Befehl aus dem Dunkel - Hans Dominik - E-Book

Befehl aus dem Dunkel E-Book

Hans Dominik

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Beschreibung

Die Wissenschaft hat eine bahnbrechende Erfindung gemacht: die Gedankenübertragung mittels Ätherwellen. Eingeweihte in Ost und West wenden die Gedankenmanipulation skrupellos an. Sie werden zu heimlichen Herrschern über die Menschheit und bekämpfen einander mit allen Mitteln, bis die Eskalation in einem weltweiten Krieg mündet. In diesem Roman spielt Dominik mit einem uralten Traum der Menschheit: der Gedankenkontrolle. Europa, Asien und Australien sind die Schauplätze der spannenden Handlung, die uns der Urvater der deutschen Science Fiction kredenzt. Null Papier Verlag

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Hans Dominik

Befehl aus dem Dunkel

Kommentierte Originalfassung

Hans Dominik

Befehl aus dem Dunkel

Kommentierte Originalfassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Verlag Keil, Berlin, 1933 1. Auflage, ISBN 978-3-954187-34-8

null-papier.de/358

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Inhaltsverzeichnis

Der Au­tor

Zum Buch

Hin­weis

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Der Autor

Hans Do­mi­nik war der Pio­ni­er des uto­pi­schen Ro­mans in Deutsch­land und ei­ner der er­folg­reichs­ten deut­schen Po­pu­lär­schrift­stel­ler des 20. Jahr­hun­derts. Er wur­de 1872 in Zwickau ge­bo­ren und starb 1945 wäh­rend des Kriegs­en­des in Ber­lin. Ne­ben Science-Fic­ti­on hat Do­mi­nik auch Sach­bü­cher und Ar­ti­kel mit tech­nisch-wis­sen­schaft­li­chen In­hal­ten ver­fasst.

Sei­ne Ju­gend­jah­re wie auch den größ­ten Teil sei­nes Le­bens ver­brach­te er in Ber­lin. Am Gym­na­si­um in Go­tha be­geg­ne­te er dem Leh­rer Kurd Laß­witz (http://null-pa­pier.de/au­t­hor/kurd-lass­witz/), selbst ein frü­her Ver­fas­ser uto­pi­scher Ro­ma­ne. Man kann da­von aus­ge­hen, dass die­se Be­geg­nung nicht ohne Ein­fluss auf Do­mi­nik und sein spä­te­res Werk blieb.

Ab 1893 stu­dier­te Hans Do­mi­nik an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Ber­lin Ma­schi­nen­bau und Ei­sen­bahn­tech­nik. Spä­ter war er für meh­re­re Un­ter­neh­men im Be­reich der Gro­ß­in­dus­trie und des Berg­baus tä­tig, u.a. auch für Sie­mens.

Nach 1901 mach­te er sich als Fach­au­tor selb­stän­dig. Für Auf­trag­ge­ber aus der In­dus­trie ver­fass­te er Wer­be­bro­schü­ren und Pro­spek­te. Sei­ne Lei­den­schaft galt aber der auf­kom­men­den Science-Fic­ti­on Li­te­ra­tur oder bes­ser den »tech­ni­schen Aben­teu­er­ro­ma­nen«, wie die­se in Deutsch­land noch ge­nannt wur­den. Do­mi­nik war auch ab­seits der Li­te­ra­tur sehr um­trie­big, er grün­de­te ein Un­ter­neh­men und er­hielt meh­re­re Pa­ten­te auf dem Ge­biet der Au­to­mo­bil­tech­no­lo­gie.

Sein ers­ter uto­pi­scher Ro­man »Die Macht der Drei« er­schi­en 1922 als Fort­set­zungs­ge­schich­te und wur­de kurz dar­auf als Buch ver­öf­fent­licht. Ab 1924 wid­me­te sich Do­mi­nik ganz der Schrift­stel­le­rei, in Jah­res­ab­stän­den er­schie­nen wei­te­re Ro­ma­ne.

Ne­ben den rei­nen Aben­teu­er­ge­schich­ten für eine er­wach­se­ne Le­ser­schaft ver­öf­fent­lich­te er auch die (im­mer noch sehr stark vom tech­ni­schen Fort­schritt ein­ge­färb­ten) Ju­gend­ge­schich­ten um den Auf­stieg des John Work­man vom Zei­tungs­jun­gen zum Mil­lio­när: »John Work­mann, der Zei­tungs­boy« (1925).

Die wich­tigs­ten Wer­ke:

Die Macht der Drei, 1921

Die Spur des Dschin­gis-Khan, 1923

At­lan­tis, 1924/25

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de, 1925/26

Das Erbe der Ura­ni­den, 1926/27

Kö­nig Lau­r­ins Man­tel (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Un­sicht­ba­re Kräf­te), 1928

Kaut­schuk, 1929/30

Be­fehl aus dem Dun­kel, 1932/33

Der Wett­flug der Na­tio­nen. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 1, 1932/33

Ein Stern fiel vom Him­mel. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 2, 1933

Das stäh­ler­ne Ge­heim­nis, 1934

Atom­ge­wicht 500, 1934/35

Him­mels­kraft, 1937

Le­bens­strah­len, 1938

Land aus Feu­er und Was­ser. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 3, 1939

Treib­stoff SR. (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Flug in den Wel­ten­raum oder Fahrt in den Wel­traum.) 1939/40

Zum Buch

Die Wis­sen­schaft hat eine bahn­bre­chen­de Er­fin­dung ge­macht: die Ge­dan­ken­über­tra­gung mit­tels Äther­wel­len. Ein­ge­weih­te in Ost und West wen­den die Ge­dan­ken­ma­ni­pu­la­ti­on skru­pel­los an. Sie wer­den zu heim­li­chen Herr­schern über die Mensch­heit und be­kämp­fen ein­an­der mit al­len Mit­teln, bis die Es­ka­la­ti­on in ei­nem welt­wei­ten Krieg mün­det.

In die­sem Ro­man spielt Do­mi­nik mit ei­nem ur­al­ten Traum der Mensch­heit: der Ge­dan­ken­kon­trol­le. Eu­ro­pa, Asi­en und Aus­tra­li­en sind die Schau­plät­ze der span­nen­den Hand­lung, die uns der Ur­va­ter der deut­schen Science Fic­ti­on kre­denzt.

»Al­les habe ich ver­sucht! … Habe mich mit al­len mei­nen kör­per­li­chen und geis­ti­gen Kräf­ten ge­gen den Zwang der Ge­dan­ken­wel­len, die von die­ser Wachs­plat­te her­kom­men, ge­wehrt … je­der Wi­der­stand um­sonst! Ich bin un­ter­le­gen«, stieß es rau aus sei­ner Keh­le.

Hinweis

Die Buch-Erst­aus­ga­be ist im April 1933 im Ver­lag E. Keils Nachf., Ber­lin er­schie­nen. Ein Vor­ab­druck als Fort­set­zungs­ro­man in 11 Fol­gen er­schi­en in der Zeit­schrift »Die Wo­che« von No. 7 (18. Fe­bru­ar 1933) bis No. 18 (06. Mai 1933).

Es wur­den vom Ver­le­ger geo­gra­fi­sche Be­zeich­nun­gen kor­ri­giert. Wo dies nicht sinn­voll oder mög­lich war, er­folg­te eine Kom­men­tie­rung in Fuß­no­ten.

1

›Sämt­li­che po­li­ti­schen Ge­fan­ge­nen sind so­fort in Frei­heit zu set­zen. Ge­ne­ral Iwa­now.‹

Wäre der Blitz in das Gou­ver­ne­ments­ge­bäu­de von Ir­kutsk ge­schla­gen, Ver­wir­rung und Auf­re­gung hät­ten nicht grö­ßer sein kön­nen. Wie ein Lauf­feu­er ging die Kun­de von die­sem un­be­greif­li­chen Er­lass des Ober­be­fehls­ha­bers durch den Rie­sen­bau.

Alle po­li­ti­schen Ge­fan­ge­nen frei­ge­las­sen? Ja so­gar die be­reits zum Tode Ver­ur­teil­ten?! Was war ge­sche­hen? War der Ge­ne­ral wahn­sin­nig ge­wor­den? War eine neue Re­vo­lu­ti­on aus­ge­bro­chen?

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter war das Zim­mer des Ge­ne­rals an­ge­füllt von ei­nem Schwarm hö­he­rer Be­am­ter und Of­fi­zie­re, die ihn mit Fra­gen be­stürm­ten, auf ihn ein­spra­chen. Doch im­mer nur die eine Ant­wort aus Iwa­nows Mun­de: ›Die Ge­fan­ge­nen sind un­schul­dig. Au­ßer­dem liegt ihre Ent­las­sung im Staats­in­ter­es­se.‹

Wa­ren es wirk­lich die Wor­te des Ge­ne­rals oder war es et­was an­de­res – eine Stim­me nach der an­de­ren ver­stumm­te. Die er­reg­ten Ge­sich­ter glät­te­ten sich mehr und mehr … dann alle in nach­denk­li­chem Schwei­gen, und dann … nick­ten die einen zu­stim­mend, die an­de­ren spra­chen laut her­aus, es kön­ne gar kei­nem Zwei­fel un­ter­lie­gen, dass das Staats­in­ter­es­se die Frei­las­sung der Ge­fan­ge­nen er­for­de­re … sie sei­en völ­lig un­schul­dig.

War die­ser plötz­li­che Stim­mungs­wech­sel der Ver­sam­mel­ten schon recht son­der­bar, so war auch ihr wei­te­res Ver­hal­ten über­aus merk­wür­dig. An­statt nun nach Er­le­di­gung der An­ge­le­gen­heit das Zim­mer zu ver­las­sen, ver­blie­ben sie noch eine vol­le Stun­de bei Iwa­now, ohne au­ßer ein paar gleich­gül­ti­gen Re­dens­ar­ten über die Ge­fan­ge­nen wei­te­re Wor­te zu wech­seln.

Als aber ge­gen Mit­tag der Ge­ne­ral und die an­de­ren das Zim­mer ver­las­sen hat­ten, dau­er­te es nur we­ni­ge Mi­nu­ten, da gell­ten nach ei­ner kur­z­en Be­spre­chung Iwa­nows mit den an­de­ren Her­ren bei al­len Be­hör­den die Te­le­fon­klin­geln: ›Be­fehl des Ge­ne­rals, die vor ei­ner Stun­de ent­las­se­nen po­li­ti­schen Ge­fan­ge­nen so­fort wie­der zu ver­haf­ten und in das Ge­fäng­nis ein­zu­lie­fern.‹ Bis auf eine der Ge­fan­ge­nen, ein jun­ges Mäd­chen na­mens Ly­dia All­ger­mis­sen, wur­den die üb­ri­gen als­bald wie­der fest­ge­nom­men.

Am Nach­mit­tag des­sel­ben Ta­ges be­rief Iwa­now sämt­li­che Her­ren, die am Mit­tag bei ihm ge­we­sen wa­ren, zu ei­ner Be­spre­chung zu sich. Noch ehe man dazu kam, sich über das Un­be­greif­li­che, Un­fass­ba­re, das sich vor ein paar Stun­den in die­sem Raum zu­ge­tra­gen hat­te, aus­zu­spre­chen, spran­gen alle wie auf ein ge­ge­be­nes Kom­man­do auf und be­weg­ten sich in leb­haf­ten Tanz­schrit­ten durch den Raum. Gleich­zei­tig er­schi­en vor dem Fens­ter, das nach dem Gar­ten zu ging, ein al­ter, ein­fach ge­klei­de­ter Mann, der sich über das Bild im Zim­mer aufs höchs­te be­lus­tig­te. Wäh­rend sei­ne Hän­de un­auf­hör­lich den Takt zu dem Tanz im Gou­ver­neurs­zim­mer schlu­gen, spru­del­te sein Mund von hef­ti­gen Ver­wün­schun­gen und bos­haf­tem Ge­ki­cher über.

Plötz­lich öff­ne­te sich die Tür zu dem Zim­mer und ein jun­ger Of­fi­zier in Mel­de­uni­form, den Stahl­helm auf dem Kopf, trat her­ein. Wie an­ge­wur­zelt blieb er ste­hen und starr­te wie be­täubt auf die son­der­ba­re Sze­ne. Dann such­ten sei­ne Au­gen die des Ge­ne­rals, und was er dar­in las, er­füll­te ihn mit schreck­haf­tem Ent­set­zen. Angst, Wut, tiefs­te Be­schä­mung spra­chen nur zu deut­lich dar­aus.

Un­fä­hig, den Mund zu ei­ner Fra­ge zu öff­nen, einen Ent­schluss zu fas­sen, stand der Of­fi­zier. Da fiel sein Blick auf das Fens­ter, hin­ter dem der Alte mit krei­schen­den Freu­den­ru­fen die Sze­ne be­glei­te­te. Blitz­ar­tig kam dem Of­fi­zier der Ge­dan­ke, dass der dort drau­ßen viel­leicht durch Hyp­no­se oder sug­ge­s­ti­ven Zwang den Ge­ne­ral und die an­de­ren zu die­sen je­der Ver­nunft und Sit­te hohn­spre­chen­den Tanz­be­we­gun­gen ver­an­las­se. Mit ei­nem Sprung war er am Fens­ter und schoss durch die Schei­be hin­durch den Al­ten in den Kopf, dass der so­fort tot um­sank.

