Behalte das für dich! - Tom Ryan - E-Book

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Tom Ryan

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Beschreibung

Ein packender Jugendbuchthriller über einen Serienmörder, der nie gefasst wurde Eine Nachricht aus der Vergangenheit. Und die Chance auf Gerechtigkeit. Das verschlafene Örtchen Camera Cove könnte kaum idyllischer sein – wäre da nicht der Serienmörder, der letzten Sommer vier Menschen ermordete und dann spurlos verschwand. Wie jeder andere versucht auch Mac das Geschehene zu überwinden. Einfacher gesagt als getan, denn Connor, Macs bester Freund, war das letzte Opfer und nur langsam beginnt Mac zu akzeptieren, dass er womöglich niemals Antworten bekommen wird. Doch dann findet er eine Notiz von Connor aus der Nacht, in der er starb. Wusste Connor, wer der Mörder war? Hätte Mac den Mord verhindern können? Für den 18-jährigen ist diese Notiz Grund genug, um sich auf die Suche zu begeben. Er wird den Mörder finden – und niemand, weder Freunde, Nachbarn und auch nicht der charmante Fremde, ist vor seinen Anschuldigungen sicher. Kann Mac die Wahrheit finden, bevor der Mörder womöglich erneut zuschlägt? 

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Seitenzahl: 407

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TOM RYAN

BEHALTE DAS FÜR DICH!

Aus dem Amerikanischen vonJessika Komina und Sandra Knuffinke

Für Andrew.

Was hab ich doch für ein Glück.

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

ZWEIUNDDREIßIG

DREIUNDDREIßIG

VIERUNDDREIßIG

FÜNFUNDDREIßIG

DANKSAGUNG

Leseprobe

Kapitel 1

Kapitel 2

EINS

Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass jemand kommen würde, doch als ich das Ende des von Gagelgestrüpp und Wildrosen zugewucherten Pfads erreiche und unseren Aussichtspunkt vor mir sehe, ist Ben schon da.

Er hat sich nicht umgezogen seit der Zeugnisverleihung, sondern trägt immer noch Khakihose und Hemd. Nur die Krawatte hat er gelockert, sodass sie ihm wie eine Schlinge um den Hals hängt. Sein Fahrrad liegt im Gras. Er sitzt auf der Granitklippe, hinter der es steil abwärtsgeht, und lässt die Beine über die Kante baumeln. Als ich mich nähere, dreht er sich um und winkt.

»Hey.«

»Hey.« Ich lächele und versuche, mich möglichst normal zu geben, so als würden wir uns noch immer jeden Tag hier treffen. Als würden wir uns überhaupt noch treffen.

»Du konntest dich also loseisen«, sagt er.

»Ja, nach ’ner Ewigkeit«, stöhne ich. »Meine Eltern haben mich mit meinen Großeltern ins Restaurant geschleppt. Ich dachte echt, die werden nie fertig.«

Ben lässt ein abgehacktes Lachen hören, ein einzelnes »Ha!«, das sofort leblos zu Boden plumpst.

»Meine Eltern können sich nicht mal im selben Raum aufhalten«, entgegnet er. »Die haben sich noch auf dem Schulparkplatz drüber gezofft, wer mich zum Essen ausführen darf, da bin ich lieber direkt abgehauen und hergekommen.«

»So lange wartest du schon?«, frage ich überrascht. Die Feier ist seit über zwei Stunden vorbei.

Er zuckt mit den Schultern. »Ist doch schön hier.«

Ungeschickt klettere ich neben ihn und wir blicken gemeinsam raus aufs Wasser. Er hat recht – es ist schön. Besonders an einem strahlenden Juniabend wie heute, während die Sonne langsam in Richtung einer dichten, wie aufgemalt wirkenden Wolkenbank am Horizont sinkt.

Von hier oben hat man Blick auf ganz Camera Cove mit seinen bunten Holzhäuschen, den urigen Läden und Restaurants im Stadtzentrum, dem schlanken Rathausturm und der Promenade bis zu den zerklüfteten, von Höhlen durchzogenen Felsen am Ende des Sandstrands.

Die reinste Postkartenidylle, könnte man meinen. Und genau die war es ja auch – bis letzten Sommer.

»Hey, Leute.«

Wir drehen uns um. Hinter uns hat sich wie aus dem Nichts Doris materialisiert. Sie gehört zu den Leuten, die heute noch genauso aussehen wie als kleines Kind und es wahrscheinlich auch mit achtzig noch werden. Schnittlauchglattes, schulterlanges schwarzes Haar, akkurat geschnittener Pony, Schildpattbrille, stabile Leinenumhängetasche. Jedes Kleidungsstück sauber und gebügelt, makellos.

