Türkischer Winter - Jürgen W. Roos - E-Book

Türkischer Winter E-Book

Jürgen W. Roos

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Beschreibung

Um der Verhaftung zu entgehen, flieht die Türkin Aysun in letzter Minute mit ihrer kleinen Tochter von Istanbul nach München. Dort möchte sie sich mit ihrem Vater treffen. Er gehört zur Gruppe von Akademikern, die in einem Friedensapell gefordert hatten, die Zerstörung in den Kurdengebieten zu stoppen. Ihm droht eine lange Haftstrafe. Mit Aysuns Verhaftung sollte ihr Vater gezwungen werden, in die Türkei zurückzukehren. Doch der türkische Geheimdienst ist ihr auf den Fersen. Ebenso ihr Ehemann, der seine Tochter mit allen Mitteln in die Türkei zurückholen will. In München wird sie von einem jungen Rechtsanwalt unterstützt, den sie vor Jahren in der Türkei kennengelernt hat.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Jürgen W. Roos

Türkischer Winter

Politkrimi

© 2019 Jürgen W. Roos

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-8257-1

Hardcover:

978-3-7469-8258-8

e-Book:

978-3-7469-8259-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1.

Seit gefühlten Ewigkeiten folgten sie jetzt schon dem steinigen Weg durch den dichten Wald. Hinter sich hörte Aysun das Keuchen ihres Cousins Salih. Angeblich sollte es hier noch Bären und Wölfe geben. Zum Glück war ihnen eine Begegnung bisher erspart geblieben.

Auf diesem Teil der Strecke ging es meist bergauf, nur selten bergab. Dazu kam die Hitze. Trotz alledem konnte sie froh darüber sein, dass sie nicht über einen der hohen Berge rechts und links von ihnen mussten.

Die breiten Riemen der Trage, in der ihre Tochter friedlich schlief, gruben sich schmerzhaft in ihre Schultern. In den vergangenen Tagen hatte ihr Führer Kyros das Traggestell mit Hatice immer mal wieder für sie getragen. Meist dann, wenn sie eine längere Strecke zu Fuß zurücklegen mussten.

Vor über zwei Stunden hatte er ihr mit fast entschuldigender Miene, die Trage zurückgegeben. Bis zur Grenze Kroatiens waren es nur noch wenige Kilometer. Er wollte herausfinden, ob Grenzposten oder Soldaten den Übergang von Montenegro ins Nachbarland überwachten.

Seitdem immer wieder Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und diversen anderen Ländern diesen Fluchtweg nach Nordeuropa nutzten, wurde der Teil der Grenze häufiger kontrolliert, hatte Kyros ihnen erklärt.

Wie bereits an den vergangen Tagen machte Salih auch jetzt keinerlei Anstalten, ihr wenigstens für kurze Zeit die Trage mit Hatice abzunehmen. Damit wollte er wohl kundtun, dass sie ihre Tochter besser in der Obhut ihrer Schwiegermutter zurückgelassen und nicht den Strapazen der Flucht ausgesetzt hätte. Möglicherweise lag es auch daran, dass sein verweichlichter Körper solche Anstrengungen nicht gewöhnt war. Zudem musste er eine Menge Übergewicht mit sich herumschleppen.

Die Junisonne verschwand soeben westwärts hinter einem Berg, als sie eine kleine, grasbewachsene Lichtung erreichten.

Salih überholte sie, ließ zwischen den ersten Bäumen den Rucksack fallen und warf sich keuchend auf die Erde.

Mit einer Handbewegung, die wohl so etwas wie ein Befehl sein sollte, deutete er ihr an, sich ebenfalls auszuruhen.

„Das muss die Stelle sein, an der wir auf Kyros warten sollen. Unmittelbar hinter der vor uns liegenden Anhöhe sollte, laut Aussage des Griechen, die Grenze nach Kroatien sein.“

Missmutig schaute er sich um: „Falls sich vor uns Soldaten herumtreiben, werden wir die Nacht wohl unter freiem Himmel verbringen müssen.“

Ohne darauf einzugehen, schlüpfte Aysun aus den Schulterriemen und stellte die Kindertrage auf den Boden. Hatice musste kurz zuvor aufgewacht sein. Mit weit geöffneten Augen schaute sie ihre Mutter an. Den Ausdruck darin kannte sie. Er bedeutete: „Ich habe Hunger.“

Aysun gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange, nahm sie auf den Arm und suchte mit der anderen Hand im Rucksack nach dem vorbereiteten Kinderbrei.

Vor vier Tagen waren sie in Istanbul aufgebrochen. Kurz bevor man sie verhaften konnte, hatte Salih sie und Hatice über die Grenze nach Bulgarien geschmuggelt. Dort wurden sie von dem Griechen Kyros, einem Freund ihres Vaters, bereits erwartet. Er wollte sie, teilweise über Schleichwege, bis nach Kroatien bringen.

Eigentlich hatte Salih ursprünglich vorgehabt, von Bulgarien aus nach Istanbul zurückkehren.

Doch unmittelbar nach der Grenze hatte er es sich anders überlegt. Seiner Meinung nach schien es ihm nicht ratsam, Aysun und ihre Tochter mit dem Griechen alleine weiterreisen zu lassen.

All ihre Bemühungen, ihm das Misstrauen auszureden, waren vergeblich geblieben. Ihn direkt wegschicken wollte sie nicht. Immerhin hatte er ihr dabei geholfen, aus der Türkei zu fliehen.

Im Gegensatz zu ihrem Cousin hatte sie den schmächtigen Griechen mit der Knollennase und den zahlreichen Falten im Gesicht vom ersten Moment an gemocht. Zum Teil lag das wohl an seinem ruhigen Optimismus, der sich auf sie übertrug. Sein Alter konnte sie nur schwer einschätzen. Eher 50 als 40, vermutete sie. Dass Salih sie auch weiterhin begleiten würde nahm er kommentarlos zur Kenntnis.

Aus Erzählungen wusste sie, dass Bulgarien die gefährlichste Strecke auf dieser Route war. Angeblich gab es in dem Land flüchtlingsfeindliche Bürgerwehren und zudem mussten sie mit Schikanen durch die Polizei rechnen.

Als sie Kyros danach fragte, hatte er nur abgewunken. Offensichtlich machte er sich darüber keine Sorgen.

Er behielt Recht. Ohne kontrolliert zu werden, kutschierte er sie in einem alten, unauffälligen Pkw durch Bulgarien, und weiter über Mazedonien bis nach Serbien. Glückliche Hatice. Den größten Teil der Fahrt verschlief sie.

Sobald sie sich durch Schreien bemerkbar machte, suchte Kyros nach einem geeigneten Parkplatz. Dann konnte Aysun ihre Tochter füttern und die Windeln wechseln.

Wenn möglich wählte der Grieche dazu eine Stelle, an dem Hatice ungefährdet ein wenig herumlaufen konnte. Kein einziges Mal drängte er dabei zur Eile. Lediglich Salih meckerte über die ständigen Aufenthalte.

Bei der Einreise in Mazedonien und später auch in Serbien wurden sie nur kurz kontrolliert. Keiner der Grenzposten wollte ihre Pässe sehen. Die Geldscheine, die Kyros stattdessen durch das Fenster reichte, genügten ihnen.

Wenige Kilometer vor der Grenze nach Albanien mussten sie den Wagen auf einem heruntergekommenen Bauernhof zurücklassen.

Später, nach Einbruch der Dunkelheit, führte sie der Sohn des Bauern über schmale, unebene Wege zu einem anderen, ebenso ärmlichen Gehöft auf der albanischen Seite.