Doch sei­ne schnel­le Ver­mu­tung be­stä­tig­te sich nicht. Die Ver­sam­mel­ten tanz­ten un­ent­wegt wei­ter, ob­wohl ei­ni­ge der äl­te­ren Her­ren sich nur noch mit Mühe auf den Fü­ßen hiel­ten. Kaum noch Herr sei­ner Sin­ne, woll­te der Of­fi­zier aus dem Zim­mer ei­len und Hil­fe ho­len, da war der Tanz plötz­lich zu Ende. Ver­wirrt, atem­los, er­schöpft tau­mel­ten die son­der­ba­ren Tän­zer zu den nächst­bes­ten Sitz­ge­le­gen­hei­ten. Iwa­now gab …

2

Dies stand ge­druckt in der neu­en Aus­ga­be der »Dai­ly Mail«, die ein schla­fen­der Pas­sa­gier im D-Zug Aa­chen-Pa­ris lose in der Hand hielt. Sein Ge­gen­über hat­te weit vor­ge­beugt den Text bis hier­hin mit größ­tem In­ter­es­se le­sen kön­nen. Wie ging die merk­wür­di­ge Ge­schich­te wei­ter? Wer hat­te das ge­schrie­ben?

Fie­bernd vor Neu­gier­de und Un­ge­duld hät­te Ge­org As­ten­ryk dem Schla­fen­den am liebs­ten die Zei­tung fort­ge­nom­men. Är­ger­lich warf er sich auf sei­nen Sitz zu­rück, da traf sein Blick das et­was be­lus­tig­te Ge­sicht sei­nes Rei­se­ge­fähr­ten zur Rech­ten. Der moch­te über sein Buch hin­weg wohl et­was von die­ser Lek­tü­re mit Hin­der­nis­sen be­ob­ach­tet ha­ben und reich­te ihm jetzt lä­chelnd eine Zei­tung.

»Bit­te, Herr As­ten­ryk. Das ist die­sel­be Num­mer der ›Dai­ly Mail‹, die Sie an­schei­nend so in­ter­es­siert. Sie kön­nen sie gern er­hal­ten. Ich habe sie ge­le­sen.«

Et­was ver­le­gen nahm Ge­org As­ten­ryk das Blatt an sich. »Sehr lie­bens­wür­dig, Herr Ma­jor. Mei­nen ver­bind­lichs­ten Dank.« –

Der Zug hielt in Com­pièg­ne.1 Ma­jor Dale er­hob sich und reich­te Ge­org As­ten­ryk die Hand zum Ab­schied. »Es war mir eine an­ge­neh­me Be­kannt­schaft. Vi­el­leicht fügt es das Schick­sal, dass wir uns spä­ter noch ein­mal wie­der­se­hen.«

»Das wür­de mich sehr freu­en, Herr Ma­jor. Soll­te der Zu­fall Sie in Aus­tra­li­en ge­le­gent­lich wie­der mit mei­nem Bru­der Jan zu­sam­men­brin­gen, grü­ßen Sie ihn bit­te.«

Der Zug rück­te an. Ge­org As­ten­ryk sah dem Rei­se­ge­fähr­ten nach, bis der an ei­nem Au­to­stand sei­nen Bli­cken ent­schwand. Ein her­vor­ra­gen­der Mensch, die­ser Ma­jor Dale aus Syd­ney, dach­te er da­bei. Na­tür­lich, sonst wäre er ja nicht nach Lon­don in den Ge­ne­ral­stab be­ru­fen. Man wird von ihm viel­leicht noch hö­ren, wenn es wirk­lich im Fer­nen Os­ten zu der großen Aus­ein­an­der­set­zung kommt. Was er über die ge­spann­te Lage da­hin­ten er­zähl­te, war in­ter­essant. Da­nach ist ja eher frü­her als spä­ter ein Krieg zu er­war­ten. Dass er da drü­ben auch Jan ken­nen­ge­lernt hat … die Welt ist doch wirk­lich ein Dorf. –

Auch der Aus­tra­lier hat­te von sei­nem deut­schen Rei­se­ge­fähr­ten einen nach­hal­ti­gen Ein­druck emp­fan­gen. Im An­fang der Fahrt, ehe sie mit­ein­an­der ins Ge­spräch ge­kom­men, hat­te er sich im­mer wie­der ge­fragt: Was ist das für ein Mensch da drü­ben? Was kann der sein? Die­ser Zwie­spalt in den star­ken, aber doch kla­ren Ge­sichts­zü­gen. Die hohe Stirn, die klu­gen Au­gen des Ge­lehr­ten über dem kräf­ti­gen Kinn des Tat­men­schen. Er muss­te mit ihm be­kannt wer­den, um über des­sen Per­sön­lich­keit Auf­klä­rung zu be­kom­men. Es über­rasch­te ihn, als er er­fuhr, wie jung sein Ge­gen­über noch war. Er hät­te ihn ohne wei­te­res zehn Jah­re äl­ter ge­schätzt. Der schi­en aus an­de­rem Holz ge­schnitzt als sein Halb­bru­der Jan Val­ver­de in Aus­tra­li­en. Der war wohl ein ganz gu­ter Far­mer, aber auch nicht mehr als das. Die­ser As­ten­ryk über­rag­te ihn je­den­falls turm­hoch an geis­ti­gen Kräf­ten. –

Ge­org As­ten­ryk ent­fal­te­te jetzt die Zei­tung Da­les und nahm sich den Auf­satz vor, der ihn so in­ter­es­siert hat­te. Der Ar­ti­kel trug die Über­schrift »Erin­ne­run­gen ei­nes rus­si­schen Arz­tes von Dr. Ni­ko­lai Ro­stow«. Er las ihn von der Stel­le wei­ter, bis zu der er vor­her ge­kom­men war.

»… Ge­ne­ral Iwa­now gab dem Of­fi­zier den Be­fehl, nie­mand in das Zim­mer hin­ein­zu­las­sen. Nach ei­ner län­ge­ren Be­spre­chung ver­pflich­te­te er alle An­we­sen­den bis zur Klä­rung der An­ge­le­gen­heit zu strengs­tem Schwei­gen.

Die Vor­gän­ge in Ir­kutsk wa­ren auch in Mos­kau be­kannt­ge­wor­den und die Re­gie­rung schick­te so­fort einen Stab her­vor­ra­gen­der Kri­mi­na­lis­ten und Ge­lehr­ter, dar­un­ter auch mei­nen Freund, den Ge­ne­ral­arzt Or­low, von dem ich die­se Mit­tei­lun­gen habe, dort­hin.

Die pein­lichst ge­nau durch­ge­führ­te Un­ter­su­chung er­gab je­doch nichts, das ge­eig­net ge­we­sen wäre, den Schlei­er des Ge­heim­nis­ses zu lüf­ten.

Der von dem Of­fi­zier er­schos­se­ne alte Mann war als ein Pro­fes­sor All­ger­mis­sen fest­ge­stellt wor­den. Die­ser, ein Deutsch­bal­te, als po­li­tisch Ver­däch­ti­ger nach Ir­kutsk ver­bannt, ar­bei­te­te in dem staat­li­chen La­bo­ra­to­ri­um als As­sis­tent un­ter dem Di­rek­tor des In­sti­tuts. Er hat­te schon frü­her als Son­der­ling ge­gol­ten, als Wis­sen­schaft­ler ge­noss er einen vor­züg­li­chen Ruf.

Schon mehr­mals hat­te man Ver­dacht, dass All­ger­mis­sen Ar­bei­ten, de­ren Re­sul­ta­te schon greif­bar schie­nen, ab­sicht­lich falsch aus­lau­fen ließ oder zum we­nigs­ten stark ver­zö­ge­re. In der letz­ten Zeit hat­te der Pro­fes­sor sei­nen Hass ge­gen die Re­gie­rung in mehr oder we­ni­ger ver­steck­ten Re­dens­ar­ten zum Aus­druck ge­bracht. Als er sich so­gar in of­fen­kun­di­gen Droh­re­den er­ging, steck­te man ihn und gleich­zei­tig sei­ne Frau und sei­ne Toch­ter Ly­dia ins Ge­fäng­nis. Wäh­rend der Un­ter­su­chung starb Frau All­ger­mis­sen. Pro­fes­sor All­ger­mis­sen, der schon gleich nach sei­ner Ver­haf­tung von den Ärz­ten als et­was geis­tes­ge­stört be­zeich­net wur­de, ver­fiel jetzt in völ­li­gen Wahn­sinn. Er wur­de nach der Kran­ken­ab­tei­lung des Ge­fäng­nis­ses ge­bracht, aus der er dann an je­nem Tage un­ter al­ler­dings sehr auf­fäl­li­gen Um­stän­den ent­floh.

Un­ter den auf je­nen rät­sel­haf­ten Be­fehl des Ge­ne­rals Iwa­now aus dem Ge­fäng­nis Ent­las­se­nen be­fand sich auch Ly­dia All­ger­mis­sen. Sie hat­te sich vom Ge­fäng­nis nach ih­rer frü­he­ren Woh­nung be­ge­ben. Von die­sem Zeit­punkt ab war sie ver­schwun­den.

Nach­dem die Mos­kau­er Kom­mis­si­on sich lan­ge Zeit ver­geb­lich be­müht hat­te, eine trif­ti­ge Auf­klä­rung der ge­heim­nis­vol­len Vor­fäl­le zu ge­ben, be­gnüg­te man sich schließ­lich mit der plau­si­blen An­nah­me, dass Pro­fes­sor All­ger­mis­sen über un­ge­wöhn­lich star­ke hyp­no­ti­sche Kräf­te ver­fügt ha­ben müs­se. –

Dr. Or­low hat sich mit mir und auch mit an­de­ren Fach­leu­ten ver­geb­lich be­müht, eine bes­se­re, ei­ni­ger­ma­ßen wis­sen­schaft­li­che Er­klä­rung zu fin­den. Vi­el­leicht, dass ein Le­ser frü­her oder spä­ter die rich­ti­ge Lö­sung fin­det.«

Da­mit schloss der Ar­ti­kel in der »Dai­ly Mail«. Ge­org As­ten­ryk ließ das Blatt sin­ken und nick­te nach­denk­lich vor sich hin, als wol­le er sa­gen: Ich habe die Er­klä­rung zum Teil schon ge­fun­den, mein lie­ber Herr Dok­tor Ro­stow. Er barg die Zei­tung sorg­fäl­tig in sei­ner Brust­ta­sche, dach­te da­bei: Jetzt, wo ich den Be­richt mei­nes Freun­des Lön­holdt von solch au­then­ti­scher Sei­te be­stä­tigt fin­de, wer­de ich mich et­was ernst­haf­ter mit dem be­schäf­ti­gen, was ich von All­ger­mis­sen weiß.

»An Zeit man­gelt es mir ja nicht«, sag­te er mit ei­nem bit­te­ren Zug um die Lip­pen lei­se vor sich hin, »seit­dem ich die Lei­tung der Fir­ma As­ten­ryk und Kom­pa­nie dem Kon­kurs­ver­wal­ter über­las­sen muss­te …«

Dach­te dann wei­ter … die­ser All­ger­mis­sen … Ge­nie oder Wahn­sinn? … Ge­nie und Wahn­sinn? … Dass der schwer geis­tes­krank ge­we­sen, stand wohl au­ßer Zwei­fel … Wie oft hat­te er des­we­gen die Be­schäf­ti­gung mit dem Pro­blem All­ger­mis­sens bei­sei­te­ge­scho­ben, hat­te sich ge­sagt: Es sind doch nur die Ide­en ei­nes Ver­rück­ten …

Und doch! Jetzt, wo er Lön­holdts Be­richt durch den rus­si­schen Arzt in je­der Be­zie­hung be­stä­tigt fand, jetzt muss­ten sol­che Zwei­fel schwin­den. Jetzt durf­te ihm selbst das Be­neh­men All­ger­mis­sens in der Nacht vor sei­ner Ver­haf­tung nicht mehr als das ei­nes völ­lig Wahn­sin­ni­gen er­schei­nen.

Was stand dar­über in Lön­holdts Ta­ge­buch? Pro­fes­sor All­ger­mis­sen hat­te in je­ner Nacht in wil­dem Tri­umph­ge­heul ge­schri­en: »Tod und Ver­nich­tung al­len Bol­sche­wi­ken! … Ich bin der Herr der Welt! … Die gan­ze Mensch­heit ist mir un­ter­tä­nig!« Jetzt muss­te tat­säch­lich das Un­ge­heu­er­lichs­te mög­lich wer­den kön­nen. Jetzt muss­te man den Wor­ten All­ger­mis­sens einen rea­ler Sinn zu­ge­ste­hen, auch wenn man, wei­ter den­kend, auf un­heim­lich phan­tas­ti­sche Fol­gen und Zie­le stieß …

Ge­orgs Ge­dan­ken wan­der­ten. Sei­ne in­ner­li­che Er­re­gung stei­ger­te sich mehr und mehr. »Mein Gott!«, rief er schließ­lich laut aus, »man könn­te ja auch wahn­sin­nig wer­den, wenn man das al­les bis zum letz­ten Ende durch­denkt. Ja, wahn­sin­nig könn­te man wer­den … wie es auch All­ger­mis­sen wur­de … wur­de, nicht war.«

Er schrak zu­sam­men. Ein Schaff­ner trat in die Tür und re­gu­lier­te die Platz­mar­ken. Ein Blick aus dem Fens­ter zeig­te Ge­org As­ten­ryk schon die ho­hen Hin­ter­wän­de der städ­ti­schen Häu­ser. Ein Blick auf die Uhr: in we­ni­gen Mi­nu­ten wür­de er sei­ne Ver­lob­te Anne Esche­loh in die Arme schlie­ßen.