»Glückwunsch. Oder sollte ich lieber sagen: ›Jeder Abschluss ist ein neuer Anfang‹?«, äfft sie ziemlich gekonnt Anna Silver nach, die als Jahrgangsbeste vorhin die Rede gehalten hat. »Alter, war das kitschig. Ich hab fast ’nen Zuckerschock bekommen.«

Noch so etwas, das sich an Doris wohl nie ändern wird: ihr Hang zum Sarkasmus. Hinter der braven, geordneten Fassade lauern massenweise Stacheldraht und scharfe Kanten. Ich kenne sie seit unserer Kindheit, aber sie ist und bleibt eine harte Nuss.

»So schlimm war’s ja wohl auch nicht«, wiegelt Ben ab. »Ich finde, sie hat das eigentlich ganz okay gemacht.«

»Nicht dein Ernst! Dieser vergurkte Metaphernsalat von wegen flügge werden und auf eigenen Beinen stehen? Ein Wunder, dass sie nicht auch noch ’ne Ballade geschmettert hat.«

Ich sage nichts. Klar war Annas Rede ein bisschen abgedroschen, aber unter den gegebenen Umständen hätte dieses Jahr wohl jeder seine Schwierigkeiten gehabt, sich was Passendes einfallen zu lassen.

»Bist du gar nicht mit deiner Familie feiern?«, erkundige ich mich stattdessen.

Doris verdreht die Augen. »Als ob. Ich war schon überrascht, dass meine Eltern überhaupt aufgetaucht sind.« Sie deutet auf die Sonne, die jetzt die Wolken berührt. »Anscheinend hab ich’s ja gerade noch rechtzeitig geschafft. Lasst uns loslegen.«

Wir wenden uns alle der uralten, knorrigen Eiche zu, dem einzigen Baum auf der windumtosten Klippe.

»Wollen wir nicht noch auf Carrie warten?«, fragt Ben.

»Ich war mir so sicher, dass sie kommt«, sage ich, dabei stimmt das gar nicht. Ich habe es mir bloß gewünscht. Die Carrie, mit der ich aufgewachsen bin, hätte sich das hier um keinen Preis entgehen lassen, aber seit letztem Sommer haben wir kaum mehr ein Wort miteinander geredet.

Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht lässt sie sich ja noch blicken. Ist immerhin ziemlich wichtig.«

»Wichtig«, schnaubt Doris. »Na klar. Carrie kommt nicht, Leute. Sie hat das mit dem Vergessen einfach besser drauf als wir.«

»Wenn es nicht wichtig ist, was machst du dann hier?«, fragt Ben, untypisch aufgebracht.

Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her, während sie weiterzanken. Vage registriere ich, wie sich das Licht verändert, während die Sonne hinter den Wolken verschwindet. Doris und Ben sind mir so fern, als wären sie Figuren in irgendeinem Film. Kaum zu glauben, dass wir mal beste Freunde waren.

»Ist einfach ein guter Schlussstrich«, erklärt Doris. »Dann kann ich den ganzen Kram endlich hinter mir lassen. Ich hab’s so satt, ständig darüber nachzugrübeln und zu wissen, dass alle anderen dasselbe machen. Ich will bereit für Neues sein.«

»Als ob das so leicht wäre«, brummt Ben.

»Es ist kein bisschen leicht.« Jetzt ist es Doris, die aufgebracht klingt. »Aber nun mal nötig. Also, lasst uns endlich anfangen mit unserer kleinen Zeremonie oder was das hier werden soll und die Sache hinter uns bringen.«

Sie marschiert auf die Eiche zu und hockt sich vor den Stamm. Ben und ich folgen ihr.

»Warum bist du hier, Mac?«, will Ben wissen, als wir uns neben Doris knien.

»Weil wir es einander versprochen haben«, antworte ich.

Die beiden wechseln einen Blick. Flüchtig, unwillkürlich und kaum merklich, aber mir fällt es trotzdem auf. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass sie womöglich nur meinetwegen hier sind. Weil sie Mitleid mit mir haben. Ihrem seltsamen Freund.

Nur dass wir keine Freunde mehr sind. Nicht seit letztem Sommer.

Schweigend starren wir auf das dichte, kräftige Wurzelgeflecht. Es erinnert an eine gekrümmte Klaue, von der man sich nur zu leicht vorstellen kann, wie sie sich tief unter uns in den Boden krallt. Vor uns öffnet sich eine kleine Senke, die mit schwarzer Erde gefüllt ist.

