und direkt zu Sabine vor.

»Ich bin mir sicher, ich stehe dazu und ich habe das Geld schon dabei«, sagte sie und zog dabei hastig ein Bündel Geldscheine aus ihrer Handtasche.

»Ach, Sabine, es geht hier doch nicht ums Geld. Verantwortung und Respekt sind die wichtigsten Eigenschaften, die ich von dir verlange. Du bist doch Mutter von zwei Kindern.«

»Karsten, ich verspreche dir …«

Karsten unterbrach Sabine. »Nicht mir, Sabine, es geht nicht um mich.«

Noch bevor Karsten reagieren konnte, drückte Sabine nun selbst die knarrende Türklinke hinunter.

»Warte, Sabine, langsam, nicht so schnell.« Aber zu spät. Ihre vor Schreck weit aufgerissenen Augen erstarrten, als sie mit einem Schritt bereits im Hauseingang stand. Mit einem furchterregenden, Zähne fletschenden Hund, der sie mit aufgerissenem Maul erwartet, hat Sabine nicht gerechnet. Sein tiefes Knurren brachte die Luft zum Vibrieren und wurde lauter und bedrohlicher. Karsten trat schnell vor Sabine. Ihre Knie zitterten und beide Hände klammerten sich an die Schultern von Karsten, während sie sich hinter ihm versteckte.

»Ist ja gut, mein Junge. Wir haben Besuch. Du hast wie immer brav auf unser Haus aufgepasst.«

Karsten trat langsam einen Schritt zur Seite und flüsterte mit ruhiger Stimme dem Wolfshund zu: »Das ist Sabine und es ist alles in Ordnung. Sabine, darf ich vorstellen, mein bester Freund und treuer Gefährte, Achak.«

Ein wunderschönes Tier mit stechenden gelben Augen, die nicht von Sabine loslassen wollten. Seine fast siebzig Kilo verteilten sich muskulös auf den fünfundneunzig Zentimeter großen Wolfshund. Sein seidenglänzendes, tiefschwarzes Fell war sehr gepflegt.

»Hat der Name Achak eine bestimmte Bedeutung?«, fragte Sabine, während sich ihre Hände langsam entkrampften.

»Diese Wolfshunde leben noch heute mit den Indianern, den Algonquin in Kanada«, erklärte Karsten. »Bei diesen Ureinwohnern bedeutet der Name Achak „Geist“.«

Sabine reagierte mit einem: »Oha«, schaute mit bleichem Gesicht Achak an und nahm all ihren Mut zusammen. Dabei atmete sie tief durch und streckte dem stolzen Tier ihre Hand entgegen. Karsten traute seinen Augen nicht, ließ es aber zu, beziehungsweise konnte dieser spontanen Handlung von Sabine ohnehin nichts mehr entgegensetzen. Achak senkte seinen Kopf und roch an Sabines Hand. War es ihr Chloe Parfum oder folgte er seinem Instinkt? Seine Wolfsaugen erreichten nochmals kurz Sabines unsicheren Blick. Die Gestik von Achak wirkte auf Sabine und Karsten, als wollte er sagen: »Ich akzeptiere dich und biete dir meine Freundschaft an.«

Als Achak Sabines Hand ableckte, wurde die sonst eher kühl wirkende Frau von einer Gänsehaut erfasst. »Jetzt«, so flüsterte Sabine, jetzt verstehe ich dich, Karsten.«

»Was denn, Sabine, was verstehst du gerade?«

»Ach, lass gut sein«, antwortete sie.

Sabine war etwas irritiert, denn eigentlich hat sie doch etwas ganz anderes erwartet. Fragend blickte sie zu Karsten.

»Keine Angst«, erwiderte er, denn Sabines Frage war auch ohne Worte zu verstehen.

Während sich Achak wieder entspannt auf den verblassten, beigefarbenen Perserteppich neben der Haustür legte, erwachte eine entspannte Stimmung für Mensch und Tier.

»Darf ich vorgehen?«, fragte Karsten.

Die hohen Absätze von Sabine fühlten sich für sie beinahe wie Schlittschuhe an, als sie Karsten auf dem auf Hochglanz gebohnerten Mahagoni-Parkett folgte. Kunstvoll ausgestellte Gemälde zierten die cremefarbenen Wände und unterbrachen die hohen Räume. Ein Aquarell zwang Sabine zum Stehenbleiben. In einem mit Goldrand verzierten Rahmen erfassten Sabines Augen ein besonderes Bild. Ein gutaussehender Mann und eine hübsche Frau, direkt an einem Seeufer. Ein weißes Pferd, mit einer langen Mähne, stand zwischen den beiden. Sabine runzelte ihre Stirn und kniff ihre Augen etwas zusammen. »Bist du das auf dem Bild, Karsten?«

Karsten drehte sich um. »Ja, das sind meine Frau Sophia und ich, mit unserem Hengst Abanico.«

Sein Blick wurde leer und traurig. »Sophia stammte aus Spanien und brachte den Andalusien Hengst mit nach Deutschland. Wir studierten vor vierzig Jahren Tiermedizin in Madrid. An der Uni Complutense de Madrid lernten wir uns kennen. Na ja, es war Liebe auf den ersten Blick.«

Ihre langen, kastanienbraunen Haare wirkten auf den Betrachter, als schienen sie gerade lebendig im Wind zu wehen. Dabei verdeckten sie einen Teil der niedergehenden Sonne hinter sich.

»Wir hatten eine schöne Zeit. Eine gemeinsame Tierpraxis, wie wir uns das immer gewünscht haben. Aber eines Tages traf uns das Schicksal wie aus dem Nichts und veränderte alles. Erzähle ich dir vielleicht, falls du wieder vorbeischaust. Aber komm bitte noch einen Schritt weiter.«

Die zwei standen vor einer weißen Tür. Nun war es endlich so weit. Leise knarrte die Tür auf.

»Sabine, das ist unser Kaminzimmer.«

Nur Kerzenlicht und die Flammen des knisternden Kaminfeuers tanzten als Schatten an den Wänden. Zwei schwere, braune Ledersessel standen sich schräg vor dem offenen, schlichten Sandstein-Kamin gegenüber. Ein mehrmaliges Quietschen, das aus der rechten Zimmerecke, gleich neben dem Kamin zu kommen schien, übertönte das Knistern der Flammen. Sabine lief in die Richtung, aus der die Geräusche kamen und ging in die Hocke. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein Grinsen, das sich mehr und mehr zu einem Lachen entwickelte. Karsten beobachtete sie aus seinem Sessel, während er sich eine Zigarre anzündete.

»Na, meine Dame. Zu viel versprochen?«, klang durch die Zigarrenwolke.

»Die drei sind ja der Knaller«, lachte Sabine. »Unglaublich, schau mal den goldfarbigen, kleinen Burschen an. Und dahinter, der braune mit einer schwarzen Pfote, und ...«

Karsten unterbrach mit einem: »Sie.«

»Bitte, wie?«, fragte Sabine.

»Er ist eine Sie«, grinste Karsten, während die Glut seiner Zigarre aufhellte.

»Also, mein Lieber, dann mach uns doch mal miteinander bekannt und stelle mir deine Rasselbande vor.«

»Klar doch, komm Sabine, setzte dich neben mich in den Sessel.«

Der pensionierte Tierarzt schenkte zwei Gläser Rotwein ein. Sabine setzte sich und versank in dem großzügig weich ausgepolsterten Sessel aus Nubukleder.

