Begegnung in Triest - Ein spannender Politthriller - Jürgen W. Roos - E-Book

Begegnung in Triest - Ein spannender Politthriller E-Book

Jürgen W. Roos

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes Nicolas, des 2-jährigen Sohnes Adrian so-wie ihrer Eltern hält es die zeitweise auf einen Rollstuhl angewiesene Wasiliki Tamaro in Dresden nicht mehr aus. Sie alle starben bei einem Brandanschlag auf ihr Haus, den sie selbst nur durch einen Zufall überlebte. Bei ihrer Schwiegermutter in Triest findet sie ein vorläufiges neues Zuhause. Eine Speicherkarte mit Notizen ihres verstorbenen Mannes konfrontiert sie erneut mit der Vergangenheit. Bei seinen Recherchen als Journalist über bisher unauffindbare Nazi-Raubkunst ist er eher zufällig auf den Plan einer bislang unbedeutenden, rechtsradikalen Organisation gestoßen. Deren Ziel ist es, die Gesellschaft in Deutschland zu destabilisieren, um dann, nach einer Art Bürgerkrieg, die Regierung abzulösen. Finanziert werden soll der Putsch mit Verkaufserlösen aus wiederentdeckter Nazi-Raubkunst, darunter weltberühmte Gemälde der Maler Raffael, Vincent van Gogh, Gustav Klimt, Henri Matisse, Jan van Bommel sowie der Süssermann-Diamanten, die einst der russischen Zarin "Katharina der Großen" gehörten. Durch einen Sprengstoffanschlag auf ein Triester Café, bei dem Wasiliki leicht verletzt wird, lernt sie Raphael Leroy, einen Dozenten für Kunstgeschichte an der Universität in München, kennen.

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Seitenzahl: 342

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Inhalt

Cover

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel.

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12.Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Begegnung in Triest - Ein spannender Politthriller

Cover

1. Kapitel

30. Kapitel

Begegnung in Triest - Ein spannender Politthriller

Cover

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Prolog

Mit einem erleichterten Seufzer befreite Veronika Ferbes ihre schmerzenden Füße von den engen Schuhen. Sie waren ihr am Vortag im Schaufenster einer Boutique unweit des Wenzelsplatzes aufgefallen. Obwohl sie sündhaft teuer waren, hatte sie dem Drang, sie unbedingt besitzen zu müssen, nicht widerstehen können.

Es war ein Fehler gewesen, sie gleich am nächsten Tag so viele Stunden lang zu tragen. Doch in der Früh, beim Verlassen des Hotels, hatte sie sich nicht vorstellen können, das die Abschlussbesprechung zu der relativ simplen Erbschaftsangelegenheit, zu der sie extra nach Prag gefahren war, einen weiteren ganzen Tag in Anspruch nehmen würde. In dem Fall hätte sie vermutlich bequemere Schuhe ausgewählt.

Kurz dachte sie darüber nach, bereits am Abend nach Dresden zurückzufahren. Ein Blick in den Fahrplan und sie ließ den Gedanken wieder fallen. Sie würde zweimal umsteigen müssen und käme mitten in der Nacht zuhause an. Morgen, ein paar Minuten vor 10 Uhr, gab es einen Zug, mit dem sie, ohne umzusteigen, durchfahren konnte.

Zudem gab es für sie keinen Grund, sich mit der Rückfahrt zu beeilen. In ihrer Wohnung wartete niemand auf sie. Robert, ihr Freund und Lebensgefährte kam frühestens am Wochenende von seiner Dienstreise aus Karlsruhe zurück.

Der Gedanke an ihn heiterte sie auf. In den letzten Monaten hatte er mehrfach das Thema „Heiraten“ angesprochen. Sie ahnte, dass er sie schon bald bitten würde, seine Frau zu werden. Obwohl ihr das bisherige Zusammenleben mit ihm, ohne Trauschein, nichts ausmachte, hatte sie keine Einwände. Ihre Mutter würde es glücklich machen.

Gemütlich auf dem breiten Bett liegend wählte sie die Nummer der Kanzlei ihres Patenonkels, für den sie seit fast einem Jahr arbeitete. Nach dem frühen Tod ihres leiblichen Vaters hatte er die Rolle eines Ersatzvaters übernommen.

In Kurzform berichtete sie ihm von den langwierigen Verhandlungen mit der Erbengemeinschaft. Seinem knurrigen Lob war zu entnehmen, das er mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden war.

Onkel Theo, wie sie ihn außerhalb der Kanzlei noch immer nannte, hatte ihr gleich zu Beginn ihres Jurastudiums gesagt, das er sie sich, mangels eigener Kinder, als Nachfolgerin in seiner Anwaltskanzlei wünschte. Das hatte sie nicht so ernst genommen. Doch inzwischen hatte er sich festgelegt. In spätestens 10 Jahren würde er sich endgültig zur Ruhe setzen.

Prag war nicht die Stadt, in der eine Frau, ohne dumm angeschaut zu werden, alleine zum Essen gehen konnte. Zudem sah es so aus, als würde es bald regnen. Deshalb beschloss sie, einen ruhigen Fernsehabend einzulegen.

Nach einem Blick in die Speisekarte ließ sie sich vom Restaurant des Hotels ein paniertes Schnitzel mit Bratkartoffeln, dazu einen großen Salat und eine kleine Flasche tschechischen Rotwein bringen.

Aus dem Nebenzimmer waren die Stimmen zweier Männer zu hören. Sie schienen zu streiten.

Zumindest einen der beiden kannte sie vom Sehen. Ein langweiliger, wie ein schlechtgekleideter Handelsvertreter aussehender, älterer Deutscher mit graumelierten Haaren und Brille. An allen vier Tagen, die sie sich jetzt in Prag befand, hatte er kurz nach ihr den Frühstücksraum betreten, sie höflich gegrüßt und sich an den Nebentisch gesetzt. Offenbar auf eine günstige Gelegenheit wartend, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Um dem zuvorzukommen, hatte sie jedes Mal ihr „Unnahbargesicht“ aufgesetzt. Auf Hotelbekanntschaften, dazu mit solchen Typen, legte sie keinen gesteigerten Wert.

Schnitzel, Salat und der Rotwein schmeckten hervorragend. Nach dem Essen stellte sie sich auf den kleinen Balkon, um in aller Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Trotz des wolkenverhangenen Himmels waren auf dem Wenzels Platz zahlreiche Menschen unterwegs.

