Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit - Stefan Aust - E-Book

Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit E-Book

Stefan Aust

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Beschreibung

Wenn in Deutschland zwei Menschen eine spannende Bilanz ziehen können, dann sind das Stefan Aust und Alexander Kluge. Der Journalist und der Filmemacher kennen sich seit über 40 Jahren, seit der Zusammenarbeit am Film »Der Kandidat«. Von da an entstanden und entstehen immer wieder neue Unternehmungen, anregende Gespräche und tiefgründige Analysen. In ihrem neuesten gemeinsamen Projekt gewähren Aust und Kluge Einblick in ihre Werkstätten. Von der Vergangenheit bis in die Zukunft, von bewältigten Krisen zu aktuellen Herausforderungen wird hier ein Debattenbeitrag geboten, der zum Denken anregt.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Fotografien: © privat

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: ullstein bild / Boness / IPON (Stefan Aust); Markus Kirchgessner (Alexander Kluge

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

STATION 1

Unsere Lebensläufe berühren sich in der Tangente/Beide sind wir Anwälte einer unabhängigen, klassischen Öffentlichkeit

Der skeptische Optimist: Stefan Aust, Filmemacher, Autor und Journalist

»Wo liegen für dich die ersten schnellen Jahre?«

Was bedeutet »dctp«?

Vom »Kino der Autoren« zum »Fernsehen der Autoren«

Woran ist ein neues Leitmedium zu erkennen?

Filme mit Überlänge, sehr kurze Filme

Balladen und Moritaten

Erster Kontakt mit Stefan Aust

Die Paten, welche die dctp begründeten

Die schwierige Arbeit, den Spiegel zur Kooperation zu gewinnen

Maulwurfstunnel als Metapher für die Arbeitsweise der dctp

STATION 2

Wir filmen – gemeinsam mit Volker Schlöndorff – auf dem Gründungsparteitag der Grünen/

Auf den Kollektivfilm Deutschland im Herbst folgt unser Film Der Kandidat

Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe im Januar 1980: eine Sequenz in unserem Kollektivfilm Der Kandidat

Michael Kloft im Gespräch mit Volker Schlöndorff

Aus Selbstachtung die Welt retten: die Grünen

Schlöndorff bei den Dreharbeiten auf dem Dornhaldenfriedhof

Vorabend der Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof

»Der Kandidat ist eine Blaupause für Spiegel TV gewesen«

Wie in der Silvesternacht 1979 die Schlussszene des Kandidaten entstand

»Eine Naturbegabung«

Perioden des Glücks sind nicht »leere Blätter der Weltgeschichte«

Ralle-balle/Ein Streik legt Frankreich lahm

Kurzer Lebenslauf einer Krise

Augstein während der Notstandsdebatte im großen Saal des Hessischen Rundfunks

STATION 3

Unser Abenteuer im Unabhängigen Fensterprogramm

»Unabhängiges Fernsehen« »Fernsehen ohne Intendant«

Die Quote folgt der Qualität

Als die Angst die Seiten wechselte

Das Blut der Welt

Was heißt Aktualität?

Um Haaresbreite hätte es das unabhängige Fensterprogramm der dctp mit Spiegel TV nicht gegeben

»Der eigene Sender: XXP«

Pressekonferenz zum Start des Regionalsenders XXP in Berlin am 25. April 2001

STATION 4

Adler oder Kranich als deutsches Wappentier?

Der Deutschland-Komplex – 21 915 Tage Bundesrepublik

Die Glückszeit des Wiederaufbaus/Die Herrschaft von Konrad Adenauer

Der Sturz von Kanzler Schmidt/Die Raketenkrise von 1981

Der zwölf Jahre andauernde Protest der Protestbewegung löst sich auf. Es entsteht eine »neue Bonner Republik«

STATION 5

Der rätselhafte Albino-Wal/Turbulenzen im Bauch des Wals

Der rätselhafte Albino-Wal Moby Dick

»Die ungestüme Herrlichkeit des Terrors«

Die heilige Selbstverwirklichung

STATION 6

Auf dem Weg zu einer Straßenkarte der Irrtümer

Jeder Irrtum hat seinen Grund – Die Gründe für Irrtümer sind ein wertvolles Material der Erkenntnis

Wirklichkeitsverlust

Gedächtnis, Vergessen, Rekonstruktion

Auf dem Weg zu einer Straßenkarte der Irrtümer

Zum Umgang mit Furcht und Angst

Augenmaß in der Natur und im Innern von uns Menschen

»Du warst in fast allen Weltgegenden. Wo du segeln kannst, warst du besonders gern«

»Wir leben in einer Welt der Unbestimmtheit, des Unheimlichen«

Was ist 2009 anders als 2022?

Im Jahr 2009

Einer der letzten Einzelkämpfer von 2008/9

Im Jahr 2010

Republikgründung aufgrund eines Unglücks in 750 Metern Tiefe

Im Jahr 2011

Der Arabische Frühling

Ein Tsunami im Film und in der Realität

»Eine Metropole von 37 Millionen Menschen«

Evakuierung einer Metropole

Der Elektriker

Im Jahr 2012

Im Jahr 2013

Einsatz in der Erdbebenzone

Im Erdbebengebiet in Nepal

Im Jahr 2014

Im Jahr 2015

Ende aller politischen Mittel

Im Sinkflug

Im Jahr 2016

Im Jahr 2017

Im Jahr 2018

Im Jahr 2019

Im Jahr 2020

Im Jahr 2021

Die letzten Tage beim Abzug der Amerikaner aus Afghanistan im August 2021

An welchen Weggabelungen werden falsche Entscheidungen getroffen? Ist falsch immer falsch?

Im Jahr 2022

Über Realismus

Die Spitzfindigkeiten des Erzählers Wirklichkeit

STATION 7

»Strukturwandel der Öffentlichkeit«/»Nachrichten in Echtzeit«/WAS HEISST AUTHENTISCH?

Nachrichten in Echtzeit

Beispiel für die Eichung von »Echtzeit«

Mündliche Überlieferung

Mittelbare Erfahrung, unmittelbare Erfahrung

Öffentlichkeit und Erfahrung

Der »Höhlenmensch in uns« und die Medienwelt um uns herum

Öffentlichkeit gehört zur Souveränität/Artikel 5 des Grundgesetzes gehört zu den elementaren Grundrechten

Tage und Wochen: Grundeinheiten des Lebens. Ein langes Menschenleben umfasst etwa 5000 Wochen

Eine Zeitschrift auf Papier und am Bildschirm: Die Woche

STATION 8

Öffentlichkeit ist die Atemluft des Geistes

»Befreit die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit«

»Atemluft …«

»… des Geistes«

Öffentlichkeit

Öffentlichkeit ist der Kampfbegriff der bürgerlichen Epoche

Die gegenwärtige Krise der ARD und die vielen Chancen, die das öffentlich-rechtliche System hätte

Wie stellt man Sachlichkeit her?

Öffentlichkeit und Vielfalt der Sprachen

Der Turmbau von Babylon und die Sprachverwirrung

Der Gegenpol zu Öffentlichkeit: Tyranny of Intimacy (Richard Sennett)

Ein geheimer Nebengedanke des Senders XXP: Die transatlantische TV-Nachtbrücke nach New York

»So sind wir alle ein winziger Chip in der Evolution«

»Kleiner Einzelschritt zu einer europäischen Öffentlichkeit, wenn davon tausend notwendig sind«

Zur Person

Stefan Aust

Alexander Kluge

Nachweise & Hinweise

Über lange und kurze Formen

XXP – Programmheft

Der Deutschland-Komplex – 21 915 Tage Bundesrepublik.