Der Zug lief in den Nord­bahn­hof ein. »Pa­ris!« An der Sper­re er­blick­te er von wei­tem Anne. Sie hat­te ihn noch nicht ge­se­hen. Sei­ne Au­gen hin­gen an dem schö­nen, rei­nen Pro­fil sei­ner Ver­lob­ten. Er wink­te ihr zu. Sie er­kann­te ihn, wink­te wi­der, Und dann stand er vor ihr … er­schrak.

»Anne! Lie­be Anne!« Ei drück­te sie fest an sich. »Anne!« … Freu­de und Er­schre­cken la­gen in sei­ner Stim­me. Wie hat­te sich ihr Ge­sicht ver­än­dert, dass selbst die Freu­de des Wie­der­se­hens nicht die tie­fen Schat­ten ver­wi­schen konn­te, die auf ih­ren Zü­gen la­gen!

Er kann­te Anne zu gut. Sie hat­te ei­nes je­ner Ge­sich­ter, die zwar ge­lernt ha­ben sich zu be­herr­schen, die aber zu durch­sich­tig sind, um die Re­gun­gen der See­le zu ver­ber­gen. Die­ser frem­de Zug um den Mund, die­se ver­schlei­er­ten Au­gen spra­chen von in­ne­rem Leid.

»Ge­org! Mein lie­ber, gu­ter Ge­org! Wie freue ich mich, dich wie­der zu ha­ben.«

»Und ich auch, mein Lieb­ling. Wenn wir uns auch un­ter trau­ri­gen Um­stän­den …«

»Nicht jetzt! Ach, sprich jetzt nicht wei­ter da­von, Ge­org. Lass uns die Freu­de des Wie­der­se­hens ge­nie­ßen … spä­ter da­von. Wir wol­len gleich zu uns fah­ren. Du wohnst auch, wie mein Schwa­ger For­bin und He­le­ne, in der Pen­si­on Pel­lo­nard in der Rue Fré­mont. Ein Zim­mer ist für dich re­ser­viert.«

»Ach, das ist ja wun­der­voll, dass wir zu­sam­men­woh­nen, Anne. Um so mehr wer­den wir von­ein­an­der ha­ben.«

Sie gin­gen zu dem Ta­xi­stand und fuh­ren zur Rue Fré­mont. Al­fred und He­le­ne For­bin wa­ren nicht zu Hau­se. Ge­org war dar­über nicht böse. Al­lein mit Anne, schloss er sie in zärt­li­chem Mit­leid in die Arme.

»Anne! Du bist so ver­än­dert. Drückt dich et­was? Nach dei­nem Brie­fe schienst du mir … ich will nicht sa­gen, glück­lich … aber doch ganz zu­frie­den mit dei­nem Auf­ent­halt hier. Fühlst du dich nicht wohl bei dei­nem Schwa­ger, oder ist es was an­de­res?«

Anne Esche­loh wand­te sich zur Sei­te.

»Ach … spre­chen wir doch nicht da­von, Ge­org! Wa­rum soll ich nicht zu­frie­den sein, da es mir ja an nichts fehlt? Ich muss nur im­mer an dich den­ken. Was hast du nicht al­les in der letz­ten Zeit durch­ma­chen müs­sen! Der Tod dei­nes Va­ters, die Hy­po­the­ken­ge­schich­te und nun gar der Kon­kurs eu­res al­ten Wer­kes … Was wirst du an­fan­gen, wenn sie dir al­les ge­nom­men ha­ben?«

»Anne! Ist es wirk­lich nur das? Hast du nicht auch an­de­ren Kum­mer? Ich möch­te dir ja so gern glau­ben, aber ich kann es nicht. Um mich brauchst du dich kei­nes­falls zu sor­gen. Ich wer­de schon durch­kom­men. Aber dass du dich hier auch nur ei­ni­ger­ma­ßen wohl fühlst … ich kann’s nicht glau­ben, Anne!

Als da­mals dein Va­ter starb und du dich die­sem zwei­fel­haf­ten For­bin – ver­zeih, dass ich von dem Mann dei­ner Schwes­ter so spre­che – an­schlos­sest, da dach­te ich mir: Lan­ge soll das nicht dau­ern, dann hole ich dich mir wie­der. Die Ha­lun­ken, die mich zum Kon­kurs brach­ten, ha­ben auch durch die­sen Plan einen Strich ge­macht … vor­läu­fig … denn Anne, mei­ne lie­be Anne, wenn du zu mir hältst … ich wer­de nie von dir las­sen. Und ein­mal wird ja doch der Tag kom­men, wo …«

»Ge­org, schwei­ge doch! Was sprichst du da! Ich soll­te nicht im­mer zu dir hal­ten? Was auch kom­men mag, ich las­se dich nicht.

Aber er­zäh­le doch jetzt, wie es mög­lich war, dass du für dein gut­ge­hen­des Werk nicht das Geld auf­trei­ben konn­test, um den Kon­kurs ab­zu­wen­den?«

Es war eine trau­ri­ge Ge­schich­te, die Ge­org zu er­zäh­len hat­te. Die große Hy­po­thek von den Er­ben des frü­he­ren Teil­ha­bers ver­kauft, von dem neu­en Be­sit­zer über­ra­schend ge­kün­digt. Kei­ne Mög­lich­keit, so schnell das Ka­pi­tal für die Rück­zah­lung zu be­schaf­fen. Dazu bös­wil­li­ge Gerüch­te über den Stand der Fir­ma … der schwe­re Gang zum Kon­kurs­rich­ter un­ver­meid­lich.

Und das al­les nur dunkle Ma­chen­schaf­ten ei­ner fran­zö­si­schen In­ter­es­sen­grup­pe, um ihn zu zwin­gen, die her­an­rei­fen­den Früch­te ei­ner jah­re­lan­gen Er­fin­der­tä­tig­keit de­nen aus­zu­lie­fern.

»Hast du schon ir­gend­wel­che Plä­ne für die Zu­kunft, Ge­org?«

»Ge­wiss habe ich al­ler­hand Plä­ne. Aber ich kann zur Zeit lei­der noch nicht sa­gen, was sich da­von ver­wirk­li­chen lässt. Je­den­falls muss ich, so­lan­ge der Kon­kurs dau­ert, in Neu­stadt blei­ben. Das wird sich wohl noch ei­ni­ge Wo­chen hin­zie­hen.«

»Ja, aber wie wird’s denn mit dei­nen Ar­bei­ten? Ich mei­ne dei­ne Er­fin­dung … die elek­tri­sche Koh­len­bat­te­rie?«

»Das ist ja ge­ra­de die Fra­ge, die so schwer zu lö­sen ist. Wäre ich frei von dem Ban­ne, in dem sie mich hält, wäre es an­ders. Ich wer­de ganz wahr­schein­lich das freund­li­che Aner­bie­ten der Tan­te Mila in Mün­chen an­neh­men. Sie will mir zur Fort­füh­rung mei­ner Ar­bei­ten ihr Alm­haus am Wil­den Rain oben in den baye­ri­schen Ber­gen zur Ver­fü­gung stel­len und mich, so­weit es ihre be­schei­de­nen Mit­tel er­lau­ben, un­ter­stüt­zen.«

»Ach, das ist ja sehr lieb von der gu­ten Tan­te«, un­ter­brach ihn Anne.

Über Ge­orgs Ge­sicht ging ein Schat­ten.

»Ge­wiss, Anne! Ich bin na­tür­lich Tan­te Mila sehr dank­bar da­für, aber es fällt mir nicht leicht, ihr Aner­bie­ten an­zu­neh­men. Sie lebt von ih­rer Wit­wen­pen­si­on und muss sich jetzt wahr­schein­lich et­was ein­schrän­ken. Das ist mir im höchs­ten Gra­de un­an­ge­nehm. Ich, ein jun­ger, kräf­ti­ger Mensch, der et­was ge­lernt hat, soll ei­ner al­ten, kränk­li­chen Ver­wand­ten auf der Ta­sche lie­gen!

Aber ich tu’s – fast möch­te ich sa­gen, muss es tun –, um mich mit vol­ler Kon­zen­tra­ti­on und aus­schließ­lich mei­nen Er­fin­der­ar­bei­ten wid­men zu kön­nen. Der Ge­dan­ke, da­durch viel­leicht Jah­re spa­ren zu kön­nen, lässt mich das al­les vor mir selbst ver­ant­wor­ten. Die­se fremd­län­di­sche Er­pres­ser­ge­sell­schaft soll sich je­den­falls in mir ge­täuscht ha­ben. Was auch kom­men mag, ich wer­de nicht zu Kreu­ze krie­chen. Also …«

Schrit­te, die sich auf dem Flur drau­ßen nä­her­ten, lie­ßen ihn ver­stum­men. Gleich dar­auf öff­ne­te sich die Tür und An­nes Schwes­ter He­le­ne trat in das Zim­mer.

Frau He­le­ne For­bin war eine sel­ten schö­ne Er­schei­nung, und wer sie nä­her kann­te, wuss­te nicht, was er mehr be­wun­dern soll­te: ihre äu­ße­re Schön­heit oder ih­ren glän­zen­den Geist? Eine Frau von Welt vom Schei­tel bis zur Soh­le. Wie war es mög­lich, dass eine sol­che Frau ei­nem Mann wie Al­fred For­bin, ei­nem Ha­sar­deur, ei­nem Glücks­rit­ter, die Hand ge­reicht hat­te? Die­se Ge­dan­ken, wie schon so oft, bei Ge­org As­ten­ryk, wäh­rend er auf sie zu­ging.

»Ah! Ge­org! Ich freue mich sehr, Sie hier zu se­hen. Das wa­ren ja trau­ri­ge Nach­rich­ten aus Neu­stadt. Wir alle ha­ben Sie von gan­zem Her­zen be­dau­ert. Wie lan­ge ge­den­ken Sie bei uns in Pa­ris zu blei­ben? Ent­schul­di­gen Sie die Fra­ge! Es wür­de uns na­tür­lich eine be­son­de­re Freu­de sein, wenn Sie recht lan­ge hier­blei­ben könn­ten … oh! Was sa­gen Sie … nur drei Tage? Das ist ja sehr kurz. Anne, bist du da­mit so ohne wei­te­res ein­ver­stan­den?« Sie leg­te die Hand um die Schul­ter der Schwes­ter.

Ge­org merk­te wohl, wie Anne kaum merk­lich zur Sei­te wich, um die Hand He­le­nes ab­zu­strei­fen. Er kam sei­ner Ver­lob­ten zu Hil­fe. »Sie ver­ges­sen ganz, He­le­ne, dass ich zu Hau­se lei­der nicht län­ge­re Zeit ent­behr­lich bin. Der Kon­kurs­ver­wal­ter braucht mich not­wen­dig bei der Ab­wick­lung der Ge­schäf­te. Die­se Rei­se nach Pa­ris er­folgt ja auch nur in sei­nem Auf­trag, um mit ei­ni­gen Schuld­nern des Wer­kes Rück­spra­che zu neh­men.«

»Nun, dann ist es un­se­re Sa­che, Ih­nen die­se kur­ze Zeit recht ver­gnügt und an­ge­nehm zu ma­chen. Den heu­ti­gen Abend wer­den wir aber un­ter uns blei­ben. Al­fred lässt sich ent­schul­di­gen, dass er erst spä­ter kom­men kann. Er hat ge­schäft­li­che Ab­hal­tun­gen. Zur Si­cher­heit will ich ver­su­chen, ihn te­le­fo­nisch zu er­rei­chen.«

In dem­sel­ben Au­gen­blick ras­sel­te das Te­le­fon im Ne­ben­zim­mer.

»Vi­el­leicht ist es Al­fred.« He­le­ne ging hin­aus, nahm den Hö­rer.

»Bist du da, He­le­ne?«, klang For­bins Stim­me an ihr Ohr. »Gut! Ja! So höre … ist As­ten­ryk ge­kom­men? Wie? Er wird nur drei Tage hier­blei­ben? Dann müs­sen wir uns be­ei­len. Wie sagst du? Wann ich kom­me? Das ist noch un­be­stimmt. Ich bin hier in der Fédéra­ti­on In­dus­tri­el­le und war­te auf Ra­co­ni­er. Ich wer­de spä­ter noch mal an­ru­fen.«

For­bin leg­te den Hö­rer auf. Als er aus der Zel­le trat, traf er Ra­co­niers Se­kre­tä­rin.