»Ich verbrenne meist Birkenholz aus meinem Wäldchen, daher der feine Geruch. Wein gefällig, Sabine?«

»Aber ich muss doch noch Auto fahren, Karsten.«

»Ja, du hast recht, Verzeihung«, antwortete er und stellte das bereits eingeschenkte Glas neben die Weinflasche auf den kleinen Holztisch zwischen ihnen.

Sabine war eine leidenschaftliche Weinkennerin und schielte auf das Flaschenetikett. »Wow, ein spanischer Numathia, aus der Region von Toro. Jahrgang 1999. Da kostet die Flasche über tausend Euro.«

Karsten lächelte, während Sabine dieser einmaligen Versuchung nicht widerstehen konnte und ihre beiden Hände das große Weinglas gleichzeitig umfassten. »Ein Glas gönne ich mir.«

Der Weinkelch wirkte wie eine aufblühende Tulpe in ihrer Hand.

»Salud, wie die Spanier sagen«, und prostete ihrem Gastgeber zu. Ein angenehmer Klang ließ sich aus den vollbauchigen Weingläsern entlocken, als die beiden sich zuprosteten.

»Fantastisch«, so Sabine, und schwenkte dabei den fruchtig riechenden Numathia, der den Gaumen mit Kakaonoten bedeckte, genussvoll im Glas.

»Bevor ich dir, liebe Sabine, die drei Welpen näher vorstellen werde, möchte ich gerne Faiza den Vortritt lassen.«

»Faiza?«, fragte Sabine.

Karsten öffnete eine weiße, doppelflügelige Schiebetür zu einem Nebenzimmer.

»Faiza, man hört gar nichts von dir«, sagte Karsten mit freundlicher Stimme.

Tapsig und etwas müde lief die Hündin zielstrebig zu ihrem erst vier Wochen alten Nachwuchs. Stupsend mit ihrer feuchten Nase musterte sie jeden ihrer drei Sprösslinge. Faizas langes, gewelltes Fell war weiß und gepflegt. Ihr Hundeblick erfasste erst jetzt Sabine, die etwas nach vorne gebeugt ihre Ellenbogen auf die Oberschenkel abstützte. Langsam trat die Hündin vor Sabine, sodass sich beide direkt in die Augen sahen.

»Du bist aber eine Feine«, sprach Sabine mit einer ruhigen Stimme.

»Das machst du gut, Sabine. Nur weiter so.« Karsten zündete die zwischenzeitlich erloschene Zigarre wieder an und lehnte sich entspannt in seinen Sessel zurück.

»Du möchtest doch sicher ein Leckerli?«, fragte Sabine. Fazias neigte bei dem magischen Wort „Leckerli“ ihren Kopf leicht zu Seite.

»Was möchtest du Fazias geben?«

»Getrocknete Geflügelsticks.«

»Ja, Sabine, die mag sie besonders gerne.«

Karsten legte seine Zigarre auf den Rand des Aschenbechers. Fazias saß da wie eine ausgestopfte Statue. Nur ihre Zunge und ihre buschige, weiße Rute, welche an einen Staubwedel erinnerte, ging von links nach rechts.

»Hmm, lecker«, murmelte Sabine und öffnete langsam die Verpackung mit ihren rot angemalten, langen Fingernägeln. Eine weitere kleine Mutprobe, dachte Sabine und streckte den zehn Zentimeter langen, runden Geflügelstick vor die Hundeschnauze. Karsten schlürfte genussvoll an seinem Rotweinglas und beobachtete die beiden weiter. Die weißen, wie auf einer Perlenkette aufgereihten Zähne der Hündin knabberten so feinfühlig und vorsichtig an dem „Leckerli“, dass Sabine es erst im letzten Moment losließ. »Sooo vorsichtig ist deine Fazias.«

»Ja, Sabine«, bestätigte Karsten und stand dabei auf. Der pensionierte Tierarzt drehte Sabine den Rücken zu. Sein Blick verschwand in dem Kaminfeuer mit leicht gesenktem Haupt. Karsten schob mit einem verzierten Schürhaken glühendes Birkenholz in der Glut hin und her, griff neben sich und legte nochmals Feuernahrung hinzu. Die Flammen erhellten sein Gesicht und sein grauer Bart schimmerte Silber.

»Wenn du einmal in deinem Leben einen Tibet Terrier als Freund und treuen Wegbegleiter an deiner Seite hattest, ist es um dich geschehen. Diese Wesen sind liebevoll und würden alles für dich machen, um bei dir zu bleiben.«

»Was noch?«, fragte Sabine. »Du weißt ja, Karsten, es wäre unser erster Hund und ich habe natürlich auch ein paar Eigenschaften dieser Rasse recherchiert.«

»Was hast du über den Charakter der Tibet Terrier recherchiert, Sabine?«

»Familienfreundlich, treu und fröhlich. Aber auch stur und eigenwillig. Habe ich etwas vergessen, Karsten?«

»Also meine Liebe, wenn dein Tibi es einen Tag nicht schaffen sollte, deine Familie zum Lachen zu bringen, läuft etwas in die falsche Richtung zwischen euch.«

Sabine verweilte einen Augenblick und wirkte nachdenklich auf Karsten.

»Alles klar bei dir, Sabine?«

»Alles in Ordnung, Karsten«, seufzte sie.

Inzwischen hat sich Fazias auf einem schwarzen Lammfell vor den Kamin gelegt. Ihre tiefbraunen, großen Hundeaugen sahen müde aus, aber die Hündin wirkte entspannt.

»Wo ist eigentlich der Chef?«

»Wenn du den Vater dieser Rasselbande meinst, dann bin ich mir im Moment nicht so sicher.«

Sabine schaute Karsten fragend an und wartete auf eine Fortsetzung seiner Antwort.

»Das Familienoberhaupt genießt heute bei einer befreundeten Familie einen Tagesausflug, genauer gesagt einen Wanderausflug.«

»Schön, und wie ist sein Name?«

»Bello«, so die spontane Antwort von Karsten. Sabine lachte schallend heraus und musste schnell ihr Weinglas abstellen. Sie konnte sich kaum noch beruhigen, bekam einen knallroten Kopf, während ihr vor lauter Gekicher Tränen über die gepuderten Wangen entlangliefen. Sabines Hände klatschten immer wieder auf ihre Knie. Sie ließ sich in die weiche Rückenlehne des Sessels fallen und konnte nicht mehr aufhören zu lachen.

»Ich schmeiß mich weg, Karsten, ne, oder?«

»Nun krieg dich wieder ein, Sabine. Hier bitte ein Taschentuch für deine Lachtränen.«

Sogar Sabines Handabdrücke waren noch auf ihren beiden Oberschenkeln zu sehen. Schnell zupfte sie ihren Rock wieder über die „Hand-Lachspuren“.

»Firoz, heißt der Vater. In der Sprache der Tibeter bedeutet er, Name des Königs.«

»Ja, den Namen nehme ich dir ab, Karsten.«

Die drei kleinen Tipis schliefen wieder, und zwar kreuz und quer in ihrem gemeinsamen, ovalen Bast-Korb. Die weichen Fließdecken im Korb waren wild zerknüllt.

»Darf ich dir nachschenken, Sabine?«

»Aber nur noch ein kleiner Schluck«, zwinkerte sie. Der Numathia-Wein floss wie eine rote Lava in das große Weinglas und das Kaminfeuer glühte wie die Abendsonne, als Sabine entspannt durch das Glas schaute.

»Siehst du die drei von hier aus, Sabine?«

»Ja, aber darf ich näher an sie ran, Karsten?«

»Nur zu, nur zu.«

Sabine kniete vor den Welpen. Die Königin der Götter heißt es in der Sprache der Tibeter. Übersetzt „Indra“, die ganz vorne lag, mit ihrem flauschig braunen Fell. Es gab keinen einzigen Fleck auf ihrem Pelz. Die zwei einzigen, ungleichen Farbmerkmale waren die Vorderpfoten, die aus dem Korb hingen und gelegentlich auf und ab zuckten. Nur eine Pfote war braun, so wie der Rest von ihr. Die Laune der Natur malte die anderen drei Pfoten schwarz.

