Bedingungslos geliebt - Timothy Keller - E-Book

Bedingungslos geliebt E-Book

Timothy Keller

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Beschreibung

Das Geheimnis der Liebe Gottes: Sie ist vorleistungsfrei zu haben. Jederzeit und mit Ewigkeitshorizont. Das ist die Lehrstunde fürs Leben von großen und kleinen Brüdern und Schwestern. Nach seinem ersten Buch The Reason for God nannte die amerikanische Zeitschrift Newsweek Timothy Keller einen "C. S. Lewis für das 21. Jahrhundert". Diesmal legt Keller das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus – oder das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen, wie es besser heißen müsste. Denn Keller zeigt, dass der ältere Sohn ebenso verloren ist wie der jüngere. Mit frischer, ungestelzter Sprache, scharfsinniger Menschenkenntnis und Beispielen aus aktuellen Büchern und Filmen führt Keller uns vor Augen, dass Jesus in diesem Gleichnis seinen Zuhörern die gesamte biblische Botschaft in einer unnachahmlich verdichteten Form präsentierte. "In einer Flut von Bestsellern, geschrieben von Skeptikern und Atheisten, die einen nichtexistenten Gott des Verbrechens gegen die Menschlichkeit anklagen, ragt Timothy Keller als schlagkräftiger Kontrapunkt und Verteidiger des Glaubens heraus." The Washington Post

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Timothy Keller Bedingungslos geliebt

Edmund S. Clowney und meinen anderen Mentoren

Timothy Keller

Bedingungslos geliebt

Von zwei verlorenen Söhnen und einem liebenden Vater

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Bibeltexte sind, soweit nicht anders angegeben, der revidierten «Hoffnung für alle» entnommen.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: «The Prodigal God» von Timothy Keller, herausgegeben von Dutton, a member of Penguin Group (USA), Inc. 375 Hudson Street, New York, New York 10014, U.S.A. Copyright © 2008 by Timothy Keller All rights reserved

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Christian Rendel, Witzenhausen

© der deutschen Ausgabe 2010 (damals noch unter dem Titel «Der verschwenderische Gott») by Fontis – Brunnen Basel 1. Auflage unter neuem Titel (und damit 4. Aufl. insgesamt) 2015

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag: Erik Wollo/Shutterstock.com Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

Inhalt

Vorwort von Hanspeter Wolfsberger

Einführung

Das Gleichnis

1. Die Menschen um Jesus«Viele … kamen immer wieder zu Jesus, um ihn zu hören.»

Zwei Arten von Leuten

Warum Leute Jesus mögen, aber nicht die Kirche

2. Die beiden verlorenen Söhne«Ein Mann hatte zwei Söhne.»

Der verlorene jüngere Bruder

Der Plan des jüngeren Bruders

Der verlorene ältere Bruder

3. Eine neue Definition der Sünde«All diese Jahre habe ich mich für dich geschunden.»

Zwei Wege zum Glück

Zwei verlorene Söhne

Ein tieferes Verständnis der Sünde

Beide auf dem falschen Weg, aber beide geliebt

4. Eine neue Definition der Verlorenheit«Der ältere Bruder wurde wütend und wollte nicht ins Haus gehen.»

Zorn und Überlegenheit

Schinderei und Leere

Wer muss das erfahren?

5. Der wahre ältere Bruder«Was ich habe, gehört auch dir.»

Was wir brauchen

Wen wir brauchen

6. Eine neue Definition der Hoffnung«Er reiste weg in ein fernes Land.»

Unsere Sehnsucht nach dem Zuhause

Die Schwierigkeit der Rückkehr

Das Festmahl am Ende der Geschichte

7. Das Festmahl des Vaters«Er hörte schon von weitem die Tanzmusik.»

a) Heil ist eine Erfahrung

b) Heil ist materiell

c) Heil ist individuell

d) Heil ist gemeinschaftlich

Babettes Fest

Danksagungen

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

Es gibt Geschichten, die greifen erst, wenn man sie wirklich braucht und wenn eine Art Antenne dafür gewachsen ist. Und wenn sie dann noch jemand so zu erzählen vermag, dass aus ihren Worten eine Muttersprache hörbar wird, wenn sie tönt wie ein leises Raunen von «daheim», von «das ist für mich», dann kann solch eine Geschichte ankommen und Wurzeln schlagen.