»Eine Fra­ge bit­te, mein Fräu­lein. Ist Herr Che­f­in­ge­nieur Ra­co­ni­er schon da?«

»Nein, er ist noch im Wirt­schafts­mi­nis­te­ri­um, wird aber si­cher bald kom­men.«

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3

»Bit­te, Herr Ra­co­ni­er, nichts wei­ter da­von!« Mi­nis­ter Du­roy hielt mit gut­ge­spiel­tem Ent­set­zen die Hän­de an die Ohren. »Mit wel­chen Mit­teln Sie Ihr Ziel er­rei­chen, ist ganz Ihre Sa­che. So weit er­streckt sich das Ih­nen zu­ge­si­cher­te Wohl­wol­len nicht. Mich kann und darf nur in­ter­es­sie­ren, was Sie mir da über das Pro­blem der hun­dert­pro­zen­ti­gen Koh­len­aus­nut­zung er­zähl­ten und von die­sem Deut­schen As­ten­ryk, der der Lö­sung so nahe ge­kom­men ist. Das ist ja eine wun­der­ba­re Sa­che, als Nicht­tech­ni­ker habe ich Ihre Aus­füh­run­gen un­ge­fähr so ver­stan­den: Man hat da ein Ge­fäß, etwa so wie ein Ak­ku­mu­la­tor am Auto … mei­net­we­gen zehn- oder zwan­zig­mal so groß. In die­sem Ge­fäß ist die eine Elek­tro­de als ein Koh­len­be­häl­ter aus­ge­bil­det. Jetzt gießt man an­statt der Schwe­fel­säu­re ir­gend­ei­ne an­de­re che­mi­sche Flüs­sig­keit hin­ein. Dann schal­tet man das Ding an die Licht­lei­tung und schon bren­nen die Lam­pen. Nach ei­ni­ger Zeit wird die Koh­le im Ak­ku­mu­la­tor ver­schwun­den sein. Eine neue Por­ti­on Koh­le hin­ein und schon ist wie­der al­les in Ord­nung.«

»Ganz recht, Herr Mi­nis­ter! So ist es! Der Herr Mi­nis­ter hat auch ganz rich­tig das Wort be­tont, ›ver­schwun­den‹. Denn das ist ge­ra­de das Wort, wor­auf es an­kommt. Ver­schwun­den, das heißt in die­sem Fal­le rest­los aus­ge­nutzt. An­ders aus­ge­drückt, das Pro­blem der hun­dert­pro­zen­ti­gen Um­wand­lung der Koh­len­ener­gie in Elek­tri­zi­tät ist da­mit ge­löst.«

»Da kann ich mir den­ken, Herr Che­f­in­ge­nieur, dass al­ler­dings, wie Sie sag­ten, in al­len Tei­len der Welt eif­rig an die­sem Pro­blem ge­ar­bei­tet wird.« Mi­nis­ter Du­roy griff nach Blei­stift und Pa­pier. »Sie nann­ten mir da vor­her eine Rei­he von Zah­len. Wol­len Sie die bit­te wie­der­ho­len.«

Ra­co­ni­er ver­neig­te sich.

»Die bes­te Aus­nut­zung der Koh­le in der heu­te üb­li­chen Wei­se er­reicht güns­tigs­ten­falls zwan­zig Pro­zent, die Aus­nut­zung nach der neu­en Er­fin­dung hun­dert Pro­zent, also das Fünf­fa­che. Das wür­de für die Wirt­schaft Frank­reichs eine jähr­li­che Er­spar­nis von vie­len Mil­li­ar­den Frank be­deu­ten, ab­ge­se­hen von den kaum ge­rin­ge­ren Sum­men, die für die Li­zen­zen in un­ser Land flie­ßen müss­ten. Es wäre also in je­der Hin­sicht er­wünscht, wenn die­se Er­fin­dung von Frank­reich aus­gin­ge. Eine vor­sich­ti­ge sta­tis­ti­sche Auf­stel­lung über das ge­sam­te Zah­len­ma­te­ri­al darf ich Ih­nen, Herr Mi­nis­ter, hier­mit über­ge­ben.«

»Die­ser in­ter­essan­te Deut­sche … wo wohnt er? Wie ha­ben Sie von dem er­fah­ren?« … frag­te Du­roy.

»Er wohnt in Neu­stadt am Nie­der­rhein«, er­wi­der­te Ra­co­ni­er, setz­te dann mit ko­misch-erns­ter Mie­ne hin­zu, »wir er­fuh­ren von ihm durch Zu­fall.«

Der Mi­nis­ter er­hob sich lä­chelnd. »Ich wün­sche Ih­nen bes­ten Er­folg, Herr Ra­co­ni­er. Möge der Zu­fall Ih­nen wei­ter güns­tig sein.« –

Der Che­f­in­ge­nieur ver­ließ das Mi­nis­te­ri­um.

»Rue Me­vel­le!«, rief er sei­nem Chauf­feur vor dem Mi­nis­te­ri­um zu. Mit ei­nem Blick auf die Uhr dann: »Aber so schnell wie mög­lich!«

Nach zehn Mi­nu­ten hielt der Wa­gen vor dem Ver­wal­tungs­ge­bäu­de der Fédéra­ti­on In­dus­tri­el­le. Ra­co­ni­er nick­te dem Chauf­feur zu: »Gut ge­fah­ren, wenn’s auch ei­ni­ge Straf­man­da­te kos­ten wird.«

Mit ein paar Sprün­gen nahm er die Stu­fen zum ers­ten Stock und trat in ein Zim­mer, in dem zwei Her­ren ihn schon un­ge­dul­dig er­war­te­ten »Ver­zei­hung, Herr Ge­ne­ral­di­rek­tor, Ver­zei­hung, Herr Ba­guet­te. Ich habe Sie war­ten las­sen, aber die Schuld liegt nicht an mir. Herr Mi­nis­ter Du­roy zeig­te sol­ches In­ter­es­se für un­se­re Sa­che, dass ich nicht frü­her hier sein konn­te.«

»Nichts zu sa­gen, Herr Ra­co­ni­er. Was ist das Er­geb­nis Ihres Be­su­ches?«

»Der Mi­nis­ter wünscht uns bes­ten Er­folg, wird al­les tun, um un­se­re An­ge­le­gen­heit zu be­güns­ti­gen. Al­ler­dings …«

»… ohne auch nur eine Spur von Verant­wor­tung zu über­neh­men«, vollen­de­te Bank­di­rek­tor Ba­guet­te den Satz. »Das wuss­te ich im vor­aus.«

»Im­mer­hin, Herr Ba­guet­te, ha­ben wir die Ge­wiss­heit, dass uns die Re­gie­rung sehr sym­pa­thisch ge­gen­über­steht«, warf Ra­co­ni­er ein. »Nach dem per­sön­li­chen Ein­druck, den ich von dem Mi­nis­ter Du­roy hat­te, glau­be ich so­gar die An­wen­dung noch schär­fe­rer Mit­tel als bis­her emp­feh­len zu dür­fen.«

»Nein«, mein­te Ba­guet­te mit of­fen­ba­rem Wi­der­stre­ben, »war­ten wir doch erst mal ab, wie die ge­ra­de jetzt von uns an­ge­wand­ten Mit­tel sich aus­wir­ken. Ich den­ke im­mer noch, dass Herr As­ten­ryk nach­gie­bi­ger wird, wenn er aus dem Kon­kurs­ver­fah­ren als Bett­ler her­aus­geht.«

»Ich bin nicht ge­neigt, Ihre An­sicht zu tei­len, Herr Bank­di­rek­tor«, ent­geg­ne­te Ra­co­ni­er. »Ein vom Er­fin­der­geist Be­ses­se­ner – und das ist Ge­org As­ten­ryk nach un­se­ren In­for­ma­tio­nen – wird sich nie­mals um klin­gen­des Geld ver­kau­fen.«

»War­ten wir ab!«, mein­te Ba­guet­te ach­sel­zu­ckend. »Der Schlag, den wir ihm ver­setz­ten, als wir ihn durch die Kün­di­gung der auf­ge­kauf­ten Hy­po­the­ken bank­rott mach­ten, wird ihn all­mäh­lich zahm ma­chen. Hun­ger tut weh.«

»Mö­gen Sie recht ha­ben!«, er­wi­der­te Ra­co­ni­er. »Ich wer­de je­den­falls un­se­re Agen­ten in der von mir ge­dach­ten Wei­se in­stru­ie­ren las­sen. Seit­dem es uns ge­lun­gen ist, uns die­ses Herrn For­bin zu ver­si­chern, den­ke ich zu­ver­sicht­li­cher.«

»Ge­nug, mei­ne Her­ren!«, fiel jetzt der Ge­ne­ral­di­rek­tor Per­rain ein. »Es wird sich zei­gen, wel­cher der von Ih­nen vor­ge­schla­ge­nen Wege am bes­ten zum Zie­le führt. Ver­ges­sen Sie nicht, dass ich es in mei­ner Stel­lung eben­so wie Herr Mi­nis­ter Du­roy ab­leh­nen muss, ir­gend­wel­che Verant­wor­tung für Din­ge zu über­neh­men, die ge­setz­lich un­zu­läs­sig sind.« –

Als Ra­co­ni­er zu sei­nem Zim­mer zu­rück­kehr­te, wur­de ihm For­bin ge­mel­det.

»Sehr gut! Las­sen Sie ihn gleich kom­men.« –

»Nun, was brin­gen Sie Neu­es, Herr For­bin?«

»Ge­org As­ten­ryk ist vor un­ge­fähr zwei Stun­den in Pa­ris an­ge­kom­men. Er wohnt in der­sel­ben Pen­si­on wie ich.«

Ra­co­ni­er zuck­te die Ach­sel. »Gut, dass Herr Ba­guet­te das nicht weiß. Er wür­de wahr­schein­lich in sei­nem un­er­schüt­ter­li­chen Glau­ben an die Macht des Gel­des wie­der ir­gend­wel­che tö­rich­ten Vor­schlä­ge ma­chen. Selbst­ver­ständ­lich bit­te ich Sie, Herr For­bin, alle Schleu­sen Ih­rer Be­red­sam­keit zu öff­nen. Ver­su­chen Sie, ein ver­nünf­ti­ges Ab­kom­men mit dem Man­ne zu tref­fen. Aber große Hoff­nun­gen habe ich da nicht. Vi­el­leicht ru­fen Sie mich im Lau­fe des Abends noch ein­mal an. Sie er­rei­chen mich in mei­ner Woh­nung.« –

Um zehn Uhr klin­gel­te der Fern­spre­cher bei Ra­co­ni­er.

»Ja­wohl … gu­ten Abend, Herr For­bin … wie mei­nen Sie? Er will ab­so­lut nicht … nun ja, wie ich’s mir ge­dacht habe. Be­su­chen Sie bit­te mor­gen Herrn Col­let­te. Er wird mit Ih­nen ei­ni­ges in die­ser An­ge­le­gen­heit zu be­spre­chen ha­ben.« – – –

Wie­der stan­den Ge­org und Anne auf dem Bahn­steig des Nord­bahn­hofs.

»Das wäre ja wirk­lich sehr schön, Anne, wenn dein Schwa­ger sei­ne Ab­sicht aus­führ­te und dem­nächst nach Deutsch­land käme. Ganz be­son­ders wür­de ich mich na­tür­lich freu­en, wenn er, wie dei­ne Schwes­ter ein­mal an­deu­te­te, vor­über­ge­hend nach Neu­stadt käme. Ob­gleich ich nicht recht weiß, was er jetzt, nach­dem dein Va­ter tot ist, in Neu­stadt will. Frü­her war es was an­de­res. Da war Neu­stadt der Not­ha­fen, wo­hin man sich, wenn raue Stür­me weh­ten, gern auf ei­ni­ge Zeit zu­rück­zog, bis die Luft wie­der klar war.«

»Ach, ich wür­de mich ja so freu­en, Ge­org, wenn wir wirk­lich für ei­ni­ge Zeit nach Neu­stadt kämen. Aber rech­ne bit­te nicht si­cher da­mit. Ich habe dir ja einen klei­nen Ein­blick in die Le­bens­wei­se Al­freds ge­ge­ben. Da kann mor­gen oder jetzt schon ein an­de­res Ge­schäft auf­ge­taucht sein, und wir fah­ren viel­leicht über­mor­gen nach Ma­drid oder Kon­stan­ti­no­pel.«

Ge­org woll­te et­was sa­gen. Anne strich ihm be­schwich­ti­gend über das Ge­sicht. »Nein, nein! Sprich nichts, Lie­ber! Hät­te ich nur nichts ge­sagt! Dir noch in letz­ter Stun­de das Herz schwer ma­chen … so schlimm ist es ja gar nicht. Sieh mal, ich ler­ne doch auf die­se Wei­se die Welt ken­nen und sehe vie­les Schö­ne.«

»Schweig, Anne! Wenn du wüss­test, wie ich über all das den­ke! Ich ver­zweifle bei dem Ge­dan­ken, dich noch wer weiß wie lan­ge Zeit bei die­sen For­bins las­sen zu müs­sen.«

»Ge­org, bit­te! Er­schwer’ uns nicht noch mehr den Ab­schied. Ich will ja auch gern glau­ben, dass wir bald nach Deutsch­land fah­ren. Und wenn wir dann gar nach Neu­stadt kämen … ach, wie wür­de das herr­lich sein! Ein paar Wo­chen in der al­ten Hei­mat mit dir zu­sam­men … lan­ge Zeit wür­de ich da­von zeh­ren.«

