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Waren Jesus und Maria Magdalena tatsächlich verheiratet, wie es im Philippusevangelium und etlichen gnostischen Schriften aus dem 4. Jahrhundert steht? Welcher Zusammenhang gibt es zwischen der Dolmetscherin Hannah Seeler, den ermordeten Jugendlichen in einem Münchner Park und in Südfrankreich entdeck-ten Schriften mit den Prophezeiungen Maria Magdalenas? Weshalb will die radikalchristliche Sekte "Fe Pura" mit allen Mitteln verhindern, dass diese Texte an die Öffentlichkeit gelangen?
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2022
FE PURA
Hier ist Platz für deine Widmung
FE PURA
Roman
Jürgen W. Roos
© 2022 Jürgen W. Roos
Lektorat: Tatjana Dörfler
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover:
ISBN Hardcover:
ISBN E-Book:
ISBN Großschrift:
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
1.
Tief die frische Morgenluft einatmend, begann Julian Dregger mit der ersten seiner üblichen 3 Laufrunden. Wie fast immer lief er vom Parkplatz des Michaeligartens kommend durch den Blumengarten in Richtung Eissportzentrum und von da aus weiter den äußeren Weg entlang, zurück zum Ausgangspunkt.
Zu dieser frühen Uhrzeit waren im Ostpark nur wenige Menschen unterwegs. Meist Personen, die vor der Arbeit schnell ihren Hund spazieren führten. Dazu vereinzelte Frauen und Männer, die wie er, im Park ihre Runden liefen.
Die vier jungen dunkelhaarigen Burschen, die auf einer niedrigen Begrenzungsmauer saßen und sich unterhielten, waren ihm in der Vergangenheit mehrmals auf gefallen. Dem Aussehen nach konnten es Asylanten sein, die vorübergehend in der nahegelegenen Flüchtlingsunterkunft lebten.
Am Ufer des kleinen Sees fütterte ein alter Mann mit Brot aus einer Plastiktüte die immer zahlreicher werdenden, laut schnatternden Enten. Etwas abseits von ihm stand eine Frau in langem, schwarzen Kleid und ebensolchem Kopftuch.
Ein eher ungewöhnlicher Anblick waren die zwei Mönche. Sie saßen schweigend am Ende des Blumengartens auf einer der vielen Bänke. Die Gesichter waren unter den Kapuzen ihrer braunen Habite kaum zu erkennen. Sie schauten nur kurz auf, als er an ihnen vorbeilief.
Etwas weiter davon entfernt durchsuchte ein Pärchen mittleren Alters den Inhalt eines Papierkorbes. Vielleicht Obdachlose, die nach leeren, weggeworfenen Pfandflaschen suchten. Die Frau trug einen schmutzigen, ehemals hellen Mantel. Die Haare hatte sie unordentlich zu einem Dutt zusammengebunden. Der gelbe, leuchtfarbene Anorak des Mannes war am Rücken eingerissen und mit einem grauen Klebestreifen notdürftig repariert worden.
Julian hatte vor gut einem Jahr mit seinen sportlichen Aktivitäten begonnen. Wenige Tage zuvor war er bei Freunden eingeladen und hatte sich dummerweise auf die zufällig im Badezimmer stehende Personenwaage gestellt. Das erste Mal seit langer Zeit.
Er war regelrecht geschockt, als die Anzeige nur knapp die 100 kg verfehlte. Bei einer Körpergröße von 180 cm eindeutig zu viel, wie er fand. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass das Halten des Körpergewichts, mit seinen mittlerweile 47 Lebensjahren, nicht mehr so leicht war wie noch vor wenigen Jahren.
Seitdem hatte er einen Teil seiner freien Zeit in verschiedene sportliche Aktivitäten investiert. Neben Schwimmen und Radfahren gehörte dazu das tägliche Joggen am Morgen vor dem Frühstück. Das alles aber nur, wenn das Wetter einigermaßen mitspielte. Immerhin war es ihm inzwischen gelungen, den störenden Bauchansatz loszuwerden.
In seiner ehemaligen Firma hatte sich die von den neuen Eigentümern eingesetzte Geschäftsführerin ziemlich schnell in die für sie relativ neue Materie eingearbeitet. Zudem hatte er sich bei den Ver kaufs ver hand lungen dazu verpflichtet, ihr bei Bedarf in den kommenden 15 Monaten beratend zur Seite zu stehen. In zwei Tagen würde er deshalb mit ihr für etwa eine Woche nach Hamburg fliegen. Dabei ging es um Vertragsverhandlungen mit einem langjährigen, aber etwas schwierigen Kunden.
Bald lag dieser Teil seines Lebens, der ihn noch an seine Firma band, endgültig hinter ihm. Von da an konnte er ein für alle Mal frei über seine Zeit entscheiden.
Dann konnte er endlich die vielen Länder und Städte besuchen, die er bisher lediglich von Geschäftsreisen kannte. Außer Besprechungsräumen und Hotelzimmern hatte er dabei kaum etwas gesehen.
Zuerst würde er mit der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Peking fahren und anschließend in Hongkong einen längeren Stopp einlegen. Keinesfalls wollte er sich an einen bestimmten Zeitrahmen halten. Es sollte eine geruhsame Reise werden, die sich ruhig über Wochen oder sogar Monate hinziehen konnte. Davon hatte er schon in der Jugend geträumt. Damals hatte ihm dazu das notwendige Kleingeld gefehlt und später die Zeit.
Vielleicht würde er sich wieder seiner früheren Leidenschaft, dem Fotografieren, widmen. Nach dem Abitur hatte er sogar mal vorgehabt, Hobby und Beruf zu verbinden. Zur Erleichterung seiner Eltern, die für diese Berufswahl kein Verständnis hatten, war dann alles anders gekommen.
Während er abwechselnd einen Fuß vor den anderen setzte, schaute er immer mal zum Himmel. Die tief dunklen Wolken bereiteten ihm ein wenig Sorgen. Es sah nach Regen aus. Nass werden wollte er nur ungern. Er hoffte, dass es erst dann zu regnen begann, wenn er wieder im Auto saß. Gegebenenfalls würde er sich mit zwei oder nur einer Laufrunde zufriedengeben.
Das Wetter war, den gesamten Spätsommer über, ungewöhnlich wechselhaft. Es gab Tage, da war es heiß, teilweise schwül wie im Hochsommer; an anderen dagegen kühl und regnerisch wie an einem trüben Novembertag. Selbst leichten Nebel hatte er bereits über dem See gesehen.
Nachdem „Trimm-Dich Parcours“, an dem er diesmal, ohne haltzumachen, vorbeilief, erreichte er die Grillzone der Parkanlage. An Wochenenden, bei schönem Wetter, fingen die Anwohner aus den umliegenden Wohngebieten bereits vormittags damit an, ihre Grillutensilien aufzubauen. Spätestens zur Mittagszeit hingen dann dichte Dunstwolken über dem gesamten Platz.
Nach der Hundespielwiese hielt er kurz an, um nochmals die Regenwolken zu begutachten. Hier war für ihn die letzte Möglichkeit, die Laufrunde abzukürzen. Noch konnte er innerhalb weniger Minuten sein Auto erreichen.
Erfolgreich bekämpfte Julian den inneren Schweinehund, der ihm eindringlich dazu riet, den kürzeren Weg zu nehmen. Zumindest diese eine Runde, vorbei am dicht bewachsenen Aussichtshügel, wollte er zu Ende laufen.
Irgendwo hatte er mal aufgeschnappt, dass der Hügel aus dem Geröllschutt bestand, der beim Bau dieses Münchner Stadtteils und der U- Bahn angefallen war.
Der Wettergott stand nicht auf seiner Seite. Die ersten Regentropfen fielen, nachdem er den leichten Anstieg hinter sich gebracht hatte. Automatisch beschleunigte er das Tempo.
Der Anblick eines Unterschenkels, lediglich mit einem roten Schuh bekleidet, ließ ihn abrupt stehen bleiben. Er ragte aus einem der Büsche, halbwegs verdeckt durch hohes Gras. Fast wäre er daran vorbeigelaufen.