Die Kommunikationsbrücke nach New York

Von Städten und Menschen

Was sind Metropolen? Was wäre die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts?

Aus der dreiteiligen Serie »Reise durch Galizien« in der Frankfurter Zeitung vom 22. November 1924

Mega-City Schanghai/Auf dem Wege zu einer neuen Wirklichkeit

Die offene Stadt/Richard Sennett: Welche Stadt passt zu ihren Menschen?

Was wir bauen, wirkt auf uns zurück/Richard Sennett über Städtebau und das Genie der Hand

STADTPLANUNG UND ARCHITEKTUR

Thema: Unterwelten

Stalingrad/Das Ende aller »Führung«

Das Ballett der Macht

Der hohe Wert einer unterlassenen Falschmeldung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Mehr als 40 Jahre lang haben wir zusammengearbeitet. In dem Feld der Öffentlichkeit, in dem wir tätig waren, haben wir gemeinsam und jeder für sich Filme verantwortet, aber auch gemeinsam mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an TV-Programmen, auch Ganztagesprogrammen, gearbeitet. Uns verbindet eine gemeinsame Haltung: die enge Verbindung von Information und Erzählen. Dabei ist das, was wir Erzählen nennen, ebenfalls Information und Nachricht, aber sie ist erfahrungsgesättigte Information und auch emotional begründete Nachricht.

Nichts an unserem Beruf ist uns gleichgültig.

Menschen verfügen über zwei elementare Eigenschaften:

 

Empathie (wie bei David Hume) und

Sachlichkeit.

Das eine lebt nicht ohne das andere. Die Haltung des »unparteiischen Beobachters«, wie sie Adam Smith zu einem republikanischen Ideal erklärt hat, ist weder gleichgültig noch kühl. Sie ist temperiert durch die emotionale Haltung, die das Unterscheidungsvermögen und die Beobachtung stark macht. Und die zweite der beiden Eigenschaften, die Empathie oder Einfühlung, ist ebenso abhängig von ihrem emotionalen Charakter. Sie ist deshalb nie bloß fantastisch, sondern ebenfalls sachlich, aber auf andere Art als die Sachlichkeit des Beobachters. Beide Komponenten der menschlichen Urteilskraft, die Empathie wie die Sachlichkeit, sind nicht neutral. Daran glauben wir.

 

A. K. und St. A.

Stefan Aust

 

Alexander Kluge

 

STATION 1

Unsere Lebensläufe berühren sich in der Tangente/Beide sind wir Anwälte einer unabhängigen, klassischen Öffentlichkeit

Der skeptische Optimist: Stefan Aust, Filmemacher, Autor und Journalist

Alexander Kluge befragt Stefan Aust. Sat.1, 22. 7. 2001, News & Stories

ALEXANDER KLUGE: Wann bist du geboren?

STEFAN AUST: Am 1. Juli 1946.

KLUGE: Gehört das zum Sternzeichen Löwe?

AUST: Das ist Krebs, aber an so etwas glaube ich nicht.

KLUGE: Du warst Redakteur bei konkret in der Zeit der Protestbewegung, danach warst du 14 Jahre bei Panorama. Dann hast du in Kollektivfilmen die erste Geige gespielt. Von den Kollektivfilmen war das z. B. Der Kandidat. Anlass für den Film war die Kandidatur des umstrittenen Politikers Franz Josef Strauß um das Bundeskanzleramt.

AUST: Man darf die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß nicht von seiner Vorgeschichte getrennt sehen, von dem, was er als Affärenminister auf dem Kerbholz hatte, zum Beispiel die Spiegel-Affäre. Man darf es nicht trennen von der Protestbewegung der Sechzigerjahre und den Auswüchsen der Protestbewegung in den Siebzigerjahren, also dem, was Terrorismus in Deutschland war. Am Beispiel des Terrorismus wurden zu der Zeit einer sozialliberalen Koalition die Demokratie in Deutschland, der Rechtsstaat, der Umgang mit Gesetzesbruch, mit Mord und Totschlag auf eine Probe gestellt. Das System der RAF, speziell aber auch anderer terroristischer Gruppierungen, war der Versuch, den Staat zu provozieren. Die RAF wollte den Staat so provozieren, dass er sein tatsächliches, faschistisches Gesicht zeigt, dass er ein Polizeistaat wird. Es waren auch Phasen, in denen der Staat über das Ziel hinausgeschossen ist, indem er eigene Prinzipien über Bord geworfen hat. Nachdem das beendet war mit den Selbstmorden in Stammheim, mit der Ermordung von Hanns Martin Schleyer, mit der Befreiung der Geiseln in Mogadischu war so etwas wie ein Rechtsfrieden, ein politischer Frieden, in diesem Land wiederhergestellt.

KLUGE: Das wurde mit dem Rücktritt von Hans Filbinger besiegelt.

AUST: Das war ein kleines Stück Vergangenheitsbewältigung, an dem ich meinen Anteil hatte. Ministerpräsident Filbinger hatte immer – sogar vor laufender Fernsehkamera – behauptet, er hätte als Marinerichter nie ein Todesurteil gefällt. Doch dann fand ich in einer Außenstelle des Bundesarchivs die Strafverfahrensliste seines Gerichtes. Da stand »Todesurteil«, unterschrieben von Filbinger. Da musste er zurücktreten.

Dann kam das politische Nachspiel; unter der Devise »Freiheit statt Sozialismus« wollte Franz Josef Strauß Bundeskanzler werden. Die Decke des hausinternen Friedens in der Bundesrepublik Deutschland wurde rissig. Strauß war ein Mann von gestern, und die Schlacht, die inszeniert wurde, war keine reale Schlacht mehr. Es war ein anachronistischer Feldzug. Wir haben damals über das Filmplakat für den Film Der Kandidat lange debattiert. Es ist ein Bild von Klaus Staeck geworden, wo man nichts sah außer einem Adenauer-Mercedes. Es war kein agitatorisches Plakat gegen Strauß. Er wurde gezeigt als ein Mann von gestern. Der Reiz des Films war, dass er eben nicht wie ein Agitationspropagandafilm Strauß verteufelte.

KLUGE: Die Filme Deutschland im Herbst, Der Kandidat, Krieg und Frieden und auch mein Film Die Patriotin und Rainer Werner Fassbinders Film Die dritte Generation bewegen sich um das Thema Patriotismus. Worauf kann man stolz sein?

AUST: Ich habe mit dem Stolz ein spezielles Problem. Man kann nur stolz auf eine eigene Leistung sein, auf etwas, was man getan hat. Die Tatsache, dass man zufällig Deutscher ist, ist keine Leistung, es ist blödsinnig, darauf stolz zu sein. Ich hätte genauso gut Franzose oder auf Tonga aufgewachsen sein können, das ist keine Leistung, das ist reiner Zufall.

KLUGE: Dein Vater und deine Mutter sind nicht deine Leistung, aber es gibt eine bestimmte Affinität, und die könnte man auch Stolz nennen.

AUST: Das finde ich nicht. Wir als Gruppe, als Familie, haben es hingekriegt, uns auch in relativ schwierigen Zeiten gemeinsam zu behaupten, uns gegenseitig zu unterstützen und zurechtzukommen. Das haben wir ordentlich gemacht.