Durch die offene Balkontür des Nebenzimmers waren noch immer die streitenden Männer zu hören. Der Besucher hatte eine penetrant laute, unangenehm quietschende Stimme, die teilweise den Straßenlärm übertönte.

Richtig aufmerksam wurde sie bei der Nennung von Lockwitz; dem Stadtteil im Südosten Dresdens, in dem sie selber aufgewachsen und die ersten Jahre zur Schule gegangen war. Das weckte ihre Neugier.

Einmal meinte sie „Schmierfink“ zu hören. Nur dieses eine Wort, besonders laut gesprochen. Es war eindeutig die quietschende Stimme des Besuchers. Der Rest des Satzes ging im Straßenlärm unter. Es folgte „…der Tod des Kindes und der alten Leute war nicht zu vermeiden. Das weißt du doch selber genau. Keiner konnte voraussehen, dass die ganze Hütte abbrennt. Inzwischen ist Gras über die Angelegenheit gewachsen. Niemand spricht mehr darüber.“

Veronika merkte, wie sich die Härchen auf ihren Armen vor Aufregung aufstellten. Urplötzlich ahnte sie, über was die Männer im Nebenzimmer sprachen. Doch weshalb hier in Prag und das ausgerechnet im Zimmer neben ihr? Als Juristin war sie solchen Zufällen gegenüber stets misstrauisch.

Das Wort „Schmierfink“ hatten damals, vor gut zwei Jahren, irgendwelche Idioten mit gelber Leuchtfarbe an die Hauswand ihrer Freundin Wasiliki gesprüht. Und drei Wochen später, bei einem Brandanschlag auf das Haus, waren ihr Mann Nicolas, ihr 2-jähriger Sohn sowie deren Eltern ums Leben gekommen.

Bedauerlicherweise wurden die Stimmen im Nebenzimmer jetzt so leise, das sie kaum etwas verstand.

Aufgewühlt zündete sie sich eine weitere Zigarette an. Das soeben Gehörte schwirrte unaufhörlich in ihrem Kopf herum. Was sollte sie mit den aufgeschnappten Gesprächsfetzen anfangen?

Sie und Wasiliki kannten sich aus dem Kindergarten. Später waren sie auf dem Gymnasium in dieselbe Klasse gegangen. Seit sie zurückdenken konnte, strahlte ihre Freundin etwas aus, das sie, ohne eigenes Zutun, ständig in den Mittelpunkt rückte. Besonders auffällig wurde es in den letzten Schuljahren. So gut wie jeder ihrer Mitschüler war verliebt in sie. Selbst bei den Lehrern, egal ob weiblich oder männlich, schien ihr Zauber anzukommen.

Während des Studiums hatten sie sich kurzzeitig aus den Augen verloren. Bei ihren ersten Wiedersehen war sie regelrecht schockiert gewesen, ihre Freundin in einem Rollstuhl sitzen zu sehen. Ihre unwiderstehliche Ausstrahlung hatte dadurch nicht gelitten.

„Zeitweise spinnen meine Beine,“ hatte sie ihr lächelnd erklärt. „Das ist so, als wenn das Kabel in einem Gerät einen Wackelkontakt hat. Das Signal vom Kopf kommt dann nur manchmal oder zu schwach an; niemand sagt den Muskeln in den Beinen, was sie tun sollen. Die Ärzte nennen das eine periodische Lähmung. Den lateinischen Ausdruck dafür habe ich vergessen.“

„Dann bist du jetzt immer auf einen Rollstuhl angewiesen?“

„Nur an manchen Tagen. Meist merke ich schon morgens nach dem Aufstehen, wie es mir geht.“

„Besteht Hoffnung auf Heilung?“

„Zumindest hoffe ich es. Die Ärzte, die mich bisher untersucht haben, kommen oftmals zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dementsprechend verschieden sind ihre Therapien, die sie mir verordnen.“

An Wasilikis Hochzeit mit dem italienischen Journalisten Nicolas, die in Triest im Hotel seiner Mutter gefeiert wurde, hatte sie zu ihrem Leidwesen nicht teilnehmen können. Ausgerechnet da hatte sie mit einem Kreuzbandriss im Krankenhaus gelegen.

Später hatte es diesen furchtbaren Brandanschlag auf das Haus in Lockwitz gegeben, in dem ihre Freundin samt Familie lebte. Ihr Mann, der kleine Sohn und ihre Eltern waren dabei ums Leben gekommen. Wasiliki hatte überlebt, weil sie an dem Abend zur Geburtstagsfeier einer Arbeitskollegin eingeladen war. Den oder die Brandstifter hatte die Polizei nie gefunden.

In der Folge war in diversen Zeitungen zu lesen, das Wasilikis Mann, an einem Artikel über angeblich verschwundenen Milliarden aus dem Vermögen der Stasi gearbeitet hatte und vermutlich deshalb sterben musste. Darunter sollten sich, so schrieben sie, eine größere Menge sogenannter Blutdiamanten befinden, mit denen verschiedene afrikanische Länder die DDR für Waffenlieferungen bezahlt hatten. Andere wiederum berichteten von einem Nazischatz, dem er auf der Spur gewesen war.

Sie selber hielt beides für möglich. Nicolas hatte in den Jahren zuvor gleich mehrere Skandale aufgedeckt und sich damit einen Namen als sogenannter „Enthüllungsjournalist“ gemacht.

Wasiliki, die zu dieser Zeit, nach ihrem Germanistikstudium, in einem Buchverlag als Assistentin der Geschäftsführung gearbeitet hatte, brach daraufhin total zusammen. Mehrmals hatte sie versucht, zu ihrer Freundin Kontakt aufzunehmen. Vergebens. Auf keine ihrer Anrufe oder Mails hatte sie reagiert.

Ihr erstes Zusammentreffen danach war purer Zufall. Sie und Robert waren nach einem gemütlichen Abendessen in der äußeren Neustadt auf dem Heimweg, als urplötzlich eine leichtbekleidete, völlig betrunkene Frau aus einem Hauseingang über den Gehweg auf die Fahrbahn taumelte und dort liegenblieb. Sie hätte ihre Freundin fast nicht wiedererkannt.

Ohne auf Widerstand zu stoßen, hatte Veronika sie ins Auto geladen und mit zu sich genommen.

