Barfuß in Deutschland - Tete Loeper - E-Book

Barfuß in Deutschland E-Book

Tete Loeper

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Beschreibung

Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus Ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres und wohlhabenderes Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft zeigt sich, dass ihre Erwartungen nicht erfüllt werden: Ihre Unwissenheit führt sie in die Zwangsprostitution. Doch selbst als es ihr gelingt, dieser Gewalt zu entfliehen und in Süddeutschland neue Wege einzuschlagen, bleibt ihr Leben in der ungewohnten und fremden Umgebung voller Demütigungen und Herausforderungen. Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung. Tete Loeper gelingt in ihrem Buch eine starke, und ergreifende Innensicht der Protagonistin, die verdeutlicht, wie schwer es ist, in Deutschland anzukommen und Fuß zu fassen. Dabei wird die Konfrontation mit Vorurteilen, die Negierung einer persönlichen Identität und die Enttäuschung eindrücklich nachvollziehbar, die viele Migrant*innen erleben, wenn ihre idealisierten Vorstellungen an der Realität scheitern. Darüber hinaus zeigt sie aus der Perspektive einer ruandischen Frau den Alltagsrassismus in Deutschland auf.

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Über dieses Buch

Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus Ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Entgegen ihren Erwartungen findet sie sich jedoch schon bald in unterdrückenden, teils gewaltvollen Arbeitsverhältnissen wieder.

Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung.

Über die Autorin

Divine Gashugi Umulisa, bekannt unter ihrem Pseudonym Tete Loeper, ist in Ruanda geboren. Sie überlebte den Völkermord an den Tutsi im Exil in Burundi und im Kongo.

In Ruanda arbeitete sie nach ihrem Journalismusstudium unter anderem in Forschungsprojekten mit gefährdeten Mädchen und jungen Frauen und leitete Workshops für kreatives Schreiben.

Seit 2016 lebt sie in Deutschland und ist als Autorin, Schauspielerin und Bildungsreferentin für interkulturellen Austausch und globales Lernen tätig.

Tete Loeper

Barfuß inDeutschland

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Danksagung

Glossar

1

Meine Familie lebte in Kigali, der Hauptstadt Ruandas im Herzen Afrikas. Unser Haus befand sich hinter dem Nyamirambo-Markt, einem Viertel, das nach rohem Fisch roch, sobald die Sonne aufging.

Der Abendwind zerstreute die fettigen Gerüche von Chapati und Samosa, die auf Kohleöfen frittiert und an jeder Straßenecke verkauft wurden. Obwohl ich in diesem Teil von Nyamirambo aufgewachsen war, gab es eine Sache, die ich nie imstande war zu lernen: die Fliegen, die aus unserem Klo kamen, von denen zu unterscheiden, die auf dem Markt herumflogen (oder vielleicht gab es am Ende doch keinen Unterschied?).

Wie meine Altersgenossen träumte auch ich davon, den besten Job in Ruanda zu bekommen. Ich wollte die erste Person in meiner Familie sein, die ein Auto besitzt. Ich sprach davon, in eine Wohnung in Kiyovu zu ziehen, dem vornehmsten Viertel von Kigali, und natürlich die Liebe meines Lebens zu heiraten. Als sich mir die Realität in aller Härte offenbarte, wünschte ich mir, ich hätte gewusst, dass Träume zwar für alle umsonst sind, aber nur sehr wenige den Preis bezahlen können, den es kostet, ihre Träume in die Realität umzusetzen. Keiner meiner Kindheitsträume ging in Erfüllung, und es schien so, als müsste ich mein ganzes Leben darauf warten.

Die meisten meiner ehemaligen Mitschülerinnen haben geheiratet, feste Jobs bekommen oder sind ins Ausland gezogen. Ich saß an demselben Ort fest, nur mit meinem Bachelor-Abschluss und ohne Hoffnung für die Zukunft »Ese uzaduha inzoga ryari? Wann wirst du uns Getränke anbieten?«, haben mich alle gefragt. Das ist eine indirekte Art zu fragen: »Wann wirst du heiraten?« Eine typische Frage, die Ruander einer 23-Jährigen stellen, die keinen Verlobten vorweist oder über Heiratspläne spricht.