Möglicherweise das Bein einer Schaufensterpuppe, überlegte er.
Nur ein paar Schritte trennten ihn von dem Gebilde. Neugierig geworden näherte er sich.
Ein dicht belaubter Zweig versperrte ihm die weitere Sicht. Mit einem unguten Gefühl im Magen schob er ihn zur Seite.
Beim genaueren Hinsehen sah er neben dem Bein die sanfte Wölbung eines Handrückens. Der gehörte keinesfalls zu einer Schaufensterpuppe. Dann erst sah er den Rest des Körpers.
Unwillkürlich stöhnte er auf und wandte sich sofort ab. Etwas Scheußlicheres hatte er noch nie gesehen. Unversehens wurde ihm schwindlig und es würgte ihn. Mühsam unterdrückte er den Drang, einfach davonzulaufen.
Schließlich zwang er sich dazu, nochmals hinzuschauen. Unterschenkel und Handrücken gehörten zu einem Kind oder jungen Mädchen mit welligen, schwarzen Haaren, lang und glänzend. Ihre offenen, trüben Augen starrten ihn anklagend an.
Die Tote mochte zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt sein. Sie war nackt, der Hals fast völlig durchtrennt. Für ihn sah es so aus, als würden nur wenige Zentimeter zu einer vollständigen Enthauptung fehlen.
Oberkörper und Gesicht sahen unversehrt aus. Zwischen den winzigen Brüsten lag eine dünne goldfarbene Halskette. Jemand, vielleicht der Mörder, musste sie dort abgelegt haben. Der Anhänger mit den drei Zacken sah aus wie ein durchbrochener Davidstern.
Den Unterleib hatte der Täter unterhalb der Rippen aufgeschlitzt. Teile der Innereien quollen aus der Wunde. Die Schamgegend bestand aus einem unkenntlichen rotbraunen Klumpen. Die dünnen Beine waren ebenfalls unversehrt. Lediglich der zweite Schuh fehlte. Auf den Fußrücken war mit roter Farbe oder Blut ein Kreuz gemalt worden.
Es dauerte eine Weile, bis Julian wieder einigermaßen klar denken konnte. Immer noch geschockt wählte er den Notruf der Polizei. Stockend berichtete er, was er wo gefunden hatte.
Die Anweisungen, die er bekam, waren klar und unmissverständlich. Von der Toten sollte er Abstand halten, keinesfalls etwas an ihr oder der Umgebung verändern sowie in unmittelbarer Nähe auf das Eintreffen des Streifenwagens warten.
Ausgerechnet jetzt wurde der Regen stärker. Schutzsuchend stellte Julian sich unter einen der Bäume auf der anderen Seite des Weges; absichtlich etwas weiter entfernt von dem Leichnam. Von da aus war selbst das Bein des getöteten Mädchens nicht mehr zu sehen. Mit leichten Sprüngen und Armbewegungen versuchte er, sich einigermaßen warmzuhalten. Glücklicherweise vergingen nur wenige Minuten, bis er aus Richtung des zum Park gehörenden Biergartens Motorengeräusch vernahm. Unmittelbar darauf sah er einen der typischen blau-silbernen Streifenwagen auftauchen. Er musste lediglich einmal kurz winken, um von den Polizisten gesehen zu werden.
Bei der Fahrerin handelte es sich um eine junge, blonde Frau mit halblangem, strähnigen Pferdeschwanz. Ihr Kollege war älter und vermutlich der Erfahrenere von ihnen.
Julian vermied es, die beiden zu der Leiche zu führen. Er blieb unter dem Baum stehen und deutete lediglich mit einer Hand in die ungefähre Richtung.
„Sie liegt dort in dem Gebüsch. Ein schrecklicher Anblick.“
Die junge Polizistin schien derselben Meinung zu sein. Er hörte ihren erschreckten Schrei, bevor sie ziemlich bleich zurückkam und sich mit gesenktem Kopf an dem Streifenwagen abstützte. Wenig später kehrte auch der ältere Polizist zurück.
„Sie hatten Recht. Das tote Mädchen ist wirklich kein angenehmer Anblick. Jetzt sind die Kollegen von der Kriminalpolizei gefordert. Bis die kommen, müssen sie hier warten. Die werden Fragen an sie haben.“ Weiterhin sehr blass schaute seine Kollegin zu Julian: „Sie brauchen nicht im Regen stehen zu bleiben. Kommen sie zu uns ins Auto.“
Ihr Kollege nickte nur, bevor er sich selber auf den Beifahrersitz setzte und über das Telefon einen knappen Bericht durchgab.
„Eindeutig ein Kapitalverbrechen,“ hörte Julian ihn sagen. Darauf folgte eine kurze Schilderung, wie sie die Tote vorgefunden hatten.
Die Polizistin wollte von ihm wissen, was er so früh in diesem abgelegenen Teil des Ostparks gewollt hatte und wie es zu dem Fund der Leiche gekommen war.
„Der Weg liegt auf meiner täglichen Joggingrunde. Zuerst habe ich das Bein gesehen.“
Julian hörte auf zu erzählen, als er merkte, dass die beiden Uniformierten kein wirkliches Interesse an seiner Schilderung zeigten. Möglicherweise wollten sie den Fragen der Kripo nicht zuvorkommen.
„Es wird etwas dauern, bis die zuständigen Kollegen hier auftauchen.“ Die Polizistin zeigte auf eine Thermoskanne neben ihrem Sitz. „Ich kann ihnen einen Becher Kaffee anbieten?“
Dankbar nahm Julian das Angebot an. Es verging fast eine halbe Stunde, bis die Kriminalpolizei kam.
„Kommissar Harms“, stellte sich der Beamte mit festem Händedruck vor.
Er war klein, mit unübersehbarem Bauchansatz, freundlichem Gesicht und angegrauten Haaren. Keinesfalls hätte man ihn für jemanden gehalten, der sich beruflich mit so schrecklichen Dingen wie Mordfällen beschäftigte.
Er deutete auf seine Kollegin, die nach ihm aus dem grauen BMW gestiegen war. „Das ist Kommissarin Lange.“
Im Gegensatz zu ihm besaß sie eine schlanke, fast hagere Figur. Den Uniformierten und Julian nickte sie zur Begrüßung lediglich kurz zu.
Etwas verbissen und mit gerümpfter Nase betrachtete sie die Umgebung. Wohl in der Hoffnung, dass es aufhören würde zu regnen, schaute sie zwischendurch immer wieder zum Himmel.
Ihren Kollegen schien der Regen weniger zu stören. Unbekümmert nickte er ihr zu: „Dann werden wir uns zuallererst mal selber ein Bild von der Lage machen.“
Bereits nach kurzer Zeit kehrte er allein zurück. Die Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Er wandte sich direkt an Julian.
„Wie haben sie die Tote entdeckt? In dem Gebüsch ist sie fast nicht zu sehen.“
„Beim Joggen ist mir zuerst das Bein aufgefallen. Dann habe ich eine Hand im Gras gesehen und bin neugierig geworden.“
„Was haben sie danach am Fundort gemacht?“
Julian zuckte mit den Schultern. „Ich habe einen Ast zur Seite geschoben und sie entdeckt. Spätestens da habe ich meine Neugierde verflucht.“
Der Kommissar unterbrach die Befragung und wandte sich an die Uniformierten: „Es ist besser, wenn ihr den Fundort großflächig absperrt. Möglichst gleich am Anfang und Ende des Weges. Trotz des Sauwetters könnten noch mehr Menschen unterwegs sein. Die Spurensicherung wird hoffentlich bald hier eintreffen.“
Julian sah aus der Entfernung zu, wie die Kommissarin erste Fotos von der Leiche machte. Harms wandte sich erneut an ihn.