Über das, was genau in dieser Nacht geschehen war, hatte Wasiliki geschwiegen und sie hatte nicht nachgefragt, es sich jedoch in etwa vorstellen können. An dem Abend war sie ohne Rollstuhl unterwegs gewesen.

„Deine Trauer bringt dich um. Du musst weg aus Dresden,“ hatte sie ihr tags darauf geraten. „Gibt es jemanden, bei dem du die nächste Zeit, weit weg von hier, unterkommen kannst?“

Veronika war froh gewesen, als Wasiliki nach einer schweigenden, ihr endlos erscheinenden Zeit, zustimmte.

„Du hast recht, ich muss weg von hier. Alles in der Stadt erinnert mich an Adrian, Nicolas und meinen Eltern. Bei der Beerdigung hat Nicolas Mutter mir nahegelegt, zu ihr nach Triest zu ziehen. Zumindest so lange, bis ich wieder einigermaßen klar im Kopf bin. Inzwischen denke ich, dass ich ihr Angebot annehmen sollte.“

Wenige Tage später ließ sich Wasiliki von ihrer Schwiegermutter abholen. In der Folgezeit hatten sie lediglich ein paarmal miteinander telefoniert. Mehr nicht. Zwei Jahre waren seitdem vergangen.

Veronika wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ein kräftiger Mann mit kurzgeschnittenen, blonden Haaren auf den Nebenbalkon trat und sich gleichfalls eine Zigarette anzündete. Dass vor ihm jemand auf die gleiche Idee gekommen war, schien ihn zu überraschen. Mit gerunzelter Stirn schaute er kurz zu ihr, bevor er zurück ins Zimmer trat. Veronika vermutete, dass ihm die aufdringliche Stimme gehörte.

Obwohl sie den Fernseher extra leise stellte, war den ganzen Abend aus dem Nebenzimmer rein gar nichts mehr zu hören.

Um sich später besser zu erinnern, machte sie sich Notizen über das, was in dem Zimmer neben ihr gesprochen worden war. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, an wem sie das Gehörte weitergeben konnte. Oder sollte sie es einfach vergessen? Vermutlich war es das Beste, wenn sie zuerst mit ihrem Patenonkel darüber sprach. Vielleicht hatte er einen nützlichen Ratschlag parat.

Sie konnte nicht lange geschlafen haben, als sie von einem Geräusch vor ihrem Zimmer geweckt wurde. Es klang, wie wenn jemand an der Tür kratzen würde. Anfangs versuchte sie, es zu ignorieren. Doch es wollte nicht aufhören.

Verärgert über die Störung schlüpfte sie in den Bademantel, bevor sie die Tür einen schmalen Spalt breit öffnete.

Erschrocken erkannte sie in dem auf dem Rücken liegenden Mann ihren Zimmernachbarn. Eine rote Spur führte von ihm bis zu seinem Zimmer. Mit weitgeöffneten Augen starrte er sie an.

Plötzlich hellwach riss sie die Zimmertür weit auf und schaltete das Licht an. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten und er nach ihrem Bademantel griff, sie zu sich heranzog und dabei etwas in die Hand drückte. Um ihn zu verstehen, musste sie ihr Ohr dicht an seinen Mund halten.

„Sagen sie ihrer Freundin Wasiliki, dass ihr Mann und ich Freunde waren. Trotz unserer gegensätzlichen, politischen Ansichten. Auf der Speicherkarte in ihrer Hand befinden sich neben wichtigen Informationen auch Fotos, die beweisen, dass er absichtlich getötet wurde. Geben sie ihn ihr. Sie soll dann selbst entscheiden, was sie damit macht. Zeigen sie ihn auf keinen Fall der hiesigen Polizei. Zu gefährlich.“

Erschöpft, jetzt mit geschlossenen Augen hielt der Mann inne. Sie sah eine leichte Blutspur, die sich vom Mund aus einen Weg über den Hals bahnte und hinter dem Kragen seines Hemdes verschwand. Der Verletzte brauchte dringend einen Arzt.

Sie wollte zurück in ihr Zimmer laufen, um den Portier zu informieren, als sie am Ende des Hotelganges, den blonden Mann mit der quietschenden Stimme sah, der soeben in den Lift stieg.

Noch müde ließ Veronika sich am nächsten Morgen von einem Taxi die kurze Strecke vom Hotel zum Bahnhof bringen. Bis zur Abfahrt des Zuges war Zeit und deshalb blieb sie vor dem Gebäude stehen, um eine Zigarette zur rauchen.

Der Arzt, den der Portier am Vorabend gerufen hatte, war schnell vor Ort gewesen. Doch die Polizei, die wenig später kam, darunter zwei Beamte in Zivil, wollten von ihr immer wieder hören, wie sie auf den Verletzten vor ihrer Zimmertüre aufmerksam geworden war. Aus irgendeinem dubiosen Grund schienen sie der Version ihrer Geschichte nicht zu glauben. Immerhin hatten sie ihr verraten, dass ihr Zimmernachbar, ein Deutscher namens Detlev Bruckner, zwei Messerstiche in den Rücken bekommen hatte und dann noch bis vor ihre Türe gekrochen sein musste. Auf dem Weg ins Krankenhaus war er gestorben.

Ihrer Geschichte von dem blonden Mann, den sie, ihrer Meinung nach, eilig im Lift hatte verschwinden sehen, schien sie nicht zu interessieren.

Später war sie froh die Speicherkarte bei der Befragung nicht erwähnt zu haben. Womöglich wäre sie sonst von der Polizei länger verhört worden und hätte die Rückreise nach Dresden aufschieben müssen.

Inzwischen hatte sie sich halbwegs dazu entschlossen, dem Wunsch des Verstorbenen nachzukommen und den Datenträger ihrer Freundin zu bringen. In knapp einer Woche begann ihr Urlaub. Sie und ihre Mutter wollten mit dem Auto ans Meer nach Kroatien fahren. Triest wäre da kein allzu großer Umweg.

Auf ihren kleinen Trolley, den sie auf dem Bahnsteig neben sich stehen hatte, hatte es der jugendliche Dieb, der sich ihr unbemerkt genähert hatte, nicht abgesehen. Umso mehr auf ihre Aktenmappe, die sie lose über der Schulter hängen hatte.

Nachdem er sie ihr weggerissen hatte, reagierte sie zu langsam. Verdutzt sah Veronika den Dieb samt ihrer Mappe weglaufen.