Gesellschaftlicher Druck etablierte die Ehe zu einer Errungenschaft für Mädchen und diente als Flucht vor finanziellen Verpflichtungen. Ich hatte vor einem Jahr meinen Universitätsabschluss gemacht und war immer noch damit beschäftigt, meinen Lebenslauf überall hinzuschicken, in der Hoffnung, dass ich eines Tages wenigstens die ersehnte Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bekommen würde. Aber nach dem Tod meiner Mutter nahm das Leben eine andere Richtung.

Was meinen Vater betraf, so hatte ich, abgesehen von dem Wissen, dass er der Mann war, der sein Vermögen nutzte, um seinen Weg zwischen die Schenkel wehrloser Mädchen zu finden, keine Erinnerung an ihn. Ich lebte so, als hätte er nie existiert. Mein Vater, John Musonera, hatte Mama getroffen, als sie erst 18 war, auf dem Weg zum APACE-Schulzentrum, wo sie das Gymnasium besuchte. Er hielt mit seinem RAV 4 zu dicht vor ihr an, als wollte er ihr über die Füße fahren.

»Willst du mitfahren?«, fragte er und musterte ihre Silhouette.

»Nein danke, meine Schule ist dort«, sie zeigte auf ein Gebäude ein paar Meter entfernt.

»Komm schon, ich kann dich trotzdem hinfahren. Es ist ja nicht so, als ob meine Autositze Dornen hätten, die deinen schönen Körper verletzen könnten«, sagte er lächelnd.

Widerstrebend nahm sie sein Angebot an. Sie kletterte hastig in sein Auto und starrte aus dem Fenster.

»Also, wie ist dein Name? Meiner ist John, aber du kannst mich Jo nennen.« Er fasste sie ans Kinn und drehte ihr Gesicht ihm zu.

»Bitte fahren Sie, sonst steige ich aus und gehe zu Fuß. Ich darf nicht zu spät kommen«, sagte sie und schob seine Hand aus ihrem Gesicht.

»Okay, aber nur, wenn du mir deinen Namen sagst.«

»Nirere Speciose. Ich mag es lieber Nirere genannt zu werden. Könnten Sie jetzt bitte fahren oder die Tür öffnen und mich zu Fuß gehen lassen?«

Er fuhr sehr langsam, während er den Jingle mitsang, der im Radio lief.

»Imodoka zubu zaranyobeye ugenda mu muhanda ikaguhitana, wayihungira kure, ikagusanga yo. Die Autos sind heute verrückt geworden, du läufst auf der Straße und sie verfolgen dich. Auch wenn du weitergehst, verfolgen sie dich.«

Er parkte hinter dem Schulgebäude und zog sein Portemonnaie aus der Tasche, bevor er die Tür öffnete, damit sie aussteigen konnte.

»Das ist für dich«, sagte er und überreichte ihr 5000 ruandische Francs. »Vielleicht kannst du damit ein Taxi oder ein Motorrad nach Hause nehmen. Ich hasse es, ein hübsches Mädchen wie dich auf diesen dreckigen staubigen Straßen laufen zu sehen. Du solltest in eine bessere Gegend wie Kacyiru oder Kiyovu ziehen.«

»Danke, Sir … John, Jo, meine ich«, stotterte sie. »Ich danke Ihnen sehr. Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich das Geld gebrauchen kann. Möge Gott Sie segnen.«

»Hör mal, wir können später reden und sehen, wie ich mich um dich kümmern kann. Natürlich muss man sich um dich kümmern«, sagte Jo, dem ihre Euphorie nicht entging. Er streichelte ihren Oberschenkel.

»Ich wusste nicht, dass es noch gütige Menschen gibt. Vielen Dank, John«, antwortete sie.