„Das Kind ist vermutlich nicht allzu lange tot. Haben sie hier in unmittelbarer Nähe jemanden gesehen?“
Verneinend schüttelte Julian den Kopf. „Nein, zuvor sind mir im Park lediglich andere Jogger entgegengekommen. Außerdem waren da die üblichen Frühaufsteher, die vor der Arbeit ihren Hund ausführen und ein alter Mann samt Frau. Er hat die Enten im See gefüttert.“
„Also nichts Außer gewöhnliches?“
„Vielleicht doch. Auf einer Bank im Blumengarten, gleich am Anfang meiner Laufrunde, saßen zwei Mönche. Sie unterhielten sich. Die sind mir hier im Park noch nie begegnet. Ansonsten waren da ein Mann und eine Frau. Sie haben in den Papierkörben nach etwas Verwertbarem gesucht. Vielleicht Obdachlose. Er trug einen auffälligen, orangefarbenen Anorak. Mehr fällt mir zu ihnen nicht ein. Außerdem saßen auf einer Mauer vor dem Blumengarten ein paar junge Kerle. Die sind öfter im Park. Dem Aussehen nach könnten sie aus der Asylantenunterkunft neben dem Ostpark kommen. Vermutlich ist es ihnen in den Baracken zu langweilig geworden.“
Inzwischen war die Kollegin des Kommissars dazugekommen: „Wissen sie noch, wie viele junge Burschen es waren?“
„Heute waren es vier. Ich habe sie nicht weiter beachtet.“
„Können sie uns zu den Mönchen mehr sagen? Welche Farbe hatte ihr Habit? Hielten sie einen Rosenkranzkranz in der Hand?“
„So genau habe ich sie mir nicht angesehen. Sie trugen braune Kutten mit Kapuze. Auf mehr habe ich nicht geachtet. Für mich sehen alle Mönche ziemlich gleich aus. Ich weiß nicht einmal, ob sie groß oder klein gewesen sind.“ Julian musste grinsen. „Seltsamerweise sind mir ihre klobigen braunen Sandalen aufgefallen. Die haben recht urig ausgeschaut.“ Kommissar Harms nickte verständnisvoll. Offenbar war er an solche ungenauen Aussagen gewöhnt.
„Vermutlich hätte ich auf deren Kleidung auch nicht geachtet. Ist ihnen das tote Mädchen schon mal aufgefallen? Immer vorausgesetzt, dass sie da ebenfalls hier im Park ihre Runden gedreht haben.“
Julian nickte und versuchte, sich zu erinnern.
„Zumindest in den letzten drei Tagen bin ich so ziemlich genau zu dieser Uhrzeit hier gelaufen. Es ist möglich, dass sie zu den Kids gehörte, die gestern früh an einem der Tische des ansonsten geschlossenen Biergartens saßen. An die Tote speziell kann ich mich nicht erinnern.“
„Was haben die Jugendlichen hier gewollt?“
Julian konnte erneut nur die Schultern zucken: „Das habe ich sie nicht gefragt. Sie sind zu dritt gewesen. Zwei Mädchen und ein Junge. Alle etwa 12 - 14 Jahre alt. Sie haben sich unterhalten. Möglicherweise sind sie ebenfalls aus der Flüchtlingsunterkunft.“
Diesmal war der Kriminalbeamte mit Julians Aussage sichtlich unzufrieden.
„Haben sie sich nicht gewundert, dass um diese Zeit Jugendliche hier herumsitzen?“
„Irgendwie schon. Doch ich habe, ehrlich gesagt, nicht weiter darüber nachgedacht und es hat mich auch nicht interessiert.“
„Schade, dass sie uns nicht mehr zu ihnen sagen können.“ An seine Kollegin gewandt fügte er hinzu: „Bei dem Sauwetter heute haben wir kaum eine Chance, etwaige andere Zeugen zu finden.“
„Fragen sie doch mal die Angestellten im Restaurant, das zum Biergarten gehört,“ schlug Julian vor. „Um die Zeit sind da immer mal wieder Lieferanten. Also muss auch jemand vom Personal da sein. Vielleicht können die ihnen weiterhelfen.“
Harms nickte: „Das ist eine Möglichkeit. An sie haben wir momentan keine weiteren Fragen. Aber ich möchte sie heute am Nachmittag oder morgen auf unserer Dienststelle sehen. Wir müssen ihre Aussage protokollieren.“
„In der Ettstraße?“
Der Kommissar gab ihm eine Visitenkarte: „Nein, sie finden uns im Kommissariat in der Hansastraße. Fragen sie an der Pforte nach mir oder meiner Kollegin. Wir holen sie dort ab. Falls ihnen die Flaschensammler oder Mönche nochmals über den Weg laufen, geben sie uns bitte Bescheid. Möglicherweise haben die etwas Auffälliges bemerkt.“
Weder Julian noch die Polizisten sahen den alten Mann, der sich etwa 50 Meter über ihnen hinter einem dichten Holunderstrauch verbarg und alles beobachtete.
2.
In den darauffolgenden Stunden gingen Julian die Bilder des toten Mädchens nicht aus dem Kopf. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas Entsetzlicheres gesehen zu haben. Schon deshalb entschloss er sich, seine Aussage gleich am selben Tag protokollieren zu lassen. Er hoffte, die furchtbaren Bilder danach schneller aus dem Kopf zu bekommen.
Das Kommissariat war in einem schmucklosen Neubau untergebracht. Von dem Uniformierten an der Pforte hinter der Glasscheibe wurde er ausgiebig gemustert, bevor dieser zum Telefon griff, um ihn anzumelden. „Kommissar Harms kommt gleich, um sie abzuholen“, bekam er schließlich gesagt.
Außer ihm warteten, ein paar Meter entfernt, zwei weitere Frauen. Die ältere der beiden, eine ungepflegte grauhaarige Person mit übergroßer Handtasche, musterte ihn ziemlich ungeniert. Sie schien nicht abgeneigt, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Demonstrativ schaute er in eine andere Richtung.
Bei der Zweiten handelte es sich um eine junge Frau mit schulterlangen, dunklen Haaren. Der schwarze Hosenanzug betonte perfekt ihre schmalen, fast mädchenhaften Hüften und die langen Beine.
Da sie mit dem Rücken zu ihm stand und in der Handtasche etwas suchte, konnte er das Gesicht nicht erkennen.
Als Harms die Treppe herunterkam, gab sie die Suche auf. Freundlich lächelnd nickte sie dem Kommissar zu. Offenbar kannten sich die beiden. Ganz so jung, wie Julian vorher angenommen hatte, war die Frau nicht. Anfang bis Mitte dreißig, schätzte er. Zuvor hatte er sich von ihrer mädchenhaften Figur täuschen lassen.
Und sie war verdammt hübsch. Das lag nicht nur an ihren ebenmäßigen Gesichtszügen mit den nicht zu vollen Lippen. Mehr noch faszinierte ihn das warme Leuchten der auffallend, blauen Augen mit den langen Wimpern, die ihm durch ihren dunklen Teint besonders auffielen. Keinesfalls ließ sie sich unter den langweiligen Schönheiten einordnen, die ihm sonst gelegentlich über den Weg liefen. Es fiel ihm schwer, nicht dauernd zu ihr hinzuschauen.
Sie schien gemerkt zu haben, dass er sie beobachtete. Abweisend, fast etwas hochmütig und trotzdem nicht unfreundlich, schaute sie kurz zu ihm, bevor sie sich erneut dem Kommissar zuwandte.
Julian kannte dieses Mienenspiel von Frauen aus Spanien, Nordafrika oder auch Südamerika. Damit versuchten sie, sich vor auf drin glichen Verehrern zu schützen. Ihm gefiel es.
„Hallo Frau Seeler, sie wollen zu meinem Kollegen,“ wurde sie von Harms begrüßt. „Er hat mich gebeten, sie zu ihm ins Büro zu bringen. Sobald sie dort fertig sind, hätte ich ebenfalls eine kleine Bitte an sie. Vielleicht können sie anschließend kurz bei mir vorbeischauen.“
„Gerne, aber nur, wenn sie mich nicht zu lange aufhalten. Ich habe später eine Verabredung, zu der ich unbedingt pünktlich kommen muss.“
Ihre Stimme klang angenehm sanft, weich fand Julian. Was mochte sie mit der Kriminalpolizei zu schaffen haben?