Ganz anders ein Passant, der den Diebstahl offenbar beobachtet hatte. Mit einem festen Griff warf er den Jungen zu Boden und nahm ihm die Tasche ab. Nach einer kräftigen Ohrfeige und einem Tritt in die Seite ließ er ihn laufen. Mit einem entschuldigenden Grinsen überreichte er Veronika die Mappe. Der Dieb hatte da längst das Weite gesucht.

Den Mann mit den kurzgeschnittenen, blonden Haaren, der versteckt hinter einem Mauervorsprung aufmerksam den Diebstahlsversuch beobachtete, bemerkte sie nicht.

1. Kapitel

Es war erneut einer dieser herrlichen Sommertage, an dem die Sonne schon frühmorgens andeutete, wie das Wetter am gesamten Tag werden würde. Zur Freude der meisten Touristen hatte das Thermometer jetzt, kurz vor 8 Uhr morgens, die 20 Grad überschritten. Das optimale Strandwetter.

Soweit Raphael Leroy sich erinnern konnte, war es der erste Urlaub, den er allein unternahm. Er und seine Freundin Julia sich vor drei Monaten getrennt. Ihr war eine Stelle als Chirurgin im Beth Israel Medical Center in New York angeboten worden. Ein Jobangebot, das man nicht alle Tage bekam. Er hatte verstanden, dass sie das nicht ablehnen wollte.

In den Wochen vor der Abreise hatte sie immer wieder versucht, ihn zum Mitkommen zu überreden. Ihrem Vater war es dank seiner zahlreichen Verbindungen gelungen, ihm den hochdotierten Job als Kunstsachverständigen in einem angesehenen New Yorker Museum zu verschaffen. Selbst das hatte ihn nicht reizen können. Zum einen würde seine Mutter, die vor einigen Jahren auf eigenen Wunsch in eine Seniorenresidenz gezogen war, dann ohne die regelmäßigen Besuche ihres Sohnes auskommen müssen. Zudem liebte Raphael seine Arbeit als Dozent am Institut für Kunstgeschichte an der Münchner Universität.

Außerdem gab es einen dritten wichtigen Punkt, der dagegensprach. Ihm war längst klargeworden, dass ihr Verhältnis nicht unbegrenzt andauernd würde. Falls er mit ihr nach New York ginge, konnte das eine Trennung nur verzögern. Julias Fortgang aus München war für beide die beste und einfachste Lösung. Genauso hatte er es ihr schließlich gesagt. Äußerst wütend war sie allein in die USA geflogen.

In der Folge hatte er, ein Freund und dessen Ehefrau geplant, die vorlesungsfreien Sommermonate gemeinsam in Venetien verbringen. Doch daraus wurde nichts. Kurz vor ihrer Abreise war sie mit dem Fahrrad unglücklich gestürzt und hatte sich dabei am Knie verletzt. Statt in Italien verbrachte sie den Urlaub jetzt im Krankenhaus und ihr Mann, neben seinen Besuchen in der Klinik, im Englischen Garten.

Raphael liebte Sommertage wie diesen. Trotz der zu erwartenden Hitze wollte er durch Triest bummeln, um die Stadt besser kennenzulernen. Extra früh war er deswegen von Cavallino aus, wo sie sich auf einen der kleineren zahlreichen Ferienanlagen unmittelbar am Meer einen hübschen Bungalow gemietet hatten, losgefahren. Das dortige tägliche Strandvolleyballturnier würde diesmal ohne ihn stattfinden.

Auf der Autobahn herrschte glücklicherweise kaum Verkehr. Nach nur gut zwei Stunden Fahrt konnte er seinen Pkw in einer Parkgarage am Triester Bahnhof abstellen.

Es war sein erster Besuch in der Stadt. Sie gehörte zu den wenigen in Italien, die sich ihm bisher entzogen hatten. Seine Lieblingsstädte waren Rom und Florenz und daran würde sich vermutlich auch weiterhin nichts ändern. In Florenz hatte er zwei Semester Kunstgeschichte studiert.

Wie immer, wenn er in eine ihm unbekannte Stadt kam, war er gespannt darauf, wie sie ihm gefallen würde. Freunden gegenüber hatte er spaßeshalber mal gesagt, dass er ihren Geruch einatmen müsse, um sie beurteilen zu können.

In diversen Reiseführern wurde die Hauptstadt der Region Friaul-Julisch Venetien oftmals als das kleine „Wien am Meer“ oder „Stadt der drei Winde“ bezeichnet.

Am Abend zuvor hatte er sich den Stadtplan in seinem Führer genauer angeschaut. Daher wusste er ungefähr, welche Richtung er vom Parkhaus aus einzuschlagen hatte. Sein erstes Ziel war das nahegelegene Meer.

Dort angekommen schlenderte er geruhsam weiter bis zur Piazza dell´Unita d´Italia, im Herzen der Stadt. Von da aus gedachte er über eine der schmaleren Straßen oder Gassen in die Altstadt vorzudringen. Er wollte selbst herausfinden, was von 500 Jahren Habsburger Monarchie und der Prachtarchitektur von Ferstl, Hansen, Geiringer sowie Karl Junker übriggeblieben war.

Zudem hatte er vor, der Synagoge an der Via Gaetano Donizetti und der Kathedrale di San Giusto Martire mit ihren Deckenmalereien einen Besuch abzustatten.

Auf seinem Weg musste er ungewollt immer wieder den zur Arbeit eilenden Bewohnern der Stadt ausweichen. Die überwiegend bezaubernd gekleideten Italienerinnen schienen sich mehr für die Nachrichten auf ihren Handys als die entgegenkommenden Menschen zu interessieren. Einige Male gelang es ihm erst im letzten Moment, einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Es war eigentlich ein Zufall und diese geheimnisvolle Pforte, die ihn von der belebten Piazza Borso ins ehemalige Ghetto weglockte. Kaum war er aus der dunklen Passage getreten, kam er sich vor wie in einer anderen Welt. Da gab es Buch-Antiquariate, Antiquitätengeschäfte, Werkstätten, in denen Möbel restauriert wurden sowie einige Gebrauchtwaren-Läden. Ein wahres Stöberparadies, dem er unmöglich widerstehen konnte.

Das im Schatten gelegene kleine Café in einer schmalen Seitenstraße, mit seinen wenigen Bistrotischen davor, forderte ihn nach seinem Rundgang regelrecht dazu auf, eine kurze Pause für ein zweites Frühstück, einzulegen. Schwere Poller am Anfang der Straße verhinderten, dass sie von Autos befahren wurde.