Ge­org muss­te die Zäh­ne zu­sam­men­bei­ßen, um nicht bei dem herz­zer­rei­ßen­den Lä­cheln, mit dem sie es sag­te, los­zu­bre­chen. –

Die Schaff­ner rie­fen zum Ein­stei­gen. Die Tü­ren schlu­gen zu. Lan­ge noch blick­te Ge­org As­ten­ryk nach ei­nem wei­ßen Tuch, das ihm vom Bahn­steig wink­te. –

4

Der Zug hat­te die Gren­ze pas­siert. Ge­org kauf­te sich einen Stoß neu­er Zei­tun­gen. Fast in je­der als Schlag­zei­le: »Ja­pan ist von der Ant­wort Eng­lands auf sei­ne De­mar­che nicht be­frie­digt. Pro­test­ver­samm­lun­gen in To­kio. Lär­men­de Kund­ge­bun­gen vor dem eng­li­schen Bot­schafts­ge­bäu­de.«

Wäh­rend er kurz die Über­schrif­ten über­flog, gin­gen ihm die Mit­tei­lun­gen des Ma­jors Dale durch den Kopf. Es scheint ganz so zu kom­men, wie der es pro­phe­zeit hat, dach­te er. Der Zer­fall des an­gel­säch­si­schen Blocks be­gann sich aus­zu­wir­ken. Ja­pan nütz­te die Ge­le­gen­heit, um im trü­ben zu fi­schen. Die alte Ge­schich­te! Wenn zwei sich strei­ten, lacht der Drit­te. Die schlech­te wirt­schaft­li­che Lage und die schwan­ken­de Po­li­tik der la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Staa­ten hat­ten zu­nächst nur wirt­schaft­li­che und fi­nan­zi­el­le Dif­fe­ren­zen zwi­schen Eng­land und den Ve­rei­nig­ten Staa­ten be­wirkt. Je mehr sich die­se Dif­fe­ren­zen aber ver­schärf­ten, stör­ten sie auch die bis­her freund­schaft­li­chen po­li­ti­schen Be­zie­hun­gen der bei­den großen an­gel­säch­si­schen Mäch­te in im­mer stär­ke­rem Maße. Ja­pan und Frank­reich schick­ten sich an, aus die­ser güns­ti­gen Si­tua­ti­on Nut­zen zu zie­hen. –

Der Zug roll­te über die Rhein­brücke. Ge­org As­ten­ryk leg­te die Zei­tun­gen kopf­schüt­telnd bei­sei­te … wann wür­de die­ser Erd­ball ein­mal zur Ruhe kom­men? Soll­te es wirk­lich wahr wer­den, das Wort vom Un­ter­gang des Abend­lan­des, was wäre an­de­res dar­an schuld als der ewi­ge in­ne­re Zwist der wei­ßen Ras­se. –

Das alte, ver­trau­te Land­schafts­bild lenk­te die Ge­dan­ken Ge­orgs auf die nahe Hei­mat. Ar­beit über Ar­beit war­te­te da auf ihn. Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen zu sei­nem La­bo­ra­to­ri­um, zu den Ex­pe­ri­men­ten mit der hun­dert­pro­zen­ti­gen Koh­len­aus­nut­zung. Ob Ma­ri­an wohl al­les, was er ihm auf­ge­tra­gen, plan­mä­ßig durch­ge­führt hat­te? Ob er die Er­geb­nis­se der Ver­suchs­rei­hen auch rich­tig auf­ge­zeich­net hat­te?

Wie moch­te es wohl mit sei­nen an­de­ren Ar­bei­ten aus­se­hen? Der Kon­kurs, die Not­wen­dig­keit, sich neue Le­bens­mög­lich­kei­ten zu ver­schaf­fen, hat­ten ihn ge­zwun­gen, ein an­de­res, ver­wand­tes Pro­blem in An­griff zu neh­men. Schon frü­her, beim Be­ginn sei­ner Ar­bei­ten an der großen Auf­ga­be der rest­lo­sen Um­wand­lung der Koh­len­ener­gie in Elek­tri­zi­tät, war die Fra­ge ihm auf­ge­sto­ßen, ob er nicht gleich­zei­tig dem da­mit zu­sam­men­hän­gen­den Pro­blem der Dia­man­ten­syn­the­se nach­ge­hen sol­le.

So lo­ckend die Auf­ga­be schi­en, er hat­te sie doch im­mer bei­sei­te­ge­scho­ben. Er woll­te alle sei­ne Kräf­te an das eine, wirt­schaft­lich für die Mensch­heit be­deu­tungs­volls­te Ziel der hun­dert­pro­zen­ti­gen Koh­len­aus­nut­zung set­zen. Doch jetzt, nach sei­nem ei­ge­nen fi­nan­zi­el­len Nie­der­bruch, setz­te er sei­ne Zu­kunfts­hoff­nun­gen in ers­ter Li­nie auf das Ge­lin­gen der Dia­man­ten­syn­the­se.

Zu nie­mand, selbst zu Ma­ri­an nicht, hat­te er von die­sen Ide­en, Hoff­nun­gen, neu­en Ar­bei­ten ge­spro­chen … und doch war Ma­ri­an der ein­zi­ge, der au­ßer Anne sei­nem Her­zen be­son­ders na­he­stand.

Ma­ri­an Hei­dens, sein ge­treu­er Freund, Ge­hil­fe, Die­ner, wie man’s nen­nen woll­te.

Ge­org dach­te zu­rück. Ma­ri­an – wie war er zu dem ge­kom­men? Im Grun­de eine ganz ein­fa­che Ge­schich­te, und doch von selt­sa­men Um­stän­den be­glei­tet.

War da ei­nes Ta­ges vor der Stadt eine wan­dern­de Zi­geu­ne­rin von ei­nem Kraft­wa­gen an­ge­fah­ren und ins Kran­ken­haus ge­bracht wor­den. Trotz bes­ter Pfle­ge ver­schied sie ei­ni­ge Wo­chen spä­ter. Fast in ih­rer To­des­stun­de gab sie ei­nem Kna­ben das Le­ben.

Ein Zu­fall brach­te es mit sich, dass am sel­ben Tage zur sel­ben Stun­de Ge­org As­ten­ryk in der glei­chen An­stalt ge­bo­ren wur­de. Als ei­ni­ge Zeit spä­ter Va­ter As­ten­ryk Frau und Kind strah­lend über die Ge­burt des Er­ben aus dem Kran­ken­haus ab­hol­te, nahm er in dank­ba­rer Freu­de auch den klei­nen ver­wais­ten Zi­geu­ner­jun­gen mit sich. Eine Lau­ne des Stan­des­be­am­ten hat­te dem nach dem Ka­len­der­tag sei­ner Ge­burt den Vor­na­men Ma­ri­an, nach der am Nie­der­rhein für die Zi­geu­ner ge­bräuch­li­chen Be­zeich­nung »Hei­dens« den Nach­na­men ge­ge­ben. As­ten­ryk gab ihn sei­nen al­ten, kin­der­lo­sen Gärt­ner­leu­ten in Pfle­ge.

Von Kind­heit an Spiel­ge­fähr­ten, wuch­sen Ge­org As­ten­ryk und Ma­ri­an Hei­dens auf. Als Ma­ri­an die Schu­le ver­ließ, blieb er als Gärt­ner­ge­hil­fe bei sei­nen Pfle­ge­el­tern. Gym­na­si­al- und Uni­ver­si­täts­stu­di­en Ge­orgs ver­moch­ten nicht das enge Band zwi­schen den gleich­alt­ri­gen Ge­fähr­ten zu zer­rei­ßen. Es wur­de so­gar noch fes­ter, als der Va­ter Ge­orgs die­sem ein La­bo­ra­to­ri­um im Dach­ge­schoss des Hau­ses ein­rich­te­te.

Aus den spie­le­ri­schen Ex­pe­ri­men­tier­ver­su­chen der bei­den er­wuchs all­mäh­lich erns­te Ar­beit, und hier­bei wur­de Ma­ri­an Hei­dens durch sei­ne Ge­schick­lich­keit und An­stel­lig­keit ein gu­ter, nütz­li­cher Ge­hil­fe. In jene Zeit fie­len schon die ers­ten Ver­su­che Ge­orgs, dem Pro­blem der elek­tri­schen Koh­len­bat­te­ri­en nä­her zu kom­men. –

Die Tür­me von Neu­stadt tauch­ten auf. – – Und dann war er wie­der in der Hei­mat, nahm den Weg zum vä­ter­li­chen Haus. Ein lei­ses Frös­teln über­kam ihn, als sein Blick über die aus­ge­dehn­ten Werk­an­la­gen ging. Die lang­ge­streck­ten Hal­len, die frü­her Tag und Nacht wi­der­hall­ten vom Ge­dröhn der Ma­schi­nen, von den klin­gen­den Ham­mer­schlä­gen … ver­ödet, tot. Die Stil­le des Kirch­ho­fes, wo noch vor kur­z­em Hun­der­te von Men­schen in rast­lo­ser Tä­tig­keit hin und her eil­ten.

Bei­na­he hun­dert Jah­re hat­te die Fir­ma As­ten­ryk & Co. be­stan­den. Hät­te sich wohl je­ner Lo­renz As­ten­ryk träu­men las­sen, dass sein stol­zes Werk un­ter dem Uren­kel zu­sam­men­bre­chen wür­de? … Wie­der die­ser lei­se Zwie­spalt in sei­nem In­nern. War es recht von ihm ge­we­sen, je­nen tra­di­tio­nel­len Grund­satz des deut­schen Kauf­manns bei­sei­te­zu­schie­ben, der ge­bot: Al­les … je­den Bluts­trop­fen, je­den Ge­dan­ken dem Werk! … Ja! … Und im­mer wie­der ja! Er hat­te es tun müs­sen. Er hat­te es wa­gen müs­sen, auch wenn die lei­se Hoff­nung, die er an die Dia­man­ten­syn­the­se knüpf­te, nicht in Er­fül­lung ging. Sein Sin­nen und Stre­ben ging hö­he­ren Zie­len zu. Sei­ne Ar­beit, wenn der Wurf ge­lang, muss­te ihm das Ver­lo­re­ne hun­dert­fach wie­der­brin­gen. Muss­te den Na­men As­ten­ryk in neu­em, stär­ke­rem Glanz er­strah­len las­sen. Un­mög­lich für ihn der Ge­dan­ke, sei­ne Er­fin­dung und sich je­ner fran­zö­si­schen Grup­pe aus­zu­lie­fern, um das vä­ter­li­che Werk zu ret­ten.

Er schüt­tel­te sich, wie um letz­te Zwei­fel zu ver­scheu­chen, und ging zum Wohn­haus. Als er auf­ge­schlos­sen hat­te und die Tür öff­ne­te, schrak er leicht zu­sam­men. Die elek­tri­schen Alarm­glo­cken ras­sel­ten grell durch das gan­ze Ge­bäu­de. Beun­ru­higt sah er sich um. Da wur­de es plötz­lich still. Vom Ober­stock her ka­men Schrit­te.

»Hal­lo! Ich bin’s! Ge­org! Was machst du denn für Scher­ze, Ma­ri­an? Emp­fängst mich mit Glo­cken­ge­läut.«

»Nur eine klei­ne Vor­sichts­maß­nah­me, lie­ber Ge­org. Aber zu­nächst mal gu­ten Tag. Wie geht es dir? Komm nach oben. Du wirst Hun­ger und Durst ha­ben.«

Sie stie­gen zum Ober­stock em­por und tra­ten in Ge­orgs Ar­beits­zim­mer.

»Nun schieß mal los, Ma­ri­an. Er­zäh­le! Ist ir­gend­was pas­siert, wäh­rend ich fort war? Wie steht’s oben im La­bor?«

»Al­les in Ord­nung, Ge­org. Aber willst du nicht et­was es­sen?«

»Ist nicht so ei­lig, Ma­ri­an.« Er warf einen Blick auf den ge­deck­ten Tisch. »Ich sehe, du hast schon al­les vor­be­rei­tet. Ge­hen wir erst mal ins La­bor. Mich plagt die Neu­gier, wie sich die letz­ten Se­ri­en in mei­ner Ab­we­sen­heit ent­wi­ckelt ha­ben.«

Sie wand­ten sich zur Tür, da blieb Ge­org ste­hen und fass­te Ma­ri­an am Arm.

»Aber sage mal ernst­lich, wozu der Scherz mit den Alarm­glo­cken? Du hast mir auf mei­ne Fra­ge noch gar nicht geant­wor­tet.«

Ma­ri­an zuck­te die Ach­sel. »Ja, mein Lie­ber, was soll ich dir da sa­gen? In der ers­ten Nacht, wo du fort warst, wur­de ich plötz­lich aus dem Schlaf ge­schreckt. Die Alarm­glo­cke schrill­te. Ich sprang auf, eil­te in den Flur, warf den Haupt­licht­schal­ter an. Nichts zu se­hen und zu hö­ren. Ich re­vi­dier­te alle Tü­ren. Es war nichts ge­öff­net, al­les in Ord­nung. Nur die Haus­tür stand of­fen, ob­gleich ich be­stimmt weiß, dass ich sie ver­schlos­sen hat­te. Ich schlug die Tür wie­der zu und woll­te sie ver­schlie­ßen, da ging es nicht. Das Schloss war ver­dor­ben.