KLUGE: Man würde das vielleicht Identität nennen. Da fängt die Verteidigungszone des Eigenen an. Eigentum könnte man es nennen statt Stolz.

AUST: Man hat gemeinsame Erfahrungen gemacht und etwas auf die Reihe gekriegt.

KLUGE: Was bewegt 1945 die Menschen, wenn sie in Notzeiten auf die Familien zurückfallen und zum Beispiel »organisieren«? Die Kardinäle stehen hinter ihnen, wenn sie klauen.

AUST: Das ist eine gewisse Art von Solidarität. Die Gruppe, zu der man mehr oder weniger zufällig gehört, versucht, gut mit den anderen, auch mit den Nachbarn, zurechtzukommen.

KLUGE: Obwohl du ein typischer Städter bist und einen städtischen Beruf hast, bist du auch ein bäuerlicher Mensch.

AUST: Ich bin ein Kind vom Land, das war ich, und das bleibe ich.

KLUGE: Wie verhält man sich zum eigenen Acker, also ich zu meiner Heimatstadt Halberstadt, du zu deinem Acker?

AUST: Den habe ich mir gekauft. Ich komme von einem kleinen Bauernhof. Der Obstanbau hat nichts eingebracht. Die sieben Kühe sind alle abgesoffen bei der Flutkatastrophe. Mein Vater hat hart gearbeitet, auch nebenbei noch, weil es nicht genug abwarf. Meine Mutter hat immer gearbeitet. Das waren schwierige Zeiten. Die fünf Kinder haben es alle geschafft, Abitur zu machen. Das ist das Verdienst meiner Eltern, sich darum intensiv gekümmert zu haben. Dann ging das den Bach runter, und wir haben ein kleines Forsthaus im Wald gepachtet. Da haben wir viele Jahre gelebt und uns an den Wochenenden wiedergesehen. Das habe ich gekauft.

KLUGE: Es gibt im Inneren eines städtischen Menschen etwas, worauf er sich verlässt, wo sein Anker sitzt. Das ist der Bauer in uns.

AUST: Ich bin kein städtischer Mensch. Ich bin zwar in unterschiedlichen Großstädten gewesen, aber am liebsten bin ich auf dem Land.

KLUGE: Wenn du in Sitzungen bist oder im Oval Office verkehrst, bleibt etwas in dir ruhig.

AUST: Vielleicht hat das mit meiner Verbindung zur Natur zu tun.

KLUGE: Es gibt in jedem Menschen ein Feuerchen, wo man sagen kann: Da ist er mit sich selbst identisch. Ein besserer Ausdruck als Stolz wäre »verteidigungsbereit«. Bei Michael Kohlhaas ist es anders als bei dir. Aber jeder Mensch hat diesen Punkt, den Kant die Würde nennt, etwas, das man nicht verkauft, die Kuh, die eigene Frau, das eigene Pferd.

AUST: Wenn man Pferde züchtet, muss man gelegentlich auch Pferde verkaufen, sonst fressen sie einen auf.

KLUGE: Nach langer Zeit bei Panorama und nachdem du mehrere Bücher geschrieben hast, bist du Chefredakteur des Spiegels geworden; vorher warst du bei Spiegel TV. 13 Jahre sind das, länger als das Dritte Reich.

AUST: Das Dritte Reich war erstaunlich kurz. Für die Zeiten, die man nicht selbst miterlebt hat, hat man kein Zeitgefühl. Das Zeitgefühl verschiebt sich im Verlaufe des Lebensalters. Für ein einjähriges Kind ist ein Jahr eine lange Zeit, nämlich 100 Prozent der Lebenszeit. Für einen Hundertjährigen ist ein Jahr nur ein Prozent. Insofern ist es logisch, dass das Zeitgefühl sich verändert. Wenn man älter wird, laufen die Jahre schneller ab. Bei manchen historischen Ereignissen, die man nicht selbst miterlebt hat, hat man das Gefühl, sie seien lang gewesen. Das Dritte Reich existierte nur zwölf Jahre. Es hat nie zwölf Jahre gegeben, in denen so viel Unheil für die Welt angerichtet worden ist.

»Wo liegen für dich die ersten schnellen Jahre?«

KLUGE: 1963 wird Kennedy ermordet. Da bist du 17 Jahre alt.

AUST: Da habe ich gedacht, dass Nixon Präsident wird. Das ist er auch später geworden.

KLUGE: Hast du geglaubt, dass Lyndon B. Johnson Kennedy ermordet haben könnte?

AUST: Das war eine verirrte Kugel von Lee Harvey Oswald. Die einfachste Lösung ist meistens die richtige. Ich bin kein großer Anhänger von Verschwörungstheorien. Es gibt ein Buch von Gerald Posner, Case Closed, in dem er den Fall rekonstruiert. Am Mord von Kennedy ist nichts gewesen, was anders ist als das, was man weiß. Wenn Kennedy sich eine halbe Stunde verspätet hätte, wär es vielleicht anders gekommen. Aber nach den neuesten Recherchen, die der Filmemacher Oliver Stone anhand von jetzt erst veröffentlichten Regierungsakten vorgenommen hat, sieht der Mord doch eher wie ein geheimdienstlich organisierter Staatsstreich aus.

Als ich zur Schule ging, habe ich den Mauerbau am Radio miterlebt, die Kubakrise, Spiegel-Affäre, alles aus der Perspektive eines Gymnasiums in der Kleinstadt Stade. Wirklich miterlebt habe ich es erst nach der Schule, als ich einen Tag nach dem Abitur zu konkret gegangen bin. Der kleine Bruder des Herausgebers war bei mir auf der Schule, daher kannte ich Klaus Rainer Röhl und Ulrike Meinhof. Ich hatte eine Schülerzeitung außerhalb der Schule gemacht. Röhl hat mich gefragt, ob ich nicht bei konkret anfangen wollte. Ich kam eher aus einem bürgerlichen Haus, war nie besonders links. Aber ich wollte Zeitung machen. Meine Eltern hatten wirtschaftliche Schwierigkeiten, sodass es mit dem Studieren schwierig geworden wäre. Ich wollte etwas machen und habe bei der Zeitschrift angefangen. Das war ausgerechnet in der Zeit 1967, 1968, als die Studentenbewegung entstand. Da war ich durch konkret nah dran und habe die Leute alle kennengelernt, von Rudi Dutschke bis Peter Schneider.

KLUGE: Du warst ein aktiver Zeitzeuge.

AUST: Ich war teilnehmender Beobachter, neugierig, aber auch skeptisch. Wenn bei großen Demonstrationen Steine auf die Polizei geworfen wurden und man sich gewundert hat, wenn man einen Knüppel über den Kopf bekam, habe ich das skeptisch betrachtet: Ihr legt es doch darauf an, dann dürft ihr euch nicht wundern. Ich war nahe dran, als Rudi Dutschke niedergeschossen wurde. Ich habe zum Beispiel die Springer-Demonstrationen mit Ulrike Meinhof an dem Wochenende mitgemacht. Aber ich war immer vorsichtig, vielleicht auch deswegen, weil ich gerne am Wochenende aufs Land gefahren und durch den Wald geritten bin. Ich hatte nie das Bedürfnis, mich in ein Gefängnis zu begeben. 1967 und 1968 sind nicht mehr vergleichbar mit den Siebzigerjahren. Die Siebziger waren ein anderes Kaliber.