»Wie machen wir’s überhaupt?«, frage ich schließlich. »Darüber hab ich gar nicht richtig nachgedacht. Soll ich kurz nach Hause laufen und einen Spaten holen?«

Doch Doris hat bereits ihre Tasche von der Schulter rutschen lassen und kramt einen großen Gefrierbeutel daraus hervor. Er enthält, sicher verstaut wie ein polizeiliches Beweisstück, eine schlammverkrustete Handschaufel.

»Gehört meiner Mutter«, erklärt sie, während sie den Zipverschluss aufzieht. Dann rammt sie die Schaufel in die Erde und fängt umständlich an zu graben.

»Lass mich mal«, sagt Ben. »Ich hab längere Arme.«

Ohne Einspruch zu erheben, reicht Doris ihm die Schaufel. Schon nach wenigen Sekunden stößt Ben auf etwas Hartes und ein paar weitere Schaufelhübe später greift er ins Loch und zieht einen Metallzylinder heraus.

»Das war jetzt einfacher, als ich dachte«, merke ich an.

»Wir haben das Ding damals ja auch nicht tief verbuddelt«, erwidert Doris. »Hat außer uns doch eh keinen interessiert.«

Ben trägt seinen Fund rüber zur Kante und wir setzen uns drum herum: Es ist eine alte Thermosflasche aus Edelstahl.

»Du machst den Zeremonienmeister, Mac«, bestimmt Doris. »Das Ganze war schließlich deine Idee.«

Ich greife nach der Flasche. Sie ist leichter, als sie aussieht. Nach kurzem Zögern wische ich mit meinem Hoodieärmel etwas von der Erde ab, die sie wie eine Haut überzieht. Das Metall spiegelt trübe den Sonnenuntergang wider. Dann gucke ich hoch, zuerst nach links, zu Doris, dann nach rechts, zu Ben. Die beiden erwidern erwartungsvoll meinen Blick, und in diesem merkwürdigen Licht wirken sie beinahe surreal – wie vertraute Gesichter, durch Buntglas betrachtet.

Ich fange an, den Deckel abzuschrauben. Es knirscht und dann geht die Flasche auf.

Ganz oben liegt ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich ziehe es raus, falte es auseinander und lese vor, was in meiner schörkeligen Achtklässlerschrift darauf geschrieben steht.

An diesem unserem letzten Tage an der Junior Highschool vergraben wir, die Unterzeichneten, diese Zeitkapsel.

»Das war wohl während deiner Benjamin-Franklin-Phase«, kommentiert Doris.

Ohne sie zu beachten, lese ich weiter.

Hiermit geloben wir feierlich, dieses Unterpfand unserer Freundschaft nach einer Spanne von vier Jahren anlässlich unseres Highschoolabschlusses wieder zutage zu fördern.

Ich starre auf die Unterschriften und habe kurz das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Aber dann stupst Doris mich mit dem Ellbogen an, und ich schaffe es, mich loszureißen und den Zettel an sie weiterzureichen.

Nachdem wir ihn uns alle nacheinander angesehen haben, drehe ich die Thermosflasche auf den Kopf. Heraus fallen ein paar zusammengerollte, mit Gummibändern fixierte Briefumschläge, gefolgt von den Passfotos aus unseren Schülerausweisen. Alles segelt zu Boden wie Federn.

Ich hebe die Umschläge auf und verteile sie.

Ben und ich sehen zu, wie Doris den mit ihrem Namen darauf öffnet. Sie schüttelt ihn aus und eine Kette mit silbernem Herzanhänger gleitet ihr in die Hand.

»Daran erinnere ich mich«, sage ich. »Die hattest du immer um.«

»Hat meine Tante Marie mir geschenkt«, erwidert Doris lächelnd, und kurz scheint ihr Zynismus zu verpuffen. »Zu meinem zwölften Geburtstag. Meiner Mom hab ich erzählt, ich hätte sie verloren. Mann, war die sauer.«

»Was war deine Prophezeiung?«, will Ben wissen.

Doris zieht einen Zettel aus dem Umschlag, liest schweigend, was darauf steht, und stopft ihn sich mit hochroten Wangen in die Tasche.

»Was ist?«, frage ich. »Was steht da? Sag schon.«

»Nein«, lehnt sie ab. »Ist nur Blödsinn.«

»Komm schon, Doris«, drängt Ben. »Darum geht’s doch. Genau deswegen sind wir hier.«

Er wirkt ernsthaft enttäuscht. Doris schüttelt unwillig den Kopf, holt den Zettel dann aber wieder raus und liest ausdruckslos vor:

Ich kriege ein Stipendium für die Cornell.

Ben und ich gucken uns verwirrt an.