Ich erinnere mich, dass ich schon in jungen Jahren gerne über das Gleichnis vom Vater mit den zwei Söhnen gesprochen habe. Aber ich weiß auch noch, wie ein alter Mann mit wachem Geist nach einem Gottesdienst zu mir sagte: «Danke, Herr Pastor, aber auch Sie haben diese Geschichte nicht ausleuchten können.» Dabei hatte ich gemeint, ich hätte schon alles über sie gelesen und wäre über einen oberflächlichen Ersteindruck längst hinausgekommen. Aber das Aroma dieser Geschichte, ihr Bouquet, kannte ich noch nicht. Ich musste ihr erst noch entgegen wachsen und bedürftig genug nach ihr werden. Und ich brauchte einen Erzähler, der nicht nur die Geschichte kennt, sondern die Familie dahinter. Weil er selber Angehöriger ist und ihren Dialekt kann.

Timothy Keller muss so einer sein. Seine Sprache, seine innerfamiliären Bezüge aus dem Hause dieses liebenden Vaters verraten ihn. Sein Buch hat eine hohe Deutungskraft. Man sollte es griffbereit halten, es wird mehr als ein Mal gebraucht im Leben.

Hanspeter Wolfsberger

Einführung

Dieses Buch soll die wesentlichen Inhalte der christlichen Botschaft, des Evangeliums, darlegen. Es kann daher als Einführung in den christlichen Glauben für diejenigen dienen, die mit dessen Lehren noch nicht vertraut sind oder sich seit einiger Zeit nicht mehr damit beschäftigt haben.

Diese Publikation ist jedoch nicht nur für Suchende bestimmt. Viele Christen, die schon ihr Leben lang gläubig sind, meinen, die Grundlagen des christlichen Glaubens sehr gut verstanden zu haben und keinen Leitfaden darüber zu brauchen. Allerdings besteht eines der Zeichen dafür, dass man das einzigartige, radikale Wesen des Evangeliums möglicherweise doch noch nicht ganz erfasst hat, gerade darin, dass man ganz sicher ist, es begriffen zu haben. Manchmal geht auch langjährigen Gemeindegliedern die christliche Botschaft ganz neu auf, und es trifft sie mit solcher Wucht und verändert sie so sehr, dass sie selbst das Gefühl haben, sich im Grunde «neu bekehrt» zu haben.

Dieses Buch ist also sowohl für wissbegierige Außenstehende als auch für gestandene Gläubige geschrieben, sowohl für diejenigen, die Jesus in dem berühmten Gleichnis vom verlorenen Sohn «jüngere Brüder», als auch für die, die er «ältere Brüder» nennt.

Ich greife zu dieser bekannten Geschichte, die im fünfzehnten Kapitel des Lukas-Evangeliums zu finden ist, um zum Herzen des christlichen Glaubens zu kommen. Handlung und Dramatis personae des Gleichnisses sind sehr einfach:

Ein Vater hatte zwei Söhne. Der jüngere forderte seinen Anteil am Erbe ein, bekam ihn auch und machte sich sogleich in ein fernes Land auf, wo er alles mit sinnlichen und frivolen Vergnügungen verprasste. Dann kehrte er reumütig nach Hause zurück und wurde zu seiner eigenen Überraschung von seinem Vater mit offenen Armen aufgenommen. Dieser Empfang stieß seinen älteren Bruder sehr vor den Kopf und machte ihn wütend.

Die Geschichte endet damit, dass der Vater an seinen erstgeborenen Sohn appelliert, seinen jüngeren Bruder ebenfalls willkommen zu heißen und ihm zu vergeben.

Auf den ersten Blick ist das gar nicht so eine packende Erzählung. Ich glaube jedoch, wenn man die Lehre Jesu mit einem See vergliche, wäre dieses berühmte Gleichnis vom verlorenen Sohn eine der klarsten Stellen darin, wo wir bis hinunter auf den Grund sehen könnten.