»Bitte, nenn mich Jo.« Er zog ein Stück Papier heraus, kritzelte etwas darauf und reichte es ihr. »Das ist meine Nummer, ruf mich an, wenn du besprechen willst, wie ich dich unterstützen kann. Okay?«

»Ich werde Sie heute nach der Schule anrufen. Versprochen.«

Er öffnete ihr die Tür, damit sie aussteigen konnte, und sagte: »Ach, weißt du was, hier in der Nähe gibt es eine Kneipe, die machen sehr gutes Hähnchen und Fisch, da können wir später essen.«

Hähnchen? Fisch? Das war Essen, von dem Mama noch nicht einmal wagte zu träumen, da sie es sich nicht leisten konnte. Diese Speisen waren Kindern vorbehalten, die reiche Eltern hatten. Sie schob die 5000 Francs in ihren blauen Uniformrock und steckte ihr weißes Hemd in die Hose, so wie die Schulleitung es vorschrieb, dass die Schüler sich anziehen sollten. Dann betrat sie das Schulgebäude.

Sobald Mama an diesem Tag den Unterricht verließ, rannte sie zum öffentlichen Telefon tuvugane und gab John Bescheid, dass sie frei sei. Er war beim Zoll und klärte Probleme mit Waren, die er aus China importiert hatte. Er sagte ihr, sie solle nach Hause gehen und wies sie an, ihn am Abend in der Green Corner Bar zu treffen.

Singend verbrachte Mama den Nachmittag, während sie ihre Schuhe putzte und ihre beste Bluse mit einem Holzkohlebügeleisen glättete, das sie sich, zum ersten Mal, von Mama Amina geliehen hatte.

An diesem Abend im Green Corner erzählte Mama John, dass sie allein lebte und dank der muslimischen Gemeinde von Nyamirambo zur Schule gehen konnte und zweimal am Tag eine Mahlzeit erhielt. John hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Er nickte nur gelegentlich, während er an seinem Primus-Bier nippte, das Spuren von Schaum an seinem Schnurrbart hinterließ. Mama erzählte ihm, wie sie während des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994 ihre ganze Familie verloren und als einzige ihrer acht Geschwister überlebt hatte. John rieb sich die Hände, starrte zur Seite und wandte sich wieder ihr zu, um ihr direkt in die Augen zu schauen, die inzwischen mit Tränen gefüllt waren.

»Nicht weinen. Du hast mich jetzt gefunden, okay.« Er nahm sanft ihre Hände in die seinen. »Also, hier ist ein Vorschlag«, fuhr er fort, »ruf mich an, wann immer du dich einsam fühlst, und ich komme und leiste dir Gesellschaft. Wann immer du hungrig bist, wann immer du irgendein Problem hast, vor allem finanzieller Art, werde ich dir helfen.«

Mama starrte auf seinen Ehering, unsicher, ob sie fragen sollte, ob er von Freundschaft, väterlicher Fürsorge oder einfach nur von der Unterstützung eines armen Mädchens sprach. Stattdessen sagte sie: »Vielen Dank.«

»Jetzt komm näher«, sagte John und zog sie zu sich heran. Er ließ eine Hand zu ihren Brüsten gleiten, während die andere ihre Schultern fest umfasste.

»Was machen Sie da?« Sie schob ihn weg und setzte sich wieder dorthin, wo sie vorher gesessen hatte.

»Schau mal, ich kann mich um alle deine Bedürfnisse kümmern. Jedes Bedürfnis. Aber du wirst dich auch um meine kümmern müssen«, zwinkerte er.

»Aber Sie sind doch verheiratet, oder?« Sie sah ihm in die Augen.

»Na und?«, fragte er sie spöttisch und zog die Augenbrauen hoch.

»Werden Sie es Ihrer Frau erzählen?«

»Oh Schätzchen, kein Wunder, dass du trotz deiner Schönheit arm bleibst.« Er rückte näher an sie heran, so nah, dass der Geruch von Primus aus seinem Mund sie würgen ließ, und sie befürchtete, betrunken zu werden, obwohl sie nur zwei Flaschen Sprite getrunken hatte. »Lass meine Frau aus unserer Vereinbarung heraus. Das bleibt nur zwischen uns, okay? Glaubst du, dass alle deine Mitschülerinnen, die schöne Schuhe tragen, Taschen haben, um die du sie beneidest, oder auf Motorrädern zur Schule kommen, reiche Eltern haben? Nein, einige von ihnen haben das Glück, einen Mann wie mich zu finden. Hör zu, das ist ein Angebot, keine Verpflichtung. Es steht dir also frei, zwischen deinem jetzigen Leben und dem, das du gerne hättest, zu wählen.« Er lehnte sich zurück und ließ sie über sein Angebot nachdenken.