»Hat doch geklappt«, merke ich an. »Du redest schließlich schon seit unserer Kindheit davon, dass du mal an der Cornell studieren willst.«

»Ja«, sagt sie, »weiß ich. Aber … irgendwie klingt das so eingebildet.«

»Du hast es dir verdient, Doris«, sagt Ben leise.

Ich spüre, dass sie das Thema wechseln möchte, also reiße ich meinen eigenen Umschlag auf. Darin ist ein Schlüsselanhänger ein Andenken an einen Urlaub bei meinen Cousins in Boston. Aus damaliger Sicht war das die beste Woche meines ganzen Lebens, aber verglichen mit Doris’ Beitrag kommt mir meiner jetzt trotzdem albern und unwichtig vor.

»Laaangweilig«, witzele ich. Niemand widerspricht. Ich klappe meine Prophezeiung auf.

Bei unserem Schulabschluss sind wir alle noch beste Freunde.

Wieder herrscht eine Weile Schweigen und plötzlich scheint die Luft um uns zu stehen.

»Wow, Mac«, stichelt Doris schließlich etwas gezwungen. »Wenn aus dir mal kein erfolgreicher Grußkartentexter wird.«

Ben, der tief in Gedanken versunken scheint, lächelt nicht mal.

»Ben«, hole ich ihn zurück in die Wirklichkeit.

Er reißt seinen Umschlag auf, nimmt ein paar Hockeysammelkarten raus und blättert sie flüchtig durch. »Müll«, sagt er und wirft sie zu Boden. Dann faltet er seinen Zettel auseinander.

Ich bin der Kapitän der Hockeymannschaft.

»Wah-wah-wah«, ahmt Doris eine traurige Posaune nach.

»Scheiß drauf.« Er knüllt den Zettel zusammen und schnippt ihn von der Klippe. So unbeeindruckt Ben sich auch gibt, irgendwie tut er mir leid. Schon seit ich ihn kenne, ist er regelrecht besessen von Sport, und obwohl er mittlerweile fast alles ausprobiert hat – von Basketball über Fußball bis hin zu seinem geliebten Hockey –, war er immer nur ganz passabel, nie wirklich gut. Und nach dem, was letztes Jahr passiert ist, hatte er ein absolutes Tief. Nicht nur wurde er nicht zum Kapitän gewählt, sondern gar nicht erst in die Mannschaft aufgenommen. Aber darüber habe ich nie mit ihm geredet und auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.

Stattdessen sage ich: »Das waren noch nicht alle Umschläge.«

Zusammen starren wir auf das verbliebene Häufchen zwischen uns.

»Kommt mir echt nicht richtig vor, den von Carrie aufzumachen, wenn sie nicht dabei ist«, wendet Ben ein. »Kann nicht jemand von euch ihn ihr mitbringen?«

Doris hebt abwehrend die Hände. »Mich brauchst du nicht zu fragen. Wir sind momentan nicht gerade BFFs. Außerdem wohnt Mac ja direkt neben ihr.«

»Ist ja gut, gib her.« Ich schnappe mir Carries Umschlag und stecke ihn in meine Hoodietasche.

Dann wandert mein Blick zurück in die Mitte. Zu dem Umschlag, der immer noch dort liegt.

»Den müssen wir aufmachen«, beschließe ich nach ein paar Sekunden.

»Ich weiß nicht«, wendet Ben ein. »Deswegen sind wir doch eigentlich nicht hier, oder?«

»Warum denn sonst?«, entgegne ich. »Wer soll ihn denn in Erinnerung behalten, wenn nicht wir?«

Kaum dass die Sprache auf ihn kommt, ist die Atmosphäre angespannt, als hätten uns all die unbeantworteten Fragen wieder eingeholt, die wir so dringend hinter uns lassen wollten.

Erwartungsvoll sehen Ben und ich Doris an. Das Zünglein an der Waage.

Die greift kurz entschlossen nach dem Umschlag und betrachtet den darauf gekrakelten Namen.

»Er hätte es so gewollt«, befindet sie und reicht mir den Umschlag.

»Woher willst du das denn wissen?«, entgegnet Ben. »Ich fänd’s jedenfalls nicht gut, wenn ihr meinen aufmachen wür…«

»Tja, er war aber nun mal anders als du«, fauche ich. Als mir klar wird, wie wütend ich ihn anstarre, gucke ich schnell weg. Keine Ahnung, wo das auf einmal herkam.