Er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Der Kommissar wandte sich ihm zu. „Schön, dass sie es so schnell einrichten konnten, herzukommen, Herr Dregger. Wir werden sie nicht allzu lange aufhalten.“ In der ersten Etage verschwand die hübsche Frau, ohne sich nochmals umzudrehen, in einem der zahlreichen Büros. Augenscheinlich kannte sie sich hier aus.
Harms dirigierte Julian in einen großen, hellen Raum mit Blick auf die Straße. Von einem der Schreibtische blickte ihm seine Kollegin entgegen. Wie bereits in der Früh nickte sie ihm auch diesmal zur Begrüßung lediglich kurz zu. Von der Verständigung durch viele Worte schien sie nichts zu halten. Ebenfalls wortlos deutete sie auf die Kaffeemaschine und schaute den Besucher dabei fragend an.
Julian nickte ihr dankbar zu.
„Haben sie schon herausgefunden, wer das arme Mädchen so zugerichtet hat?“, wollte er von dem Kommissar wissen.
„Noch nicht, aber wir arbeiten mit Hochdruck daran. Erst vor ein paar Tagen haben wir, ebenfalls im Ostpark, eine weitere Tote gefunden. Sie haben davon gehört oder gelesen?“
Julian schüttelte den Kopf: „Nein, das ist mir neu. In der Regel überfliege ich die Lokalnachrichten der Tageszeitungen nur. Ist sie auch ermordet worden?“
„Bedauerlicherweise ja. Wenigstens wissen wir, wer sie ist. Bei ihr handelt es sich um eine junge Syrerin aus der neben dem Ostpark gelegenen Asylantenunterkunft. Sie ist allein mit ihren zwei kleinen Kindern nach Deutschland gekommen. Ich erzähle ihnen das nur, weil es möglicherweise einen Zusammenhang zu der Toten gibt, die sie heute gefunden haben.“ „Wurde die Syrerin ebenfalls so grausam verstümmelt?“
Harms schüttelte den Kopf: „Nein, aber das hat nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Sie wurde vergewaltigt und lag nackt im Schilf unmittelbar neben dem kleinen See. Zuvor hat man sie mit zahlreichen Schlägen ganz übel zugerichtet. Das Gesicht war kaum noch zu erkennen. Nachdem sie fast täglich dort ihre Runden drehen, hatte ich gehofft, dass sie irgendetwas bemerkt haben.“
„Nein, an keinem der vergangenen Tage ist mir etwas Besonderes aufgefallen.“
Zum ersten Mal, seitdem er den Raum betreten hatte, wandte sich die Kollegin des Kommissars dann doch mit einer Frage an ihn: „Was ist mit den jungen Kerlen, die heute im Blumengarten saßen? Sie haben gesagt, dass sie schon öfter dort waren. Wann haben sie die Männer zuletzt gesehen?“ Julian musste erst nachdenken. „Gestern waren sie nicht da. Da sind mir nur die Kids im Biergarten in Erinnerung geblieben. Aber einige Tage zuvor saßen sie schon mal im Blumengarten und haben sich unterhalten. Dass zu dieser Uhrzeit junge Leute im Park auf einer Bank sitzen, ist eher selten. Ein paar Stunden später wären sie mir vermutlich gar nicht aufgefallen.“
Harms zuckte bedauernd mit den Schultern: „Schade, aber es hätte ja sein können, dass irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Würden sie die Männer wiedererkennen, wenn sie ihnen begegnen?“
„Vermutlich schon, aber mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen. Was hat es mit der Halskette auf sich, die auf dem Mädchen lag? Bei dem Anhänger könnte es sich um so etwas wie einen Davidstern handeln, bei dem man die unteren drei Zacken abgebrochen hat.“
„Ja, das haben meine Kollegin und ich uns auch gedacht. Allerdings haben wir bisher keine Erklärung dafür gefunden, warum man es dem Mädchen auf die Brust gelegt hat. Der ganze Davidstern mit seinen 6 Zacken gilt heute vor allem als Symbol des Volkes Israel und des Judentums. Möglicherweise kann uns die israelitische Kultusgemeinde darüber Auskunft geben. Ebenso zu der Toten. Jemand vom dortigen Gemeindesekretariat will heute oder morgen hier vorbeikommen.“
„Und was die roten Kreuze auf den Fußrücken des Mädchens zu bedeuten haben, wissen sie bis jetzt auch nicht?“
Harms schüttelte lediglich den Kopf und überflog nochmals das Protokoll. Nachdem Julian es unterschrieben hatte, kam der Kommissar erneut auf die jungen Männer aus dem Park zu sprechen.
„Ich möchte die Burschen, die sie gesehen haben, gerne befragen. Ebenso wie die Kids vom Vortag. Möglicherweise haben die etwas bemerkt oder waren sogar an der Tat beteiligt.“
„Falls sie mir nochmals über den Weg laufen, kann ich sie anrufen.“
„Bis wir da sind, könnten sie längst wieder weg sein. Wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich sie bitten, sich in der Asylantenunterkunft dort am Park umzuschauen. Möglicherweise erkennen sie jemanden wieder.“
„Was soll ich dem Lagerleiter oder Sicherheitsleuten sagen, wenn sie mich fragen, was ich dort will?“
Der Kommissar schien sein freundliches Lächeln selten zu verlieren. „Danke. Ich hatte darauf gehofft, dass sie uns bei der Suche nach dem Täter helfen. Das war auch der Grund, warum ich Frau Seeler gebeten habe, kurz bei mir vorbeizuschauen. Sie arbeitet gelegentlich als Dolmetscherin für unsere Dienststelle. Mir war bekannt, dass sie morgen dort in der Unterkunft benötigt wird. Sie kommt mit einem Kollegen, für den sie übersetzen muss. Denen können sie sich anschließen. Ich gehe davon aus, dass die beiden keine Einwände haben. Und im Heim werden sie annehmen, dass sie dazugehören. Falls sie jemanden erkennen, sagen sie es dem Beamten. Das ist schon alles.“
Nur widerwillig stimmte Julian zu. Der Gedanke an die hübsche Frau half ihm dabei.
„Wenn sie glauben, dass es ihnen bei der Aufklärung hilft, geht das in Ordnung. Morgen habe ich nichts Wichtiges vor.“
„Vielen Dank. Wir müssen einfach jede Möglichkeit nutzen, um den Mörder zu finden. Frau Seeler wird gleich hier sein. Dann können sie miteinander ausmachen, wann und wo sie sich treffen.“
Harms grinste bei diesen Worten stärker als sonst. Fast so, als wüsste er, weshalb der Zeuge letztlich zu gestimmt hatte.
„Und falls ihnen in den kommenden Tagen nochmals die Flaschensammler oder die Mönche über den Weg laufen, rufen sie uns an. Möglicherweise haben die etwas gesehen. Diese Leute werden sie in der Flüchtlingsunterkunft wohl eher nicht treffen.“
Hannah Seeler hatte die letzten Sätze des Kommissars noch gehört. Entschuldigen sie, dass ich hier einfach so eintrete. Aber mir pressierts und auf mein Klopfen haben sie nicht reagiert.“
Mit einem leichten Stirnrunzeln und wie nebenbei registrierte sie Julians Anwesenheit. Den Kaffee, den der Kommissar ihr anbot, lehnte sie mit einem entschiedenen Lächeln ab.
„Selbst dafür habe ich heute keine Zeit, aber gerne beim nächsten Besuch. Mein Verleger erwartet mich zu einer Besprechung und ich bin schon spät dran. Was kann ich für sie tun?“
Mit wenigen Worten erklärte ihr der Kommissar, was er von ihr wollte.