KLUGE: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) beschließt 1969 seine Auflösung. Es gibt wenige Beispiele, dass eine intakte Organisation die eigene Aufhebung beschließt. Es folgt danach die sogenannte Amnestie-Debatte. Es geht um die Amnestie für Straftaten, die während und aus Gründen der Protestbewegung erfolgten. Da gibt es den Bundestagsabgeordneten Dichgans, der sagt: Wir müssen bei dieser Amnestie die Kaufhausbrandstifter ausgrenzen. Die sind zu diesem Zeitpunkt nicht terroristisch aktiv, sondern in der Lehrlingsausbildung in Nordhessen tätig. Ich spreche nicht von Ulrike Meinhof, die sitzt in Berlin. Ich spreche nicht von Horst Mahler, denn das ist ein intellektueller Anwalt, der nichts Praktisches tut, sondern ich rede von der Gruppe, die in Hessen eine neue Bildungsarbeit beginnt.

AUST: Baader und Ensslin mit ihren Lehrlingen waren stark auf Randale gebürstet. Das war ihre Art von Sozialarbeit. Es war etwas anderes, ein Kaufhaus in Brand zu setzen, als auf der Straße mit Steinen zu werfen. Wenn man die spätere Entwicklung dieser Gruppe sieht, war das schon angelegt. Beim Kaufhausbrand-Prozess hat man gemerkt, dass das eine andere Art von Militanz ist. Ulrike Meinhof fuhr damals als Kolumnistin von konkret nach Frankfurt zum Prozess und bekam einen Besuchstermin bei Gudrun Ensslin. Sie kam wieder und war a) schwer beeindruckt von ihr, und b) hat sie gesagt: Wenn ich das schreibe, was die mir gesagt hat, kommen die aus dem Gefängnis nie wieder raus. Sie hat es nicht geschrieben, hat es uns auch nicht erzählt, aber es war so, dass sie schon damals den Eindruck hatte: Hier wird etwas anderes vorbereitet als das, was wir bisher kennen.

KLUGE: Ein Buch von dir heißt Kennwort Hundert Blumen. Wovon handelt das?

AUST: Es handelt von den Verstrickungen des Verfassungsschutzes in den Mordfall Ulrich Schmücker in Berlin. Es gab am Rande der RAF eine anarchoterroristische Gruppe, die sich die Bewegung 2. Juni nannte. Da gab es einen jungen Mann, der auf dem Weg zu einem Sprengstoffanschlag festgenommen wurde. Im Gefängnis wurde er vom Verfassungsschutz bearbeitet und hat dann Aussagen gemacht. Als er wieder rausgelassen wurde, hat der Verfassungsschutz ihm weitere Avancen gemacht. Dann ist er von einer Gruppe, in die er geraten ist, umgebracht worden. Es war quasi ein Fememord, der nie aufgeklärt wurde. Der Verfassungsschutz war so verstrickt in die Geschichte, dass der Prozess nachher nicht mehr sauber durchzuführen war.

KLUGE:Der Baader-Meinhof-Komplex heißt ein weiteres Buch von dir. Was steht da drin?

AUST: Beim Bundeskriminalamt hieß der Vorgang über die RAF der Baader-Meinhof-Komplex. Diesen Begriff habe ich vom BKA übernommen, weil Komplex a) einen komplexen Vorgang bezeichnet und b) auch einen Komplex darstellt, der im Kopf festsitzt. Es hat eine gewisse Doppeldeutigkeit. Ich habe versucht, die Geschichte der RAF und ihrer Hauptfiguren vom Beginn der RAF bis zum Tod in Stammheim zu rekonstruieren.

KLUGE: Das Bundeskriminalamt und die RAF treten wechselseitig in eine Vernetzung, in eine Art gegenseitigen Lernprozess ein, bewundern einander gelegentlich.

AUST: Das Bundeskriminalamt gab es schon vorher. In Wahrheit ist es als polizeiliche Koordinationsstelle gegen die RAF gegründet worden, mit seinem famosen Chef Horst Herold.

KLUGE: Der trat wie ein Dichter auf, wie ein Poet der Kameralistik. Der schläft neben seinem Amtszimmer.

AUST: Herold hatte sein Appartement im Haus des BKA in Wiesbaden, er sagte: Das ist mein Stammheim. Der hat sich zum Teil auf eine schräge Art mit denen identifiziert.

KLUGE: Herold hatte einen hohen Grad an Sensibilisierung in Richtung des Feindes. Er fühlte sich ein. Es gibt einen Kriminalbeamten, der bewundernd von Ulrike Meinhof spricht.

AUST: Das ist der Beamte Alfred Klaus, der hat sie häufig besucht, der sogenannte Familienbulle. Der war der Abgesandte des Bundeskriminalamts. Er hat auch die Gefangenen in Stammheim besucht und die Angehörigen. Er hat versucht zu begreifen, was da vor sich geht. Eigentlich war er ein einfacher Polizeibeamter, der sich langsam in diese politische Welt eingearbeitet hat und viel verstanden hat von dem, was sich dort abspielte. Um es wirklich bekämpfen zu können, musste man sich einfühlen in deren Psyche. Wenn man an manchen Stellen mehr auf diesen Polizisten gehört hätte, hätte man viel Unheil vermieden.

KLUGE: In Stammheim gab es von der Seite der Gefangenen, also der RAF, massive Versuche, mit Telefonaten in den Krisenstab im Bundeskanzleramt vorzudringen. Es taucht die Frage auf: Wie kann man einen seriösen Verhandlungspartner bekommen? Wie kann man als handelnde Partei, als Kriegspartei, anerkannt werden?

AUST: Die Absicht der RAF war, einen militärischen Status zu bekommen, sich als Kriegsgefangene zu sehen und auch so zu verhandeln. Sie wollten als politische Organisation ernst genommen werden. Um das zu vermeiden, hat die Bundesregierung nicht mit ihnen gesprochen. Das war ein grober Fehler. Wenn man zur Zeit der Schleyer-Entführung mit den Gefangenen in Stammheim ernste Gespräche geführt hätte, hätte man die Probleme mehr oder weniger unblutig lösen können. Es war ein Fehler, dass man die Anwälte nicht eingeschaltet, dass man die Kontaktsperre durchgesetzt hat. Man hat die Kontaktsperre eingeführt, weil man glaubte, dass die Aktionen aus dem Gefängnis geleitet wurden. Natürlich gab es Beziehungen nach draußen. Aber durch die Kontaktsperre hat man die Bunkermentalität besonders gefördert und verhindert, dass Leute von außen Einfluss nehmen konnten, zum Beispiel Anwälte wie Schily oder Heldmann. Mit denen hätte man reden können, und die hätten auch mit den Gefangenen reden können. Dann hätte man vielleicht Appelle nach draußen an die anderen richten können. Die Kerngruppe der RAF im Hochsicherheitstrakt in Stammheim waren Gurus für die Terroristen draußen. Das waren nicht nur Gefangene, sondern Helden, Leitfiguren. Es konnte nicht in deren Interesse sein, dass ein Flugzeug mit vielen Leuten an Bord gekidnappt und nach Mogadischu entführt wird, auch nicht diese kaltblütige Hinrichtung von Schleyer.

KLUGE: Sie hätten abwiegeln können. Es gibt die berühmte Sage, dass Karl der Große Roland, den Führer seiner Nachhut, nicht zurückholen konnte. Nichts hat Hitler so geschadet wie die Tatsache, dass er die 6. Armee unter Paulus nicht retten konnte. Der Krisenstab kann Schleyer nicht zurückholen, der eine exponierte Person ist. Das hat eine emotionale Seite. Bist du da auch noch ein kühler Beobachter?