In den letzten Jahren sind etliche hervorragende Untersuchungen zu diesem Bibeltext geschrieben worden, doch die Grundlage für mein Verständnis des Abschnitts war eine Predigt, die ich erstmals vor über dreißig Jahren von Dr. Edmund P. Clowney hörte. Als ich diese Predigt hörte, veränderte sich mein Verständnis des Christentums.1 Es kam mir beinahe so vor, als hätte ich das geheime Herz des christlichen Glaubens entdeckt.

Im Lauf der Jahre habe ich in Lehre und Seelsorge immer wieder auf dieses Gleichnis zurückgegriffen. Häufiger als bei irgendeinem anderen Text habe ich erlebt, wie Menschen durch diesen Abschnitt ermutigt wurden und Klarheit und Hilfe empfingen, wenn ich seine wahre Bedeutung erklärte.2

Im Ausland hielt ich einmal diese Predigt vor einer Zuhörerschaft mithilfe eines Dolmetschers. Einige Zeit später schrieb mir der Übersetzer, während er die Predigt vorgetragen habe, sei ihm klar geworden, dass dieses Gleichnis wie ein auf sein Herz gezielter Pfeil sei. Nachdem er noch einige Zeit gerungen und darüber nachgedacht hatte, hatte es ihn zum Glauben an Christus geführt. Viele andere haben mir gesagt, dass diese Geschichte von Jesus, nachdem sie sie erst einmal verstanden hatten, ihren Glauben, ihre Ehe, ja manchmal buchstäblich ihr Leben gerettet habe.

In den ersten fünf Kapiteln werde ich die Grundbedeutung des Gleichnisses herausarbeiten. Im sechsten Kapitel werde ich zeigen, wie die Geschichte uns dabei hilft, die Bibel als Ganzes zu verstehen, und im siebten Kapitel, wie ihre Lehre sich auf die Art und Weise auswirkt, wie wir in der Welt leben.

Dabei werde ich nicht die Überschrift verwenden, die für das Gleichnis am häufigsten verwendet wird: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Es ist nämlich nicht richtig, nur einen der Söhne als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte aufzufassen. Auch Jesus selbst spricht ja nicht vom Gleichnis von dem verlorenen Sohn, sondern er beginnt die Geschichte mit den Worten: «Ein Mann hatte zwei Söhne.» Die Erzählung handelt ebenso sehr von dem älteren Bruder wie von dem jüngeren, und ebenso sehr von dem Vater wie von den Söhnen. Und das, was Jesus über den älteren Bruder sagt, ist eine der wichtigsten Botschaften, die uns in der Bibel mitgeteilt werden. Das Gleichnis sollte besser «Die beiden verlorenen Söhne» heißen.

Auf Englisch ist das Gleichnis unter dem Titel «The Prodigal Son» bekannt. «Prodigal» bedeutet nicht «verloren» oder «ungeraten», sondern laut Merriam-Webster's Collegiate Dictionary «rückhaltlos verschwenderisch». Es bedeutet, dass man so lange ausgibt, bis man nichts mehr übrig hat. Insofern passt dieser Ausdruck ebenso auf den Vater in der Geschichte wie auf den jüngeren Sohn. Die Art und Weise, wie der Vater seinen bußfertigen Sohn bei der Rückkehr willkommen hieß, war buchstäblich rückhaltlos, denn er hielt nichts zurück und forderte auch nichts von seinem Sohn für dessen Sünde zurück.

Diese Reaktion war dem älteren Sohn und höchstwahrscheinlich auch den Nachbarn in der Umgebung ein Dorn im Auge.

In dieser Geschichte steht der Vater für den himmlischen Vater, den Jesus so gut kannte. Der Apostel Paulus schreibt: «Denn Gott ist durch Christus selbst in diese Welt gekommen und hat Frieden mit ihr geschlossen, indem er den Menschen ihre Sünden nicht länger anrechnet» (2. Korinther 5,19). Jesus zeigt uns einen Gott voller Freigiebigkeit, der sich uns, seinen Kindern, gegenüber wahrhaft verschwenderisch verhält. Gottes rückhaltlose Gnade ist unsere größte Hoffnung. Sie ist eine Erfahrung, die unser Leben verändert. Und sie ist das Thema dieses Buches.