„Die Pfade werden meist nur von Schmugglern benutzt“, hatte der Grieche unterwegs erklärt. „Falls wir auf jemanden treffen, tun wir so, als würde es ihn nicht geben.“

Der anhaltende Fußmarsch hatte nicht nur Aysun bis an den Rand ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gebracht. Besonders Salih fiel das stundenlange Gehen schwer. Immer wieder hörte sie hinter sich sein Gejammer und Gefluche.

Sie selber stolperte oft genug über größere Steine oder trat in Löcher, die in der stockfinsteren Nacht nicht zu sehen waren. Mehr als einmal kam in ihr der Wunsch auf, einfach am Wegesrand sitzenzubleiben und nie mehr aufzustehen.

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Grieche sie die ganze Zeit über sehr genau im Auge behielt. Irgendwie musste er geahnt haben, dass sie mit ihren Kräften am Ende war. Ohne ein Wort zu verlieren, hatte er ihr die Trage mit Hatice abgenommen. Den Rucksack mit seinen eigenen Habseligkeiten trug er von da an auf der Brust.

„Morgen, nach Einbruch der Dunkelheit, haben wir einen ähnlich anstrengenden Fußmarsch vor uns. Wenn alles klappt, sind wir dann übermorgen in Montenegro. Von da aus ist es nicht mehr weit bis Cavtat an der kroatischen Küste.“

Unzufrieden hatte Salih ihm hinterher gemault: „Vor uns liegt aber noch dieses verflixte Albanien und tags darauf Montenegro. Hoffentlich müssen wir die Strecke nicht auch noch laufen?“

Abschätzend schaute der Grieche ihn an: „Bei ihrer Kondition bräuchten wir dafür zu Fuß mindestens eine Woche. So viel Zeit habe ich nicht eingeplant. Nein, den Großteil der Wegstrecke werden wir gefahren. Erst das letzte Stück, von Montenegro über die Grenze nach Kroatien, müssen wir wieder laufen.“

Doch jetzt hatten sie den größten Teil ohne größere Zwischenfälle hinter sich gebracht. Auf einem alten Armeelastwagen, versteckt unter einer löchrigen Plane, waren sie durch einsame Dörfer und vorbei an hohen Bergen bis dicht an die Grenze nach Kroatien gefahren worden.

Erschöpft, doch auch erleichtert, ihrem vorläufigen Ziel so nahe zu sein, machte sich Aysun daran, ihre Tochter zu füttern. Bis Kyros von der Erkundungstour zurückkam, wollte sie damit fertig sein. Bevor sie weitergingen, würde sie ihr zum letzten Mal ein wenig von dem Schlafmittel einflößen. Vielleicht blieb vorher noch genügend Zeit, um Hatice ein bisschen herumtollen zu lassen.

Die Zeit hatte sie. Erst nach über zwei Stunden kehrte der Grieche zurück. Er wirkte irritiert.

„Unmittelbar vor der Grenze halten sich vier Männer versteckt. Sie tragen keine Uniform, scheinen jedoch auf jemanden zu warten. Das ist ungewöhnlich. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das zu bedeuten hat. Für uns bedeutet es, dass wir bis zum Morgengrauen hierbleiben müssen. Dann versuchen wir, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen. Vielleicht haben sie die Warterei bis dahin aufgegeben und sind weitergezogen.“

Später, Salih war zum Austreten zwischen den Büschen verschwunden, wandte er sich mit leiser Stimme an Aysun: „Von deinem Vater soll ich dir ausrichten, dass du in Cavtat erwartet wirst. Frage im Hafen nach der Jacht „NINA“. Sie gehört Freunden von ihm. Damit werden sie dich sowie Hatice über Italien nach Deutschland bringen. Wenn du das Schiff nicht gleich findest, kann dir der Hafenmeister sagen, wo es liegt.“

„Wann hast du zuletzt mit Vater gesprochen?“

„Er hat mich angerufen, als wir auf dem Bauernhof in Albanien waren. Wollte sich davon überzeugen, dass bis bisher alles planmäßig verlaufen ist.“

„Was ist mit Salih? Nachdem er beschlossen hat, mich weiter zu begleiten und du mich nur bis Kroatien bringen sollst, hat er eigene Pläne gemacht. Er hat vor, mit dem Bus bis Opatija in Nordkroatien zu fahren. Dort wollte er einen Weg nach Italien auskundschaften.“

Kyros schüttelte ablehnend den Kopf. „Der Dicke muss selber zusehen, wie er von Cavtat aus weiterkommt. Noch besser wäre es für ihn, wenn er in die Türkei zurückkehrte. Hast du dein Handy dabei?“

Aysun nickte und schaute den Griechen zweifelnd an. „Was hat das zu bedeuten? Ich kenne keine Leute, die eine Jacht besitzen.“

„Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Dein Vater war jedenfalls wenig begeistert darüber, dass dein Cousin immer noch bei uns ist. Sobald wir in Cavtat sind, solltest du ihn anrufen und selber nach dem Grund fragen.“

„Ihn zurückzulassen, könnte zum Problem werden. Ich habe keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Auf alle Fälle wird Salih mächtig sauer sein.“

„Was bedeutet er dir?“

„Er ist mein Cousin und hat mir dabei geholfen, aus Istanbul zu flüchten, bevor mich die Polizei verhaften konnte.“

Trotz der angespannten Situation musste sie lächeln. „Vor einigen Jahren wollten meine Tanten, dass ich ihn heirate. Für mich war das ein schrecklicher Gedanke. Seine Denkweise ist ziemlich rückständig. Allein deshalb hätte ich ihn nie geheiratet. Vater stand glücklicherweise auf meiner Seite. Später, als Salih erfuhr, dass ich einen anderen Mann heiraten werde, war er ganz schön beleidigt. Selbst zur Hochzeit ist er nicht gekommen. Erst vor ein paar Monaten hat er mich ganz unerwartet in Istanbul besucht. Seitdem haben wir uns ein paar Mal getroffen.“

„Warum musstest du aus der Türkei fliehen? Hat es etwas mit deinem Vater zu tun? Er selber hat darüber mit mir nie gesprochen.“

Aysun nickte. „In der Presse wird behauptet, dass er der Gülen-Bewegung angehört und eine bedeutende Rolle beim Putschversuch gespielt haben soll. Das ist reiner Unsinn. In der darauffolgenden Zeit wurde ich dazu immer wieder von der Polizei verhört. Selbst unsere Wohnung in Istanbul hat man durchsucht. Obwohl mein Mann ein glühender Unterstützer der jetzigen Regierung und sogar Mitglied in ihrer Partei ist.“

Obwohl sie Kyros vertraute, erzählte sie ihm nichts von der winzigen Speicherkarte, die sie mit sich trug. Ihr Vater hatte sie ihr vor seiner Abreise aus der Türkei mit der Bitte gegeben, sie gut zu verwahren und niemanden davon zu erzählen.

Ihre Frage, was sich darauf befand, hatte er mit einem Kopfschütteln beantwortet: „Es ist besser, wenn du nichts davon weißt.“

Sie vermutete, dass es dabei um Unterlagen ging, die beweisen konnten, dass er in keinerlei Weise mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stand.