Sabine hörte einen Seufzer des Welpen. »Du hast es ja so schwer«, kam ironisch aus ihren rot geschminkten Lippen.

Ein Samtkissen flog durch die Luft und landete neben Sabine. »Schone deine Knie, Sabine.«

»Bist du ein Gentleman, Karsten.«

Sabine entdeckte einen schwarz-braunen Welpen. »Auch eine „Sie“, Karsten?«

»Ja, ich nenne sie Enakshi.«

In sich zusammengerollt und einer für Tibet Terrier nicht seltenen Pigmentierung auf der Nase, lag Enakshi da.

»Und wie ist der Name Enakshi in der Sprache der Tibeter zu verstehen?«

»Schöne liebevolle Augen«, antwortete Karsten, während Sabine ihren Kopf seitlich von links nach rechts bewegte.

Ein goldfarbenes Wollknäuel schien gähnend, mit noch geschlossenen Augen, aufzuwachen. Seinen Kopf langsam anhebend, öffnete dieser Zwerg erst ein, dann das andere Auge. Wie tiefschwarze Murmeln blickten sie direkt zu Sabine. Die beiden Vorderpfoten weit ausgestreckt und sein Hinterteil nach oben gedrückt, dehnte der Tibi seinen Schlaf aus sich heraus.

»Das gibt einen Prachtkerl, Sabine. Wie sein Vater. Er trägt den Namen Bahula, was Stern bedeutet.«

Tollpatschig und wacklig tapste der kleine Tibi durch den Korb. Einmal trat der Bursche auf den Bauch von Indra. Unbeeindruckt setzte diese ihren Schlaf in Rückenlage fort. Auch die ebenfalls im Land der Träume eingerollte Enakshi wurde von ihrem Bruder nicht verschont. „Ups“, und schon setzte sich die Schieflage von Bahula fort in eine wie in Zeitlupe aufgenommene Bauchlandung. Landepunkt seiner spektakulären Aktion war seine Schwester Enakshi. Die Tibi Dame reagierte darauf mit ihrer kurz aufgerissenen Schnauze, welche sich kurzerhand wieder langsam schloss. Unbeirrt setze sie ihren Schlaf fort. Gleich geschafft, dem Ziel ganz nahe, bahnte sich Bahula seinen Weg über den zwanzig Zentimeter hohen Rand des Korbs. Ein mutiger Sprung des Welpen entlockte bei Sabine ein motivierendes: »Du schaffst das, Kleiner.«

Na ja, wenn da nicht sein hinteres Pfötchen am Korbrand hängengeblieben wäre, hätte es zumindest für die beeindruckende Flugphase vier von zehn Punkten gegeben. Die Landung, gefolgt von einem Purzelbaum, endete direkt vor Sabine, die ihre Hände vor ihr grinsendes Gesicht hielt. Der kleine Kerl rappelte sich auf und schaute sie an. Sabine konnte es nicht lassen, den kleinen Welpen anzufassen. Sein Fell fühlte sich an wie weiche Federn. Durch den goldfarbenen, dichten Pelz wirkten seine Beinchen wie kräftige, zu kurz geratene Stampfer. Als Sabine Bahulas weichen Nacken kraulte, erwiderte er den für ihn noch ungewohnten Massageversuch mit einem vorsichtigen Anknabbern ihres Fingers. Seine kleinen, schneeweißen Milchzähnchen waren spitz wie Zahnstocher, konnten aber höchstens so viel Schaden anrichten, als würde man von einem Schaumstoffball getroffen werden. Mit seiner rauen, rosaroten Zunge kombinierte Bahula seinen sich immer mehr aufblühenden Spieltrieb an Sabines Finger. Eine spontane Seitwärtsrolle endete auf dem Rücken, während seine Zähnchen sich weiter seinem lachenden Opfer widmeten. Alle Läufe in die Höhe gestreckt, als gehörten sie zu einem Hocker. Die mit rosa und schwarz pigmentierten Pfoten und der bis jetzt nur mit einem Flaum bewachsene Bauch löste bei Sabine wohl so eine Art Muttergefühl aus.

Plötzlich ein Knallen und Zischen. Aufsteigende Funken, die sich wie Wunderkerzen im Kamin ausbreiteten. Die bis jetzt friedlich schlafende Hundemutter Fazias reagierte darauf mit einem lauten Bellen. Durch die geschlossene Tür hörten alle das dumpfe Knurren von Achak. Dem Wolfshund entging nichts.

»Ist ja gut, meine Lieben«, murmelte Karsten, während seine Hände gerade mit dem edlen Zigarrencutter hantierten. »Manchmal kommt es vor, dass sich unter der Holzrinde noch Feuchtigkeit befindet.«

Sabine setzte Karstens Satz fort. »Und dann entsteht durch die Hitze Wasserdampf, welcher sich wiederum in Knacken und Knallen bemerkbar macht. Durch die explosionsartige Freisetzung von Dampf werden glühende Holzteilchen hochgeschleudert.

»Streberin«, lachte Karsten. »Du hast demnach gut in Physik aufgepasst.«

»Hat mir mein Papa mal erklärt. Und außerdem haben wir auch einen, aber nicht so schönen Kamin wie diesen.«

»Okay, und wie sieht’s bei euch beiden so aus, Sabine?«

»Ganz ehrlich, Karsten, ich bin gerade dabei, mich in den Burschen zu verlieben.«

»Dachte ich mir schon. Und der Kerl mag dich auch. Ich habe bei dir, liebe Sabine, heute Abend ein gutes Gefühl bekommen. Als du vor drei Stunden wie ein verängstigtes Mädchen vor meinem Tor standest, hatte ich echt Bedenken, dir einen meiner kleinen Freunde anzuvertrauen.«

»Das bedeutet, ich habe den Test bestanden?«

»Hm, wie wohnt ihr, Sabine?«

»Großer Garten, umgeben von einem hohen Zaun, der von einer dichten Kirschlorbeerhecke verdeckt wird.«

Karsten nickte. »Ja, genügt absolut.«

»Unser Haus wurde von meinem Mann entworfen. Er ist Architekt und unsere dreihundertzwanzig Quadratmeter verteilen sich über drei Etagen. Mit eingerechnet, das ausgebaute Dachgeschoss.«

Nachdem Sabine ihre zwei Teenager und ihren Mann Sam noch ausführlich beschrieben hatte, lenkte Karsten kurz ein. »Tibis sind sehr gesellige Tiere und nicht gerne allein. Wer ist bei Bahula tagsüber?«

»Sam, mein Mann, ist flexibel und kann ihn sicher ohne Probleme mit ins Geschäft nehmen.«

»Was bedeutet sicher, Sabine? Weiß dein Mann nichts davon? Und deine beiden Kinder?«

Sabine wurde verlegen, unsicher und antwortete nicht auf Karstens Frage.