Nun, ich ließ am nächs­ten Mor­gen das Schloss in Ord­nung brin­gen. Aber da ich dach­te, die Füch­se könn­ten auch am Tage kom­men, hal­te ich die Alarm­an­la­ge auch am Tage ein­ge­schal­tet.«

»Füch­se? Was meinst du, was das für Füch­se ge­we­sen sein könn­ten?«

»Vi­el­leicht wa­ren es Leu­te, die nicht wuss­ten, dass dein Ta­fel­sil­ber vom Kon­kurs­ver­wal­ter in Ver­wah­rung ge­nom­men ist.«

»Du meinst also ge­wöhn­li­che Die­be, Ma­ri­an?«

»Ge­wöhn­li­che Die­be nicht. Zum min­des­ten in­ter­na­tio­na­le Die­be. Ich fand da am nächs­ten Mor­gen im Haus­flur einen klei­nen Fet­zen von ei­ner fran­zö­si­schen Zei­tung.«

Bei­de sa­hen sich einen Au­gen­blick an und lach­ten dann.

»Aha!«, mein­te Ge­org. »Füch­se aus der Ge­gend … das will ei­ni­ges be­sa­gen. Nun, ich habe da al­ler­lei Ide­en. Mein ers­tes wird sein, für eine Si­che­rungs­an­la­ge zu sor­gen, die bes­ser schützt als alle Alarm­glo­cken. Mach mir doch eine Tas­se Tee. Ich gehe ’rauf zum La­bor. In­zwi­schen kannst du auch mal die­sen Ar­ti­kel in der eng­li­schen Zei­tung le­sen. Dazu wer­den dei­ne eng­li­schen Kennt­nis­se wohl lan­gen.« –

Dann stand er in dem Raum, in dem er so vie­le Tage und Näch­te in rast­lo­ser Ar­beit ver­bracht hat­te. Mit ra­schen Schrit­ten eil­te er zu ein paar Glä­sern, die in ei­nem Tro­cken­schrank stan­den. Er öff­ne­te ihn und nahm die Glä­ser her­aus. Vor­sich­tig goss er die tief­schwar­ze Koh­len­stoff­lö­sung in an­de­re Ge­sä­ße über und un­ter­such­te den Bo­den­satz mit ei­ner star­ken Lupe.

Hier … sein Herz be­gann stär­ker zu klop­fen … hier glit­zer­te et­was ver­hei­ßungs­voll. Woll­te der wi­der­spens­ti­ge Stoff dort Dia­mant­kris­tal­le bil­den? Schnell griff er nach ei­ner noch stär­ke­ren Lin­se, schau­te lan­ge hin­durch. Stieß dann das Glas ent­täuscht von sich. »Wie­der ein­mal ver­geb­lich!«, mur­mel­te er vor sich hin. »Gra­phit­kris­tal­le … nichts an­de­res ist es.« Miss­mu­tig warf er die Schrank­tür wie­der zu.

Sein Blick ging in die Run­de. Da wa­ren sie, die Ba­tail­lo­ne von Ver­suchs­bat­te­ri­en, die al­ten Schrän­ke mit Tau­sen­den von Che­mi­ka­li­en. Sein Auge glitt prü­fend über die Mess­in­stru­men­te, über die Be­las­tungs­lam­pen. Mor­gen wür­de er die Pro­to­koll­bü­cher ab­schlie­ßen und neue Bat­te­ri­en mit neu­en, wie­der ver­bes­ser­ten Elek­tro­ly­ten auf­bau­en. War das ge­tan, dann hat­te er Muße, sich dem an­de­ren Pro­blem zu wid­men.

Die Er­fin­dung All­ger­mis­sens … im­mer wie­der dräng­te sich ihm der Ge­dan­ke an sie auf. Die phan­tas­ti­schen Mög­lich­kei­ten reiz­ten ihn aufs äu­ßers­te, wenn er sich auch vie­ler Be­den­ken … Be­sorg­nis­se nicht ent­schla­gen konn­te.

Er ging wie­der nach un­ten. Da saß Ma­ri­an, die zier­li­che, schmäch­ti­ge Ge­stalt in ei­nem Ses­sel zu­rück­ge­lehnt, und las die Erin­ne­run­gen des Dr. Ro­stow. Un­ter dem dunklen, fast blauschwar­zen Haar ein blei­ches, bei­na­he gelb­li­ches Ge­sicht. Ab und zu rich­te­te er den Kopf in die Höhe und starr­te re­gungs­los ins Lee­re. Die gan­ze See­le des jun­gen Man­nes lag in sei­nen Au­gen, und doch blieb ihr Blick rät­sel­haft un­er­gründ­lich. Sei­ne Er­schei­nung bot äu­ßer­lich ein Bild völ­li­ger Lei­den­schafts­lo­sig­keit. Nur wer ihn kann­te wie Ge­org As­ten­ryk, konn­te wis­sen, dass hier ein lei­den­schaft­li­ches Herz schlug, stark im Has­sen, stark im Lie­ben.

Ge­org nahm aus dem Schreib­tisch ein Bänd­chen mit der Auf­schrift »Franz Lön­holdt«. Franz Lön­holdt war auch ein Neu­städ­ter Kind ge­we­sen, ein äl­te­rer Be­kann­ter Ge­org As­ten­ryks. Lan­ge Jah­re leb­te er als Ra­dio­in­ge­nieur in Russ­land. Als er in Ir­kutsk sehr plötz­lich an Mala­ria verstarb, schick­te der deut­sche Kon­sul sei­ne Hin­ter­las­sen­schaft der Mut­ter in Deutsch­land. Frau Lön­holdt hat­te die tech­ni­schen Auf­zeich­nun­gen und Ta­ge­bü­cher ge­le­gent­lich Ge­org As­ten­ryk als An­den­ken ge­schenkt.

Der schlug jetzt das Ta­ge­buch auf und blät­ter­te dar­in. Da war die Stel­le. Wie oft hat­te er sie ge­le­sen! Sei­ne Au­gen glit­ten dar­über hin und folg­ten dem Text.

Franz Lön­holdts Ta­ge­buch gab über je­nes merk­wür­di­ge Er­eig­nis in Ir­kutsk fol­gen­den Be­richt:

»Ich hat­te mei­ne Kon­trol­l­ar­beit im Ir­kuts­ker Sen­der be­en­det und rüs­te­te mich zur Wei­ter­fahrt, da er­hielt ich von Ge­ne­ral Iwa­now die Auf­for­de­rung, ihn zu be­su­chen. Er er­zähl­te mir fol­gen­de merk­wür­di­ge Be­ge­ben­heit, die sich vor vie­len Mo­na­ten in dem­sel­ben Ge­bäu­de, in dem wir uns be­fan­den, ab­ge­spielt hat­te.«

Hier folg­te eine Schil­de­rung, die sich in der Haupt­sa­che mit den »Erin­ne­run­gen ei­nes rus­si­schen Arz­tes« in der eng­li­schen Zei­tung deck­te.

»Ich ant­wor­te­te zu­nächst dem Ge­ne­ral vor­sich­tig, dass mir jede wis­sen­schaft­li­che Er­klä­rung des Vor­falls feh­le. Ein ge­wis­ser Ver­dacht, der in mir bei Iwa­nows Er­zäh­lung auf­ge­stie­gen war, ver­an­lass­te mich, we­nigs­tens einen Ver­such zu ma­chen, der Sa­che nach­zu­for­schen.

Nach mehr­tä­gi­gem Her­um­stö­bern in al­len Tei­len des großen Ge­bäu­des ge­riet ich auf eine Spur, die mir ver­däch­tig war. Auf dem Dach­bo­den sah ich ei­nes Mit­tags im Schein ei­nes Son­nen­strahls das blan­ke Ende ei­nes Drah­tes schim­mern. Ich ging dem sehr ver­steckt ge­führ­ten Draht nach und fand in ei­nem Schrank, der hin­ter al­ten Ak­ten ver­bor­gen stand, ein Gram­mo­phon und einen Ap­pa­rat, den ich für einen Ver­stär­ker an­sah. Als ich den Ap­pa­rat her­an­zie­hen woll­te, er­folg­te eine schwa­che Ex­plo­si­on, de­ren Knall au­ßer­halb des Rau­mes kaum ge­hört wer­den konn­te. Durch die Ex­plo­si­on wur­de der Gram­mo­pho­n­ap­pa­rat zer­trüm­mert, die auf dem Tel­ler lie­gen­de Wachs­plat­te bei­sei­te ge­schleu­dert, wo­bei der Rand der Plat­te zwar stark zer­stört wur­de, der in­ne­re Teil da­ge­gen er­hal­ten blieb.

Durch die Ex­plo­si­on war auch eine Sei­te des von mir als Ver­stär­ker an­ge­se­he­nen Ap­pa­ra­tes auf­ge­ris­sen wor­den. Das In­ne­re war, wie ich jetzt sah, ganz an­ders als bei al­len an­de­ren Ver­stär­kern, die ich ken­ne. So wa­ren statt der Spu­len und Kon­den­sa­to­ren viel­fach ver­sil­ber­te Kris­tal­le ein­ge­baut. Je län­ger ich ihn un­ter­such­te, de­sto kla­rer wur­de es mir, dass es sich hier um ape­ri­odi­sche Ver­stär­kung hin­ab bis zu den kleins­ten Wel­len­län­gen han­deln müs­se.

Ich habe mir die Schal­tung skiz­ziert und will in den nächs­ten Ta­gen ein ge­nau­es Schalt­bild die­ses Ver­stär­kers an­fer­ti­gen. Ge­ne­ral Iwa­now will ich vor­läu­fig von mei­ner Ent­de­ckung nichts sa­gen, viel­mehr erst die­ser eben­so mys­te­ri­ösen wie in­ter­essan­ten Sa­che auf den Grund kom­men. Die mir et­was ver­däch­ti­ge Wachs­plat­te habe ich mit­ge­nom­men. Eben­so die Kris­tal­le aus dem Ver­stär­ker …

Die ver­wünsch­te Mala­ria zwingt mich, mei­ne Nach­for­schun­gen zu un­ter­bre­chen und mich ins Bett zu le­gen …«

Da­mit hör­ten die Ta­ge­buchauf­zeich­nun­gen Lön­holdts auf. Drei Tage spä­ter war er tot. –

Ge­org leg­te das Ta­ge­buch bei­sei­te. »Nun, Ma­ri­an, hast du den Ar­ti­kel von Dok­tor Ro­stow ge­le­sen? Al­les ver­stan­den?«

»Ja! Ge­le­sen habe ich’s. Ver­stan­den habe ich’s auch. Es ist ja fast das glei­che, was Lön­holdt über den Fall schreibt. Ich muss zu­ge­ben, dass ich jetzt Lön­holdts Auf­zeich­nun­gen an­ders be­ur­tei­le. Ich hat­te bis­her an der Rich­tig­keit sei­ner Er­zäh­lung so star­ke Zwei­fel, dass ich kei­ne an­de­re Er­klä­rung fin­den konn­te als … Phan­tasi­en ei­nes Fie­ber­kran­ken. Aber wirk­lich al­les zu­ge­ge­ben … das eine kann ich nicht ver­ste­hen, wie es All­ger­mis­sen ge­lin­gen konn­te, den Geist so vie­ler ver­schie­de­ner Köp­fe auf ein­mal in sei­nen Bann zu zwin­gen.«

»Al­ler­dings, das ist eine schwer er­klär­li­che Sa­che, Ma­ri­an. Aber viel­leicht kom­men wir da­hin­ter, wenn wir erst ein­mal die Ap­pa­ra­tur All­ger­mis­sens rich­tig auf­ge­baut ha­ben. Lei­der feh­len in der Ver­stär­kerskiz­ze Lön­holdts die ge­nau­en An­ga­ben der elek­tri­schen Wer­te. Das wird mei­ner Mei­nung nach das Schwie­rigs­te an der Auf­ga­be. Ein Glück da­bei, dass Lön­holdt die gute Idee hat­te, die ver­sil­ber­ten Kris­tal­le aus dem Ver­stär­ker All­ger­mis­sens her­aus­zu­neh­men. Ein wei­te­res Glück, dass sie mit sei­nem Nach­lass in mei­ne Hän­de ge­kom­men sind. Ganz of­fen­bar spie­len sie als kleins­te Kon­den­sa­to­ren in der Ver­stär­ker­ein­rich­tung für kür­zes­te Wel­len eine be­deu­ten­de Rol­le.

Ha­ben wir erst mal den Ver­stär­ker, wie All­ger­mis­sen ihn hat­te, muss sich al­les an­de­re fin­den. Du siehst je­den­falls, dass das Pro­blem hoch­in­ter­essant ist. Wenn man da sei­ne Phan­ta­sie schwei­fen lässt, kommt man ja zu Mög­lich­kei­ten, die mehr als phan­tas­tisch sind.«

Ma­rians Ge­sicht wur­de ernst und ab­wei­send. »Das glau­be ich auf kei­nen Fall. Die Ge­set­ze der Na­tur wer­den sol­che Aus­schrei­tun­gen nicht zu­las­sen. Ich glau­be es nicht und hof­fe es nicht.«

Ge­org stand be­trof­fen. Er such­te Ma­rians Au­gen und stutz­te – die­ser Aus­druck ei­nes an­de­ren Wil­lens, ei­ner See­le, die nicht zu sei­nem Kör­per ge­hör­te … Schon ei­ni­ge Male in ih­rem Le­ben hat­te er den ge­se­hen … und im­mer dann, wenn Ma­ri­an wie von ei­nem frem­den Geist be­ses­sen Wor­te sprach, wel­che nicht von ihm zu kom­men schie­nen.