In den folgenden Monaten trafen sie sich ein paar Mal in Hotels und Pensionen. Er bezahlte ihre Miete und kaufte ihr alles, was sie in ihrem Alter brauchte und wollte. Schicke Second-Hand-Kleidung, eine Uhr und ihr erstes Nokia-Handy, das die Nachbarn »Mobayilo« nannten, wenn sie es sich borgten, um ihre Verwandten anzurufen. Wie viele andere verheirateten Männer beklagte sich auch John über die körperlichen Veränderungen seiner Frau und darüber, dass sie ihm nach der Geburt der Kinder nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenkte. Er war auf der Suche nach Abenteuer – etwas, das er seiner Meinung nach zu Hause nicht fand. Er begann, Nirere an den Wochenenden zum Kivu-See mitzunehmen, und führte sie in Nachtclubs ein, wo sie gelegentlich Alkohol trank.

Ein paar Monate später, als beide das Leben entsprechend ihrer gegenseitigen Vereinbarung genossen, erzählte Nirere John, dass sie schwanger sei. Sie lagen nebeneinander im »Muhabura Hotel«, schweißbedeckt von der Aktivität, die sie gerade beendet hatten.

»Was? Wie konntest du nur so dumm sein? Du weißt, dass ich eine Frau und zwei Kinder habe. Ich brauche nicht noch mehr«, antwortete er, während er aus dem Bett sprang, als ob ihn ein wildes Tier angreifen wollte.

»Aber ich habe das nicht gewusst. Du hättest mich warnen müssen«, begann sie zu weinen, während John sich beeilte, seine Hose anzuziehen.

»Wer wusste es denn? Oder was ist es, was du nicht wusstest?«

»Ich wusste nicht, dass ich schwanger werden würde, wenn du dich weigerst, Kondome zu benutzen.«

»Blödsinn.« Er knöpfte den letzten Knopf seines Hemdes zu und trat näher an das Bett. »Habe ich dich jemals gezwungen?« Sie schüttelte den Kopf. »Warst du nicht glücklich, mein Geld anzunehmen und es für alles auszugeben, was dir in den Sinn kam?« Sie nickte. »Warum hast du dann nicht auch die Pille oder etwas anderes gekauft, das dich vor einer Schwangerschaft geschützt hätte?«

Sie weinte.

Er zog seine Schuhe an.

Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Kommst du aus dem Bett, oder willst du, dass ich dir auch noch dieses Hotelzimmer kaufe?«, spottete John.

Sie setzte sich aufrecht hin. »Und was machen wir jetzt?«

Er drehte sich zu ihr um. »Wir? Wer sind wir? Bin ich schwanger? Klär das so schnell wie möglich. Es gibt einige Ärzte in Privatkliniken, die sich darauf spezialisiert haben. Also forsche nach und lass mich wissen, wie viel du brauchst.«

»Meinst du Abtreibung?«

»Mm«, antwortete er.

»Nein, das kann ich nicht. Was ist, wenn ich dabei sterbe? Ich hatte eine Mitschülerin, die letztes Jahr gestorben ist. Glaub mir, es ist sehr riskant.«

»Dann liegt es bei dir zu entscheiden. Eine Schwangerschaft war nicht Teil unserer Abmachung. Immerhin ist es dein Körper, also mach, was du willst, aber wie gesagt, ich brauche kein Baby«, er stellte sich neben die Tür. »Ich werde im Auto auf dich warten. Beeil dich, ich bringe dich nach Hause. Ich habe immerhin ein Geschäft zu führen.«