»Sam arbeitet oft im Homeoffice und Bahula kann mit ihm mitfahren zu ...«

Karsten unterbrach Sabine. »Was, wenn ihr alle überfordert werdet? Alle Hunde sind auch Familienmitglieder. Ist dir das bewusst, Sabine?«

»Karsten, ich verspreche dir hoch und heilig, dass es Bahula an nichts fehlen wird. Wir organisieren uns. So wie es viele Familien tun. Mein Sohn Steve, wie auch meine Tochter Lisa, werden immer für ihn da sein.«

Karsten schaute zu Bahula. »Ja, ich glaube dir, Sabine. Gibt es jemanden bestimmten in deiner Familie, den du zu Weihnachten überraschen möchtest?«

»Ja, Karsten. Eine gute Freundin von Lisa hat vor fünf Jahren einen Tibet Terrier von ihren Eltern bekommen. Immer wenn meine Tochter die Familie besucht und sie mit ihrer Freundin gemeinsam die Zeit mit dem Tibi verbringt, gibt es beim Abendessen nur ein Thema und ihre Augen leuchten vor Begeisterung. Lisa wird die Bezugsperson zu Bahula sein«, ergänzte Sabine.

»Seine Bezugsperson wählt sich ein Hund selbst aus. Egal, welche Rasse. Aufmerksamkeit schenken, seinen Fressnapf füllen, spazieren gehen, aber auch klare Gesten und Kommandos. Der Bursche lässt dich wissen, ob du es sein wirst, dem er sein Vertrauen schenkt. Alter und Geschlecht des Rudelführers spielen dabei keine Rolle.«

Zwischen diesen für Sabine bereits bekannten Lektionen von Karsten versuchte sie in dem nur mit Kerzenlicht beleuchteten Zimmer die Uhrzeit auf ihrer Armbanduhr zu erkennen. Karsten schaute Sabine aufmerksam zu und zeigte mit seinem gut hörbaren schnipsenden Finger auf die antike Uhr, die auf dem Kaminsims stand.

»Falls es dich interessiert, Sabine, die ist von Vincenti & Cie aus dem Jahre 1860.«

»Sehr schön«, murmelte Sabine, schenkte der vergoldeten Bronze-Uhr aber keinerlei Beachtung, während sie erfolglos das Ziffernblatt ihrer Uhr in alle Richtungen des Zimmers drehte und wendete.

»Gleich halb elf, meine Liebe, gleich halb elf.«

»Dann wird’s aber Zeit für mich, Karsten.«

»Deine Familie macht sich sicher bereits Sorgen um dich, Sabine.«

Sachte hob sie den kleinen, gähnenden Bahula hoch und gab ihm einen kurzen Kuss auf seine Stirn. Ihre Nase kitzelte sie von dem weichen Flaum, so- dass ein leises „Hatschi“ zu hören war.

Sabine suchte den Umschlag mit Geld in ihrer Handtasche, richtete sich auf und lief zu Karsten, der sich etwas mühsam aus seinem Sessel erhob.

»Ich bin nun mal auch nicht mehr der Jüngste«, murmelte er in seinen grauen Bart und stützte beide Hände in seine Hüften, während sein Oberkörper sich steckend und dehnend nach hinten neigte.

»Zweitausend?«

Karsten schaute Sabine fragend an und antwortete: »Ja, zweitausend, mit den Impfungen und Papieren.«

Karsten nahm den mit Geld gefüllten Umschlag von Sabine und legte ihn wortlos auf den Kaminsims.

»Möchtest du nicht lieber nachzählen, Karsten?«

»Ja gleich, ich hole nur kurz den vorbereiteten Kaufvertrag aus meinem Arbeitszimmer.«

Unter einem venezianischen Kronleuchter stand ein antiker, aus der Gründerzeit stammender Schreibtisch. Die Farbgebung des Kirschbaumholzes tendierte zu einem bernsteinfarbenen, warmen Holzton und fügte sich nach uralter Handwerkskunst in das massive Holz. Die zehn Kerzen auf den goldverzierten Armen des Kronleuchters erzeugten ein warmes, angenehmes Licht. Der Kaufvertrag lag zweifach auf der schwarzen, in Lederoptik eingearbeiteten Schreibauflage des Tisches. Sabine lief zu Karsten, der gerade seine aus Messing gefertigte Banker-Schreibtischlampe anknipste.

Wirklich wie ein Kavalier, dachte Sabine, während er den mit rotem Samt bezogenen Schreibtischsessel für sie zurechtrückte.

»Sooo, bitte schön, meine Dame.«

»Danke schön, der Herr.«

Beide schmunzelten.

»Aber Karsten.«

»Ist etwas nicht in Ordnung, Sabine?«

»Mein Familienname, Steinmann-Vogt, schreibt sich mit zwei „n“, wie Mann.«

»Ja, du hast recht, Verzeihung.«

Karsten nahm den goldfarbenen Esterbrook-Füllfederhalter von der Ablage des schwarzen Tintenfasses. »Sie gestatten, gnädige Frau?«

»Perfekt«, erwiderte Sabine.

Karsten setzte sich lässig mit einem Gesäßteil auf die andere Seite, auf die Tischplatte des schweren Schreibtisches und zählte die Geldscheine im Umschlag. Sabine ging währenddessen den Vertrag durch, während sich ihre Lesebrille selbstständig rutschend der gepuderten Nasenspitze näherte. »Passt«, und schob mit ihrem Zeigefinger die Brille zurück in die Leseposition.

»Passt auch«, tönte es von gegenüber.

»Mit so einem antiken, schönen Füllfederhalter wollte ich schon immer mal schreiben.«

Die schwarze Tinte lag noch feucht auf der Federspitze und reichte gerade noch aus, für ihre mit einem Schwung geschriebenen Unterschriften auf beiden Dokumenten.

»Ich werde als pensionierter Tierarzt die drei Racker zwei Wochen vor Weihnachten impfen und einen Chip mit den Erkennungsdaten unter ihr Fell per Spritze implantieren. Bis dahin sind die Tibis acht Wochen alt.«

»Dann wäre Bahula zehn Wochen alt, wenn ich ihn am Heiligabend mitnehme.«

»Korrekt, Sabine, korrekt. Ich begleite dich noch bis an dein Auto.«

»Sehr freundlich von dir, Karsten.«

Sabine verabschiedete sich noch kurz von den Welpen und von Fazias. Ihre größte Aufmerksamkeit galt Bahula, der gerade zu seinem zwei Meter langen Heimweg in den Korb aufbrach. Sabine drehte sich noch einmal um, lächelte Bahula zu und die Tür fiel hinter ihr und Karsten leise knarrend ins Schloss. Vor der Ausgangstür lag noch immer Achak auf seinem Teppich und hob den Kopf, als er Sabine und Karsten bemerkte. Sabine zupfte Karsten kurz an seiner Strickjacke, während ihr Blick sich dem Bild zuwandte, das sie so faszinierte. Der Tierarzt blieb daraufhin einen Moment stehen und schaute sie fragend an. »Ich vermute, du möchtest wissen, wie unsere Geschichte von Sophia und mir weitergeht?«

Sabine nickte wortlos und kaute verlegen auf ihrer Lippe.

»Wir sehen uns ja noch einmal an Heiligabend. Wenn du magst, komme etwas früher zum Tee.«

»Zum Tee?«, fragte Sabine leicht grinsend.

»Dann eben auf ein Glas Rotwein.«

»Dann bringe ich aber einen guten Tropfen mit.«

»Gut, Sabine, ich bin gespannt.«

Der schwarze Wolfshund stand langsam auf, als beide vor die Tür traten. Sein geschärfter Blick ging abwechselnd von Sabine zu Karsten. Die goldene Türkette rasselte nach unten und folgte kurz pendelnd den bereits zerkratzten Spuren am Türblatt.

»Wie sieht’s aus, Achak, begleitest du uns?«

Der Nebel hat sich zwischenzeitlich komplett verzogen und die noch zögernd aufkommenden Sterne deuteten auf eine kühle Nacht hin. Sabine knöpfte ihre dünne Übergangsjacke zu und verschränkte ihre Arme mit etwas eingezogenem Kopf. Die Scheinwerfer ihres Sportwagens erhellten das große Tor, als Sabine ihre Fernbedienung aktivierte.