„Was hat dein Mann zu den Vorwürfen gegen seinen Schwiegervater gesagt?“

„Er glaubt ernsthaft, dass die Anschuldigungen in den Medien der Wahrheit entsprechen. Für meinen Mann ist es undenkbar, dass es sich bei den Behauptungen um Lügen handeln könnte. Darüber kam es zwischen uns immer wieder zum Streit. Nach der Durchsuchung unserer Wohnung hat Senol mich mit Vorwürfen überhäuft. Von da an durfte ich das Haus nur noch in Begleitung seiner Mutter oder von ihm verlassen. Vielleicht hat er befürchtet, dass ich mich mit irgendwelchen Putschisten treffe. Selbst den Umgang mit meinen Freundinnen hat er mir verboten. Über sämtliche Gespräche, die ich per Handy geführt habe, musste ich Rechenschaft ablegen. Dazu kamen seine vermehrt auftretenden, unkontrollierten Wutausbrüche.“

Nachdenklich senkte sie den Kopf. „Da ist mir klar geworden, dass ich nicht weiter mit ihm zusammenleben kann. Dazu kam das schlechte Verhältnis zu seiner Mutter. Sie hat bei uns gewohnt und in mir von Anfang an so etwas wie ein besseres Dienstmädchen gesehen. Eine Ehe hatte ich mir anders vorgestellt.“

„Der Gedanke zur Flucht kam von dir?“

„Vater hat mir dazu geraten. Ich habe in den letzten Monaten nur immer wieder darüber nachgedacht, wie ich meinen Mann verlassen und trotzdem unser Kind mitnehmen kann. Ohne Hatice wäre ich niemals fortgegangen. Sie ist das einzig Gute, das diese Ehe hervorgebracht hat. Aus reiner Verzweiflung und weil ich mit keinem anderen darüber sprechen konnte, habe ich meine Unzufriedenheit einmal Salih gegenüber erwähnt.“

„Den Umgang mit ihm hat dir dein Mann nicht verboten?“

„Seltsamerweise nicht. Vielleicht weil sie im Grunde genommen die gleiche konservative Denkweise haben. Eines Tages hat mir mein Cousin heimlich ein auf ihn zugelassenes Handy zugesteckt. Gleichzeitig hat er zum Ausdruck gebracht, dass er mich bei einer eventuellen Flucht unterstützen würde. Anfangs wusste ich nicht, inwieweit ich ihm trauen kann. Bis ich einen Anruf Vaters bekam. Von ihm kam der Rat, schnellstmöglich unser Land zu verlassen. Sonst könnte es dazu kommen, dass ich unter fadenscheinigen Behauptungen verhaftet würde. Nur um ihn damit zur Rückkehr in die Türkei zu bewegen. Er riet mir, mich von Salih über die Grenze nach Bulgarien bringen zu lassen. Er wollte dafür sorgen, dass ich von dort aus über Kroatien nach Deutschland gebracht werde. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, warum mein Cousin nicht sofort von Bulgarien aus nach Istanbul zurückgekehrt ist. Falls die Polizei herausfindet, dass er mich über die Grenze gebracht hat, könnte ihm das ziemlich schaden.“

Kyros wiegte bedächtig seinen Kopf von einer Seite zur anderen. „Dein Vater wird wissen, warum du Salih zurücklassen sollst. Letztendlich hat er die gesamte Flucht organisiert. Sobald du mit ihm telefonierst, solltest du ihn selber fragen, was er plötzlich gegen ihn hat. Zu mir hat er lediglich gesagt, dass du im Hafen von Cavtat nach der „NINA“ suchen sollst. Vielleicht kannst du es einrichten, dass dein Cousin davon nichts bemerkt. Sobald du die Jacht gefunden und dich zu erkennen gegeben hast, werden die Leute dort einen Weg finden, um ihn von dir abzulenken.“

„Hat mein Vater das ebenfalls gesagt?“

Der Grieche nickte. „Das alles soll ich dir von ihm ausrichten. Mehr weiß ich nicht.“

„Warum begleitest du mich nicht bis zum Hafen?“

Kyros grinste sie lustlos an: „Die Polizei in Kroatien ist nicht gut auf mich zu sprechen. Sollte ich von ihnen gefasst werden, wandere ich für ein paar Jahre ins Gefängnis. Darauf habe ich keine Lust.“

„Die Leute mit der Jacht hätten uns doch auch in Montenegro abholen können? Dann bräuchten wir nicht erneut über eine Grenze.“

„In den Häfen Montenegros wird viel intensiver nach Flüchtlingen gesucht. Deshalb haben wir uns nach reichlichen Überlegungen für Kroatien entschieden.“

Sie lächelte ihn an: „Was wirst du machen, wenn du mich abgeliefert hast?“

Kyros grinste: „Meine Frau sowie unsere zwei Söhne warten auf mich. Es wird Zeit, dass ich nachhause zurückgehe. Wenn ich nicht gerade irgendwo in Europa unterwegs bin, verdiene ich mein Geld ganz redlich mit dem Anbau von Wein.“

Ohne ihn bemerkt zu haben, trat Salih ganz plötzlich hinter einem Baum hervor und kam auf sie zu.

Misstrauisch schaute er sie an: „Sprecht ihr über mich?“

Der Grieche schüttelte gleichgültig den Kopf. „Aysun wollte von mir wissen, ob ich noch etwas anderes mache, als Flüchtlinge über die Grenzen zu schleusen. Ich habe ihr erzählt, dass ich in Griechenland vom Weinanbau lebe. Warum fragst du?“

Unfreundlich sah der Dicke ihn an. „Einfach so. Ich will nur nicht, dass hinter meinem Rücken über mich gesprochen wird.“

Gegen Mitternacht machte sich der Grieche nochmals auf den Weg zur Grenze. Natürlich hoffte er, dort niemanden mehr anzutreffen.

Seine Hoffnung blieb vergeblich. Die Männer schienen damit zu rechnen, längere Zeit auf ihren Posten bleiben zu müssen. Im Mondlicht hatte er zwei winzige Treckingzelte gesehen, die etwas abseits des Pfades standen.

„Die Typen sind noch da. Sie haben sogar Zelte mitgebracht. Was sie dort wollen, kann ich immer noch nicht sagen. ‚Womöglich haben sie einen Tipp bekommen, dass eine größere Menge Schmuggelgut über die Grenze kommen soll.“

Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen und erläuterte ihnen seinen Plan: „Den Geräuschen nach zu urteilen, schlafen sie momentan ziemlich fest. Eine Wache habe ich nirgendwo entdecken können. Kurz bevor es hell wird, machen wir uns auf den Weg. Dann gibt es kein Mondlicht mehr, das uns verraten könnte. Es sollte uns nicht schwerfallen, unbemerkt an den Männern vorbeizukommen.

Rechtzeitig, bevor sie losmarschierten, gab Aysun ihrer Tochter noch etwas zu essen. Wie schon mehrmals in den vergangen Tagen rührte sie ein leichtes Schlafmittel in die Milch. Inständig hoffte sie darauf, dass es das letzte Mal war.

„Jetzt musst du Hatice leider selber tragen,“ bedauerte der Grieche. „Falls die Männer in ihren Zelten uns bemerken sollten, werde ich sie ablenken. Deshalb muss ich beweglich bleiben.“

Dankbar lächelte Aysun ihm zu: „Das schaffe ich schon. Du hast ja gesagt, dass es nicht allzuweit ist.“

Der schmale Pfad, der sie zur Grenze bringen sollte, war weniger steil, als von ihr befürchtet. Zudem mussten sie nur gelegentlich über loses Geröll steigen und es gab kaum Unebenheiten. Manchmal sah sie zwischen den Bäumen das erste Licht des neuen Tages.

Die gelben, kugelförmigen Zelte waren bereits aus einiger Entfernung zu sehen. Noch behutsamer als zuvor achteten sie darauf, kein Geräusch zu verursachen. Vor jedem Schritt versuchten sie zu erkennen, wohin sie traten. Als der gefährliche Abschnitt ein beträchtliches Stück hinter ihnen lag, atmete Aysun erleichtert durch.

„Noch zweihundert Meter. Dann haben wir die Grenze zu Kroatien erreicht,“ flüsterte ihr der Grieche zu.