„Nachdem sie morgen sowieso in der Unterkunft sind, wäre es mir sehr recht, wenn sie Herrn Dregger als zusätzliche Begleitung akzeptieren würden. Meinem Kollegen, der mit den Asylanten sprechen soll, sage ich Bescheid.“
Zum ersten Mal sah sie ihn direkt an. Dabei vertieften sich die kleinen Fältchen unter ihren Augenwinkeln. Rechts und links neben ihrem Mund zeigten sich winzige Grübchen. Diesmal schien seine offen gezeigte Bewunderung weniger Ablehnung bei ihr hervorzurufen. Fast etwas verwundert strich sie sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn. Schließlich nickte sie und wandte sich wieder Harms zu: „Von meiner Seite aus gibt es da keine Probleme. Ich habe mit ihrem Kollegen vereinbart, mich morgen um 10 Uhr mit ihm zu treffen.“
Erneut schaute sie zu Julian. Diesmal glaubte er, neben dem reizenden Lächeln, zusätzlich etwas wie Erstaunen in den großen, blauen Augen zu sehen.
„Wenn ihnen das passt, können sie sich gerne anschließen. Es wird niemanden besonders verwundern, wenn mich gleich zwei Polizisten begleiten. Falls doch, müssen wir uns eben eine Ausrede einfallen lassen.“
„Ich werde pünktlich da sein.“
Mit einem flüchtigen Nicken verabschiedete sie sich. An Julian gewandt fügte sie noch hinzu: „Dann bis morgen. Am besten treffen wir uns am Eingang vor dem Lager. Da können wir uns nicht verfehlen. In der Regel gibt es da genügend Parkmöglichkeiten.“
3.
Nachdem Julian Dregger gegangen war, schaute Christiane Lange ihren Kollegen fragend an: „Warum schickst du die beiden zusammen in das Asylantenheim? Genauso gut hättest du oder ich ihn dorthin bekleiden können.“
Harms lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf: „Dregger soll sich dort unauffällig umschauen können. Das ist schon alles. Auch wenn ich es für unwahrscheinlich halte, dass die Burschen sich genau zu der Zeit vor ihrer Unterkunft aufhalten. Wäre ich mit ihm hingegangen, hätten sofort alle vermutet, dass wir den oder die Ostpark-Mörder unter den Flüchtlingen suchen. Das wäre eine Steilvorlage für die Idioten aus der rechten Szene. Vermutlich würden sie zu einer ihrer Demos direkt vor dem Lager aufrufen. Dass morgen jemand von der Polizei wegen des angeblichen Diebstahls vorbeikommt, dürfte sich unter den Bewohnern herumgesprochen haben.“
„Weshalb muss der Syrer überhaupt nochmals befragt werden? Ich dachte, dass sich das von selbst geklärt hat.“
„Meines Wissens ist es das auch. Das angeblich verschwundene Handy hat der Eigentümer unter seinem Bett wiedergefunden. Ziemlich kleinlaut hat er zugegeben, dass es ihm vermutlich aus der Tasche gefallen ist. Sein Zimmernachbar hatte nichts damit zu schaffen. Mit dem Auftritt morgen im Lager möchte der Kollege erreichen, dass so etwas möglichst nicht noch einmal vorkommt. Ganz nach dem Motto erst genau nachsehen, bevor man jemanden beschuldigt. Die Heimleitung hat es auch so schon schwer genug.“
„Hast du Julian Dregger überprüft? Ihn müssen wir ebenso unter den Verdächtigen einreihen.“
Harms schüttelte den Kopf: „Das halte ich für unwahrscheinlich. Als wir dort angekommen sind, habe ich ihn mir, insbesondere seine Kleidung, genau angeschaut. Ich konnte an ihm nirgendwo einen Blutfleck entdecken. Nicht mal an den Händen. So übel, wie das Mädchen zugerichtet worden ist, hätten wir Blutspuren an ihm sehen müssen.“
„Ist er bei uns in der Datei?“
„Da ist nichts zu finden.“ Harms seufzte. „Er hat als Beruf „Privatier“ angegeben. Daraufhin muss ich ihn ein bisschen dumm angeschaut haben. Jedenfalls hat er mir so nebenbei erklärt, dass er vor über einem Jahr seine Firma verkauft und sich zur Ruhe gesetzt hat. So gut möchte ich es auch mal haben.“
„Bedauerlicherweise haben wir nichts Wertvolles zu verkaufen. Bis zur Rente werden wir brav weiterarbeiten.“
Harms kam zu ihrem Fall zurück. „Wann können wir mit dem Bericht des Pathologen rechnen? Haben sie dir was gesagt? Zudem sollten wir herausfinden, ob das tote Mädchen in der Asylantenunterkunft am Ostpark gewohnt hat.“
Oberkommissarin Beate Quirin, ihre unmittelbare Vorgesetzte, hatte beim Betreten des Raumes die letzten Sätze ihrer Kollegen gehört. Wie meistens trug sie auch diesmal zu ihrer weißen Bluse einen blauen Rock. Im Kommissariat liefen schon Wetten darüber, ob man sie jemals in anderer Kleidung sehen würde.
„Den Bericht aus der Pathologie bekommen wir frühestens morgen. Ich habe Druck gemacht. Und im Gegensatz zu der ermordeten Syrerin hat die Tote von heute nicht in der Unterkunft gewohnt. Jedenfalls nicht offiziell. Ich habe mich mit der Leiterin des Heims kurzgeschlossen und ein Foto geschickt. Sie hat das Mädchen noch nie gesehen.“
Christiane Lange nickte verdrießlich: „Was aber nicht viel heißt, wie wir wissen. Sie kann dort bei Verwandten oder jemandem aus ihrem Heimatdorf Unterschlupf gefunden haben.“
Die Oberkommissarin nickte: „Das ist natürlich möglich. Bevor wir uns darüber Gedanken machen, sollten wir auf den Bericht der Pathologie warten. Bis jetzt wissen wir nicht einmal, wie genau das Mädchen zu Tode gekommen ist und ob es sexuell missbraucht wurde. Von der Rechtsmedizin erfahren wir dann auch, ob die Tote ebenfalls aus Nordafrika stammt. In dem Lager gibt es nur Asylanten aus diesen Ländern. Das hat mir die Lagerleitung nochmals bestätigt. Unter Umständen haben wir es mit zwei völlig getrennten Verbrechen zu tun.“
Harms Kollegin nickte: „Dafür würden auch die unterschiedlichen Tatmuster sprechen. Die Kette mit dem halben Davidstern und die grausame Unterleibsverstümmlung deuten meiner Meinung nach eher auf einen religiösen Hintergrund hin.
Ihre Vorgesetzte nickte: „Ich halte es daher unbedingt für notwendig, dass wir alle, die sich zu der Zeit im Park aufgehalten haben, befragen. Zu beiden Tatzeitpunkten. Möglicherweise gibt es da Überschneidungen. Vielleicht haben wir auch Glück und unser Zeuge sieht einen der jungen Burschen vom Ostpark in der Unterkunft. Und lassen sie nach den Mönchen und den Flaschensammlern suchen.“
Sie stand schon an der Tür, um zu gehen, als sie sich nochmals umdrehte: „Fast hätte ich es vergessen. Morgen um 14 Uhr setzen wir uns zusammen, um über die uns vorliegenden Ergebnisse zu sprechen. Spätestens dann braucht unsere Pressestelle etwas Vorzeigbares für die Journalisten. Vielleicht wissen wir bis dahin, was der Anhänger an der Halskette zu bedeuten hat.“
4.
Mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen stieg Hannah Seeler ins Auto. Sie wusste nicht weshalb, aber irgendwie freute es sie, dass der Mann, den sie eben bei Harms kurz kennengelernt hatte, sie am nächsten Tag ins Asylantenheim bekleiden würde.
Schon an der Pforte, als der Kommissar sie abholte, war ihr sein keineswegs aufdringliches, aber unbekümmertes und trotzdem bewunderndes Lausbubengrinsen aufgefallen. Die etwas zu langen, angegrauten Haare und die zu groß geratene Nase passten irgendwie dazu. Das alles zusammen hatte in ihr ein leichtes Kribbeln ausgelöst. Ein Gefühl, dass sie fast vergessen hatte.
Oder hatte sie den Blick seiner blauen Augen falsch gedeutet? Womöglich bedachte er jede halbwegs gutaussehende Frau damit.