Nirere sah John nie wieder, und wann immer sie seine Nummer anrief, nahm er nicht ab. Ihr Bauch wuchs, und sie wurde aus der Schule geworfen und musste mit allem allein fertigwerden. Die Frauen aus der muslimischen Gemeinde unterstützten sie während der Geburt und waren auch für sie da, nachdem ich geboren war. John schickte ihr einen Umschlag voller Geld mit einem handgeschriebenen Zettel, auf dem stand, dass er nichts mit dem Kind zu tun haben wolle. Danach hörte sie nie wieder etwas von ihm. Die Nachbarn rieten ihr, ihn vor Gericht zu bringen und den Zettel, den er geschrieben hatte, als Beweis zu nutzen. Aber wer war er? Sie würde ihn vor Gericht bringen, und was dann? Wie konnte sie sicher sein, dass John Musonera sein richtiger Name war, da Leute, die sie gemeinsam getroffen hatten, ihn mit einem anderen Namen angesprochen hatten? Sie nahm sein Geld, um einen kleinen Kiosk zu eröffnen, den sie später zu einem Restaurant ausbaute.

Tränen liefen aus Mamas Augen, als sie mir von meinem Vater erzählte. Es war der Tag nach meinem fünfzehnten Geburtstag. Der Regen trommelte heftig auf das Dach, während wir zusammen in der Küche saßen und Kartoffeln schälten.

»Ich werde für dich kämpfen, auch wenn es bedeutet, mein Leben zu verlieren. Du wirst zur Schule gehen und studieren und du wirst es weit bringen. Das verspreche ich dir. Dein Leben wird nie so sein wie meines«, sagte sie weinend, während sie mich fest in ihre Arme schloss.

»Danke, Mama.« Ich löste mich aus ihrer Umarmung und fuhr mit dem Kartoffelschälen fort.

»Bis zu meinem letzten Atemzug. Das verspreche ich dir«, sie glitt mit ihrem Zeigefinger um ihren Hals und schwor: »Ich werde dir die beste Ausbildung bieten. Den Schlüssel zum Erfolg.«

2

In der Gesellschaft, in der ich lebte, galt Depression als eine eingebildete westliche Krankheit, deshalb erhielt ich keine professionelle Hilfe, um den Verlust meiner Mutter zu verarbeiten.

Pole und wihangane waren die Worte, die ich von Nachbarn und Freunden hörte. Wann immer meine Schwester Tendeza das Haus verließ, wusste ich nicht, wann sie zurückkommen oder ob ich sie lebend wiedersehen würde. Nachbarn tratschten, sie hätten sie mit Männern bei Kosmos in der Nähe des Stadions gesehen, einer Gegend, die für Geschlechtskrankheiten berüchtigt war. Ja, ich wollte meiner Schwester helfen. Aber ich wusste nicht, wie. Unser Haus hatte die Bedeutung eines Zuhauses verloren und wurde einfach zu dem Gebäude, in dem wir uns zum Schlafen oder Streiten trafen. Die Armut hielt Einzug in unsere Familie und selbst zweimal am Tag zu essen, war zu einem Privileg geworden.

Im Gegensatz zu mir sah Tendeza genau wie Mama aus: große runde Augen, die immer einen sanften Ausdruck hatten, auch wenn sie voller Wut war, und eine schmale Nase, die sie vor dem Drama bewahrte, gefragt zu werden, ob sie Hutu oder Tutsi sei. Sie war groß gewachsen, weshalb die Leute annahmen, dass sie älter sei als ich. Das Einzige, was ich von meiner Mutter geerbt hatte, waren ihr Lächeln und ihre Naivität, die dazu führte, dass ich den Menschen leicht vertraute.

Abdul, Tendezas Vater, fuhr den Bus, auf dem der Hip-Hop-Künstler 50 Cent abgebildet war. Vor vielen Jahren versuchte jeder, der in Kigali cool war, mit diesem Bus zu fahren, bevor es üblich wurde, Prominente auf den Bussen im Stadtzentrum von Nyamirambo abzubilden. Abdul starb bei einem Autounfall, als Tendeza fünf Jahre alt war. Er hatte nie bei uns gewohnt, weil er damals noch nicht bereit war, eine Familie zu gründen, aber manchmal besuchte er uns.