Die Worte waren kaum gesprochen, als Salih zuerst erschrocken in die Luft sprang und sich schließlich mit einem lauten Schrei zu Boden warf.

Sie hörte Kyros unterdrückt fluchen.

„Lauf“, rief er Aysun leise zu. „Ich kümmer mich um den Dicken. Sobald er wieder gehen kann, werde ich ihn ein wenig antreiben. Wenn du oben ankommst, bist du in Kroatien. Sollten wir dich aus irgendeinen Grund bis dahin nicht eingeholt haben, folgst du einfach dem Pfad. Nach dem übernächsten Hügel gelangst du in ein Dorf. Es nennt sich Kuna. Die Menschen dort sind an Fremde, die heimlich über die Grenze kommen, gewöhnt. Viele der Männer dort sind selber Schmuggler. Die einzige Straße von dort aus führt nach Cavtat. Mit dem Kind auf dem Rücken sind es von da an noch ungefähr drei Stunden Fußmarsch. Vielleicht hast du Glück und es nimmt dich jemand in seinem Auto mit. Zu dieser Uhrzeit müssten etliche der Dorfbewohner zur Arbeit fahren. Was du in Cavtat zu tun hast, habe ich dir bereits gesagt. Denke daran.“

Mit einem leichten Schubs zeigte ihr Kyros, dass sie losgehen sollte.

Zaghaft und niedergeschlagen folgte Aysun dem Pfad. Obwohl sich die Sonne immer noch hinter den Bäumen versteckte, war es inzwischen hell geworden. Doch ohne die Männer, besonders dem Griechen, kam so etwas wie Unbehagen in ihr auf. Daran konnte auch die Aussicht, bald in Kroatien zu sein, nichts ändern.

Woher kamen Salihs plötzliche Schmerzen? Ausgerechnet kurz vor ihrem vorläufigen Ziel. In den vergangenen Tagen hatte es keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass es ihm gesundheitlich schlecht ging. Vielleicht forderte sein Körper nach den Anstrengungen nun doch Tribut von ihm. Im Gegensatz zu ihr hatte er etliche Kilo Fett mitzuschleppen.

Erstaunlich rasch erreichte sie die Kuppe des Hügels. Laut Kyros musste sie somit in Kroatien sein. Ganz kurz überlegte sie, hier auf ihre Begleiter zu warten. Hatice schlief noch, doch ihr Rücken und die Schultern schmerzten vom Gewicht der Trage.

Letztendlich verwarf sie den Gedanken. Auch auf dieser Seite der Grenze musste sie mit Grenzbeamten rechnen. Da war es besser, sie möglichst weit hinter sich zu lassen. So kurz vor dem vorläufigen Ziel Cavtat durfte sie ihre Flucht nicht gefährden.

Zunächst führte der Pfad zwischen dichten Sträuchern und kleineren Bäumen steil bergab, bevor er erneut anstieg. Wenigsten diesen Aufstieg wollte sie noch hinter sich bringen. Dann würde sie eine Rast einlegen, nahm sie sich vor.

Während sie sich den Berg hoch quälte, hielt immer wieder vergeblich Ausschau nach dem Griechen und Salih.

Erschrocken blieb sie stehen, als hinter ihr, aus Richtung der Grenze, ein lauter Knall zu hören war. Für sie hatte es sich wie ein Schuss angehört. Konnten Kyros und Salih entdeckt worden sein? Womöglich hatte der Schrei die Männer in den Zelten aufgeweckt.

Auf der Anhöhe angekommen musste sie nicht lange suchen, um einen passenden Ort für eine Rast zu finden. Unmittelbar neben dem Pfad, halbwegs verborgen hinter einem breiten Gebüsch, fand sie einen schattigen Platz, der sich bestens dafür eignete. Sogar etwas Gras gab es.

Mit der Verschnaufpause hätte sie keinen Moment länger warten dürfen. Hatice war wach geworden und quengelte, immer unüberhörbarer, vor sich hin.

Aysun kannte diesen Ton. Sollte sie nicht schnell genug etwas zum Essen bekommen, würde sie ihren Unmut durch lautes Schreien kundtun.

Um den Brei wenigstens leicht zu erwärmen, hatte sie die Flasche, in weiser Voraussicht, während der vergangenen Stunde unter der Bluse, an ihrem Körper getragen. Es war die Letzte aus ihrem Vorrat. Als eiserne Reserve hatte sie nur noch etwas Trockenmilch in ihrem Rucksack.

Inständig hoffte sie darauf, Hatice bald festere Nahrung geben zu können. Dass sie sich in den letzten Tagen nicht über die eintönige Ernährung beschwert hatte, kam einem kleinen Wunder gleich. Fast so, als wolle sie damit einen Beitrag zum Gelingen der Flucht leisten.

Während Hatice gierig ihren Brei schluckte, schaute sie unverwandt mit großen Augen zu ihrer Mutter. Liebevoll betrachte Aysun das kleine Wesen.

„Ekmek buldum, katik yok, katik buldum, ekmek yok“, sang sie leise den Text eines alten Kinderliedes.

Soweit von Istanbul, ihrem Ehemann und dessen Mutter entfernt zu sein, gaben ihr, trotz der Sorge um die Männer, ein Gefühl der Erleichterung. Sie wünschte sich sehr, dass Senol ihren zukünftigen Aufenthaltsort, und damit den der Tochter, niemals herausfinden würde.

Die Ehe mit ihm war von Anfang an ein Fehler gewesen. Sie hätte bereits zuvor merken müssen, wie unterschiedlich sie im Grunde genommen waren. Die gelegentlichen Warnsignale ihres Verstandes hatte sie damals einfach ignoriert. Vermutlich, um den Drängen der Tanten aus dem Weg zu gehen, die sie unbedingt mit Salih verheiratet sehen wollten.

Besonders in den letzten Jahren war es immer häufiger vorgekommen, dass ihr Vater zu Vorträgen in den verschiedensten Ländern eingeladen wurde. Während seiner Abwesenheit musste sie bei einer ihrer Tanten in Akyurt, einer kleinen Ortschaft unweit Ankaras, leben.

Selbst ihr sonst eher fortschrittlich eingestellter Vater wollte nicht, dass sie als Frau allein in der Wohnung in Ankara lebte.

Der tägliche Weg zur Universität stellte kein Problem dar. Etliche ihrer Verwandten in Akyurt arbeiteten in der Hauptstadt. Mit ihnen konnte sie hin und abends auch wieder zurückfahren.

Salihs Familie gehörte das Lebensmittelgeschäft im Ort. Nach Ansicht ihrer Tanten würde er einen guten Ehemann abgeben. Ganz offensichtlich hatten sie darüber bereits mit dessen Vater gesprochen oder zumindest Andeutungen in diese Richtung gemacht. Die jungen Frauen im Ort wussten lange vor ihr davon und neckten sie damit.

Um weiteren anzüglichen Bemerkungen zu entgehen, war sie vor fünf Jahren – ihr Vater befand sich mal wieder auf einer längeren Auslandsreise - gleich am Anfang der vorlesungsfreien Zeit, zu ihrem Onkel nach Bodrum geflüchtet. Den Sommer über verkaufte er dort in seinem Geschäft hauptsächlich Kleidung aus Leder an die Touristen. Sie konnte ihm dabei helfen. Aus Erfahrung wusste sie, dass er nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn sie mal für ein paar Stunden Zeit für sich selber brauchte.

Ihre Tanten hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als Salih zu verraten, wo sie die Semesterferien verbrachte. Nur wenige Tage später tauchte er ebenfalls dort auf. Vergeblich versuchte er sie zu überreden, mit ihm nach Akyurt zurückzukehren.