Instinktiv hatte sie mit ihrer typisch hochmütig-ablehnenden Haltung darauf reagiert. Die hatte sie sich in der Teenagerzeit, als sie mit ihren Eltern in Kairo lebte, angewöhnt. Das half jetzt noch, wenn es darum ging, die überschwänglichen Komplimente der Männer in ihrer Wahlheimat Italien im Keim zu ersticken. Meistens jedenfalls. Ihn schien es nicht gestört zu haben.
Die feinen Fältchen um die Augen herum, deuteten darauf hin, dass er oft lachte. Eine weitere Eigenschaft, die sie schätzte.
Dazu hatte seine selbstsichere, aber keinesfalls überhebliche Art, bei ihr das Gefühl hinterlassen, sich in allen Situationen zurechtzufinden. Ein Mann zum Anlehnen.
Sein Alter einzuschätzen, fiel ihr schwer. Sie nahm an, dass er ein bisschen älter war wie sie selbst mit ihren 42 Jahren.
Auf jeden Fall ein interessanter Typ, fand sie. Es war ihr seit Ewigkeiten nicht mehr passiert, dass ein Mann bei ihr schon nach dem ersten, kurzen Kennenlernen einen dermaßen positiven Eindruck hinterließ.
Womöglich lag es auch daran, dass sie in den vergangenen Jahren gar nicht gewollt hatte, eines der männlichen Exemplare näher kennenzulernen. Sobald man sich auf eine etwas engere Beziehung einließ, hieß es für beide, Kompromisse einzugehen. Dafür war sie schon seit Jahren nicht bereit.
Sie wusste genau, was sie wollte. Sollte es doch irgendwann einmal auf eine Art Beziehung hinauslaufen, musste sie vorher das Gefühl bekommen, dass er für sie etwas ganz Besonderes war oder zumindest werden konnte. Bis es dazu möglicherweise kam, reichten ihr gelegentliche, kurze Affären, die sie jederzeit beenden konnte.
Ihre beste Freundin hatte unverblümt gesagt, dass ihre verspäteten, romantisch angehauchten Teenagerträume niemals in Erfüllung gehen würden. Ihrer Meinung nach sollten die Frauen an das männliche Geschlecht keine zu hohen Ansprüche stellen. Sie war davon überzeugt, dass man Enttäuschungen so leichter aus dem Weg gehen konnte.
Dabei wusste Hannah durchaus, weshalb sie einer festen Bindung aus dem Weg ging. Obwohl seitdem mehr als zehn Jahre dazwischenlagen, würde sie die letzte Begegnung mit ihrem damaligen Mann nie vergessen. Noch immer spürte sie die wütenden Faustschläge, die nicht nur ihren Körper und das Gesicht, sondern sie viel härter im tiefsten Inneren getroffen hatten. Sehr genau konnte sie sich an ihre abnormale Hilflosigkeit erinnern. Bis jetzt hatte sie keine Erklärung dafür, warum sie sich nicht zur Wehr gesetzt hatte. Sie wusste nur, dass sie so etwas nie mehr erleben wollte.
Als sie nach dem Tod ihres Mannes erfuhr, dass er sie dazu seit Monaten oder sogar Jahren mit einer Praktikantin betrogen hatte, war endgültig etwas in ihr zerbrochen.
Zu keiner Zeit in ihrer Beziehung mit David hatte sie diese Möglichkeit auch nur erwogen.
Dabei hatte es einmal so gut angefangen. Sie und David waren sich während des Studiums in Münster über den Weg gelaufen.
Wie oft an schönen Sommertagen war sie nach der Vorlesung mit dem Fahrrad zu einem ihrer Lieblingsplätze am Kanal gefahren, um sich dort auf die bevorstehende Zwischenprüfung vorzubereiten. Dabei konnte sie gleichzeitig ein paar Sonnenstrahlen genießen. Wie meist hatte sie auch diesmal einen Ort ausgesucht, an dem nicht zu viele Spaziergänger vorbeikamen.
Völlig in Gedanken versunken hatte David beim Joggen ihr auf dem Boden liegendes Fahrrad, übersehen, war darüber gestolpert und schließlich mit voller Wucht auf sie gefallen.
Nach dem ersten Schrecken und sie erleichtert feststellten, dass ihnen bis auf ein paar blaue Flecken nichts passiert war, kamen sie schnell ins Gespräch.
David studierte klassische und christliche Archäologie, während sie selber Vorlesungen in Arabistik belegt hatte. Daraus ergaben sich genügend Anhaltspunkte für heftige Diskussionen. In der Folgezeit dauerten sie oftmals bis weit in die Nacht.
Für ihre Mitkommilitonen und Bekannten waren sie eines der zahlreichen Paare, die sich durchs Studium gefunden hatten.
Hannah selber war zum ersten Mal richtig verliebt und im Nachhinein gesehen, war es die schönste Zeit in ihrer Beziehung.
Nach einigen Wochen stellte sie verwundert fest, dass er nicht ein einziges Mal ernsthaft den Versuch unternahm, mit ihr zu schlafen. Immer wenn sie dachte, jetzt sei es so weit, zog er sich zurück. Dabei hatte sie deutlich gespürt, dass er genauso erregt war, wie sie selber.
Als sie ihn Tage später darauf ansprach, machte er ihr völlig überraschend einen Heiratsantrag und erklärte seine diesbezügliche Zurückhaltung mit seiner strengen, christlichen Erziehung. Obwohl er sich inzwischen als nicht besonders religiös bezeichnete, kam es für ihn keinesfalls infrage, schon vor der Hochzeit mit seiner zukünftigen Frau zu schlafen. Gleichzeitig kam er immer wieder auf die zahlreichen Kinder zu sprechen, die sie dann haben würden.
Sie war jung, unwahrscheinlich verliebt und wollte ihm nicht widersprechen. Auch wenn sie sich keineswegs in der Rolle einer Frau sah, die sich um den Nachwuchs kümmerte und ansonsten darauf wartete, dass der Mann nachhause kam. Dazu hätte sie nicht Arabistik studieren müssen. Ein oder zwei Kinder, mehr sollten es ihrer Meinung nach nicht werden.
Obwohl eine innere Stimme ihr davon abriet, willigte sie schließlich ein, seine Frau zu werden. Sie glaubte fest, ihn später, wenn es einmal so weit war, von ihren Argumenten überzeugen zu können.
Über Davids Vergangenheit wusste sie wenig. Er hatte ihr erzählt, dass er als Säugling in einer Kirche gefunden wurde. Einige Monate danach vermittelte ihn das Jugendamt an ein streng religiöses Ehepaar, das ihn adoptierte. Hannah vermutete, dass seine sexuelle Zurückhaltung wohl daher stammte. Seine leiblichen Eltern wurden nie ausfindig gemacht.
Nach ihrem frühen Tod hinterließen sie ihr gesamtes Vermögen einer Stiftung namens „Christianae Fundamenta Tossara“, die sich hauptsächlich mit christlicher Archäologie beschäftige. Es war vereinbart worden, dass David nach dem Studium dort forschen konnte.
Sobald sie auf Ausgrabungen zu sprechen kamen, wurde er geradezu enthusiastisch. Er war davon überzeugt, bei seinen Forschungen auf etwas zu stoßen, das ihn weltberühmt machen würde. Insgeheim sah er sich schon auf einer Stufe mit Archäologen wie Hiram Bingham, Howard Carter oder Heinrich Schliemann.
In der Hochzeitsnacht schliefen sie zum ersten Mal miteinander. Es war schrecklich und so ganz anders, als sie es sich mit ihm vorgestellt hatte. Als er von ihr abließ, kam sie sich benutzt vor. Keine Umarmung danach, nicht einmal ein liebes Wort. Er drehte sich einfach zum Schlafen auf die Seite.
Daran änderte sich auch in der Folgezeit nichts. Zärtlichkeiten spielten bei ihm plötzlich keine Rolle mehr. David schien es lediglich darum zu gehen, sie möglichst schnell zu schwängern. Ihre Proteste wischte er kurzerhand beiseite. Den fröhlichen Studenten, den sie in Münster kennengelernt hatte, gab es nicht mehr.