»Gnädige Frau«, schmunzelte Karsten, der nach vorne gebeugt, mit einem leicht auf seinem Rücken angewinkelten Arm, einen Butler imitierte und die Autotür öffnete.

»Ich danke dir, mein Guter«, schmunzelte sie und zwinkerte Karsten zu, während sie sich in ihren hellgrauen Ledersitz niederließ. Der dumpfe Ton des Sechszylinders unterbrach den Ruf einer Schleiereule.

»Hat mich gefreut, Sabine.«

Mit einem leichten Schubs schloss er Sabines Autotür. Sabine drehte ihren Kopf nach hinten, strich zeitgleich über ihre Haare und setzte ein paar Meter zurück bis zur Wegkreuzung. Ein kurzer Blick zu Karsten, der eine Hand anhob, während seine andere den Kopf von Achak kraulte. Buntes Laub erhob sich hinter dem Mercedes in die klare Nacht, als Sabine ihre Heimreise antrat. Der schwarze Wolfshund sah zu seinem Herrchen hinauf und Karsten erwiderte seinen Blickkontakt. »Ich weiß, mein Freund, ich sehe es dir an. Das allein sein fällt mir auch schwer und ich gebe zu, dass mir die paar Stunden mit Sabine gutgetan haben.«

Karsten ging in die Hocke vor seinem Hund. »Mein Freund, ich weiß, du vermisst unsere Sophia.«

Mit einem seitlich sich neigenden Kopf verharrte das schöne Tier bei dem Namen Sophia.

»Lass uns hineingehen, Achak.« Karsten lief zurück zum Haus. Achak wartete noch einen Augenblick und kam eine Minute später nach.

Der Ruf der Schleiereule erklang nochmals, als sich die schwere Eingangstür der Villa hinter den beiden schloss.

Die digitale Uhr in Sabines Mercedes zeigte halb elf. Um diese Zeit war nicht mehr viel Verkehr auf dieser Straße. Die sternenklare Nacht wurde von dem zunehmenden Mond beschienen. Eine Stunde Fahrzeit bot ihr Zeit zum Nachdenken. Die gut gemeinten Ratschläge von Karsten gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Es waren Worte, die Sabine nicht mehr losließen. Familienmitglied, nicht gerne allein und ein treuer Freund, der alles unternehmen würde, um bei seiner Familie zu bleiben.

Mit einem: »Ja, wir enttäuschen dich nicht, Bahula«, besiegelte Sabine nun endgültig ihren Entschluss. Auch die kleine, noch übrig gebliebene Unsicherheit, einen Welpen artgerecht aufzuziehen und für ihn die nächsten fünfzehn oder sechzehn Jahre da zu sein, waren zu dem Zeitpunkt verschwunden.

Ihr Mercedes bog ab in die beleuchtete Einfahrt der Steinmanns. Sabine tastete nach der Fernbedienung des Garagentors, das sich sogleich fast lautlos öffnete. Die Doppelgarage der Familie war gut ausgeleuchtet und vermittelte einen aufgeräumten, fast schon strukturierten Eindruck. Sam, ihr Mann, überließ nichts dem Zufall, sodass ein kleines, an der Rückwand der Garage montiertes Licht signalisierte;

„Stopp“, nicht weiter.

***

Die zweifache Mutter erinnerte sich beim Aufleuchten der roten Signallampe gerade an die Worte ihres Mannes.

»Die kleine Konstruktion ist doch billiger als eine Stoßstange zu lackieren.«

Das waren Sams Worte an seine Frau, während sich ihr Sportwagen vor zwei Monaten in der Lackierwerkstatt befand. Ja, es war die Stoßstange ihres Sportwagens, die damals lackiert werden musste. Die Garagenabmessungen der Steinmanns konnte man als großzügig bezeichnen. Als Architekt und Planer war es naheliegend, dass das Haus und die Garage einem modernen Design entsprachen und alle erdenklichen, praktischen Vorteile bieten sollten. Die vier Fahrräder und Autoreifen fanden noch genug Platz, sodass ein Öffnen der Autotüren ohne Parkschäden möglich war. Jedenfalls meistens, denn wir erinnern uns, wo sich Sabines SLK vor zwei Monaten befand. „Richtig“. Und so konnte die Fahrertür nach einem beherzten öffnen mit Sams Beifahrertür Bekanntschaft machen. Das dabei grässlich quietschende und darauffolgende „DOCK“ wurde beim Anstoßen der beiden Türen von Sabine mit einem: »Ups, Hopsela« kommentiert.

»Lohnt sich aber diesmal, meine Teuerste.«

Was dem Wort „Teuerste“ eine ganz eigene Bedeutung schenkte. Bei dem kleinen Missgeschick hat auch Sams Beifahrertür gelitten. Die Tür seines weißen Range Rovers war nach dem »Ups, Hopsela«, von einer feinen, schwarzen Markierung als einzigartig zu bezeichnen. Nein, nicht sooo schlimm mit dem schwarzen Abdruck, wäre da nicht die kleine, feine, dafür aber sechs Millimeter tiefe Delle. Sich erhebend von der Schadensdiagnose, einem gaaanz ruhigen tiefen Durchatmen, verschränkte Sam seine Arme und runzelte seine braun gebrannte Stirn.

»Meine geliebte Frau, wie hoch schätzt du den Schaden deines kleinen Missgeschicks?«

Lässig an ihr Auto angelehnt, winkte ihre rechte Hand nach unten, sodass die sieben goldenen Armreifen der Schwerkraft entgegen mit einem sechsfachen Klick ihr Handgelenk erreichten.

»Wir sind doch versichert, mein Schatz. Es gibt doch Schlimmeres. Erst können wir meinen Mercedes in Ordnung bringen lassen und dann deinen Rover.Somit brauchen wir nur einen Leihwagen.«

»Warum, Sabine, warum nur einen Leihwagen?«

»Ach Sam«, und zeigte auf sein erstsechs Monate neues„cube reaction hybrid bike“. Nein, er hatte keine Schnappatmung, keine Wutausbrüche und vermutlich nicht einmal einen Anstieg von Puls und Blutdruck. Sam, so wie er nun mal war, bewies erneut seine gutmütige Gelassenheit.

»Nun gut, Sabine, wer am besten die Schadenssumme schätzt, bekommt von dem anderen ein Abendessen im Casala.«

Das Casala Restaurant bietet eine gehobene Küche und liegt an der Uferpromenade von Meersburg.

»Alsoo, hmm, zweitausend Euro?«

Sam hob sich seinen flachen Bauch fest und lachte, fast schon spöttisch, daher ungewohnt für seine Frau.

»Du hast schon verloren, mein Schatz. Mindestens fünftausend Euro und jeder zahlt für seineVollkaskoversicherung die dreihundert Euro Selbstbeteiligung.«

Ihr Flüsterton mit: »fünfhundert«, war für Sam kaum zu hören, da sich Sabine dabei umdrehte und auf ihren Fingernägeln kaute.

»Aber nein, Sabine, es sind dreihundert Euro. Ich kenne doch die Policen und weiß, was ich für uns abgeschlossen habe.«

Sam entging nicht, dass ihr Blick verlegen in Richtung Boden wanderte.