Am Tresen im Inneren standen etliche Italiener, die möglicherweise auf dem Weg zur Arbeit, hier den ersten Espresso des Tages tranken.

Außer ihm saßen an einen der Tische vor dem Café drei Frauen, die sich angeregt auf Deutsch unterhielten. Auf ihre Art sehr attraktiv. Beide dunkelhaarig, eine davon älter, vielleicht die Mutter, mutmaßte er.

Die dritte, die mit dem Rücken zu ihm in einem Rollstuhl saß, hatte ein ganzes Stück über die Schulter reichende, blonde Haare. Touristen, die so wie er selbst, die kühleren Vormittagsstunden zu einer Stadtbesichtigung nutzten, vermutete er.

Ihm gefiel es immer aufs Neue, sich in Gedanken in Menschen hineinzuversetzen, die zufällig seinen Weg kreuzten und die er voraussichtlich nie kennenlernen würde. Eine Art privates Ratespiel, bei dem er nur äußerst selten die Lösung erfuhr.

Nachdem er bei der Bedienung einen Cappuccino sowie ein mit Marmelade gefülltes Cornetto bestellt hatte, lehnte er sich entspannt zurück und schaute den auf der Straße vorbeieilenden Fußgängern hinterher.

„In dem Umschlag ist die Speicherkarte, die ich dir geben soll. Was du damit machst, ist letztlich deine Sache,“ hörte er die dunkelhaarige jüngere Frau am Nebentisch zu der Blonden im Rollstuhl sagen.

Uninteressiert registrierte er, wie sie ihr ein kleines Kuvert gab und diese es schulterzuckend in die Hosentasche steckte.

Er hatte sich soeben selbst dazu überredet, ein zweites Hörnchen und einen weiteren Cappuccino zu bestellen, als eine mit zwei Personen besetzte Vespa genau auf die Tische vor dem Café zuraste. Für ihn sah es absolut nicht so aus, als könne der Fahrer rechtzeitig abbremsen.

Im Bruchteil einer Sekunde ging ihm alles Mögliche durch den Kopf. Mit einem lauten Quietschen der Reifen kam die Maschine schließlich doch, nur wenige Zentimeter vor ihnen, zum Stehen. Irritiert sah er, wie der Beifahrer ausholte, um ein nicht besonders großes Päckchen in Richtung des Nebentisches zu werfen.

Die jüngere Dunkelhaarige reagierte überraschend schnell. „In Deckung!“, schrie sie panisch. Reaktionsschnell stieß sie die neben ihr sitzende ältere Frau zu Boden und warf sich darüber. Er selber blieb irritiert auf seinem Stuhl sitzen. Es folgte der laute Knall einer Explosion und unmittelbar darauf schleuderte ihn eine ungeheure Druckwelle durch die geöffnete Tür des Cafés bis vor den Tresen. Den Schmerz, hervorgerufen durch einen harten Gegenstand, der ihn an der Stirn traf, bemerkte er kaum.

Benommen blieb er liegen. Wie durch einen Nebelschleier sah er vor dem Café Passanten, die sich schreiend zu Boden warfen. Andere wiederum brachten sich in nahegelegenen Hauseingängen in Sicherheit. Der Tisch, an dem er soeben gesessen hatte, stand erstaunlicherweise noch. Selbst der Tasse mit dem Cappuccino war nichts passiert.

Er sah eine Frau, die ihr Kind aus einem umgekippten Kinderwagen zog, es an sich drückte und wie von Sinnen davonlief.

Eine ältere Dame mit Spazierstock wurde von einem der Fliehenden zu Boden gerissen und einfach liegengelassen. Mutig blieb ein vielleicht 15-jähriger Junge bei der Frau stehen, half ihr auf und redete beruhigend auf sie ein. Raphael sah, wie er ihr schließlich, als wenn nichts Besonderes geschehen wäre, den Stock in die Hand drückte und sie wegführte.

Er selbst war immer noch wie betäubt. Irgendetwas Feuchtes lief über seine Wange. Bevor er dem nachgehen konnte, spürte er eine Hand, die mit aller Kraft versuchte, ihn von sich wegzuschieben.

Nur langsam registrierte er, dass sie einer Frau gehörte. Der Rollstuhl, in dem sie zuvor gesessen hatte, lag halb verdeckt unter ihren Beinen.

Sich mühsam aufrichtend sah in zwei unendlich grüne Augen in den Farben eines klaren Bergsees, die ihn aufgebracht ansahen.

Augen, die es auf der Erde eigentlich nicht zweimal geben konnte. Keinen Moment zweifelte er daran, diese oder zumindest welche, die den ihren haargenau glichen, schon einmal gesehen zu haben.

Am energischen Druck ihrer Hand an seiner Schulter merkte er, dass sie noch immer versuchte, ihn von sich zu schieben. Es gelang ihr schließlich mit Hilfe herbeigeeilter Helfer.

Raphael sah auf dem Fußboden liegend, wie sie und der Rollstuhl zu einem Krankenwagen getragen wurde. Kurz darauf war er an der Reihe. Erst nachdem ihm Sanitäter auf die Beine halfen, sah er den kleinen Umschlag, den die dunkelhaarige Frau der Blonden gegeben hatte, auf dem Boden liegen. Er musste ihr aus der Hosentasche gerutscht sein. Eher automatisch steckte er ihn ein.

2. Kapitel

Die Tage nach der Explosion hatte Raphael hauptsächlich mit Faulenzen am Strand, schwimmen, gelegentlichen Volleyballspielen und langen, abendlichen Strandspaziergängen verbracht.

Derweil hatte er den Schock so weit überwunden, um erneut nach Triest zu fahren und sich die Stadt, diesmal hoffentlich ohne unliebsame Zwischenfälle anzusehen. Zudem musste er bei der Polizei seine Aussage zu Protokoll geben. An den brutalen Anschlag würde er vermutlich sein Leben lang denken müssen.

Manchmal wachte er nachts auf und hatte das Bild der schreienden und verletzten Menschen vor Augen.

Mit einem Krankenwagen war er ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht worden. Glücklicherweise konnten die Ärzte bei ihm keine ernsthaften Verletzungen feststellen. Nach der routinemäßigen Vernehmung durch die Polizei, gleich in der Klinik, sowie der Aufforderung, an einen der kommenden Tage für seine schriftliche Aussage im dortigen Polizeipräsidium, der Questura, vorbeizukommen, hatte man ihn entlassen.