Bereits kurz nach dem ersten Jahr ihrer Ehe bekam er regelrechte Wutanfälle, weil es mit der Schwangerschaft nicht klappte. Dass er in dieser Zeit, mit Unterbrechungen, mehrere Monate im Iran an Ausgrabungen teilgenommen hatte, zählte für ihn nicht. Irgendwie war er der irrigen Ansicht, dass es reichte, wenn er zwischendurch gelegentlich mit ihr schlief. Dass sie nicht schwanger wurde, konnte seiner Meinung nach nur an ihr liegen. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass er in ihr lediglich eine Gebärmaschine für seinen Nachwuchs sah. Darüber zu sprechen, lehnte er weiterhin ab.
Es kam die Zeit, wo sie froh war, wenn David für Wochen oder sogar Monate an Ausgrabungen teilnahm oder irgendwo Vorträge halten musste. Erstmals kam ihr der Gedanke, sich scheiden zu lassen. So jedenfalls wollte und konnte sie nicht weiterleben.
Dann ging alles ziemlich schnell. Bei einem seiner Wutausbrüche rastete er total aus. Mit den Fäusten schlug er brutal auf sie ein. Danach wurde ihr endgültig klar, dass ihre Ehe der Vergangenheit an gehörte. Dass er sie geschlagen hatte, würde sie ihm niemals verzeihen können.
Ärgerlich verdrängte Hannah die unguten Erinnerungen an ihren Ex- Mann. Wieso kam sie gerade jetzt auf David? Viel angenehmer war es, darüber nachzudenken, zu welcher Sorte dieser Julian Dregger wohl gehören mochte.
Während sie ihr kleines Cabrio geschickt durch den dichten Münchner Verkehr lenkte, musste sie wieder daran denken, mit welch offen gezeigter Bewunderung er sie an geschaut hatte. Seit Ewigkeiten war es das erste Mal, das ihr so etwas auffiel.
Was mochte er beruflich machen? Dem Aussehen nach schien er sich viel im Freien aufzuhalten. Zumindest deutete seine Gesichtsfarbe darauf hin. Durch das Gespräch mit Kommissar Harms wusste sie, dass er beim Joggen auf ein totes Mädchen gestoßen war. Den Andeutungen nach musste der Täter die Leiche ziemlich übel zugerichtet haben. Eine schlimme Sache. Offenbar schloss die Polizei nicht aus, dass der Mord an der Syrerin, die man vor ein paar Tagen ebenfalls im Ostpark gefunden hatte, mit dem Verbrechen zusammenhing.
Kurz vor ihrem Ziel am Frankfurter Ring musste sie herzhaft lachen, als ihr auffiel, dass sich ihre Gedanken während der gesamten Fahrt überwiegend mit Julian Dregger beschäftigt hatten. Da freute sie sich tatsächlich auf das Wiedersehen mit einem ihr so gut wie unbekannten Mann.
Doch zuerst einmal musste sie sich auf die vor ihr liegende Besprechung konzentrieren. Bisher wusste sie lediglich, dass der Verlag, für den sie bereits mehrmals gearbeitet hatte, die Erzählungen des ägyptischen Lyrikers Abu al-Qaffasch aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt haben wollte. Einige Werke des Schriftstellers kannte sie. Ansonsten wusste sie nur, dass er von 1923–1996 in Kairo gelebt und, bedingt durch eine Querschnittlähmung, die Stadt, möglicherweise das Viertel, indem er lebte, kein einziges Mal verlassen hatte. Im Internet war sie auf etliche seiner Werke gestoßen, die ihr völlig unbekannt waren. Um die tiefen Empfindungen aus den Geschichten bei ihren Übersetzungen wenigstens annähernd ausdrücken zu können, brauchte sie mehr Informationen über ihn. Sie musste herausfinden, wie er gedacht und gefühlt hatte. Sie hoffte sehr, dass man im Verlag jemanden kannte, der ihr dabei weiterhelfen würde.
5.
Ähnlich wie am Tag zuvor war der Himmel auch diesmal mit dunklen Wolken bedeckt, als Julian das Gelände mit den Unterkünften für die Asylbewerber erreichte. Jeden Moment konnte es anfangen zu regnen. Auf der Straße, vor dem Eingang gab es genügend freie Parkplätze. So konnte er im Auto auf Hannah Seeler und den Polizeibeamten warten.
Am Morgen hatte er beim Joggen Glück gehabt. Er war nicht nass geworden. Allerdings hatte der Himmel da auch nicht ganz so bedrohlich ausgesehen.
Um noch Duschen zu können, hatte er früher als sonst üblich seine Runden gedreht. Dabei waren ihm weder die jungen Männer noch die Flaschensammler und auch keine Mönche begegnet. Genauso wenig wie die Kids.
Hannah Seeler kam kurz nach ihm und stellte ihr blaues Cabrio unmittelbar hinter ihm ab. Trotz der bedrohlich aussehenden Wolken war sie mit offenem Verdeck gefahren. Anscheinend legte sie viel Wert auf frische Luft.
Bevor er aussteigen konnte, deutete sie ihm durch ein kurzes Winken an, in seinem Fahrzeug sitzenzubleiben.
Mit einem unbekümmerten „Hallo“ setzte sie sich zu ihm auf den Beifahrersitz. Mit einer automatischen Handbewegung strich sie sich dabei die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Wie bereits am Tag zuvor bezauberte ihn ihre natürliche, warme Ausstrahlung. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Spöttisch und schüchtern zugleich.
Diesmal trug sie einfache, enge Jeans, die ihre schlanke Figur betonten, und dazu eine leichte, weiße Lederjacke. Darunter konnte er eine dunkelblaue Bluse erkennen.
„Der Beamte, der die Befragung vornimmt, hat mich soeben über das Handy angerufen. Er verspätet sich um ein paar Minuten. Ich hoffe, das stört sie nicht allzu sehr,“ teilte sie ihm fröhlich mit.
Ihr Lachen klang wie das eines jungen Mädchens. Ihre großen, blauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern glitzerten dabei vergnügt. Darunter bildeten sich kleine Fältchen. Vom stolzen, abweisenden Blick des Vortags war diesmal nichts zu sehen.
Sie wurde ernst: „Ich habe gestern mitbekommen, dass sie im Park ein totes Mädchen gefunden haben. Den Erzählungen nach muss es ein scheußlicher Anblick gewesen sein.“
Julian nickte: „Das war er. Etwas Schlimmeres habe ich bisher noch nicht gesehen. Vor wenigen Tagen hat man im Ostpark schon mal eine Frau gefunden, die gewaltsam ums Leben gekommen ist.“
Er deutete mit dem Kopf auf die Baracken hinter dem Maschendrahtzaun: „Die erste Tote lebte seit sechs Monaten mit ihren zwei Kindern in dem Heim. Sie ist aus Syrien geflüchtet, um dann hier umgebracht zu werden. Harms hält es für möglich, dass der Mörder oder das Mädchen, das ich gefunden habe, auch da wohnt. Zumindest hofft er, durch mich auf Zeugen zu stoßen, die ebenfalls gestern früh im Park unterwegs gewesen sind und zur Aufklärung des Verbrechens beitragen können.“
Mit einem Lächeln und ironischen Unterton versuchte die Frau, der Unterhaltung wieder etwas von ihrer Ernsthaftigkeit zu nehmen. In ihren Augen nahm er erneut das bezaubernde Glitzern wahr.
„Jetzt sollen sie als Hilfssheriff in der Unterkunft den Mörder suchen?“ Bereitwillig ging Julian darauf ein.