»Denkst du auch dar­an, Ge­org, dass Al­ger­mis­sen in Wahn­sinn ver­fiel? Ne­me­sis nann­ten es dei­ne al­ten Grie­chen.«

Ge­org mach­te eine ab­wei­sen­de Hand­be­we­gung. »Aber­gläu­bi­sche Ge­dan­ken­gän­ge ei­nes noch in Ur­zei­ten wur­zeln­den Volks­tums, mein lie­ber Ma­ri­an! Ein­fachs­te phy­si­ka­li­sche Lo­gik legt sol­che Mög­lich­kei­ten nahe …

Aber ich hake im­mer wie­der bei der an­schei­nend so ne­ben­säch­lich hin­ge­schrie­be­nen Be­mer­kung von den großen phar­ma­ko­lo­gi­schen Kennt­nis­sen All­ger­mis­sens fest. Was Lön­holdt da so in kur­z­en Stich­wor­ten schreibt, ist mei­ner Mei­nung nach ein Er­klä­rungs­ver­such für das vie­le Rät­sel­haf­te, was sich wäh­rend der Tage und Näch­te, in de­nen All­ger­mis­sen im Ge­fäng­nis­la­za­rett war, er­eig­ne­te. Lei­der ist das al­les kaum zu ver­ste­hen. Vi­el­leicht bin ich aber auf dem rech­ten Wege, wenn ich es in fol­gen­der Wei­se deu­te:

All­ger­mis­sen war, wie Lön­holdt schreibt, ein gu­ter Ken­ner pflanz­li­cher Gif­te. Wenn ich von die­ser Be­mer­kung aus­ge­he, kom­me ich zu dem­sel­ben Schluss, zu dem an­schei­nend auch Lön­holdt ge­langt war. All­ger­mis­sen hat­te bei sei­nen For­schun­gen Pflan­zen­gif­te ent­deckt, die ge­eig­net sind, ver­schie­de­ne Ei­gen­schaf­ten des mensch­li­chen Hirns in krank­haf­ter Wei­se zu stei­gern. Sol­che Stof­fe kennt man ja seit lan­gem. In die­sem Fal­le müss­ten die Gif­te die be­son­de­re Wir­kung ge­habt ha­ben, die Emp­fäng­lich­keit oder die Strah­lung des den­ken­den Hirns durch ein oder viel­leicht auch durch meh­re­re Prä­pa­ra­te zu ver­stär­ken. Wahr­schein­lich hat er es durch An­wen­dung sol­cher Mit­tel fer­tig­ge­bracht, zeit­wei­se aus dem La­za­rett zu ent­wei­chen. Ist mei­ne Ver­mu­tung zu­tref­fend, dann hat All­ger­mis­sen das Pro­blem in ver­schie­de­ner Wei­se, elek­trisch und che­misch, ge­löst.

Aber das sind ja wie ge­sagt al­les nur Ver­mu­tun­gen. Las­sen wir es sein, wie es wol­le. Ich wer­de von jetzt ab sehr ernst­haft an dem Ver­stär­ker ar­bei­ten. Doch nun Schluss für heu­te!« –

5

Drei Wo­chen wa­ren ins Land ge­gan­gen. Wo­chen, in de­nen die Lam­pen im La­bo­ra­to­ri­um nur sel­ten er­lo­schen. Da kam ein Te­le­gramm von Anne: »Wir kom­men mor­gen.« Ge­org las es mit un­be­schreib­li­cher Freu­de. Die un­aus­ge­setz­te Ar­beit, die Sor­gen, die das Kon­kurs­ver­fah­ren brach­te … jetzt woll­te er sich frei ma­chen von all dem, an nichts an­de­res den­ken als an die glück­li­che Ge­gen­wart, an ein fro­hes Zu­sam­men­sein mit sei­ner Ver­lob­ten.

Und es wur­de fast noch schö­ner, als er ge­hofft, es wur­den Wo­chen hel­ler Freu­de. Es war ih­nen, als wäre ih­rer Lie­be ein neu­er Früh­ling ge­schenkt. So vie­le Stun­den glück­se­li­gen Bei­sam­men­seins.

For­bin war viel auf Rei­sen über die na­hen Gren­zen. He­le­ne hat­te in Aa­chen einen al­ten Ver­eh­rer auf­ge­ga­belt, einen bel­gi­schen Baron de Ca­stil­lac, der sich ihr stark at­ta­chier­te. Er kam häu­fig mit sei­nem Hun­dert­pfer­di­gen nach Neu­stadt und hol­te He­le­ne zu Aus­flü­gen ab. Durch sein vor­neh­mes Auf­tre­ten und sei­ne Ele­ganz bil­de­te er für die Neu­städ­ter Weib­lich­keit ein dank­ba­res Ge­sprächs­ob­jekt. In ei­nem sehr klei­nen Kreis Ein­ge­weih­ter war er be­kannt als Spe­zia­list für Waf­fen­schie­bun­gen größ­ten Um­fan­ges.

Hier in der Hei­mat, in der al­ten Um­ge­bung, an der Sei­te ih­res Ver­lob­ten ge­lang es auch Anne, sich von al­lem Drücken­den frei zu ma­chen. In vol­len Zü­gen ge­noss sie die schö­nen Tage. Ihre Mie­nen spie­gel­ten das Glück ih­res Her­zens wi­der. Der her­be Zug um den Mund war ver­schwun­den. Der son­ni­ge Ab­glanz in­ne­ren Glücks ver­schön­te sie, dass He­le­ne die um acht Jah­re jün­ge­re Schwes­ter oft neid­voll be­trach­te­te. –

Als ei­nes Ta­ges Anne Ge­org zu ei­nem Spa­zier­gang ab­ho­len woll­te, führ­te er sie mit ge­heim­nis­vol­lem Lä­cheln in sein La­bo­ra­to­ri­um. Anne kann­te den Raum schon von frü­her und wun­der­te sich nur über eine läng­li­che, an der Wand be­fes­tig­te Tru­he, die frü­her nicht da­ge­we­sen war. Ge­org führ­te sie zu der einen Schmal­sei­te der Tru­he und gab ihr eine Schach­tel Streich­höl­zer in die Hand. Er selbst trat zu­rück und be­gann an ei­ni­gen He­beln zu schal­ten.

»Bit­te, Anne, zün­de doch ein Streich­holz an und hal­te es un­ter die­se über­ste­hen­de Me­tall­plat­te.«

Mit ver­wun­der­tem Lä­cheln sah Anne ihn an und tat dann wie ge­hei­ßen. Im sel­ben Au­gen­blick schrie sie laut auf, ließ das Holz fal­len, schlug wie ge­blen­det die Hän­de vor die Au­gen.

Im Mo­ment, da sie das Hölz­chen ent­zün­det hat­te, war von der De­cke des Zim­mers eine un­end­li­che Fül­le weiß­gel­ben Lichts ge­stürzt, die den Raum mit flu­ten­den Licht­wel­len er­füll­te, als stün­de er in hells­tem Brand. Erst als sie die Arme Ge­orgs um sich fühl­te, konn­te sie sich von dem Schreck frei ma­chen. Dann schau­te sie ihn vor­wurfs­voll an.

»Aber, Ge­org! … Was war das? … Was treibst du da für Zau­ber­kunst­stücke?«

Ge­org strich ihr la­chend übers Ge­sicht. »Ach, so hat dich das klei­ne Ex­pe­ri­ment er­schreckt? Das war doch ganz harm­los, nichts von Zau­ber­kunst. Du stehst hier nichts an­de­res als einen Ver­stär­ker, wie du ihn vom Ra­dio­ap­pa­rat hier wohl kennst. Nur, dass der hier alle Wel­len ver­stärkt. Nicht nur die lan­gen Ra­dio­wel­len, son­dern auch die kur­z­en und kür­zes­ten hin­ab bis zu den Licht­wel­len. Die Licht­flut, die dich er­schreck­te, war nichts an­de­res als die mil­lio­nen­fach ver­stärk­te Flam­me des Streich­hol­zes.«

»Aber was soll das, Ge­org? Wozu ist das?«

»Das war vor­läu­fig nur, um klei­ne Mäd­chen zu er­schre­cken, aber …« und hier wur­de Ge­orgs Ge­sicht erns­ter … »das ist viel­leicht das Fanal für eine Er­fin­dung fol­gen­schwers­ter Art … fol­gen­schwers­ter …« Das Wort kam noch ein­mal ganz lei­se, wie me­cha­nisch, von Ge­orgs Lip­pen.

»Und das ist dein Werk, Ge­org?«

»Nein! Nicht ganz mein Werk. Aber das dir al­les zu er­klä­ren, brauch­te ich Stun­den, lie­be Anne. Wir wol­len jetzt ’raus aus die­ser Höh­le ge­hen, in den schö­nen Früh­lings­son­nen­schein und nur an uns den­ken. Aber, Anne«, er konn­te trotz des Erns­tes, mit dem er spre­chen woll­te, den Scherz nicht las­sen, »hebe den Fin­ger hoch und schwö­re, dass du zu nie­mand auch nur mit ei­ner Sil­be von dem spre­chen willst, was du hier sahst.«

Anne hob la­chend den Fin­ger. Da sah sie sein Ge­sicht und wur­de ernst. »Ja, ja, Ge­org, ich schwö­re es dir.« Sie schlug die Arme um ihn. »Ge­org, Liebs­ter! Nie wird ein Wort über mei­ne Lip­pen kom­men.« –

Es war zwei Tage spä­ter. Ge­org hat­te sich am Nach­mit­tag vom Bo­den ein al­tes Gram­mo­phon ge­holt und hat­te al­ler­lei An­schlüs­se und Schal­tun­gen zwi­schen die­sem Ap­pa­rat und der großen Ver­stär­ker­tru­he ge­macht. Jene ge­heim­nis­vol­le Wachs­plat­te, die er in Lön­holdts Nach­lass ge­fun­den hat­te, dreh­te sich laut­los auf dem Tel­ler des Gram­mo­phons.

Stun­den ver­gin­gen. Im­mer wie­der trat er mit ent­täusch­tem Ge­sicht aus der Mit­te des Zim­mers, wo an der De­cke An­ten­nen­dräh­te hin­gen, zu den Ap­pa­ra­ten, schal­te­te und pro­bier­te von neu­em. Der feh­len­de Plat­ten­teil … ent­hielt der wohl die not­wen­di­ge Ab­stim­mung? … Wäre al­les um­sonst ge­we­sen? … Verzwei­felt stand er, sann, dach­te. Tau­send Ge­dan­ken wir­bel­ten ihm durch den Kopf … dann war es ihm auf ein­mal, als ob ein frem­der Wil­le ihn über­wäl­tig­te. In sei­nen Fü­ßen zuck­te es. Der Kör­per be­gann sich zu be­we­gen, zu dre­hen. Die Füße folg­ten. In im­mer leb­haf­ter wer­den­den Tanz­schrit­ten be­weg­te sich Ge­org durch den Raum. Sei­ne Au­gen leuch­te­ten in freu­di­gem Tri­umph. Die fro­he Er­re­gung ließ sei­nen Atem schnel­ler ge­hen. Hem­mungs­los, wil­len­los über­ließ es sich dem Ge­bot ei­nes frem­den Wil­lens. Da­bei glit­ten sei­ne Au­gen im­mer wie­der zu der Wachs­plat­te, die sich laut­los auf dem Tel­ler dreh­te … dreh­te, bis sie ab­ge­lau­fen war, zur Ruhe kam. –

Eine Wei­le stand er hoch at­mend. Dann brach es aus sei­nem Mun­de: »Ich hab’s ge­fun­den! Doch jetzt so­fort eine neue, stär­ke­re Pro­be! Jetzt will ich nicht wil­len­los dem frem­den Zwan­ge fol­gen, will alle mei­ne Kraft dar­an­wen­den, ihm zu wi­der­ste­hen.«

Schnell eil­te er zu der Wachs­plat­te, ließ sie wie­der lau­fen. Er trat in die Mit­te des Zim­mers zu­rück. Ein paar Se­kun­den, dann be­gann er er­neut zu tan­zen. Doch jetzt nicht mehr den Glanz des Tri­um­phes in den Mie­nen. Nein, ein von hef­tigs­tem Wi­der­stand ver­zerr­tes Ge­sicht. Ein Paar Au­gen, trü­be, müde, wie von frem­dem, quä­len­dem Zwang ge­de­mü­tigt …

Jetzt ver­lang­sam­ten sich sei­ne Schrit­te … er blieb tau­melnd ste­hen, tiefs­te Er­schöp­fung ver­geb­li­chen Wi­der­stan­des über Ge­stalt und Ge­sicht aus­ge­gos­sen. Sei­ne Brust ar­bei­te­te in hef­ti­gen Stö­ßen, wie wenn er eine un­er­hör­te An­stren­gung hin­ter sich hät­te. Mit lang­sa­men, schlep­pen­den Schrit­ten ging er zum Schreib­tisch, ließ sich wie ge­schla­gen in den Stuhl fal­len.