»Du hast doch nicht etwaeinen neuen Vertrag abgeschlossen, Sabine?«

»Na ja, Sam, mit den zwei neuen Verträgen sparen wir zusammen fünfundachtzig Euro im Jahr.«

»Whouw, ganze fünfundachtzig Euro, insgesamt pro Jahr. Das nenne ich mal einen Deal. Aber mit fünfhundert Euro Selbstbeteiligung, Sabine. Für jeden.«

»Ja, ich habe Scheiße gebaut, Sam.«

Ihr Mann kannte diesen unwiderstehlichen, treuen Augenaufschlag seiner Frau.

»Ich gönne mir den besten Wein im Casala.«

»Aber Sam, du trinkst doch sonst immer dein Hefeweizen.«

»Dieses Mal nicht, denn du zahlst ja die Zeche.«

»Erst mal schauen, was der Gutachter meint, grinste Sabine.«

Sam behielt Recht und Sabine zahlte das Essen. Der Gesamtschaden beider Fahrzeugtüren mit Stoßstange belief sich auf insgesamt sechstausendachthundert Euro.

***

Noch etwas in den Rückblick des kleinen Blechschadens vertieft, öffnete Sabine die Seitentür der Garage und ließ diese nicht, wie sonst, selbstständig zufallen. Vermutlich war ihre Familie schon im Bett und sollte nicht gestört werden.

Zweiundvierzig Granitstufen schlängelten sich bis zum Hauseingang durch den Garten. Bewegungsmelder aktivierten die dreizehn anthrazitfarbenen LED-Würfelstrahler, die den Weg beleuchteten.

Ein unheimliches und undefinierbares Geräusch kam näher und näher. Sabine blieb stehen und lauschte. Es klang wie ein Surren. Plötzlich streifte etwas ihren Knöchel. Es war so weit, dabei hat sich die späte Heimkehrerin doch bisher so viel Mühe gegeben. Mit einem schrillen, lauten Schrei entfaltete sich ihre Angst über ein Gebiet, so groß wie ... Ach egal. Es war sehr laut. Hinter den Fenstern der Nachbarn erhellten Lichter die zuvor so ruhige, friedliche Nacht. Wie die „Türchen“ beim Öffnen eines Adventskalenders folgten die nach und nach beleuchteten Fenster dem noch immer anhaltenden Kreischen von Sabine. Erste Schatten tauchten neugierig hinter den Glasscheiben auf. Vorhänge bewegten sich. Es war faszinierend, mit anzusehen, wie eine Frau mit High Heels so schnell die Treppenstufen hochrennen konnte. Gäbe es eine Disziplin hierfür, dann wäre der hinauf jagenden Sabine eine Goldmedaille sicher gewesen. Die zweite, beachtliche Sportleistung, ergab sich aus ihrer vor Schreck hochgeschleuderten Handtasche. Nach einer sage und schreibe fünfzehn Meter hohen, dem Sternenhimmel sich nährenden Flugphase ging ihre Handtasche in den Sinkflug über. Einige Köpfe der am Fenster stehenden Schatten folgten synchron der steilen Flugbahn des nun immer schneller werdenden, sich der Erde nähernden Ledergeschosses. Dem Nachbar Schulze gegenüber blieb sogar noch genug Zeit, um sein Fernglas anzusetzen. Während sich Nachbar Schulze nicht entscheiden konnte, ob sein Fernglas die braun gebrannten Beine von Sabine, oder eher der herunter jagenden Handtasche folgen sollte.

Es schossen Blitzlichter durch die klare Nacht. Vermutlich von Handys gefilmt und fotografiert, fanden die spektakulären Aufnahmen recht schnell den Weg ins „Social Media“. Zwei Meter, bevor Sabine die rettende Eingangstür der Steinmanns erreichen konnte, stand Sam verschlafen, die Augen reibend, an der Tür. »Was machst du da, Schatz?«

»Wonach sieht’s denn aus?«, fauchte sie und rannte mit weit aufgerissenen Augen, die Hände fuchtelnd nach oben, an ihrem Mann vorbei ins Haus. Sam trat in seinem Pyjama vor die Tür. Neugierig lief der Familienvater die Stufen hinunter, um nachzusehen, was seine Frau in Panik versetzt hatte. Er hob Sabines Handtasche auf, die ihren Landepunkt unweit der beleuchteten Treppenstufen gefunden hat.

»Schon wieder der blöde Rasen-Mähroboter, der mal wieder zu nahe an die Treppenstufen gefahren ist.«

Sam setzte das „furchtbare Monster“ zurück auf den Rasen und wartete kurz ab. »Na also, geht doch. Echt geniale Technik. War ja auch nicht gerade billig, das Teil.«

Der Familienvater lief zurück zum Haus, während die Lichter der aufgeweckten Nachbarn nach und nach wieder erloschen. Sam wollte ins Bett, denn er hatte am nächsten Tag eine wichtige Besprechung. Doch schnell musste er die Situation akzeptieren, dass die Eingangstür ins Schloss gefallen war und er im Eifer des Gefechts keinen Schlüssel eingesteckt hatte.

»Ich kann doch jetzt um zwölf Uhr nachts nicht klingeln und meine Familie wecken.«

Ein Mann lief in seinem blau-weiß gestreiften Pyjama über den frisch gemähten Rasen in das schöne Gartenhaus der Familie Steinmann. Richtig, es war Sam, der sich auf einem der Liegestühle im Gartenhaus niederließ und sich von einer orangefarbenen Tischdecke etwas Wärme erhoffte. Seine Frau Sabine war nach dem aufregenden Abend so erschöpft, dass sie nach der heißen Dusche gleich in ihrem schönen, warmen Ehebett einschlief.

»Gute Nacht, mein geliebter Mann.« Aber es kam ja keine Antwort von Sam.

Pünktlich um halb sieben klingelte der Wecker. Während die Weckfunktion von Sabines neuem iPhone „Mega-Titan“, den Song spielte: „Ich wünsche dir ein geiles Leben“, versuchte ihre Hand die Stopp-Taste zu erreichen. Ein lautes Scheppern veranlasste sie, ihre weiße, seidene Schlaf-Augenbinde hochzuziehen. Vermutlich war der Tastsinn mit ihren langen, roten Fingernägeln beim Suchen zu sehr beeinträchtigt. Darunter litt das Wasserglas, welches den Sturz vom Nachttisch nicht überstand. Zerbrochen in viele kleine Scherben, lag das Glas auf dem Nussbaum-Parkettboden. Das ausgelaufene Wasser suchte sich langsam, wie ein Bächlein, seinen Weg unter das Bett.

Und mit einem motivierten: »Jetzt aber raus aus den Federn«, erreichten ihre Füße etwas, nennen wir es mal, etwas Unangenehmes. Ein stechender Schmerz jagte wie ein Blitz durch Sabine. Laut fluchend und auf einem Bein springend, war es schließlich die Wasserpfütze, die ihrem Tanz-Solo mit einem abrupten Ausrutschen die Bodenhaftung nahm. Unvergesslich, wie die berühmte russische Ballett-Tänzerin Anna Pavlova, bot sich ein ausdrucksvolles Tanz-Solo des Choreografen Michel Fokine in „Der sterbende Schwan“. Auf dem feuchten Boden sitzend, aktivierte sich die hartnäckige, sich wiederholende Weckfunktion mit dem Lied: »Ich wünsche dir ein geiles Leben …«

»Schatz, Schaahaaaatz. Verdammt, Sam, bekommst du eigentlich nichts mit? Ich könnte neben dir sterben und du schläfst friedlich weiter. Einfach unglaublich. Pha, Männer. Hauptsache, sie haben ihre Ruhe.«

Sabine kroch auf Knien über den Holzboden bis ans Fußende des Betts und zog Sams Decke hektisch zu sich nach unten. Es war kein schlafender Ehemann zu sehen.