AUST: Mich hat das mitgenommen, weil ich Schleyer kannte. Ich hatte einen kritischen Film über ihn gemacht. Trotzdem habe ich ihn hinterher wiedergetroffen. Da hat er gesagt, ich hätte ihn in meinem Panorama-Beitrag ja erwartungsgemäß ordentlich in die Pfanne gehauen, aber wir sollten bei Gelegenheit wieder mal einen saufen gehen. Das war ein Kerl, mit dem konnte man kämpfen, mit dem konnte man streiten. Das stand im Gegensatz zu seiner Physiognomie, da wirkte er nicht besonders sympathisch. Diese kaltblütige Entführung und die Demütigung von diesem Mann über einen so langen Zeitraum haben mich mitgenommen. Es war auch schrecklich zu beobachten, wie wenig dieser Staat in der Lage war, angemessen zu reagieren. Man hat alles getan, um gewaltige Aktivitäten vorzuspiegeln, und das, was man hätte tun müssen, mit denen zu reden, hat man nicht gemacht. Man hat sie ignoriert, ausgeblendet, die Gefangenen in Stammheim.

KLUGE: Es gibt hier ein weiteres Buch: Mauss – ein deutscher Agent. Dem warst du auf der Spur.

AUST: Der war Privatdetektiv. Es war ungewöhnlich, dass jemand als kleiner Privatdetektiv im Auftrag von und bezahlt durch die Versicherung in enger Kooperation mit der Polizei selbst Verbrecher jagt – eine, wie ich finde, problematische Angelegenheit. Das Gewaltmonopol des Staates darf nicht privatisiert werden. Heute ist das gang und gäbe. Wir haben uns alle an private Sicherheitsdienste, an private Ermittler gewöhnt.

KLUGE: Zwei Drittel der Sicherheitssysteme sind privat finanziert.

AUST: Große Teile der privaten Sicherheitsdienste wurden nach der Wiedervereinigung von ehemaligen Stasileuten aus dem Osten gebildet. Das ist die Privatisierung der Stasi an Flughäfen und Behörden.

KLUGE: Ein anderes Buch heißt Der Pirat.

AUST: Das ist die Geschichte meines Vetters. Ich habe einen Cousin, den Sohn meines Onkels. Inzwischen lebt er nicht mehr. Der ist über viele Jahre geradezu beispielhaft durch eine Drogen- und Dealerkarriere gegangen. Ich habe immer einen großen Bogen um ihn gemacht, wie man Junkies ausweicht, um nicht hineingezogen zu werden, wenn es darum geht, Drogen zu kaufen. Er wollte seine Geschichte erzählen, ein Buch schreiben. Er fragte mich, ob ich ihm helfen könnte, einen Verlag zu finden. Er konnte es erzählen, aber nicht aufschreiben. Dann habe ich seine Geschichte aufgeschrieben. Und sie ist verfilmt worden für das ZDF.

KLUGE: 1988 beginnt Spiegel TV. Du hast selber moderiert und warst jede Woche vor der Nation. Spiegel TV kommt 1989 die Zeitgeschichte entgegen in ihrer interessantesten Form. Heute hast du als Chefredakteur des Spiegels eine Tätigkeit, die sich von allen deinen früheren unterscheidet.

AUST: Meistens bin ich in meinem Büro. Das ist langweilig. Wenn ich irgendwo hinfahre, fahre ich dahin, um ein Gespräch mitzuführen. Das sind nur kurze Reisen. Meistens bin ich an meinem Schreibtisch und sitze viel. Die Tätigkeit eines Chefredakteurs bei einem solchen Magazin findet im Büro statt durch Reden – und zwar in einer Tour.

KLUGE: Ich habe mir zur Vorbereitung unseres Gesprächs die Titelblätter von zwei Jahren angeschaut. Die sind anders als in früheren Jahren. Es werden verschiedene Zielgruppen, verschiedene Interessen und Themen direkt und nacheinander angesprochen. Es ist ein Aufmerksamkeitskarussell oder Kaleidoskop, keine monolithische Art. Hier kommt der Spiegel mit einer Art von Farbe, wie es in vielen Jahren früher war.

AUST: Das waren die frühen Jahre. Da hatte man ein Foto auf dem Titel, einen Menschen, meistens einen Politiker, aber auch Schauspieler wie Hildegard Knef. Die Phase, dass es nur Porträts auf dem Titel sind, ist seit langer Zeit vorbei. Das Themengebot, was die Titelbilder signalisieren, ist breit. Der Spiegel muss die Fülle der Ereignisse der Woche, des Monats, der Zeit reflektieren.

KLUGE: »300 Jahre Preußen« ist ein Jahresthema, auch »Das Gespenst der 70er«. Das hätte niemand ein Jahr vorher für möglich gehalten, dass die Siebzigerjahre oder 1968 ein öffentliches Interesse bekommen.

AUST: Alle, die heute in der Bundesregierung eine Rolle spielen, oder jedenfalls der größte Teil davon, kommen auf irgendeine Weise aus der oppositionellen Bewegung. Das ist eine große Leistung, dass dieser Staat die Protestbewegung integriert und auch Erfahrungen daraus gezogen hat als Staat, aber auch für die Personen selbst. Wo hat Joschka Fischer sein Verhandlungsgeschick gelernt? Mehr oder weniger in den endlosen Quatschereien in der WG in Frankfurt. Otto Schily als Innenminister schleppt Erfahrungen mit sich herum, die er in den Gerichtssälen dieser Republik unter anderem auch als Verteidiger der Terroristen gesammelt hat.

KLUGE: In diesem Heft geht es um das »Ich«. Das ist auf der subjektiven, persönlichen Seite, allerdings mit Boris Becker, einer öffentlichen Figur.

AUST: Spitzensportler sind von der Psyche her interessant. Das sind die Gladiatoren der modernen Zeit. So ein persönliches Drama spielt sich in den Köpfen von vielen Leuten ab. Insofern habe ich das für richtig gehalten, in einem intensiven Gespräch dem Thema auf den Grund zu gehen.

KLUGE: »Die große Rentenreform«. Das wird grafisch schon angedeutet, wie groß sie ist.

AUST: Da muss man nicht mehr lesen, da weiß man, was daraus geworden ist.

KLUGE: »Wie Banken die Anleger abzocken« ist ein zentrales Thema. »Neue Heimat Süden. Auswandern in die Sonne«, Eskapismus, »Verschwundene Kinder« – das ist ein erschütterndes Bild. Das hätte ich mir nie vorgestellt, dass sich der Spiegel traut, ein solch einfaches Bild, das aber derart erschütternd ist, auf der Deckblattseite zu veröffentlichen. Das gehört zur Kunst, auf Effekte zu verzichten, etwas Einfaches zu zeigen und dadurch einen besonderen Ausdruck zu gewinnen.

AUST: Ich hatte das Bild in der Tageszeitung gesehen, es hat mich bewegt, weil ich selbst Kinder habe. Das Fahrrad ist ein Fahrrad im Schnee. Aber in der Kombination mit einer solchen Zeile packt einen das blanke Grauen.

KLUGE: Das ist vom Bildmedium her gedacht. Das würde Joseph Beuys nicht anders machen. Hier »Droge Macht«, »Hightech-Welt 2001. Odyssee im digitalen Raum«, »Was fühlen Tiere?«. Das ist wieder ein persönliches Thema, dass der Mensch sich spiegelt in diesen Augen.