„Ja, mit ihnen als Verstärkung.“ Ergänzend fügte er hinzu: „So oft ich kann, komme ich frühmorgens in den Ostpark, um ein oder mehrere Runden zu laufen. Dabei sind mir gelegentlich ein paar junge Kerle aufgefallen. Der Kommissar möchte sie befragen. Womöglich haben sie etwas gesehen. Er hofft, dass sie mir in der Unterkunft begegnen. Und weshalb sind sie heute hier?“
Vergnügt schaute die Frau ihn an: „Sie haben es doch selber gesagt. Wir suchen zusammen nach dem Mörder. Aber eigentlich arbeite ich als Übersetzerin, mitunter auch für die Staatsgewalt. Meine Spezialität ist die arabische Sprache und einige ihrer Dialekte. Etwa wie das syrische Arabisch. Nachdem viele der Flüchtlinge weder deutsch noch englisch sprechen, fordert mich die Polizei gelegentlich als Dolmetscherin an.“
„Das klingt interessant.“
„Eher weniger. Heute geht es um den angeblichen Diebstahl eines Handys, der eigentlich keiner gewesen ist. Der Besitzer des Telefons hat es unter seinem Bett wiedergefunden. Es muss ihm aus der Tasche gerutscht sein. Das hat er zwischenzeitlich kleinlaut zugegeben. Der Beamte, der hoffentlich irgendwann kommt, soll zwischen dem vermeintlich Bestohlenen und dem fälschlicherweise Beschuldigten ein klärendes Gespräch führen. Das ist alles.“
„Von mir aus kann sich der Beamte mit seinem Kommen ruhig Zeit lassen. Wer weiß schon, wann ich mal wieder die Gelegenheit bekomme, mich mit ihnen zu unterhalten. Möglicherweise nie mehr.“
„Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen,“ ging sie mit gespielter Ernsthaftigkeit darauf ein. „Nachdem wir die Arbeit hinter uns gebracht haben, könnten sie mich auf einen Kaffee einladen. Natürlich nur, wenn es ihre Zeit erlaubt.“
„Gerne. Zuerst Kaffee und danach vielleicht zum Mittagessen?“
„Schauen wir mal,“ lachte sie und deutete hinter sich. „Der Polizist hat ihr Flehen nicht gehört. Er ist bereits da. Machen wir uns an die Arbeit.“
Nach dem Aussteigen schaute sie prüfend zum Himmel. „Doch vorher sollte ich wohl vorsichtshalber das Verdeck an meinem Auto schließen. Sonst stehe ich womöglich nachher mit den Füßen im Wasser.“
Bei dem Beamten handelte es sich um einen jungen, blassen Mann mit blonden Haaren. Nach kurzer Begrüßung führte er sie durch einen schmalen Eingang auf das Gelände der Unterkunft.
Neugierig schaute Julian sich um. Für ihn war es der erste Besuch in einem Flüchtlingslager. Die Asylsuchenden lebten in 15 – 20 einfachen Baracken. Von außen machten sie einen trostlosen Eindruck auf ihn. Insgeheim dankte er Gott dafür, dass er nie in so einem Camp hatte leben müssen.
Vereinzelt standen Gruppen von meist jüngeren Männer neben den Eingängen und unterhielten sich. Sobald sie sich näherten, verstummten die Gespräche.
Der Hautfarbe nach zu urteilen, stammten viele der Bewohner nicht nur aus arabischen Ländern, sondern kamen auch aus den weiter südlicheren Gegenden Afrikas. Frauen sah man nicht.
Die Blicke der Männer reichten von misstrauisch bis gleichgültig. Einer rief ihnen „aider“ oder so ähnlich nach. Es klang wie ein Schimpfwort. „Was hat er uns nach gerufen?“, wollte Julian von der Dolmetscherin wissen.
Sie lächelte ihn gleichmütig an: „Das galt mir. Er hat mich als „Eahira“ bezeichnet. Ins Deutsche übersetzt bedeutet es „Nutte“. Vermutlich haben ihn meine engen Jeans gestört. Solche oder ähnliche Bezeichnungen bekomme ich öfter nachgerufen. Vereinzelt spucken sie sogar vor mir aus. Daran habe ich mich inzwischen bei meinen Besuchen in den Lagern gewöhnt.“
Der Zivilbeamte führte sie zu einer der Baracken, in dem das Büro der Lagerleitung untergebracht war. Bei der Verantwortlichen handelte es sich um eine untersetzte, resolut aussehende Frau mit kurzen, grauen Haaren und Knollennase. Sie kam ihnen in der Tür entgegen. Argwöhnisch beäugte sie die drei Ankommenden.
„So ein großes Aufgebot wegen eines peinlichen Fehlers, den die Betroffenen bereits aus der Welt geschafft haben? Was hat das zu bedeuten? Ich will vermeiden, dass die Bewohner unserer Prachtvillen gleich sonst was denken.“
Der Kriminalbeamte reagierte gelassen: „Dass wir zu dritt hier aufmarschieren, ist reiner Zufall. Wir müssen anschließend wegen eines anderen Vorfalls die Mieter in einem der Hochhäuser in Neu-Perlach befragen. Zu zweit geht das schneller. Mein Kollege Dregger hatte keine Lust, im Auto sitzen zu bleiben. Darum ist er mitgekommen. Wenn es ihnen lieber ist, kann er auch draußen vor dem Büro warten. Unsere Dolmetscherin Frau Seeler kennen sie ja.“
Die Lagerleiterin gab sich mit der Erklärung zufrieden. Vor allem, als Julian sich sofort auf eine der Treppenstufen vor der Baracke setzte.
„Mir ist es sowieso lieber, wenn ich hier draußen warten kann. Ein bisschen frische Luft kann mir nicht schaden.“
Nachdem die drei im Büro verschwunden waren, nutzte Julian die Gelegenheit, sich im Lager umzusehen. Ein halbes Dutzend junger Männer spielten zwischen den Baracken Fußball. Ein paar Meter von ihnen entfernt konzentrierten sich zwei der älteren Bewohner, unter den Blicken einiger Zuschauer, auf ein Backgammonspiel. Mehr Abwechslung schien es für sie nicht zu geben. Weder die jungen Männer noch die Jugendlichen, die er im Ostpark gesehen hatte, waren zu sehen. Entweder wohnten sie nicht hier, schliefen oder waren, zumindest für ein paar Stunden, der Trostlosigkeit des Lagers entflohen.
Das Gespräch dauerte nur knappe 20 Minuten. Der Kriminalbeamte hatte es offenbar eilig. Hannah Seeler, die hinter ihm aus der Baracke kam, musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten.
Auf dem Weg zu den Fahrzeugen schaute der Kriminalpolizist Julian fragend an: „Haben sie jemand von denen, die sich gestern Früh im Ostpark aufgehalten haben, wiedererkannt?“
Julian ging absichtlich langsamer und die Dolmetscherin machte es ihm nach. Er hatte nicht die geringste Lust, dem Mann wie ein Schuljunge hinterherzulaufen und dabei auf dessen Fragen zu antworten. Gezwungenermaßen drosselte der Polizist ebenfalls das Tempo.
„Tut mir leid, aber ich habe es ziemlich eilig,“ entschuldigte er sich und wiederholte die Frage: „Haben sie in der Unterkunft jemanden wiedererkannt?“
Julian schüttelte den Kopf: „Nein, von den Männern, die ich sehen konnte, ist niemand im Park gewesen. Die jungen Burschen, auf die es Kommissar Harms abgesehen hat, können sich aber ebenso in einer der Baracken aufgehalten haben. Oder laufen sonst wo herum. An deren Stelle würde ich ebenfalls nur zum Essen und Schlafen herkommen. Und Kids in dem Alter wie im Ostpark habe ich gar nicht gesehen.“
Der Kripomann nickte: „Ich werde es meinem Kollegen ausrichten.
Er verabschiedete sich mit einem kurzen Handschlag und verschwand in Richtung seines Autos.
6.
Auf der Straße bei ihren Autos hakte sich die junge Frau wie selbstverständlich bei Julian ein.
„Sie wollten mich auf einen Kaffee einladen. Gilt das noch oder haben sie es sich zwischenzeitlich anders überlegt?“
Die vertrauliche Geste gefiel ihm. Etwas zögernd legte er seine Hand auf die ihre. Sie ließ es geschehen.
„Nur ihretwegen habe ich mich gestern von Harms zum Besuch des Lagers überreden lassen. Insgeheim habe ich da bereits gehofft, sie etwas besser kennenzulernen.“
„Wenigstens sind sie ehrlich,“ antworte sie mit einem fröhlichen Lachen. „Wo bekommen wir hier einen anständigen Kaffee?“