Nachdem sie dieses Ansinnen energisch abgelehnt hatte, blieb auch er. Egal wo sie hinging, er tauchte ständig in ihrer Nähe auf. Das ging so weit, dass er sie in einem öffentlichen Café, vor zahlreichen anderen Gästen, lautstark beschimpfte und dabei handgreiflich wurde.

Ein deutscher Tourist, den sie einige Tage zuvor zum Kauf einer Lederjacke überredet hatte, half ihr dabei, ihn wenigstens an diesem Tag loszuwerden.

Zum Glück kehrte kurz darauf ihr Vater von seiner Vortragsreise zurück. Ihren Aufenthalt in Bodrum nutzte er dazu, selber ein paar Urlaubstage am Meer zu verbringen. Aufgebracht erzählte sie ihm von dem schrecklichen Benehmen Salihs, vor dem sie sich letztendlich nur mit Hilfe eines Touristen schützen konnte. Ihr Cousin musste daraufhin mit ihm nach Ankara zurückfahren.

Ihr war die ganze Geschichte ziemlich peinlich. Trotzdem hatte es sich ihr Vater nicht nehmen lassen, den Deutschen in seiner Pension aufzusuchen und ihm für dessen Hilfe zu danken.

Als sie wenig später Senol kennenlernte, erschien er ihr so ganz anders als Salih. Kennengelernt hatten sie sich bei ihrem Onkel; zum Ende dieses Sommers. Kurz vor dem Ende der Semesterferien. Senol war zufällig wegen irgendwelcher Geschäfte zu ihm nach Bodrum gekommen und zum Abendessen eingeladen worden. Er war gebildet, äußerst höflich und besaß gute Umgangsformen. Zudem sah er, im Gegensatz zu Salih, noch gut aus.

Obwohl zehn Jahre älter wie sie, entsprach er viel mehr dem Bild, das sie sich im Geheimen von einem zukünftigen Ehemann gemacht hatte.

Später überlege sie gelegentlich, ob der zufällige Geschäftsbesuch nicht nur ein Vorwand ihres Onkels gewesen war, um sie miteinander bekannt zumachen. Bereits im darauffolgenden Frühjahr hatten sie geheiratet.

Das Keuchen Salihs riss Aysun aus ihren Erinnerungen. Fast wäre er an ihr vorgelaufen. Er sah aus, als würde er vom Teufel verfolgt. Mehrmals musste sie rufen, bis er sie bemerkte.

„Was ist geschehen“, wollte sie wissen.

Voller Angst starrte er sie an: „Die Männer in den Zelten haben uns entdeckt und mehrmals auf uns geschossen. Ich konnte glücklicherweise fliehen. Doch den Griechen haben sie getötet.“

Fassungslos starrte sie ihn an: „Kyros ist tot? Aber warum?“

Salih zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Sie haben uns entdeckt und sofort geschossen. Einer der Schüsse hat mich nur knapp verfehlt. Dass ich entkommen konnte, war wirklich verdammtes Glück.“

„Das sie uns bemerkt haben, war deine Schuld. Warum musstest du so herumschreien. Damit hast du die Männer geweckt und auf uns aufmerksam gemacht.“

Salih protestierte heftig: „Ich hatte einen schrecklichen Krampf. Er kam ohne jede Vorwarnung. Das Schreien konnte ich nicht verhindern. Du denkst hoffentlich nicht, dass ich die Männer mit Absicht auf uns aufmerksam gemacht habe.“

Darauf gab Aysun ihm keine Antwort. Niedergeschlagen packte sie die Sachen zusammen und hob Hatice in die Trage. Schweigend und nachdenklich lief sie voraus. Irgendetwas an Salihs Erzählung stimmte nicht. Das spürte sie. Auch wenn sie im Moment nicht sagen konnte, was sie an seiner Geschichte irritierte.

2.

Alexander Romani fiel es schwer, sich auf den Bildschirm des Notebooks zu konzentrieren. Von seinem Sitzplatz unter dem Sonnenschirm schweifte der Blick immer wieder hin zur imposanten Bergwelt der Kitzbüheler Alpen.

An diesem Vormittag konnte man sie besonders deutlich sehen. Die „Hohe Salve“, auf der gegenüberliegenden Seite des Brixentals schien zum Greifen nah zu sein. Die Aussicht verzauberte ihn immer aufs Neue.

Die Stille auf der Terrasse des Bauernhauses wurde nur gelegentlich durch die Glocken der Kühe auf der nahegelegenen Weide unterbrochen. Auf der schmalen Straße unterhalb des Hauses fuhren um diese Tageszeit nur selten Autos. Die meisten Touristen befanden sich entweder bereits oben auf dem Berg, unternahmen im Tal eine Wanderung oder vergnügten sich beim Schwimmen im Freibad.

Lediglich einige Paragleiter schwebten weit über ihm am blauen Himmel. Ein leichter Ostwind hielt die aufkommende Hitze in Schach.

Der kleine Bauernhof oberhalb Westendorfs war sein Zufluchtsort. Hierher fuhr er immer dann, wenn er für ein paar Tage ausspannen wollte und gleichzeitig Ruhe suchte.

Von München aus war man schnell da. Für die Strecke benötigte er selten mehr als eine Stunde.

Die Wirtsleute, beide fast 80 Jahre alt, bewirtschafteten den kleinen Bauernhof so gut wie alleine. Inzwischen gab es nur noch eine Kuh, zwei Schweine und ein paar Hühner, um die sie sich kümmern mussten. Den Großteil der Wiesen ums Haus herum hatten sie verpachtet. Ihre Rente besserten sie mit der Vermietung von drei einfachen Fremdenzimmern auf. Momentan war er der einzige Gast.

Ihre Tochter Johanna, die mit dem 10-jährigen Sohn ebenfalls bei ihnen lebte, arbeitete tagsüber unten im Dorf in einem Souvenirladen und half am Abend bei der Stallarbeit. Der Vater des Jungen war kurz nach dessen Geburt tödlich verunglückt.

Den kleinen Bergbauernhof kannte er seit der frühesten Jugend. Zeitweise waren seine Eltern mit ihm jedes Wochenende hergefahren. Auf dem Berg hatte er Skifahren gelernt und später, als junger Bursche, in der Diskothek unten im Dorf gelegentlich mit einer der zahlreichen Touristinnen aus England oder Holland angebandelt.

Seitdem war viel Zeit vergangen. Inzwischen arbeitete er seit fast fünf Jahren in der Rechtsanwaltskanzlei seines Onkels. Unmittelbar nach dem 2. Staatsexamen hatte er dort angefangen.

Obwohl die letzten Wochen sehr arbeitsreich gewesen waren, machte ihm die Tätigkeit Spaß. Die erste ruhige Phase hatte er genutzt, um sich eine kurze Auszeit zu gönnen.

Das hatte seinen Onkel nicht davon abgehalten, ihm den Teil eines ellenlangen Abkommens mitzugeben, das er überarbeiten sollte.

„Die Ruhe in den Bergen wird dir gut tun. Sicherlich kannst du ein paar Minuten erübrigen, um diesen Teil des Vertrages durchzulesen. Dabei geht es um die Rechte ausländischer Mitarbeiter unseres Klienten. Es eilt nicht. Doch vielleicht findest du eine Schwachstelle, die mir bisher entgangen ist.“

Nur noch einige wenige Seiten und er war damit fertig. Wie erwartet, konnte er keinen einzigen Fehler finden. Nachdem sein Onkel den Vertrag bereits vorher kontrolliert hatte, wäre ihm das auch seltsam vorgekommen.