»Al­les habe ich ver­sucht! … Habe mich mit al­len mei­nen kör­per­li­chen und geis­ti­gen Kräf­ten ge­gen den Zwang der Ge­dan­ken­wel­len, die von die­ser Wachs­plat­te her­kom­men, ge­wehrt … je­der Wi­der­stand um­sonst! Ich bin un­ter­le­gen«, stieß es rau aus sei­ner Keh­le.

Er stütz­te das Ge­sicht in die Hand, die an­de­re blät­ter­te in ner­vö­sem Spiel in Lön­holdts Ta­ge­buch. Jetzt leg­te er es in den Schreib­tisch zu­rück, stand auf und ging nach­denk­lich hin und her. Vor dem Gram­mo­phon im Hin­ter­grund des Zim­mers blieb er bis­wei­len ste­hen, nick­te be­frie­digt vor sich hin, strich wie lieb­ko­send über die Wachs­plat­te. »So weit wäre ich also. ’s hat Mühe ge­kos­tet! Ma­ri­an, der gute Jun­ge, wird mir ja al­ler­hand ab­zu­bit­ten ha­ben. Wie hat er mir im­mer wi­der­spro­chen, seit­dem ich mich mit All­ger­mis­sens Pro­blem her­um­schla­ge … Der An­fang wäre ge­macht … ob ich je­mals al­les er­rei­chen wer­de, was der ge­konnt hat? …«

Er schau­te auf die Uhr. Wo Ma­ri­an nur bleibt? Sein Zug müss­te doch schon da sein. Der wird Au­gen ma­chen!

Wäh­rend Ge­org As­ten­ryk so sin­nend da­stand, fühl­te er, wie die Ruhe, zu der er sich ge­walt­sam ge­zwun­gen, wich, wie ein feind­li­cher, neu­gie­ri­ger Drang aus sei­nem Un­ter­be­wusst­sein her­vor­dräng­te, küh­le Be­rech­nung, kla­res Den­ken über den Hau­fen zu wer­fen droh­te.

Un­schlüs­sig zwi­schen un­ge­still­ter Neu­gier und küh­ler Über­le­gung hin und her ge­wor­fen, trat er zö­gernd nä­her an den Ap­pa­rat her­an. Ein kur­z­er Blick auf die Uhr. Vi­el­leicht wür­de Ma­ri­an jetzt kom­men? Ei­ner­lei … wenn er’s auch sah. Aber jetzt will ich doch ein­mal die Pro­be mit dem Stahl­helm ma­chen. Der Or­don­nanz­of­fi­zier bei Ge­ne­ral Iwa­now blieb doch un­be­ein­flusst …

Ge­org nahm von der Wand einen Stahl­helm sei­nes Va­ters, ein Erin­ne­rungs­stück aus dem Welt­krieg, und setz­te ihn auf den Kopf. Dann schal­te­te er an dem Ap­pa­rat. Sein Blick ging zu der Plat­te auf dem Gram­mo­phon­tel­ler, die sich dreh­te.

»Aha!«, mur­mel­te er. »Es stimmt. Der Stahl­helm lässt die Wel­len von der De­cken­an­ten­ne nicht durch.« Noch ein kur­z­es Zö­gern. Sei­ne Hän­de gin­gen wie­der­holt zum Helm, glit­ten wie­der her­ab. Dann warf er den Helm mit plötz­li­chem Ent­schluss zur Sei­te – und dann?

Se­kun­den­lang stand Ge­org wie an­ge­wur­zelt. Die Bei­ne ge­strafft, die Füße wie sich fest­sau­gend auf den Bo­den ge­stemmt, die Fäus­te ge­ballt, die Stirn ge­kraust, die Kie­fern fest auf­ein­an­der­ge­presst. Die gan­ze Ge­stalt ein Bild ge­sam­mel­ter, stärks­ter Wi­der­stands­kraft … Ich will nicht! Ich will nicht! häm­mer­te es un­aus­ge­setzt in sei­nem Hirn … jetzt … ein ge­quäl­tes Stöh­nen aus sei­nem Mund, die ge­spann­ten Seh­nen lo­ckern sich, zu­erst der eine, dann der an­de­re Fuß lö­sen sich vom Bo­den – und dann? – dann war es, als fin­ge eine Ma­rio­net­te an sich im Tanz zu be­we­gen. Noch ein paar Schrit­te … der letz­te Wi­der­stand er­lo­schen … in lo­cke­ren, frei­en Tanz­fi­gu­ren be­weg­te sich Ge­org As­ten­ryk durch das Zim­mer.

»Ge­org! Was hast du? Hast du das große Los ge­won­nen, oder …«

In der ge­öff­ne­ten Tür stand Ma­ri­an und schau­te ver­wun­dert auf Ge­org, der sich, an­schei­nend ohne von ihm No­tiz zu neh­men, un­auf­hör­lich im Tanz­schritt durch das Zim­mer be­weg­te.

Da trat Ma­ri­an mit ein paar has­ti­gen Sprün­gen in den Raum und griff Ge­org am Arm, um ihn fest­zu­hal­ten. Doch der stieß ihn zur Sei­te – und tanz­te wei­ter. Ma­ri­an stand in sprach­lo­sem Er­schre­cken. Was war mit Ge­org? Wa­ren sei­ne Ner­ven un­ter der Tag­und­nacht­ar­beit der letz­ten Wo­chen zu­sam­men­ge­bro­chen?

Da hielt der plötz­lich inne, warf sich auf­at­mend auf einen Di­wan und deck­te die Hän­de über das Ge­sicht. Nach ei­ner Wei­le stand er lang­sam auf, wisch­te sich die Stirn und trat la­chend an Ma­ri­an her­an.

»Ma­ri­an!« Ge­org leg­te bei­de Hän­de auf des­sen Schul­tern, sah ihn mit ent­spann­tem Ge­sicht an, in den noch fie­brig glän­zen­den Au­gen ein Blit­zen freu­di­gen Tri­um­phes.

»Ma­ri­an! Liebs­ter Kerl, ich hab’s! Habe das Ge­heim­nis von All­ger­mis­sens Plat­te.«

Ma­ri­an fuhr zu­rück und erb­lass­te. Sei­ne Au­gen blick­ten in ban­ger Furcht auf Ge­org. Nach ein paar has­ti­gen Atem­zü­gen be­gann er sto­ckend:

»Ge­org, ist es wahr? Treibst du kei­nen Scherz mit mir? Hast du wirk­lich das Ge­heim­nis von All­ger­mis­sens Plat­te ge­fun­den?«

»Aber, Ma­ri­an, was hast du? Ich dach­te, du wür­dest dich freu­en. Ge­wiss habe ich das Ge­heim­nis All­ger­mis­sens er­grün­det. Es ist kein Scherz.«

Ma­ri­an wand­te sich un­wil­lig zur Sei­te. »Das ist Sün­de … Fre­vel, Ge­org! Das wi­der­spricht je­dem gött­li­chen Recht und Ge­setz …«

Ge­org trat zu ihm und leg­te den Arm um ihn. »Aber, Ma­ri­an, wie kannst du eine durch­aus na­tür­li­che Sa­che, de­ren phy­si­ka­li­sche Er­klä­rung ich dir jetzt leicht zu ge­ben ver­mag, für Sün­de und Fre­vel hal­ten?«

Ma­ri­an schüt­tel­te den Kopf. »Das hier«, er deu­te­te auf die Ap­pa­ra­tur, »ist ja wohl noch harm­los, wenn­gleich es auch kaum be­greif­lich er­schei­nen muss. Aber den­ke doch wei­ter, Ge­org. Den­ke an die Fol­gen, wie sie bei ei­ner Wei­ter­ent­wick­lung die­ses klei­nen Ver­stär­kers zu ei­nem ge­wal­ti­gen Sen­der sich aus­wir­ken müs­sen auf grö­ße­re Ent­fer­nun­gen, große Men­schen­men­gen … auf Städ­te … Völ­ker … Län­der.«

»Nun, Ma­ri­an«, er­wi­der­te Ge­org mit et­was ge­zwun­ge­nem La­chen, »du siehst wohl schon die Zeit kom­men, wo ich dem lie­ben Herr­gott ins Hand­werk pfu­sche und …«

»Ge­org, ich bit­te dich! Lass das! Mag es auch jetzt für dich ein Tri­umph sein, hin­ter das Ge­heim­nis von All­ger­mis­sens über­na­tür­li­chen Kräf­ten ge­kom­men zu sein, ver­giss es nicht … den­ke im­mer dar­an, wie All­ger­mis­sen ge­en­det hat.«

»Ach was, Ma­ri­an! Dei­ne Be­sorg­nis­se ge­hen zu weit. Kann ich auch jetzt die Trag­wei­te die­ser Ent­de­ckung noch nicht voll über­schau­en, so glau­be ich doch nicht, dass je­mals das ein­tre­ten wird, was du be­fürch­test. Komm! Sei kein Narr, setz’ dich zu mir! Ich wer­de dir er­klä­ren, dass das, was du für über­na­tür­lich hältst, eine ganz ein­fa­che phy­si­ka­li­sche Er­schei­nung ist.

All­ger­mis­sen ging von der Tat­sa­che aus, dass das den­ken­de mensch­li­che Ge­hirn Hertz­sche Wel­len aus­strahlt. Er schuf sich einen Ver­stär­ker von be­son­de­rer Art, der die­se Ge­dan­ken­wel­len eben­so ver­stärkt wie ein ge­wöhn­li­cher Ra­dio­ver­stär­ker die Rund­funk­wel­len. Du weißt ja, dass sich je­der Laie mit ei­nem ein­fa­chen Ra­dio­ver­stär­ker Schall­plat­ten her­stel­len kann. Das glei­che mach­te Al­ger­mis­sen mit den Ge­dan­ken­wel­len. Er ließ sie durch sei­nen Ver­stär­ker, un­ter des­sen Ein­gangs­an­ten­ne er saß, auf­neh­men, ver­stär­ken und durch den üb­li­chen Plat­ten­sti­chel in das Wachs ein­gra­ben. So ent­stand die­se ge­heim­nis­vol­le Plat­te.

Und nun um­ge­kehrt: Die Wachs­plat­te, auf den Tel­ler ei­nes Gram­mo­phons ge­legt, be­tä­tigt eine elek­tro­ma­gne­ti­sche Dose, die das Empfan­ge­ne durch den Ver­stär­ker in die Aus­gangs­an­ten­ne ge­hen lässt. Mit dem Er­folg, dass die auf der Wachs­plat­te ein­ge­gra­be­nen ge­dank­li­chen Be­feh­le All­ger­mis­sens mil­lio­nen­fach ver­stärkt alle ei­ge­nen Ge­dan­ken ei­nes Men­schen, der un­ter der Aus­gangs­an­ten­ne steht, über­wäl­ti­gen und sich durch­set­zen. Wo­bei, wie du ge­se­hen hast, je­der Wi­der­stand ver­geb­lich ist.«

»Aber wie kam es, Ge­org, dass ich, als ich im Be­reich der An­ten­ne stand, nicht auch dem Zau­ber un­ter­lag? Und wie kam es, dass nicht auch je­ner Of­fi­zier, der Al­ger­mis­sen er­schoss, dem Zwan­ge der Plat­te fol­gen muss­te?«

»Die­se Fra­gen will ich dir schnell be­ant­wor­ten. Der Of­fi­zier war durch sei­nen Stahl­helm ge­gen die Wel­len von der De­cken­an­ten­ne eben noch ab­ge­schirmt. Und du wur­dest nicht be­trof­fen, weil du nicht auf die ge­sen­de­ten Wel­len ein­ge­stimmt bist. Nen­ne es Zu­fall, nen­ne es Schick­sals­fü­gung, dass ich es war.«

»Gut! … Mag sein. Aber im­mer wie­der muss ich dich dann fra­gen, wie war’s bei dem Ge­ne­ral Iwa­now, wo alle der Plat­te fol­gen muss­ten?«

»Da­für habe ich vor­läu­fig kei­ne Er­klä­rung, Ma­ri­an. Wahr­schein­lich stand die Lö­sung die­ses Rät­sels auf dem ver­lo­re­nen Rand der Plat­te.«

»Nun, ei­ner­lei! Wir ha­ben’s ja schon hun­dert­mal ge­gen­ein­an­der aus­pro­biert uns ge­gen­sei­tig ab­zu­stim­men, und uns dann rein ge­dank­lich un­ter­ein­an­der zu ver­stän­di­gen. Bit­te, Ge­org, stim­me mich auf dei­ne Wel­le ein. Dann muss ich ja auch der Zau­ber­plat­te fol­gen.«

»Gut!«, rief der. »Um ganz si­cher zu sein, Ma­ri­an, dass du auf mei­ne Wel­le ab­ge­stimmt bist, noch dies!« Er war bei die­sen Wor­ten ganz nahe an Ma­ri­an her­an­ge­tre­ten und schau­te ihn mit fes­tem Blick wort­los an. Der Bruch­teil ei­ner Se­kun­de, dann dreh­te sich Ma­ri­an um und stell­te sich in die Mit­te des Zim­mers.