In bestimmten Situationen, meist sind es verzweifelte Momente, da reden Menschen mit sich selbst. »Erst mal hochrappeln und auf dem Bettrand sitzen.« Gesagt, getan.

Eine kleine, aber fiese Glasscherbe hat sich ihren Weg in ihren großen Zeh gebahnt. Mit einem »Autsch« konnte die Scherbe schnell und sogar ohne Pinzette entfernt werden. Die langen Fingernägel schienen beim Entfernen von Splittern ihre Vorteile zu haben. »Blutet ja nicht mal. Alles soweit gut, aber wo ist Sam?«

Sabine erhob sich vorsichtig, schob den Vorhang zur Seite und sah ihren Mann im Pyjama und der umgehängten, orangefarbenen Tischdecke barfuß über den feuchten Rasen laufen.

»Hallo, mein Schatz, was machst du denn so früh in unserer Gartenhütte?«, rief Sabine vom Balkon.

»Ach weißt du, mir war einfach zu warm heute Nacht. Machst du uns Frühstück, Sabine, ich bin spät dran.«

»Lisa ist heute dran«, erwiderte Sabine und schloss die Balkontür des Schlafzimmers.

Steve rannte die mit Holzstufen besetzte, freitragende Treppe hinunter, um, wie jeden Morgen, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Vor der Tür stand gerade Sam, bereits mit dem Daumen an der Klingel. Sabine konnte die Eingangstür für ihren Sam bisher nicht öffnen, da ihre Haarbürste erst mal durch ihre Haarpracht geführt werden musste.

»Hallo, Papa, cooles Outfit. Alles okay?«

»Klar doch, mein Junge, alles bestens, ich gehe immer so aus dem Haus.«

»Lisa, mein Schatz, das ist ja so lieb, dass du uns Pfannkuchen machst.«

»Finger weg, Mama, die sind für meine Freundin Mareike und mich. Tschüss, wir frühstücken heute bei ihr. Sehen uns heute Abend.«

»Hey, ihr zwei«, rief Sabine, »ich sollte dann auch mal. Lucia hat heute Geburtstag, fällt mir gerade ein.«

»Und?«

»Na ja, Sam, ich frühstücke mit ihr im Geschäft und wir können noch nebenbei die Sommerkollektion besprechen.«

Sabine gab ihrem Sohn noch einen Kuss auf die Wange, welcher kurzerhand mit einem: »Mama, du weißt, ich mag das nicht mehr«, erwidert wurde.

»Ach Steve, stell dich doch nicht so an und wisch dir bitte meinen Lippenstift von der Wange, bevor du aus dem Haus gehst. Wie sieht das denn aus, mein Junge?«

»Und ich?«

»Mein Gatte, wie könnte ich dich vergessen? Und nimm bitte endlich die furchtbar, orangefarbene Tischdecke von deinen Schultern. Was soll das denn?«

Sam bekam noch einen innigen Kuss und ein sinnliches: »Ich liebe dich und deine Geduld.«

Die Tür knallte hinter Sabine laut ins Schloss und öffnete sich kurzerhand wieder. »Meine Handtasche, wo ist meine Handtasche? Ich kann nicht ohne meine Tasche aus dem Haus.«

Baumelnd an Sams Finger, hob dieser bereits die Tasche nach oben und streckte sie seiner Frau lächelnd entgegen. »Ach Sam, du bist eben der Beste, auch wenn du immer meine Handtasche verlegst.«

Ein Aufbrummen ihres Sechszylinders mit kurz darauf quietschenden Reifen veranlasste Steve und Sam auf die Küchenuhr zu schauen.

»Papa, unsere Mama hatte ein ganz ordentliches Tempo drauf. Die Treppe runter bis zur Garage in nur sieben Sekunden. Seltsamerweise heute in Sneakers, die ihr sicher eine Sekunde Zeitvorteil verschafften.«

»Ja, deine Mutter humpelte heute Morgen etwas, vielleicht hat sie sich den Zeh irgendwo angestoßen. Das war übrigens bislang nicht ihre beste Leistung, Steve, du hättest sie gestern Nacht mal sehen sollen. Vorschlag, mein Sohn.«

Voller Erwartung, da sein Vater immer Ideen hatte, setzte sich der sportliche Teenager auf den drehbaren Tresen-Hocker und kreiste ungeduldig von rechts nach links.

»Wann und was steht bei dir heute auf dem Programm?«

»In der Schule?«

»Jep, in der Schule.«

»Von zehn bis zwölf Uhr Sport.«

Sam überlegte kurz. »Hmm, da rennst du wieder mal allen davon und beim Volleyball kann dir eh niemand das Wasser reichen. Was noch, mein Großer?«

»Meine Prüfungen vorbereiten, die aber erst in drei Wochen beginnen. Worauf willst du hinaus, Papa?«

»Als ich heute Morgen in unserer Gartenhütte aufwachte, erhielt ich eine Mail auf meine Smartwatch.«

»Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter, worum geht’s?«

»Na ja, der für heute geplante Termin wurde abgesagt und ich komme mit meinen Projekten zeitlich gut voran.«

Steve schaute hektisch und nervös auf die Wetterkarten-App in seinem Handy.

»Perfekt Papa, perfekt, besser geht’s nicht. Worauf warten wir?«

»Dann lass uns keine Minute verlieren, Steve.«

Während Sam sich nach der kalten Nacht noch kurz eine heiße Dusche gönnte, richtete sein Sohn eine Kanne Tee, ein paar Brote, Schokolade und Obst, die er hastig in seinen Trekking-Rucksack stopfte. Sam stand noch Zähne putzend auf der obersten Treppenstufe.

»Steve, und vergiss bitte nicht die ...«

»Yes, Sir, unsere warme Kleidung.«

Sam sah noch kurz in den Badespiegel, fuhr sich über sein Gesicht und entschied sich, seinem Dreitagesbart weiterhin freien Lauf zu lassen.

»Bereit, mein Großer?«

»Schon lange, Papa.«

Beide eilten hastig die Stufen hinunter zur Garage. Das Tor stand noch offen. Noch ein kurzer Blick auf seine Beifahrertür, denn man weiß ja nie, bei einer hektisch davonrasenden Karrierefrau. Der mit Proviant und warmer Kleidung vollgestopfte Rucksack flog auf den Rücksitz des Range Rovers. Die beiden nickten sich kurz zu und grinsten mit voller Vorfreude.

»Steve, haben wir den Reservekanister eigentlich im Kofferraum?«

»Ja, aber der ist leer.«

Unterwegs hielt das Duo an der Tankstelle. Mit dem vollen, im Kofferraum verzurrten Dieselkanister, erreichten beide ein paar Minuten später ihr Ziel. Da stand sie. Schlank, sinnlich und elegant wie eine Göttin.

»Du Papa!«

»Ja, mein Sohn?«

»Ist Mama eigentlich sehr eifersüchtig auf sie?«

»Du meinst auf sie«, antwortete Sam und zeigte auf die Schönheit. »Ich weiß nicht, ob man es Eifersucht nennen kann, aber du weißt ja noch, was vor zwei Jahren geschah.«

»Wie kann ich das je vergessen«, lachte Steve und zuckte mit beiden Schultern und einem Ausdruck von: »Wir konnten ja nichts dafür.«

Beide streckten gleichzeitig ihren Arm zu einem klatschenden „give me five“.

»Geliebte Aurelia, wir kommen.«

Vater und Sohn liefen über den sich leicht auf und ab schwankenden Bootssteg und betraten die Yacht. Während Sam den Dieselstand des Hilfsmotors prüfte, verstaute Steve den Rucksack in der Kabine.