1. rückhaltlos verschwenderisch

2. alles ausgegeben habend

Das Gleichnis

Lukas 15,1–3.11–32

(Nach der Übersetzung «Hoffnung für alle»)

1 Viele Zolleinnehmer und andere verrufene Leute kamen immer wieder zu Jesus, um ihn zu hören. 2 Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich und schimpften: «Mit welchem Gesindel gibt der sich da ab! Er setzt sich sogar mit ihnen an einen Tisch!» 3 Da erzählte Jesus ihnen ein Gleichnis:

11 «Ein Mann hatte zwei Söhne», erzählte Jesus. 12 «Eines Tages sagte der jüngere zu ihm: ‹Vater, ich will jetzt schon meinen Anteil am Erbe ausbezahlt haben.› Da teilte der Vater sein Vermögen unter ihnen auf.

13 Nur wenige Tage später packte der jüngere Sohn alles zusammen, verließ seinen Vater und reiste ins Ausland. Dort leistete er sich, was immer er wollte. Er verschleuderte sein Geld, 14 bis er schließlich nichts mehr besaß. In dieser Zeit brach eine große Hungersnot aus. Es ging ihm sehr schlecht. 15 In seiner Verzweiflung bettelte er so lange bei einem Bauern, bis der ihn zum Schweinehüten auf die Felder schickte. 16 Oft quälte ihn der Hunger so, dass er sogar über das Schweinefutter froh gewesen wäre. Aber nicht einmal davon erhielt er etwas.

17 Da kam er zur Besinnung: ‹Bei meinem Vater hat jeder Arbeiter mehr als genug zu essen, und ich sterbe hier vor Hunger. 18 Ich will zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich bin schuldig geworden an Gott und an dir. 19 Sieh mich nicht länger als deinen Sohn an, ich bin es nicht mehr wert. Aber kann ich nicht als Arbeiter bei dir bleiben?›

20 Er machte sich auf den Weg und ging zurück zu seinem Vater. Der erkannte ihn schon von weitem. Voller Mitleid lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Doch der Sohn sagte: ‹Vater, ich bin schuldig geworden an Gott und an dir. Sieh mich nicht länger als deinen Sohn an, ich bin es nicht mehr wert.›

22 Sein Vater aber befahl den Knechten: ‹Beeilt euch! Holt das schönste Gewand im Haus, und gebt es meinem Sohn. Bringt auch einen Ring und Sandalen für ihn! 23 Schlachtet das Mastkalb! Wir wollen essen und feiern! 24 Mein Sohn war tot, jetzt lebt er wieder. Er war verloren, jetzt ist er wiedergefunden.› Und sie begannen ein fröhliches Fest.

25 Inzwischen kam der ältere Sohn nach Hause. Er hatte auf dem Feld gearbeitet und hörte schon von weitem die Tanzmusik. 26 Erstaunt fragte er einen Knecht: ‹Was wird denn hier gefeiert?› 27 ‹Dein Bruder ist wieder da›, antwortete er ihm. ‹Dein Vater hat sich darüber so gefreut, dass er das Mastkalb schlachten ließ. Jetzt feiern sie ein großes Fest.›

28 Der ältere Bruder wurde wütend und wollte nicht ins Haus gehen. Da kam sein Vater zu ihm heraus und bat: ‹Komm und freu dich mit uns!› 29 Doch er entgegnete ihm bitter: ‹All diese Jahre habe ich mich für dich geschunden. Alles habe ich getan, was du von mir verlangt hast. Aber nie hast du mir auch nur eine junge Ziege gegeben, damit ich mit meinen Freunden einmal richtig hätte feiern können. 30 Und jetzt, wo dein Sohn zurückkommt, der dein Geld mit Huren durchgebracht hat, jetzt lässt du sogar das Mastkalb schlachten!›

31 Sein Vater redete ihm zu: ‹Mein Sohn, du bist immer bei mir gewesen. Was ich habe, gehört auch dir. 32 Darum komm, wir haben allen Grund zu feiern. Denn dein Bruder war tot, jetzt hat er ein neues Leben begonnen. Er war verloren, jetzt ist er wiedergefunden!›»

1 Die Menschen um Jesus

«Viele … kamen immer wieder zu Jesus, um ihn zu hören.»