AUST: Das ist der Hintergrund der gegenwärtigen Debatte, die mit BSE und Maul- und Klauenseuche zu tun hat. Die Leute gehen heute nicht ordentlich mit den Tieren um, wenn man sich dieses Massenkeulen anschaut.

KLUGE: Was sind Probleme in unserer Welt. Ist der Raketenabwehrschild ein Problem?

AUST: Es ist eher ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die elektronische Industrie. Was in Wahrheit viel gefährlicher ist, ist die ungleiche Entwicklung der Welt, riesengroße Menschenmassen auf bestimmten Kontinenten, denen es schlecht geht im Vergleich zu kleinen Teilen der Welt, in denen es den Leuten extrem gut geht. Das ist wiederum gepaart mit einer großen Mobilität. Man muss nicht mehr mit der »Mayflower« über den Atlantik schippern, sondern man kommt überall schnell hin. Das ist auch ein Teil der Asyl- und Ausländerproblematik.

KLUGE: An der somalischen Küste, bei Mogadischu, sind Piraten. Das ist nichts, was mit der Zivilisation, mit Rechtsstaatlichkeit oder mit Schutz vor Räubern zu tun hat. Bei Singapur gibt es dasselbe. Singapurs Marine ist zeitweise nur dafür da, Piraten abzuhalten.

AUST: Das Geiseldrama auf Jolo ist eine ähnliche Geschichte.

KLUGE: Es war eine kühne Entscheidung, Marc Wallert rauszuholen.

AUST: Ich bin stolz darauf, dass bei diesem Unternehmen der Spiegel gesagt hat: Wir machen das selber. Wir nehmen auch im Zweifel das Geld in die Hand, um das zu tun. Ressortleiter waren bereit, das unter Einsatz des eigenen Lebens vor Ort zu verhandeln. Das hätte alles schiefgehen können. Das Auswärtige Amt hat uns dringend davon abgeraten. Aber nach Lage der Dinge gab es keinen anderen Weg, ihn da rauszuholen.

KLUGE: »Protego ergo sum« (lat.: »Ich vermag zu schützen, und damit bin ich«) heißt nach Carl Schmitt die Formel für den absoluten Herrscher. Weil der König jemand, den er ausschickt und der in Not kommt, zurückholen kann, deshalb darf er regieren.

AUST: Für die Leute im Haus und für die Reporter, die häufig unter Risiken in die Welt fahren, in Krisengebiete, war es wichtig zu sehen, dass wir alles tun, um sie im Zweifel wieder rauszuholen. Das bedeutet nicht, dass man nicht vorsichtig sein muss und dass man sich nicht mehrmals überlegen muss, ob man Leute in Krisenregionen schickt. Aber wenn man diesen Beruf ernsthaft betreiben will, kann man sich nicht nur auf die Propaganda der einen oder anderen Seite verlassen. Da müssen wir unsere Aufgabe auch in Krisenregionen wahrnehmen.

KLUGE: Wenn du drei Horizonte, zu denen man aufbrechen könnte, nennen solltest, was wären die für 2001?

AUST: Die Grenzen sind stark gefallen. Das finde ich eine gute Erfahrung. Bei allem, was an der EU-Bürokratie kritisiert wird, möchte ich eines nicht missen: dass ich über einen Grenzübergang fahren kann, ohne anhalten zu müssen, dass ich meinen Pass nicht vorzeigen muss. Mir gefällt die Internationalisierung gerade in Europa, aber auch über Europa hinaus, dass Jugendliche in England, in Amerika studieren, dass sie Sprachen lernen.

Was bedeutet »dctp«?

Alexander Kluge

In den Jahren nach 1988 bis weit nach der Jahrtausendwende wunderten sich Zuschauerinnen und Zuschauer über das Logo »dctp« im Fernsehen. Es findet sich vor den Sendungen von Spiegel TV, vor Jauchs Stern TV, vor BBC Exklusiv, vor NZZ Format, vor dem SZ Fernsehen und vor den Kulturmagazinen 10 vor 11 (bei RTL), News & Stories (bei Sat.1) und Prime Time: Spätausgabe (bei RTL).

Die Development Company for TV Program ist eine Gründung des japanischen Werbekonzerns Dentsu Inc. mit 37,5 Prozent und von Alexander Kluge mit ebenfalls 37,5 Prozent. Weitere Gesellschafter sind der Spiegel-Verlag und die Neue Zürcher Zeitung mit je 12,5 Prozent. 2020 ist die Neue Zürcher Zeitung ausgeschieden. Die Prozentsätze haben sich geändert, nicht aber die Gleichgewichte. Die dctp ist eine Plattform für unabhängige Fernsehprogramme, die nach dem Rundfunkstaatsvertrag ein Fensterprogramm bei einem der Hauptsender ausstrahlen. Die Programme werden unabhängig produziert.

Die Aufzählung der Prozentzahlen bei den Gesellschafteranteilen hat einen inhaltlichen Grund. Die beiden Gründungsgesellschafter und die beiden wesentlichen Programmpartner (es gibt viele weitere, die nicht Gesellschafter wurden) zeigen ein Gleichgewichtssystem. Ein zentraler Punkt der Satzung besteht nämlich darin, dass in allen Fragen des Programms Einstimmigkeit erforderlich ist. Auch sonst können die beiden Gründungsgesellschafter und die Partner einander nicht überstimmen. Dieses Prinzip einer nicht hierarchischen oder auf Mehrheitsentscheidung beruhenden Struktur ist eine der Grundlagen der dctp. Die dctp besteht bis heute. In den mehr als 30 Jahren, in denen das Unternehmen arbeitet, hat es keinen Fall gegeben, in dem verschiedene Standpunkte nicht durch Einigung zusammengebracht werden konnten: Es gab keinen Fall, in dem eine Abstimmung nach Mehrheiten erforderlich oder erwünscht gewesen wäre.

Der Sinn dieser Gründung ist einfach: Bei Einführung des privaten Fernsehens gab es nur zwei Mediengruppen, die stark genug waren, um sich um einen eigenen privaten Fernsehsender zu bewerben. Das eine war die Kirchgruppe, sie bewarb sich um den Sender Sat.1 und wurde von den Bundesländern unterstützt, in denen die CDU die Mehrheit hatte. Die zweite Gruppe bestand aus der Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion, die sich mit dem Bertelsmann-Konzern verbündet hatte. Es standen bei beiden Seiten, der Gründung Sat.1 und der Gründung von RTL, Monopole oder Oligopole im Raum. Nach Artikel 5 GG – und nach der Überzeugung von uns unabhängigen Filmemachern und auch von unabhängigen Unternehmen wie dem Spiegel-Verlag – ist ein Privatbesitz an einem so wesentlichen Teil der Öffentlichkeit wie dem Fernsehen unzulässig. Auf dem Gebiet der Presse gibt es keine Begrenzung für Monopole oder Großunternehmen, weil am Kiosk nach den Regelungen der Grossisten alle Publikationen von Bild-Zeitung bis zu Manchester Guardian, FAZ und Le Monde ausgeliefert werden und präsent sein müssen. Eine solche Pluralität beim Endabnehmer gibt es für Fernsehstationen nicht. Dies ist der Grund, warum wir damals unabhängige Fensterprogramme forderten. Wenn das »Hauseigentum« beim Kirchkonzern oder bei großen Unternehmen wie Bertelsmann liegt, muss es gewissermaßen Dachgeschosse oder Stockwerkseigentum geben – durchaus begrenzt – für unabhängige Bewerber. Dies wurde im Landesrundfunkgesetz NRW so auch zugrunde gelegt. Die beiden Konzerne, die sich um die Lizenzen von Sat.1 und RTL bewarben, nahmen hierauf Rücksicht, weil sie für die Verbreitung ihrer Werbung auf die Sendemasten im Lande NRW angewiesen waren. Obwohl also die liberale Einrichtung der Fensterprogramme nur in der Gesetzgebung eines Bundeslandes fundiert war, wurden sie dann doch ausgestrahlt.