»Passt, Steve, wir haben noch ausreichend Diesel an Bord.« Sam stellte den zwanzig Liter Reservekanister in den Motorraum.

»Papa, wollten wir nicht mal den gesamten Hilfsantrieb auf Elektro umrüsten?«

»Du hast ja recht, Steve, machen wir nächstes Jahr.«

Jeder Handgriff der beiden war abgestimmt.

»So, mein Großer, geh ans Steuer.«

»Wirklich?«

»Klar, du hast mir ja lange genug zugesehen. Die Backbord- und Steuerbordleine habe ich eingeholt, aber warte noch kurz mit dem Starten des Motors.«

Sam stieg nach unten, in die Kabine und kam Sekunden später wieder zurück. Eine Hand hinter seinem Rücken versteckt, stellte sich der Familienvater hinter seinen Sohn.

»Cool, eine weiße Kapitänsmütze. Vielen Dank, Papa.«

»So, Junge, starte den Motor und achte immer darauf, was ich dir beigebracht habe. Du wirst uns auch ohne meine Hilfe aus dem Hafen herausmanövrieren. Ich stehe am Bug, keine Angst.«

»Ich habe keine Angst.«

Das Dieselaggregat ertönte aus dem Schiffsrumpf. Der junge Kapitän zog stolz seine Kapitänsmütze etwas nach unten. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die letzten Nebelschleier auf dem See. Unterstützt durch den aufkommenden Wind schwebten die Schleier, wie an Schnüren gezogen, in ein sich auflösendes Nichts. Zunehmende Herbstwinde am Bodensee sind bekannt und bei den Seglern und Surfern sehr beliebt. Das Thermometer am Kommandostand zeigte vierzehn Grad, als Steve mit seinem Handschuh die Tautropfen auf dem Glas abwischte. Ihre einheitlichen, gut sichtbaren, weißen Segeljacken, mit neongelben Rettungsschwimmwesten und schwarzen Hosen, erwarb Sam vor eineinhalb Jahren auf der Bootsmesse, die jedes Jahr in Friedrichshafen Tausende Besucher anzieht. Während Steve die weiße, zweiunddreißig Fuß lange Yacht, rückwärts durch die Anlegestelle manövrierte, beobachtete Sam abwechselnd die Steuerbord- und Backbordseite von Heck und Bug.

»Hey, mein Großer, besser hätte es dein alter Herr auch nicht gekonnt. Kein Wunder, dass du vor einem Jahr so mühelos den Segelschein absolviert hast.«

Steve freute sich über das Lob und war erleichtert, dass alles gut ging. Er drehte das große Steuerrad herum und legte den Vorwärtsgang ein. Sam kümmerte sich um die Segel und nach etwa zwanzig Metern schaltete Steve den Motor aus. Das zweite Tuch erreichte das Ende vom Mast, während das Hauptsegel bereits flatternd die erste Brise auffing.

„Aurelia“ war nun in ihrem Element.

»Kapitän, Steve?«

»Ich höre?«

»Heute könnten durchaus neun Knoten drin sein. Drehe die Dame in den Wind und hole alles aus den Segeln, was geht.«

Schneller und schneller ging es in Richtung Bregenz. Das mit knapp neuntausend Einwohnern kleine Rorschach in St. Gallen wollten die beiden, so schnell es ging, mit Windkraft erreichen. Mit beachtlicher Schräglage jagten die beiden über den See, ihrem Ziel entgegen.

Sam holte gerade den Rucksack aus der Koje, als er Steve schreien hörte: »Zehn Knoten, unser Navi zeigt zehn Knoten.«

»Unglaublich, Steve. Hier, nimm einen heißen Schluck Tee.«

Während die zwei mit einem breiten Grinsen im Gesicht weiter in Richtung Osten über die Wellen fegten, standen die Zeiger der Uhr im Droste-HülshoffGymnasium auf zehn.

***

»Endlich Pause, Lisa, gehen wir ’ne Cola trinken?«

»Klar Mareike, komm, ich lade dich ein.«

Mareike und Lisa waren gute Freundinnen und teilten ein gemeinsames Hobby. Als Cheerleaderinnen unterstützten die beiden den Rugby Club in Konstanz. Mit der Fähre dauerte die Überfahrt ab Meersburg nur fünfzehn Minuten. Die Kombination von „E-Bike“ und Fähre, bot genügend Mobilität und war auch bei Touristen sehr beliebt.

»Und, wie sieht dein Wunschzettel aus, Lisa?«

»Du weißt doch, Mareike, ich möchte so gerne einen Tibet Terrier, so wie ihr einen habt.«

»Wäre großartig, wenn das klappen würde, dann hat unser Kali einen Spielgefährten, oder eine Spielgefährtin.«

»Wie seid ihr eigentlich auf den Namen Kali gekommen?«

»Die Züchterin gab ihr den Namen. Bei den Tibetern bedeutet Kali, „die Schwarze“.«

»Das passt ja, sie ist ja echt schwarz wie die Nacht.«

»Ja, das ist sie, und die fünf Jahre gingen so schnell vorbei.«

»Ich möchte unbedingt eine weißen Tibi.«

»Aber die Farbe ist doch egal, Lisa.«

»Nein, für mich kommt nur ein weißer Tibi infrage.«

Während die beiden Freundinnen noch zwei StundenChemie und eine Stunde Französisch paukten, blühte Sabine in ihrem Modeatelier so richtig auf. Den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter eingeklemmt, besprach sie ihre neueste Kollektion mit einem ihrer Kunden in Italien. Während ihre linke Hand fuchtelnd, winkend ihrer Mitarbeiterin Lucia zu verstehen gab, noch nicht zu gehen, versuchte sie mit der rechten Hand eine Nachricht an ihren Mann Sam zu schreiben. Kurz bevorsie ihre Nachricht absenden wollte, klingelte ihr Handy.

»Hallo Schatz, alles klar? ich wollte dir gerade schreiben.«

»Alles bestens bei uns. Wir legen gerade wieder in Rorschach ab.«

»Wir?«

»Na, dein Sohn und ich.«

»Aha, können ja später noch reden. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich gegen achtzehn Uhr zu Hause bin.«

»Schön, dann können wir ja alle vier zu Abend essen, meine Liebe.«

»Ja Schatz, und du könntest uns mal wieder mit deinen weltbesten, selbst gemachten Burgern verköstigen.«

»Haben wir denn überhaupt noch Hackfleisch und Zutaten zu Hause?«

»Nein, Sam, du kannst ja kurz beim Supermarkt vorbeigehen. Wir brauchen ohnehin noch Butter zum Frühstück.«

»Ja, meine Teuerste …aber.«

Sabine hatte den Hörer schon aufgelegt. Ihre Mitarbeiterin Lucia stand bereits etwas genervt neben ihr, da sie nicht mit Überstunden gerechnet hat. Eine halbe Stunde später durfte sie Feierabend machen.

»Ich danke dir für deine Hilfe, Lucia, du kannst ja morgen als Ausgleich etwas später kommen.«

Um 17.45 Uhr löschte Sabine das Licht, schloss die Tür in ihrem Atelier und fuhr fünfzehn Minuten später in die Garage. Lisa war bereits zu Hause. Auf der großen Familiencouch liegend, hörte sie sich per Kopfhörer ihre Lieblingssongs an.

Die beiden Bodensee-Matrosen fuhren gerade in den Hafen von Meersburg. Steve manövrierte die Yacht wieder sicher an die Anlegestelle.

»Geschafft, Papa, alles angeleint und gesichert.«

»Tolle Leistung, Steve, lass uns noch kurz was einkaufen für heute Abend. Wir braten mal wieder Burger.«

»Super, Papa, freue mich schon darauf.«