Die zwei dunkelhaarigen Frauen vom Nebentisch hatten die volle Wucht der Explosion zu spüren bekommen. Beide waren bei dem Anschlag schwer verletzt worden und lagen auf der Intensivstation, erfuhr er von einer der Krankenschwestern. Dagegen war die Dritte mit den eindrucksvollen grünen Augen, die samt ihrem Rollstuhl mit ihm ins Café geschleudert wurde, fast unverletzt davongekommen. Sie hatte das Krankenhaus noch vor ihm verlassen können.

Nach zähen Verhandlungen mit der Krankenhausverwaltung sowie einem Trinkgeld für die Kaffeekasse, hatte er schließlich deren Namen und Adresse bekommen. Signora Tamaro, ein Name, der ihm nichts sagte, hatte als Wohnsitz die Anschrift eines gleichnamigen Triester Hotel angegeben.

Da er sowieso in Stadt war, wollte er ihr den gefundenen Umschlag, gleich persönlich abgeben. Immerhin konnte es sich bei dem Inhalt um etwas Wichtiges handeln, redete er sich ein. Doch insgeheim, da machte er sich nichts vor, hoffte er darauf, sie selber anzutreffen. Er wollte wissen, ob es sich bei ihr um die Frau handelte, der er vor Jahren kurz begegnet war.

Ihm war inzwischen eingefallen, wo und bei welcher Gelegenheit er diese auffällig smaragdgrünen Augen, die wie ein Bergsee leuchteten, schon einmal gesehen hatte. Ebenso konnte er sich an den Rollstuhl erinnern. Der Vorfall lag mindestens zwei Jahre zurück.

Während einer Tagung in Dresden hatte er die Mittagspause zu einem Spaziergang am Elbufer genutzt. Rein zufällig wurde er dabei Zeuge, wie unweit von ihm ein Mann, der einen Kinderwagen schob sowie eine Frau im Rollstuhl von drei Burschen in kurzärmligen Lederjacken bedrängt wurden. Zwei der Angreifer schlugen auf ihn ein, während der besonders mutige Dritte mit voller Wucht gegen den Kinderwagen trat, der daraufhin umkippte.

Nicht nur das Geschrei des Kindes brachte Raphael dazu, hinzulaufen. Um zu helfen, kam er zu spät. Was möglicherweise auch an seiner kräftigen, sportlichen Figur lag. Nachdem die drei Schläger ihn kommen sahen, hatten sie es mit einem Mal eilig und rannten davon.

Während sich der Mann sofort um das Kind kümmerte, reichte ihm seine Begleiterin die Hand.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er dabei in solch unwahrscheinlich grüne, tiefgründige und wegen des soeben erlebten, wütend blitzende Augen gesehen; dermaßen auffällig, dass er sich bis jetzt an sie erinnerte.

Ansonsten war ihm lediglich in Erinnerung geblieben, dass sie blond und außergewöhnlich hübsch mit feingeschnittenen Gesichtszügen gewesen war. Mehr gab sein Gedächtnis nicht her.

„Vielen Dank für ihr Eingreifen. Es hätte böse ausgehen können. Diese feigen Nazis fühlen sich nur in der Mehrzahl stark,“ hatte sie sich bei ihm bedankt.

„Wieso kennen sie über deren Gesinnung?“

„Viele von denen erkennt man auf Anhieb. Einer der drei hatte auf seinen Oberarm einen Lorbeerkranz mit der Zahl „444“ eintätowiert. Das steht für „DdD“ oder auch Deutschland den Deutschen.“

„Hatten die Kerle einen besonderen Grund, sie und ihren Begleiter anzugreifen?“, hatte er wissen wollen.

„Ich bin Journalist und dazu Italiener, also zudem ein Ausländer,“ schaltete sich der Mann ein. Dabei gab er das weiterhin schreiende Kind an die Frau im Rollstuhl weiter. „Kürzlich habe ich einen Artikel für die Sächsische Zeitung geschrieben, in dem ich über diese üble Bande sowie deren politische Führer berichtet habe. Mein Name wurde darin absichtlich nicht genannt. Doch irgendwie haben diese Dumpfbacken herausgefunden, dass er von mir stammte. Daraufhin haben sie auf einer ihrer eigenen Internetseiten ein Foto von mir mit dem Untertitel „Feind des deutschen Volkes“ veröffentlicht. Zwar musste das nach einem Gerichtsbeschluss gelöscht werden, doch zuvor wurde die Seite hundertfach geteilt und von noch mehr Leuten gelesen.“

Der Journalist deutete auf seine Begleiterin, die zwischenzeitlich das Kind beruhigt hatte: „Auch im Namen meiner Frau und unseres Sohnes nochmals vielen Dank für ihr beherztes Eingreifen. Sollten wir uns, unter hoffentlich erfreulicheren Umständen, wieder über den Weg laufen, lade ich sie herzlich gerne auf ein Bier ein.“

An den Namen, mit dem sich der Mann ihm möglicherweise vorgestellt hatte, konnte Raphael sich nach dieser langen Zeit nicht mehr erinnern.

Eigentlich hatte er sein Auto, wie beim ersten Besuch der Stadt, im Parkhaus am Bahnhof abstellen wollen. Doch diesmal hatte er Pech gehabt. Alle Plätze waren belegt. Nachdem er keine Lust verspürte, sich in die Warteschlange vor der Einfahrt einzureihen, hatte er sich von seinem Navi zu einem Parkplatz an der Basilica di San Silvestro lotsen lassen. Dort fand er auf Anhieb einen freien Platz. Den etwas längeren Spaziergang zur Questura nahm er dafür gerne in Kauf.

Einer der jüngeren Polizisten führte ihn in einen Raum, wo er seine Aussage zum Anschlag auf das Café zu Protokoll gab. Dank seiner italienischen Sprachkenntnisse war die Prozedur schnell erledigt. Auf seine Frage nach dem Hintergrund für das Attentat und wem er gegolten hatte, bekam er lediglich eine ausweichende Antwort. Entweder wollte ihm der Beamte den Grund nicht nennen oder er kannte ihn selbst nicht.

Von der Polizeistation aus bummelte er gemütlich zur Kathedrale di San Giusto Martire mit seinem weithin sichtbaren Glockenturm.