Fünf Monate nach Mamas Tod postete ich auf meiner Facebook-Seite: »Ich will von dieser Welt verschwinden.« Dieser Post brachte mir viele mitfühlende Kommentare ein. Unter den Leuten, die meinen Beitrag kommentierten, war auch Sonia Mukamana, eine ehemalige Mitschülerin und Nachbarin, die nach Dubai gezogen war, als wir das Gymnasium beendet hatten. Ein paar Jahre waren vergangen, ohne dass ich etwas von Sonia gehört hatte, und dann tauchte sie plötzlich auf Facebook auf. Auf ihrem Facebook-Account stand, dass sie in Hamburg, Deutschland, lebte. Ich begann, mit Sonia von Zeit zu Zeit auf Facebook zu chatten, und mochte ihre Fotos, die von einem Leben zeugten, das für mich wie das bestmögliche aussah. Um ehrlich zu sein, beneidete ich sie. Sie posierte immer mit schicken Autos, in Restaurants und vor großen Gebäuden. Sonia, die früher so dunkel wie eine Asphaltstraße gewesen war, hatte sich in eine muzungu verwandelt. Sie trug Perücken mit langen, geglätteten Haaren und helles Make-up auf ihrer gebleichten Haut.

Sonia hat meinen Beitrag kommentiert mit: »Yoo pole, meine liebe Toni. Lass mich wissen, ob ich helfen kann.«

Ich hatte ihr sofort geantwortet: »Sha uzampe passe y’umuzungu.« Damit kam ich direkt zur Sache: Ich bat sie, einen weißen Mann für mich zu finden. Ich wollte einen reichen, charmanten Prinzen, der mich von meiner Verantwortung befreien würde.

Als Sonia mir erneut schrieb, fragte sie mich nach den Eigenschaften des Mannes, der mir gefallen würde. Anstatt Zeit damit zu verschwenden, einen dieser idealen Männer zu erfinden, die nur in den Köpfen junger Frauen existieren, erklärte ich ihr, dass ich jeden akzeptieren würde. Selbst wenn sie einen Mann finden würde, der so alt sei wie mein Vater, wäre das kein Problem. Alter ist schließlich nur eine Zahl. Oder?

Gerüchte hatten sich in Nyamirambo verbreitet, einige sagten, dass Sonia für ihren Lebensunterhalt Leichen wusch. Andere sagten, dass sie eine Prostituierte war. Es war unmöglich herauszufinden, was man glauben sollte; unsere Nachbarinnen waren Klatschtanten, die von Montag bis Sonntag redeten. Sonia hatte mir erzählt, dass sie in Dubai als Hotelrezeptionistin gearbeitet hatte, später aber nach Deutschland gegangen war. Wie sie dort gelandet war und was sie dort machte, blieb ein Rätsel, denn soweit mir bekannt war, wussten das nicht einmal ihre Eltern. Oder vielleicht haben sie nie gefragt.

Sonia schickte ihrer Familie Geld, unterstützte ihre Eltern beim Bau eines Hauses in Kicukiro und eröffnete für ihre Mutter ein Geschäft mit Hochzeitsdekorationen. Sonias Vater prahlte damit, dass seine Tochter in Europa reich geworden war. Aber wer will schon Einzelheiten von Leuten wissen, die in Europa leben? Die sind doch sowieso alle beschäftigt. Von ihrer Mutter wusste ich, dass sie viel arbeitete, und ich nahm an, dass sie keine Zeit haben würde, sich um meine Bitte zu kümmern.

3

Tendeza kam und setzte sich neben mich, während ich meine Schuhe mit einer alten Zahnbürste putzte. »Weißt du was, Toni«, sagte sie. Mein Name ist Mutoni, aber die Leute nannten mich Toni und ich mochte den Spitznamen.

»Was?« Ich drehte mich um und sah sie an.

»Ich gehe nach Dubai«, sagte sie mit strahlendem Lächeln.

Die meisten Mädchen unserer Generation strebten nach Dubai, während die Jungen nach Darfur oder Mosambik gingen. Ich habe Geschichten von Jungen gehört, die nach Mosambik gegangen und erfolgreiche Händler geworden waren. Einige kehrten nach Hause zurück, um zu heiraten, ihre Frauen nahmen sie dann mit. Jungen, die nach Darfur gingen, kamen mit genug Geld zurück, um Häuser zu bauen und ihre eigenen Geschäfte zu eröffnen. Niemand sprach über die, die im Ausland ihr Leben verloren. Nun wollte auch meine kleine Schwester aufbrechen, um ihr Glück zu suchen.