Zwei Arten von Leuten

Die meisten Auslegungen dieses Gleichnisses haben sich auf die Flucht und die Rückkehr des jüngeren Bruders konzentriert – des «verlorenen Sohnes». Dies geht jedoch an der eigentlichen Botschaft der Geschichte vorbei, denn es gibt ja zwei Brüder, von denen jeder eine andere Form der Entfremdung von Gott und eine andere Art und Weise darstellt, nach Aufnahme im Himmelreich zu streben.

Es ist entscheidend, das historische Umfeld zu beachten, in das der Autor diese Predigt Jesu stellt. In den ersten beiden Versen des Kapitels nennt Lukas zwei Gruppen von Leuten, die gekommen waren, um Jesus zuzuhören. Zunächst waren da die «Zolleinnehmer und andere verrufene Leute». Diese Männer und Frauen entsprechen dem jüngeren Bruder. Sie beachteten weder die Moralgesetze der Bibel noch die Vorschriften für die kultische Reinheit, an die religiöse Juden sich hielten. Sie «leisteten sich, was immer sie wollten». Wie der jüngere Bruder verließen sie ihre Heimat, indem sie die moralischen Traditionen ihrer Familien und der angesehenen Gesellschaft hinter sich ließen.

Die zweite Zuhörergruppe waren die «Pharisäer und Schriftgelehrten», die durch den älteren Bruder repräsentiert wurden. Sie hielten an der traditionellen Moral fest, in der sie erzogen worden waren. Sie studierten die Heilige Schrift und gehorchten ihr. Sie besuchten treu die Gottesdienste und beteten ohne Unterlass.

Mit sparsamsten Mitteln zeigt Lukas, wie unterschiedlich diese beiden Gruppen auf Jesus reagierten. Die progressive Zeitform des griechischen Verbs, das mit «kamen immer wieder» übersetzt wird, macht deutlich, dass die Anziehungskraft Jesu auf die «jüngeren Brüder» ein beständiges Merkmal seines öffentlichen Wirkens war. Sie scharten sich permanent um ihn.

Dieses Phänomen war den rechtschaffenen und religiösen Leuten ein Rätsel und ein Dorn im Auge. Deren Empörung darüber fasst Lukas so zusammen: «Mit welchem Gesindel gibt der sich da ab! Er setzt sich sogar mit ihnen an einen Tisch!» Sich mit jemandem an einen Tisch zu setzen und mit ihm zu essen, war im antiken Orient ein Zeichen, dass man ihn akzeptierte. «Wie kann Jesus es wagen, sich mit solchen Sündern abzugeben?», fragten sie. «Diese Leute kommen nie in unsere Gottesdienste! Wieso kommen sie dann in Scharen gelaufen, wenn Jesus predigt? Was der ihnen verkündigt, kann ja wohl nicht die Wahrheit sein, so wie wir es tun. Er sagt ihnen bestimmt nur das, was sie gerne hören wollen!»

An wen richtet sich also Jesu Lehre in erster Linie in diesem Gleichnis? Sie richtet sich an die zweite Gruppe, an die Schriftgelehrten und Pharisäer. Als Antwort auf ihre Herzens-Einstellung beginnt Jesus mit der Erzählung des Gleichnisses. Das Gleichnis von den zwei Söhnen wirft einen gründlichen Blick in die Seele des älteren Bruders und gipfelt in einem eindringlichen Appell an ihn, seine Haltung zu ändern.

Wann immer dieser Text im Lauf der Jahrhunderte in Kirchen oder im Religionsunterricht behandelt wurde, lag das Augenmerk fast ausschließlich darauf, wie großzügig der Vater seinen bußfertigen jüngeren Sohn wieder bei sich aufnimmt. Als ich das Gleichnis zum ersten Mal hörte, stellte ich mir vor, wie Jesu ursprünglichen Zuhörern die Tränen kamen, als sie hörten, dass Gott sie immer lieben und willkommen heißen wird, was auch immer sie getan haben. Aber wenn wir das tun, ziehen wir das Gleichnis ins Sentimentale.