Im Besonderen der Altar in der Josefs-Kapelle mit dem Gemälde, das die Verlobung Marias darstellte, beeindruckte ihn zutiefst. Solche Kunstwerke in natura betrachten zu können, gaben ihm immer aufs Neue ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit.

Von der Kathedrale aus spazierte er zu Fuß zurück zur Altstadt, um sich das 1875 im Stil der Neorenaissance erbaute Rathaus und den Palazzo Municipio, anzuschauen.

Ohne ein weiteres, bestimmtes Ziel zu haben, bummelte er schließlich durch die Gassen der Altstadt bis hin zu dem Café, vor dem der Anschlag stattgefunden hatte. Viel konnte er nicht erkennen. Eingang und Fenster hatte man mit Brettern verschalt.

Zufall oder Schicksal? In einer der Seitenstraßen, unweit der Piazza dell´Unita d´Italia, überflog er soeben die Speisekarte eines Restaurants, als er sie näherkommen sah. Es war der Rollstuhl, der ihm zuerst auffiel.

Sie befand sich in Begleitung einer älteren, mit einem bunten Sommerkleid bekleideten korpulenten Frau, die humpelte und sich schwerfällig auf dem Gefährt abstützte. Unmittelbar vor ihm blieben sie stehen.

„Sie?“

Da waren sie wieder, diese geheimnisvollen, smaragdgrünen Augen, die ihn erneut an einen Bergsee denken ließen. Mit geübter Hand strich sie sich gleich zweimal hintereinander die langen, blonden Haare aus der Stirn. Jede ihrer Bewegungen drückten eine souveräne, doch keinesfalls überheblich wirkende Selbstsicherheit aus.

Bekleidet war sie mit einer einfachen weißen Bluse und grauen, unauffälligen Rock, der ihre Beine bis zu den Knien bedeckte.

Soweit er sehen konnte, war sie kaum oder nur wenig geschminkt. Trotzdem sah sie hinreißend aus. Von ihr strahlte etwas aus, das ihn unwillkürlich an das Foto eines New Yorker Fotografen erinnerte. Seine Werke er sich erst kürzlich in einer Münchner Galerie angesehen. Es war das Porträt einer jungen Frau, deren Ausstrahlung ihn auf Anhieb gefesselt hatte. Sie wie die Frau unmittelbar vor ihm gehörten zu den seltenen, fast zauberhaften Wesen, die einen nicht oft begegneten.

Ein wenig belustigt sah sie ihn an: „Sie sind der Mann, der sich bei dem Anschlag vor dem Café recht unsanft auf mich geworfen hat; dem ich meine zahlreichen blauen Flecken zu verdanken habe?“

Immerhin erinnerte sie sich an ihn.

Raphael lächelte sie entschuldigend an: „Es tut mir leid, doch es war keine böse Absicht. Unter anderen Umständen wäre ich sanfter mit ihnen umgegangen. Wie ich sehe, hat ihr Rollstuhl die Explosion ebenfalls gut überstanden. Wissen sie, was es mit dem Anschlag auf sich hatte, wem er womöglich gegolten hat? Bei der Polizei, wo ich vorhin die schriftliche Aussage zu Protokoll gegeben habe, wollte oder konnte man mir nichts verraten.“

Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Er könnte für meine Freundin bestimmt gewesen sein. Sie hatte so etwas angedeutet. Doch genau in diesem Moment hat die Bombe unser Gespräch unterbrochen. Ursprünglich wollten wir sie und ihre Mutter heute in der Klinik besuchen. Die Ärzte haben uns nicht vorgelassen.“

„Wie geht es ihnen?“

„Zumindest diese Frage haben sie uns beantwortet. Meine Freundin liegt im Koma. Doch die Ärzte denken, dass sie wieder völlig gesund wird. Schlimmer hat es ihre Mutter getroffen. Ihr musste ein Arm amputiert werden.“

Mit resoluter Stimme mischte sich die ältere Frau auf Italienisch in das Gespräch ein: „Ihr dürft euch gerne weiter unterhalten, aber ich möchte vorher zurück ins Hotel. Ich habe keine Lust, hier an diesem ungemütlichen Ort längere Zeit zu verweilen.“

Ohne es irgendwie verbergen zu wollen, hatte sie sich den Deutschen mit seinen dunkelblonden, langen Haaren und den braunen Augen genauer angesehen. Dessen sportliche Figur mit den breiten Schultern, sein kantiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen dem etwas zu großen Mund sowie seine offene, freundliche Art schienen einen positiven Eindruck auf sie zu machen.

So als wäre ihr soeben eine Idee gekommen, betrachte sie Raphael nochmals abschätzend und sprach ihn schließlich auf Deutsch an: „Falls sie irgendwo im näheren Umkreis so etwas wie einen fahrbaren Untersatz stehen haben und das Gefährt meiner Schwiegertochter hineinpasst, hätte ich eine Bitte an sie: Könnten sie uns nachhause fahren? Es ist nicht sehr weit, gleich hinter der großen Synagoge. Ich bin vorhin dummerweise gestürzt und unsere Taxifahrer haben sich ausgerechnet den heutigen Tag für einen Streik ausgesucht.“

Allein der Gedanke, mehr von und über die junge Frau zu erfahren, ließen Raphael zustimmend nicken. „Mein Pkw steht unweit von hier auf dem Parkplatz an der „Basilica di San Silvestro“. Der Rollstuhl sollte ebenfalls hineinpassen. Wenn sie ein paar Minuten warten, hole ich ihn,“ antwortete er ihr auf Italienisch und fügte lächelnd hinzu: „Ich freue mich, zwei so netten Damen einen Gefallen erweisen zu dürfen.“

Die Ältere nickte zufrieden und deutete auf das Gebäude, vor dem sie standen. „Sie haben soeben die Speisekarte studiert. Mittagessen können sie genauso gut bei uns im Hotel. Als Dank für ihre Chauffeurdienste lade ich sie zum Essen ein. Wir werden hier auf sie warten. Ich bin Roberta und die junge Dame neben mir heißt Wasiliki.“

„Raphael Leroy,“ wiederholte sie zufrieden seinen Namen, nachdem er sich ebenfalls vorgestellt hatte.