Misstrauisch starrte er auf sein Handy, als es sich mit einem dezenten Klingelton bemerkbar machte. Hoffentlich war das nicht sein Onkel, dem eine weitere kleine Tätigkeit für den Neffen eingefallen war.

Erleichtert, doch auch erstaunt sah er den Namen Markus Hagen auf dem Display. Er und der Anrufer, ein ehemaliger Journalist, waren seit Ewigkeiten befreundet. Doch seitdem der in den Sommermonaten mit seiner Jacht Touristen durch die kroatische Adria schipperte, sahen sie sich seltener. Zuletzt hatten sie sich im vergangenen Winter hier in Westendorf zum Skifahren getroffen.

Die Stimme Hagens klang dringlich: „Alexander, ich bin für einige Tage in München und muss vor meinem Rückflug nach Kroatien dringend mit dir sprechen. Können wir uns heute noch sehen?“

„Nur wenn du nach Westendorf kommst. Ich habe mir ein paar Tage Urlaub genommen.“

Es dauerte eine Weile, bis Markus darauf antwortete. Offensichtlich hielt er mit jemanden Rücksprache.

„Das ginge in Ordnung. Wir könnten in ungefähr zwei Stunden bei dir sein. Vermutlich finden wir dich auf dem Bauernhof oben auf dem Berg.“

„Wir? Ist deine Frau ebenfalls in München?“

„Nein, Chiara ist in Kroatien geblieben. Ich bringe einen Bekannten mit.“

„Bleibt ihr über Nacht? Dann sage ich Kathi, dass du kommst. Du kennst ja ihre Gästezimmer. Im Augenblick hat sie außer mir keine weiteren Besucher.“

„Schade, das geht leider nicht. Ich fliege noch heute Abend zurück. Chiara erwartet mich. Also bis später.“

Ohne einen Grund für den überraschenden Besuch zu nennen, hatte sein Freund die Verbindung unterbrochen.

Alexander konnte sich beim besten Willen nicht denken, was Markus von ihm wollte.

Seine Neugierde sollte bald befriedigt werden. Bereits nach 90 Minuten sah er einen hellgrauen Mercedes die schmale Bergstraße heraufkommen.

Markus umarmte ihn zur Begrüßung. „Na du Einsiedler. Wie hältst du es ganz alleine hier oben nur aus? Zumindest hättest du dir weibliche Unterhaltung mitnehmen sollen.“

Bei seinem Begleiter handelte es sich um einen ihm unbekannten Mann mit dünnen, blonden Haaren. Er war groß mit kräftiger, sportlicher Figur. Dessen grünbraune Augen musterten ihn ganz unverhohlen. Der Händedruck fühlte sich kühl, fast geschäftsmäßig an.

Von ihm ging etwas aus, das Alexander irritierte. Es ließ ihn vorsichtig werden. Unwillkürlich musste er an einen dummen Spruch denken, den er mal aufgeschnappt hatte. Der Mann gehörte zu der Sorte von Menschen, die hinter einem eine Drehtür betraten und vorher wieder herauskamen.

Markus stellte ihn vor: „Das ist Martin Müller. Er arbeitet für eine deutsche Regierungsbehörde.“

Die Wirtsleute hatten mitbekommen, dass jemand gekommen war. Neugierig kamen beide aus dem Haus gelaufen, um die Ankömmlinge zu begrüßen.

Kathi lächelte Markus dabei freundlich zu: „Schön, dass du dich hier mal wieder blicken lässt. Ihr habt bestimmt Durst. Was soll ich euch bringen?“

Nachdem sie im Haus verschwunden waren, wandte sich Alexander an seinen Freund: „Jetzt bin ich doch mal gespannt, was dich und deinen Begleiter zu mir getrieben hat.“

Der Mann, der sich Martin Müller nannte, nickte: „Aysun ist mit ihrem Kind aus der Türkei geflohen und auf dem Weg nach Kroatien. Von dort aus werden wir sie nach Deutschland bringen.“

Alexander sah ihn fragend an: „Wer ist Aysun? Sollte ich sie kennen?“

„Ihr Vater hat uns gesagt, dass sie seine Tochter in Bodrum kennengelernt haben. Stimmt das nicht?“

Aus der Brieftasche holte er ein Foto und hielt es ihm hin: „Vielleicht können sie sich jetzt wieder an sie erinnern, Herr Romani?“

Das Bild zeigte eine junge Frau oder Mädchen mit hübschem, herzförmigen Gesicht, großen, braunen Augen und langen, fast schwarzen Haaren.

Alexander nickte nachdenklich: „Sie kommt mir bekannt vor. Es ist durchaus möglich, dass ich sie vor einigen Jahren in der Türkei kennengelernt habe. Seitdem bin ich allerdings nicht mehr dort gewesen.“

„Nach meinen Informationen haben sie ihr bei irgendeiner Auseinandersetzung geholfen. Ihr Vater, Professor Kaya, kam daraufhin extra zu ihnen ins Hotel, um sich zu bedanken.“

„Ja, jetzt erinnere ich mich. Das Mädchen hat damals in Bodrum die Sommerferien verbracht und im Geschäft ihres Onkels ausgeholfen. Ich hatte im Schaufenster eine Lederjacke gesehen, die mir ganz gut gefiel. Sie war ziemlich überzeugend und hat mich letztendlich dazu gebracht, sie zu kaufen.“

Alexanders Gesicht verfinsterte sich unwillkürlich, als er an den Grund für den Aufenthalt in Bodrum dachte. Es waren keine angenehmen Erinnerungen. Selbst nach so vielen Jahren wollte er möglichst nicht mehr an diese Zeit erinnert werden.

Markus merkte nichts von der sich verschlechternden Stimmung seines Freundes. „Von der jungen Dame hast du nie etwas erzählt. Was ist aus eurem Kennenlernen geworden?“

„Absolut nichts. In der Türkei mit einer Einheimischen anzubandeln, kann schnell ins Auge gehen. Dazu noch mit so einem jungen Ding. Sie war einfach ein nettes Mädchen, der ich nach dem Kauf der Lederjacke in Bodrum zufällig wieder begegnet bin. Da haben wir uns ein wenig unterhalten. Bereits das hat einen Typen aus ihrer Verwandtschaft ziemlich wütend gemacht. Kurz darauf ist ihr Vater in meine Pension gekommen, um sich für das Benehmen des Mannes zu entschuldigen. Einen Tag später bin ich abgereist und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“

Müller kam wieder auf den Grund ihres Kommens zu sprechen: „Die junge Frau musste aus der Türkei fliehen und wird, wenn alles klappt, bald in Kroatien ankommen.“

„Aus welchen Gründen ist sie aus ihrer Heimat geflohen?“

„Ihrem Vater, den sie ja auch kennen, wird unter anderem nachgesagt, der Gülen-Bewegung anzugehören. Der türkische Geheimdienst wollte seine Tochter verhaften, um ihn zur Rückkehr in die Türkei zu zwingen. Die Regierung in Ankara behauptet, dass er bei Gülen in Amerika Schutz gesucht hat. Letzteres ist ganz sicher eine Lüge.“

„Egal ob es stimmt oder nicht. Was habe ich damit zu schaffen?“

„Wir brauchen sie, um die Dame zu identifizieren. Wir wollen nicht riskieren, dass der türkische Geheimdienst eine seiner Agentinen für Aysun Uslu ausgibt und sie diese Leute zu Professor Kaya führt. Sie sind der einzige außerhalb der Türkei, der Vater und Tochter zusammen gesehen hat. Sie müssen der jungen Frau damals eine ihrer Visitenkarten gegeben haben. Jedenfalls hat sich der Professor an ihren Namen erinnert. Dadurch haben wir schnell herausgefunden, dass sie als Rechtsanwalt in München arbeiten und mit einem alten Bekannten von mir, Markus Hagen, befreundet sind.“

Alexander brauchte Zeit zum Nachdenken. Im Grunde genommen hatte er keine Lust, sich in irgendwelche politische Angelegenheiten hineinziehen zu lassen. Er vermutete, dass der Begleiter seines Freundes für den deutschen Geheimdienst oder Staatsschutz arbeitete.