Auf der Plattform dctp waren so rivalisierende Unternehmen wie Spiegel TV und Focus TV zur Zusammenarbeit bereit. Mit dem Fernsehen der Neuen Zürcher Zeitung und der BBC war eine europäische Perspektive der Öffentlichkeit angezielt. Die Kulturmagazine der dctp verbinden Teilöffentlichkeiten, die sonst kaum miteinander direkt kommunizieren: Wissenschaftskolleg zu Berlin, Max-Planck-Gesellschaften und Universitäten, Opernhäuser, Pop, Filmemacher, Personen wie Helge Schneider, Hans Magnus Enzensberger, Joseph Vogl, Niklas Luhmann, Durs Grünbein und Christoph Schlingensief, die sich sonst nicht treffen oder getroffen hätten.

Vom »Kino der Autoren« zum »Fernsehen der Autoren«

Das »Kino der Autoren« blühte von 1962 bis 1982 20 Jahre in der Bundesrepublik. Länger als die Vorbilder: die Nouvelle Vague oder das New American Cinema. Nach dem Tode Fassbinders (das war das Zeichen, nicht der Grund) verfiel das Kino der Autoren. Ab 1986 diskutierten wir über das »Fernsehen der Autoren«. Das knüpfte an Roberto Rossellini an. Er hatte, nachdem die Filmgesetzgebung von Giulio Andreotti (ital. Ministerpräsident) den unabhängigen Film in Italien zerrüttet hatte, ein solches »Fernsehen der Autoren« erfunden und bis zum Ende seines Lebens nur noch dafür gearbeitet.

Die Autorenfilmer (so auch ich) glaubten stets an die nächsten Schritte: Man muss eine Filmproduktion, sagten wir, direkt in den Programmkinos und in den Filmmuseen installieren (da, wo die Filmgeschichte zu Hause ist und die Filminteressierten die Filme finden), es geht um kooperative, das heißt »vernetzte« Filme (wie Deutschland im Herbst, Der Kandidat, Krieg und Frieden), es geht darum, »bei der Mehrheit zu bleiben, selbst wenn sie irrt« (das bedeutete, das Fernsehen zu respektieren, wenn es mit Willen der Zuschauer zum Leitmedium wird). Heute gilt das genauso fürs Internet.

Zum Prinzip des Autorenfilms gehört aber nicht nur dieser »Druck nach vorne«, sondern die Verankerung in der Filmgeschichte. Man kann die Qualität des frühen Films (und der Fantasietätigkeit, die dem Film voranging) nur unter der Bedingung in den Menschen gegenwärtig halten, wenn man sie in die Neuen Medien wirklich und praktisch einfügt.

Woran ist ein neues Leitmedium zu erkennen?

Bei Kriegsausbruch 1939 ist das Leitmedium der Rundfunk. Man geht um fünf Uhr früh, wenn die Panzer nach Polen durchbrechen, nicht ins Kino, sondern hört die Sondermeldung. Am 11. September 2001 greift einer nicht zum Roman, sondern drückt auf die Fernsehtaste für CNN. Dies plus das Telefon sind Leitmedien. Das Vertrauensverhältnis Wo hole ich im Ernstfall meine Nachricht? wandelt sich rasch. Das Leitmedium ist immer dasjenige, zu dem man in der Not greift.

Das, was außerhalb eines solchen Mediums in der Welt Geltung hat, muss man die ganze Zeit über ohne Fälschung zum Medium hintragen. Im Moment der Not käme es zu spät. Für einen Filmemacher geht es nicht darum, ob er selbst gern Fernsehen sieht oder ob er das Medium liebt. Es genügt, dass er Filmkunst liebt. Das fordert, dass er das Leitmedium respektiert.

Filme mit Überlänge, sehr kurze Filme

Die Heimat-Trilogie von Edgar Reitz umfasst 54 Stunden. Das Interesse der dctp gilt einerseits kurzen Filmen (sogenannte Minutenfilme), auf der anderen Seite aber auch »Thementagen« in Länge von 200 Minuten oder Nachtprogrammen in Länge von fünf Stunden. Die Kategorie »Momentaufnahme« ist ohne die Kategorie »Zusammenhang« nicht zu denken. Nach der Insolvenz von VOX im Jahr 1994 wurde dieser Sender (durch Stefan Aust und dctp) auch dadurch gerettet, dass dctp dort extrem gründliche und lange Formate einführte. Auf emotionale 100-Minuten-Fiktionsprogramme folgten zum Beispiel am Samstagabend informative 100-Minuten-Programme, die sich auf das gleiche Thema konzentrierten. Dokumentation und Spielhandlung im Gleichgewicht.

Robuste Kürze und radikale Länge gehören von jeher zu Avantgarde. Es ist kein Zufall, dass Oberhausen ein Kurzfilmfestival war und dass andererseits das Idol der dctp die Erneuerung der Enzyklopädie ist.

Balladen und Moritaten

Dem Kino gehen die Prototypen emotional gebündelter Bild- und Textfolgen voraus: Im England Shakespeares die Catchpenny-Drucke, in der deutschen Vorklassik die Balladen und im späten 19. Jahrhundert die Moritaten. Die Laterna-Magica-Bildfolgen, die Bilder in den Panoramen und die Guckkastenbilder auf den Jahrmärkten hat Walter Benjamin intensiv kommentiert. Jede neue Zeit muss ihre Erfahrungen im Verhältnis zu diesen »einfachen Erzählweisen« testen.

Die traditionellen Vorläufer des Films beruhen, wenn sie platt sind, auf Voyeurismus, wenn sie differenziert sind, auf Einfühlung. Das Vermögen der »anticipation of the other«, dass sich meine Empfindung hineinversetzt in die Empfindung anderer, ist eine der großen Errungenschaften der Zivilisation. Hört diese Einfühlung (Grundlage des Erzählens) an einigen Stellen der Jetztzeit auf? Kann man die STATISTISCHE ERFAHRUNG VON ZERSTÖRUNG oder den AMOK mit den Mitteln der Einfühlung erzählbar machen?

Die Mehrzahl der Menschen befindet sich auf Glückssuche. Die generelle Annahme, dass Einfühlung möglich ist so wie guter Wille, gehört zur Kommunikationsbereitschaft. Sie ist das Grundgesetz des Erzählens. Gilt andernfalls Stummzeit? Zum Beispiel wenn es sich als öde erweist, dass von einer Sache erzählt wird?

Von den Bilderfolgen, die dem Kino vorangehen, handeln zahlreiche Kulturmagazine der dctp bis heute. Es ist vermutlich so, dass alle frühen Formen der Bildererzählung aus der Zukunft neu auf die Filmkunst zukommen. Auf jede Überforderung hin suchen Menschen nach einer Erzählung.