Trotz des regen Autoverkehrs dauerte die Fahrt zu dem angegebenen Hotel nur knappe 15 Minuten. Auf dem Weg dorthin redete die ältere Frau fast unentwegt, während die Blonde völlig schweigsam und in sich gekehrt nicht ein einziges Wort sprach. Hinter der Fassade des zauberhaften Wesens meinte er eine versteckte, tiefe Traurigkeit zu erkennen. Die Verletzungen ihrer Freundin und deren Mutter schienen sie ziemlich getroffen zu haben.

Ihr Ziel, das Hotel Tamaro, befand sich in einem gepflegten Gebäude unweit der Triester Synagoge.

„Und dort wohnen sie?“, wollte Raphael von den Frauen wissen.

„Es befindet sich bereits seit fünf Generationen in unserem Besitz,“ erklärte ihm die ältere seiner Beifahrerinnen, die sich ihm mit Roberta vorgestellt hatte, voller Stolz. Mein Bruder Tommaso und ich führen es gemeinsam. Ihr Fahrzeug können sie auf dem Parkplatz hinter dem Haus abstellen.“

Die jüngere der beiden Frauen begleitete ihn mit ihrem Rollstuhl bis zu einem Tisch in dem zum Hotel gehörenden Restaurant. Um diese Zeit war es nur spärlich besetzt.

Wasiliki bestellte bei einem Kellner für sich Gulasch auf Triester Art. Raphael schloss sich ihr an.

Während sie auf das Essen warteten, begann sie, für ihn völlig unerwartet, plötzlich zu lachen. Es klang absolut ungekünstelt. Noch mehr als sonst schon, strahlte sie dabei etwas aus, das vermutlich jedes nicht nur männliche Wesen, unweigerlich in ihren Bann zog.

Trotz ihrer vergnügt blitzenden Augen vermeinte er erneut, einen Hauch von Traurigkeit darin zu sehen. Nachdenklich strich sie mit einem ihrer langen, schmalen Fingern über das Glas vor ihr.

„Ich habe eine Frage, die mir selber von ganz unbekannten Männern mindestens tausendmal gestellt wurde. Darf ich?“

„Was möchten sie wissen?“

„Ist es möglich, dass wir uns in der Vergangenheit schon einmal begegnet sind? Das Gefühl hatte ich bereits in dem Café, als sie es sich auf mir bequem gemacht hatten. An Gesichter kann ich mich selbst nach langer Zeit noch gut erinnern. Doch wo wir uns möglicherweise schon einmal gesehen haben könnten, will mir nicht einfallen.“

Völlig überrascht von der Frage, brauchte Raphael einen Moment, bis er ihr antworten konnte.

„Da ist uns wohl beiden der gleiche Gedanke gekommen. Es sind ihre Augen, die mich an eine Frau erinnert haben, der ich vor einer halben Ewigkeit zufällig und nur kurz begegnet bin. Sie saß ebenfalls in einem Rollstuhl.“

Gespannt schaute Wasiliki ihn an: „Wissen sie noch, wo das war? Vielleicht sind wir uns wirklich schon einmal über den Weg gelaufen. Ich liebe solche Fügungen des Schicksals.“

„Meiner Erinnerung nach müsste es an der Elbe in Dresden gewesen sein,“ antwortete er etwas nachdenklich. „Ich kam zufällig dazu, als ein Pärchen mit Kinderwagen, das dort spazieren ging, von ein paar unangenehmen Gestalten heftig angemacht wurde. Dabei trat einer der Kerle gegen den Wagen, der samt Kind umkippte.“

Mit der darauffolgenden Reaktion hatte Raphael nicht gerechnet. Es war, als würden urplötzlich schwarze Wolken über dem Gesicht der Frau aufziehen. Der herrliche Bergsee ihrer Augen hatte sich im Bruchteil einer Sekunde in ein bedrohlich aussehendes Wasser verwandelt.

Abrupt und ohne Erklärung fuhr sie schleunigst mit ihrem Rollstuhl davon. Den Zusammenstoß mit ihrer Schwiegermutter, die soeben ins Restaurant gehumpelt kam, konnte sie gerade noch vermeiden. Fast etwas resignierend schaute die ihr hinterher.

„Haben sie Wasiliki auf ihren Mann oder den Sohn angesprochen?“, wollte sie von Raphael wissen.

Er nickte. „Das könnte sein. Ihre Schwiegertochter war ebenso wie ich der Meinung, dass wir uns in der Vergangenheit schon einmal begegnet sind. Mir ist dazu ein Vorkommnis am Elbufer in Dresden eingefallen. Ich war da spazieren und habe zufällig mitbekommen, wie ein paar fragwürdige Gestalten ein Pärchen, das mit Kind unterwegs war, bedrohten. Als ich dazukam, sind die Typen abgehauen. Der Rollstuhl und ihre Augen sind mir im Gedächtnis geblieben.“

Roberta schluckte mehrmals „Vermutlich sind sie sich da tatsächlich begegnet,“ antwortete sie schließlich. „Mein Sohn Nicolas, Wasiliki und Adrian, ihr gemeinsames Kind, haben in Dresden im Haus ihrer Eltern gelebt.“

„Sie sprechen in der Vergangenheitsform?“

„Nicolas hatte sich, nicht nur in Deutschland, als Korrespondent einen Namen gemacht. Er hat zahlreiche Verbindungen bekannter Politiker zu sogenannten Nationalisten, hauptsächlich der radikalen, rechten Szene, aufgedeckt. Das war nicht ungefährlich. Wasiliki und ich haben oft versucht, ihn davon abzubringen. Doch wir haben es nicht geschafft, ihn umzustimmen. Er liebte die Spannung, die der Teil des Berufes mit sich brachte. Nach seinem Tod wurde er in der Presse oftmals als investigativer Journalist bezeichnet und mit zahlreichen Lobeshymnen bedacht.“

„Was ist passiert?“

„Eines nachts, alle schliefen schon, wurde das Haus, in dem sie lebten, in Brand gesteckt. Es war ein altes Fachwerkhaus. Als die Feuerwehr kam, brannte es bereits lichterloh. Mein Sohn, Wasilikis Eltern und unser Enkelkind kamen dabei ums Leben. Die Polizei hat festgestellt, dass die Täter sämtliche mögliche Fluchtwege zuvor verbarrikadiert hatten. Selbst wenn sie rechtzeitig wachgeworden wären, hätten sie kaum eine Chance gehabt, dem Feuer zu entkommen.“

„Ihre Schwiegertochter hat überlebt? War sie nicht im Haus?“