Um dafür Zeit zu finden, fragte er Markus: „Welche Interessen verfolgst du in der Angelegenheit?“

„Mein ehemaliger Chef, ein Freund von Professor Kaya hat die „NINA“ gechartert. Auf ihr bringen wir die junge Dame vom Süden Kroatiens in den Norden. Mein Ex-Chef möchte zudem, dass ich einen oder mehrere Artikel über die politischen Zustände in der Türkei verfasse. Außerdem soll ich etwas über die Korruption sowie die Verbindungen hochrangiger Regierungsmitglieder zur Mafia herausfinden. Professor Kaya gilt als recht medienscheu. Er hat sich zu einem ausführlichen Interview bereit erklärt, sobald seine Tochter in Deutschland ist.“

„Was ist an dessen Meinung so wichtig?“

„Professor Kaya hat einen überragenden Ruf nicht nur als Wissenschaftler. Er wurde bereits mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen und ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn eines Tages erhalten wird. Auf das, was er zu sagen hat, werden viele Menschen hören.“

„Dafür, dass du den Journalismus aufgegeben hast, hängst du dich ganz schön rein.“

Markus grinste: „So ganz komme ich von meinem ehemaligen Beruf dann doch nicht los. Den größten Teil der Arbeit übernimmt zudem ein Kollege von mir. Er ist Türke, arbeitet für eine freie, türkische Zeitung außerhalb seines Landes und ist ein persönlicher Freund von Professor Kaya.“

„Du traust ihm? Genauso gut könnte er insgeheim für den dortigen Geheimdienst arbeiten.“

„Der Professor hat ihn zu mir geschickt. Er scheint in Ordnung zu sein. Auch wenn Chiara ihn unsympathisch findet.“

Inzwischen hatte sich Alexander die Sache durch den Kopf gehen lassen. „Aus politischen Angelegenheiten habe ich mich in der Vergangenheit immer herausgehalten. Damit möchte ich eigentlich nichts zu tun haben. Sie finden bestimmt eine andere Möglichkeit, das Mädchen zu überprüfen.“

Müller war das „eigentlich“ in der Antwort des Rechtsanwalts keineswegs entgangen. Für ihn ein Beweggrund, noch nicht aufzugeben.

„Die reine Identifizierung der jungen Dame hat nicht das Geringste mit Politik zu tun. Es handelt sich dabei lediglich um eine Gefälligkeit, die sie dem deutschen Staat erweisen. Wir befinden uns da in einer misslichen Lage. Außerhalb der Türkei haben wir sonst niemanden gefunden, der Vater und Tochter jemals zusammen gesehen hat; der uns sagen kann, dass sie zu 100% die Person ist, für die sie sich ausgibt. Sie müssten dafür nur einen kurzen Moment ihrer Zeit opfern.“

„Wie haben sie sich das vorgestellt? Soll ich deshalb extra nach Kroatien fliegen?“

„Nein, das ist nicht nötig. Wir bringen Aysun Uslu mit ihrem Kind möglichst bald nach München. Dort wird sie vorübergehend in der Wohnung anderer türkischer Flüchtlinge untergebracht. Das haben wir bereits arrangiert. Dann sollte es kurzfristig zu einem Treffen zwischen ihnen und der jungen Frau kommen. Wir denken an einen unverfänglichen Ort mit Publikumsverkehr. Vielleicht in einem Café. Dabei sind sie nicht allein. Sollten sie einverstanden sein, wird sich während des Treffens eine Kollegin in ihrer Nähe befinden.“

„Warum? Sie sagten, dass ich die junge Frau lediglich identifizieren muss.“

„Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme unsererseits. Sie sollen nicht das Gefühl haben, allein dazustehen.“

Alexander war noch nicht bereit, auf die Bitte einzugehen. „Ich halte mich in der nächsten Zeit nicht allzu oft in München auf.“

„Gibt es dafür einen Grund?“

„Mein Onkel möchte, dass ich verschiedene Vertragsmodalitäten mit einem unserer Klienten in Mailand ausarbeite. Ich kann noch nicht sagen, wie lange das dauern wird.“

Martin Müller wirkte erleichtert. „Bis es zu der Gegenüberstellung mit Aysun Uslu kommt, wird noch einige Zeit vergehen. Ich oder meine Kollegin werden uns rechtzeitig mit ihnen in Verbindung setzen. Sollte ihre Arbeit in Mailand doch etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, bin ich überzeugt, dass wir trotzdem eine Möglichkeit finden, um eine Begegnung mit ihr zu arrangieren.“

Alexander sah dem Mercedes nach, als er die schmale Straße zum Tal hinab fuhr. Lange hatte er nicht mehr an die Zeit in Bodrum zurückgedacht. Damit waren zu viele unangenehme Erinnerungen verbunden. Erleichtert merkte er, dass sie, nach fünf vergangenen Jahren, nicht mehr weh taten.

3.

Claudia hatte er zu Beginn des 7. Semesters während einer Vorlesung an der Münchner Uni kennengelernt. Sie studierten beide Jura.

Gleich am ersten Tag war sie ihm aufgefallen. Von ihr ging etwas aus, das ihn regelrecht verzauberte. Das lag nicht nur an ihrer atemberaubenden Figur mit den langen Beinen oder den blonden Haaren. Ihn beeindruckte mehr die ungeheure Lebendigkeit, die von ihr ausging.

Er fand es spannend, dabei zuzusehen, wie sie sämtliche männliche Wesen, einschließlich der Professoren, in ihren Bann zog.

Für ihn war sie die aufregendste und bewundernswerteste Frau der Welt. Die Schönste sowieso.

Von seinen Mitkommilitonen wurde sie geradezu umzingelt. Jeder schien etwas von ihr zu wollen. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, sie von sich aus anzusprechen. Lieber bewunderte er sie aus der Ferne.

Das Schicksal wollte es, dass sie bei einer Vorlesung zufällig nebeneinandersaßen. Jedenfalls glaubte er das anfangs. Erst viel später gestand sie ihm, das sie sich absichtlich neben ihn gesetzt hatte.

Nach diesem „zufälligen“ Kennenlernen verließen sie zusammen die Uni. Claudia stimmte lächelnd zu, als er sie in ein nahegelegenes Café einlud.

Er erfuhr, dass sie die letzten Jahre in Freiburg studiert hatte und erst seit Beginn des neuen Semesters wieder bei ihren Eltern in München wohnte.

In der Folgezeit trafen sie sich täglich. Es folgten aufregende Wochen voller Lachen, Liebe und Zärtlichkeit. Dazu kam eine unendliche körperliche Gier auf den jeweils anderen. Bereits nach drei Monaten beschlossen sie, zu heirateten.

Seine und ihre Eltern waren über diese Entscheidung mehr als nur entsetzt. Es folgten zahlreiche Krisengespräche, die sie von ihren Heiratsabsichten nicht abbringen konnten. Selbst die Drohung, ihnen jegliche finanzielle Unterstützung zu entziehen, verpuffte wirkungslos.

„Warum wartet ihr nicht, bis ihr euer Studium abgeschlossen und einen Job gefunden habt,“ versuchten die Eltern, sie von der Heirat abzuhalten. Vergeblich. Trotz ihrer Bedenken kamen sie zur Hochzeit.

Er und Claudia fanden ein winziges Zimmer in einer Studenten-WG unweit der Isar.