»Und wie kommst du nach Dubai?«, fragte ich Tendeza.

»Du solltest erst einmal so etwas wie ›herzlichen Glückwunsch‹ oder ›ich bin stolz auf dich‹ sagen.«

»Ach, na ja, ich weiß nicht, ob du einen Fehler machst.«

Tendeza wurde schnell wütend. »Wirst du jemals aufhören, mich zu kritisieren? Ich kann weder wie du sein, Mutoni, noch werde ich mich jemals so benehmen, wie du es von mir erwartest. Also hör auf, so zu tun, als wärst du meine Mutter.«

»Ist ja gut. Du brauchst nicht zu schreien. Also, wie willst du nach Dubai kommen?«

»Haruna nimmt mich mit. Er hat mir dort einen Job als Hotelrezeptionistin besorgt.«

Haruna war der einzige Mann, den ich unter den Kunden nicht mochte, die das Restaurant besuchten, wo ich an den Wochenenden und in Sonderschichten arbeitete. Das kleine Restaurant, eigentlich eher ein Kiosk, wurde in Nyamirambo als Restaurant angesehen. Wir verkauften Samosas, Chapati und Erfrischungsgetränke, wie auf dem Schild an der Tür zu lesen war: Amata na Fanta bikonje.

Haruna trug eine schwere Silberkette, die auf seinem Bauch ruhte, der so groß war wie eine überreife Schwangerschaft. Eines Abends, als er sein Essen bezahlte, lehnte er sich so dicht zu mir, dass ich das Tajiri riechen konnte, mit dem er seine Haut eingeölt hatte. »Du bist zu schön, um hier zu arbeiten«, raunte er.

»Danke, aber Schönheit hat nichts mit Essen zu tun«, antwortete ich mit einem Schulterzucken.

»Hör mal, ich kann für dich überall in diesem Land einen Job finden«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich fühlte mich sofort unwohl.

»Wirklich?« Ich verspottete ihn, aber er verstand es als ernst gemeinte Frage.

»Ich habe Beziehungen, weißt du. Lass uns darüber sprechen, nachdem du das Restaurant zugemacht hast. Ich kann irgendwo auf dich warten«, sagte er.

»In Ordnung, geben Sie mir Ihre Nummer und ich rufe Sie an, wenn ich schließe.«

Ich dachte, er könnte mir vielleicht einen Job in der Gemeindebank besorgen. Es schien zu stimmen, dass er viele Leute kannte. Später rief ich ihn an, und wir trafen uns in der Amani Lodge. Er begann damit, mir den Rücken zu reiben und bestand darauf, dass wir unser Gespräch in seinem Zimmer weiterführen sollten, da es sehr vertraulich sei. Seine Hände wanderten nach unten und fassten an meinen Po. Ich schlug sie weg und verstand nun, was er von mir wollte. Ich nahm ein Motorradtaxi und fuhr weinend nach Hause. In dieser Nacht hasste ich mich dafür, dass ich so naiv war. Bevor ich mich mit ihm traf, hätte ich skeptisch sein sollen, welche Art von Verbindungen er hatte, denn er hatte nicht einmal selbst einen Job. Tendeza erzählte ich aber nichts davon.

Ich konnte nicht zulassen, dass meine Schwester in Harunas Falle tappte. Ich machte mir Sorgen, was bereits passiert sein könnte, als wir über Tendezas bevorstehendes Dubai-Abenteuer sprachen. Und was würde erst mit ihr geschehen, wenn er sie dorthin brachte?

»Haruna ist ein Monster. Er wird dein Leben ruinieren«, sagte ich.

»Mehr als es jetzt schon ruiniert ist?«, antwortete Tendeza spöttisch. »Sieh uns an, was haben wir denn?«

»Du bist noch jung, Tendeza. Du könntest sogar wieder studieren.«

»Studieren, studieren … und was dann? So werden wie du?«

»Es tut mir leid.« Ich zog sie in meine Arme, während mir Tränen über die Wangen liefen.