Erster Kontakt mit Stefan Aust

Rudolf Augstein kannte ich seit 1962. Stefan Aust habe ich erst 1977 kennengelernt. Es war bei den Dreharbeiten zu dem Gemeinschaftsfilm Deutschland im Herbst. Auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart wurden die Toten von Stammheim beerdigt. Stefan Aust leitete das Team von Panorama, also das des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Volker Schlöndorff und ich arbeiteten mit je einem Kamerateam für unseren Kollektivfilm. Wir beobachteten uns gegenseitig, nahmen Fühlung auf, tauschten Materialien und Informationen aus.

Dann übernahm Rudolf Augstein den Filmverlag der Autoren. Dieses Unternehmen wurde von Theo Hinz geleitet und war unser traditioneller Verleiher für unsere Filme, somit auch des Kollektivfilmprojekts, mit dem wir auf die Geschehnisse im Herbst 1977 zu antworten versuchten. Aus dem Kollektivfilm entstanden bei Schlöndorff ein Nachfolgefilm, bei Fassbinder der Film Die dritte Generation und bei mir der Film Die Patriotin. Aufgrund einer Initiative von Theo Hinz und Rudolf Augstein wandten wir uns dann dem Kollektivfilm Der Kandidat zu. Die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß war der Anlass zu diesem Film.

Die Form des Kollektivfilms ist eine Erweiterung des Autorenfilms. Das Prinzip des Autorenfilms, die unabhängige Produktionsweise, hatten wir von der französischen Schule der Nouvelle Vague übernommen. Dass aber – ähnlich wie eine Zeitung von vielen Redakteuren und nicht von einem einzelnen Autor hergestellt wird – mehrere Temperamente von Filmemachern sich miteinander verbanden zu einem kooperativen Film, war neu. Ich bin überzeugt, dass der Autorenfilm, wäre diese Richtung konsequent und beharrlich weiterverfolgt worden, bis heute bestünde und eine Entwicklung der Filmgeschichte, nämlich der Autorenfilm, eine glücklichere Perspektive gewonnen hätte. In dieser Aufbruchstimmung traf ich zum zweiten Mal auf Stefan Aust, und die Zusammenarbeit erstreckte sich dann auf den nächsten Kollektivfilm Krieg und Frieden, bei dem Stefan Aust, auch mit der Autorität von Rudolf Augstein, eine starke Rolle spielte.

Die Paten, welche die dctp begründeten

Der Publizist Günter Gaus, der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, der Filmproduzent Hans Abich, der damalige Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Ernst Piper und vor allem der Generalintendant August Everding waren die Paten – sie wirkten wie operativ tätige Aufsichtsräte – bei der Gründung der dctp.

Als ich und der Rechtsanwalt Norbert Kückelmann für die Gruppierung der unabhängigen Filmemacher in der Debatte über die Zulassung des privaten Fernsehens in der Bundesrepublik im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz 1985 Stellung nahmen, zuckten die Herrscher im Medienbereich – der Konzernherr Leo Kirch, die Repräsentanten von RTL und die Vertreter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – nur mit den Schultern. Mit Ausnahme des Intendanten des WDR Friedrich-Wilhelm von Sell und auch mit Ausnahme der Verlegergruppe der WAZ und des Ulmer publizistischen Unternehmers Eberhard Ebner. Mit ihnen bahnte sich in verschiedener Weise eine Zusammenarbeit an.

Für die Großen im Fernsehen dagegen war weder die klassische Öffentlichkeit noch der unabhängige Film etwas, was sie glaubten haben zu müssen. Auch unsere Verbindung zum Musiktheater – August Everding war Vorsitzender der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein – veränderte diese starre Positionierung nicht. Es war dann der Politiker Jürgen Büssow, verantwortlich in der Sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen für Rundfunk und Medien, der mich überzeugte, dass wir das Bündnis mit dem »Sturmgeschütz der Demokratie«, dem Spiegel-Verlag, zusätzlich bräuchten, um Autorität zu haben. Jürgen Büssow gehörte nicht zu den Paten, aber zu den Gründern der dctp insofern, als ohne ihn diese Konstellation von unabhängiger Öffentlichkeit inmitten des Fernsehens nicht zustande gekommen wäre. Er gehörte zu denen, die den Strukturwandel der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas gelesen hatten und der außerdem die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die vom dortigen Berichterstatter Prof. Dr. Dieter Grimm formuliert waren, ernst nahm. Es geht in diesen Urteilen um die Ausfüllung des Gebots von Artikel 5 Grundgesetz. Danach kann die Öffentlichkeit nicht Objekt und Inbesitznahme bloß von großen Konzernen sein. Nicht nur der Minderheitenschutz, sondern auch die unabhängige Sendefläche, wie sie einem Marktplatz in Florenz oder einer Agora in Athen entspricht, muss vom Gemeinwesen gewährleistet sein. Das ist ein Verfassungsgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen untermauerte. Also nicht nur Schutz von Vielfalt und Unabhängigkeit klassischer Öffentlichkeit gegenüber dem Staat, sondern der Staat muss auch gegenüber den Mächten der Wirtschaft oder den Trägheiten der Konsumgesellschaft diesen Freiraum nach Artikel 5 Grundgesetz gewährleisten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Gewohnheitspolitik und auch einige Medienanstalten sich zu diesem Verfassungsgebot lasch verhalten. Dies war in der Periode, in der junge Politiker wie Jürgen Büssow oder die im Langen Eugen, dem Parlamentsgebäude in Bonn, eine Zeit lang vorherrschende Riege junger Politiker um Peter Glotz Initiative ausübten, deutlich anders. In ihrer Endphase hat die Bonner Republik das Gebot, eine intakte Öffentlichkeit zu setzen, mit großem Ernst verfolgt. Die Verfallserscheinungen dieser Öffentlichkeit sind nicht nur durch die überwältigende Wucht der Algorithmenwelt von Silicon Valley, sondern auch durch eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit Artikel 5 Grundgesetz in der Berliner Republik bedingt. Ein Baustein für den Versuch, diesem Zerfall der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, steckt im Projekt der dctp.

Dass sich der Spiegel-Verlag an diesem Projekt beteiligte, ist naheliegend. Jürgen Büssow wies von Anfang an darauf hin, dass der Verlag seinem gesamten Markenbild nach auf Unabhängigkeit ausgerichtet ist. Er könne also, so Büssow, nicht bloß Auftragsproduzent sein, sondern müsse in der telekommunikativen Mitteilung stets eine unabhängige Position aufrechterhalten. Das müssen alle Teilnehmer der klassischen Öffentlichkeit, die Opernhäuser, die unabhängigen Filmemacher, die literarischen Autoren und allen voran die wissenschaftliche Öffentlichkeit zu jedem Zeitpunkt und für jedes Medium, vor allem auch im Internet heute, ebenso zu ihrem Zeichen nehmen.

Burkhard Hirsch, Jurist und Bundestagsabgeordneter, später Innenminister in NRW. Beirat der dctp.

 

Günter Gaus, Journalist, Chefredakteur des Spiegels, Minister im Kanzleramt, bei Gründung der dctp beteiligt und dort verantwortlich für seine Sendereihe »Zur Person«.

 

Norbert Kückelmann, Rechtsanwalt und Filmemacher. Mitinitiator bei den Verhandlungen zur Gründung der dctp.

 

Hans Abich, Filmproduzent. Ebenfalls zum Gründungsbeirat der dctp zählend.

 

Michael Gielen, Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt und Dirigent. Maßgebend für die Ausrichtung der Musikmagazine der dctp.

 

August Everding, Generalintendant der Bayerischen Staatsoper und Vorsitzender des Deutschen Bühnenvereins. Gehörte zu den Gründern und zum Beirat der dctp.