Nach dem Referendariat und 2. Staatsexamen bekamen sie zur Belohnung von beiden Elternpaaren gemeinsam eine 10-tägige Mittelmeerkreuzfahrt geschenkt. Alexander freute sich darüber, endlich wieder mehr Zeit mit seiner Frau verbringen zu können. Durch den Prüfungsstress hatten sie zuletzt wenig miteinander unternommen. Nach ihrer Rückkehr wollten sie baldmöglichst aus der WG ausziehen und sich eine richtige, eigene Wohnung suchen.

Die Seereise bekam Claudia nicht. Ihr wurde dauernd übel. In der Früh, gleich nach dem Aufstehen, ging es ihr dann besonders schlecht.

Auf der Fahrt von Zypern nach Bodrum konnte er sie endlich dazu überreden, den Bordarzt aufzusuchen. Nach der Rückkehr sah sie noch elender aus als zuvor.

Erschrocken hatte Alexander sie in die Arme genommen. „Was hat der Arzt gesagt?“

„Es ist nichts Besonderes. Ich bin lediglich schwanger.“

Alexander brauchte einige Zeit, um diese Nachricht zu verdauen. Unmittelbar darauf wäre er vor Freude fast geplatzt und zeigte es ihr. „Das ist eine fantastische Neuigkeit. Unsere Eltern werden begeistert sein.“

Claudia löste sich von ihm und trat an das Kabinenfenster: „Sobald wir zurück in Deutschland sind, lasse ich es wegmachen.“

Entsetzt schaute er sie an: „Aber warum? Wir wollten doch immer Kinder. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das vielleicht etwas überraschend. Doch ich freue mich wirklich.“

Sie drehte sich wieder zu ihm hin. Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ich bin im 2. Monat. Überleg doch mal. In den letzten Wochen vor dem Examen hatten wir kaum Zeit für uns. Wir haben nicht einmal mehr miteinander geschlafen.“

„Wer…?

„Er ist nicht wichtig und darum werde ich dir seinen Namen nicht nennen. Es ist einfach passiert.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie mit harter Stimme hinzu: „In den letzten Tagen hatte ich endlich Zeit, über uns nachzudenken. Dabei ist mir klar geworden, dass wir uns auseinandergelebt haben. Es ist vorbei. Unmittelbar vor der Abreise aus München hat man mir eine Stelle in Hamburg angeboten. Ich werde sie annehmen.“

Nach ihrer Ankunft in Bodrum gehörte er zu den Ersten, die mit dem Tenderboot das Schiff verließen. Im Gegensatz zu den anderen Passagieren hatte er seinen Koffer dabei.

Zuerst hatte er vorgehabt, den nächstmöglichen Flug nach München zu nehmen. Schließlich entschied er sich dagegen. Zu diesem frühen Zeitpunkt konnte er unmöglich mit seinen Eltern über die Trennung von Claudia zu sprechen.

Bei der Zimmersuche ließ er sich von einem Taxifahrer dazu überreden, die Pension eines Verwandten anzuschauen. Rein „zufällig“ gab es dort ein freies Zimmer.

Die „Myndos Pansiyon“ befand sich in unmittelbarer Nähe zur „Cumhurriyet Caddesi“, der autofreien Amüsiermeile und Hauptgeschäftsstraße Bodrums.

Der Eigentümer sowie dessen Frau empfingen ihn wie einen alten Freund. Die Unterkunft war einfach, machte jedoch einen gepflegten Eindruck. Mehr benötigte er nicht.

Neben dem Zimmer zeigten sie ihm auch gleich die Dachterrasse, auf der er sein Frühstück einnehmen konnte. Zudem gab es hinter dem Haus einen kleinen, schattigen Garten.

Alexander war das ziemlich egal. Nach dem Schock, den Claudia ihm versetzt hatte, brauchte er Zeit und Ruhe, um nachdenken. Um wirklich ungestört zu sein, schaltete er sogar das Handy aus.

Nach zwei Tagen schaffte er es immerhin, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Auch wenn der Schmerz in der Brust nicht nachließ. Anfangs war er wütend auf sich selber gewesen. Wenn er das Schiff nicht so überhastet verlassen hätte, wäre ihnen vielleicht ein Weg eingefallen, um doch zusammenzubleiben.

Schnell kehrte er nach solchen Gedanken in die Realität zurück. Claudia hatte die Entscheidung, ihn zu verlassen, im Grunde genommen, bereits vor der Reise getroffen. Und er selber wäre vermutlich niemals darüber hinweggekommen, dass sie ihn betrogen hatte. Dazu war ihr früheres Verhältnis viel zu tief und innig gewesen. So konnte es nie mehr werden.

Um sich abzulenken, unternahm er trotz der Hitze lange Spaziergänge oder fuhr mit einem der zahlreichen Sammeltaxis zu den Dörfern in der Umgebung. Einmal machte er einen Ausflug zur Insel Kos, die unmittelbar vor der türkischen Küste lag und bereits zu Griechenland gehörte.

Oft spazierte er in Gedanken versunken durch Bodrum oder betrachtete im Hafen die luxuriösen Motorjachten und traditionellen Holzsegler. Meist setzte er sich danach in eines der Cafés. Die Stadt war voll mit fröhlichen Touristen. Die junge Türkin lernte er mehr oder weniger zufällig kennen. Bei einen seiner Spaziergänge durch die „Cumhurriyet Caddesi“ blieb er, eher aus Langeweile, vor einem der zahlreichen Geschäfte stehen. Mäßig interessiert hatte er eine der ausgefallenen Lederjacken betrachtet.

„Sie können ganz unverbindlich hereinkommen und die Jacke anprobieren? Sie würde ihnen ganz ausgezeichnet stehen.“

Das Mädchen, das ihn angesprochen hatte, schätze er auf ungefähr 15 oder 16 Jahre.

Kopfschüttelnd hatte er abgelehnt. „Vielleicht ein anderes Mal.“

Als er am darauffolgenden Tag an dem Geschäft vorbei kam, erinnerte sie sich an ihn.

Unbekümmert lächelte sie ihn an: „Heute dürfen sie meine Einladung nicht ablehnen. Während sie die Jacke oder einige andere anprobieren, kann ich einen Tee kommen lassen. Sollten sie sich dann doch nicht zum Kauf entschließen, bin ich nicht böse.“

Es mochte an den fröhlichen Teenageraugen liegen, dass er sich überreden ließ, ihr ins Geschäft zu folgen. Vielleicht lag es auch an dem mädchenhaften Charme. Dazu gehörte ihr kecker, fast provozierender Augenaufschlag. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine erste große Liebe.

Er und Veronika waren jahrelang in dieselbe Schulklasse gegangen, ohne viel Notiz voneinander zu nehmen. Erst in der 12. Klasse, während eines Schulausfluges, passierte es dann. Sie verliebten sich ineinander. Doch bereits kurz nach dem Abitur verflüchtigten sich ihre Empfindungen ganz langsam.

Veronika zog es zum Studium nach Leipzig, wohingegen er in München bleiben wollte. Bereits nach kurzer Zeit wurden ihre gegenseitigen Besuche seltener und irgendwann mussten sie sich eingestehen, dass sie nur noch freundschaftliche Gefühle füreinander empfanden.

Vor drei oder vier Jahren waren sie sich bei einem Klassentreffen begegnet. Wie zwei Fremde hatten sie sich gegenübergestanden. Trotzdem dachte Alexander immer noch gerne an die gemeinsame Zeit zurück.

Im Geschäft warteten zwei weitere Verkäufer auf Kundschaft. Einen von ihnen gab das Mädchen den Auftrag, ihm Tee zu bringen.