Ben schüttelt bloß genervt den Kopf und seufzt dann. »Ach, was soll’s«, murmelt er. »Dann mach eben.«

Ich reiße den Umschlag auf und drehe ihn um. Etwas rutscht heraus, prallt von meiner Hand ab und fällt zu Boden. Ben hebt es auf. Es ist eine Hundemarke, ein flaches Stück Aluminium in Form eines blauen Knochens. In die eine Seite ist eine Registriernummer geprägt, in die andere der Name Prince.

Doris atmet aus, stoßartig, rau. Es ist die erste wirkliche Gefühlsregung, die ich heute bei ihr erlebe.

»Prince«, flüstere ich. »Der Hund von den Andersons. Der ist ganz kurz, bevor wir die Zeitkapsel vergraben haben, gestorben. Er hat ihn so geliebt, wisst ihr noch?«

Ich hebe den Kopf, lächelnd über die Erinnerung, und merke, dass Ben angefangen hat zu weinen. Er dreht sich weg und schirmt sein Gesicht ab.

»Ben.« Ich will ihm die Hand auf die Schulter legen, halte jedoch kurz davor inne. »Alles okay?«

»Klar.« Er klingt niedergeschlagen, aber gleichzeitig aggressiv.

»Sicher?«, hake ich nach.

Doris steht abrupt auf und tritt einen Schritt zurück. »Heulen bringt jetzt auch nichts mehr, Ben. Passiert ist passiert. Er ist tot.«

»Mann, Doris!«, stoße ich entsetzt hervor.

»Wir sollten an seine Eltern denken«, sagt sie mit wuterstickter Stimme. »Daran, was sie durchmachen müssen. Wie das alles für sie sein muss.«

»Ja«, räume ich ein, »natürlich, aber –«

»Sie hat recht, Mac«, murmelt Ben und dreht sich zurück zu uns. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und atmet ein paarmal tief durch. »Hauptsache, es ist vorbei.«

»Genau. Und es wird nicht wieder passieren«, erklärt Doris mit fester Stimme. »Die Sache ist jetzt ein Jahr her, und die Polizei sagt, das war’s. Wer auch immer das getan hat, ist längst nicht mehr hier.«

»Ja«, bestätigt Ben, aber er klingt nicht überzeugt.

»Was war denn seine Prophezeiung?«, will Doris wissen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich immer noch den Umschlag in der Hand halte. Ich pfriemele den zusammengefalteten Zettel daraus hervor. Meine Finger zittern, und einen verstörenden Augenblick lang bin ich sicher, im nächsten Moment alles bis ins Detail niedergeschrieben zu finden, eine präzise Vorhersage seines grauenhaften Todes.

Doch als ich den Zettel auseinanderfalte, steht keine Prophezeiung darauf. Er hat überhaupt nichts geschrieben. Nur gezeichnet.

Schon mit dreizehn war sein Talent nicht zu übersehen. Ich denke daran, wie er nie die Hände stillhalten konnte, wie er in einem fort skizziert und gekritzelt hat.

Seine Zeichnung verschlägt mir den Atem. Sie zeigt uns fünf, als Kinder, wie wir lächelnd unserer Zukunft entgegenblicken. Nur ein einziges Wort steht darunter, in den sorgfältig gemalten Druckbuchstaben, die ich vermutlich aus dem Gedächtnis fälschen könnte. Es ist seine Signatur.

CONNOR.

ZWEI

Letzten Sommer ging ein Serienmörder in Camera Cove um.

Vier Tote gab es insgesamt. George Smith, vierundvierzig, gerade erst samt Frau und Kindern hergezogen. Maria Brindle, achtundzwanzig, junge Mutter und die Ehefrau eines allseits beliebten Stadtrats. Joanna »Joey« Standish, ein sechzehnjähriges Mädchen aus einem Trailerpark am Stadtrand. Der sogenannte »Katalogkiller« hat jedes Mal eine Visitenkarte hinterlassen: eine Seite aus einem alten Modekatalog. Alle waren gefesselt, vergiftet und in einer besonderen Pose arrangiert worden … mit einer Ausnahme.

Connor.

Siebzehn. Groß und gut aussehend. Stets ein Lächeln auf den Lippen. Ein echter Goldjunge, von dem Erwachsene gern behaupteten, ihm stehe ganz sicher »eine glänzende Zukunft« bevor.

Und einer meiner allerbesten Freunde von klein auf. Einer meiner wenigen Freunde, wenn ich ehrlich bin.

Das letzte Opfer, bevor der Katalogkiller spurlos verschwand.

Connor Williams.

Für immer fort.

***

Nachdem wir die Zeitkapsel geöffnet haben und alle Geheimnisse gelüftet sind, breitet sich angespanntes Schweigen zwischen uns aus. Wir haben einander nichts mehr zu sagen. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.

Ben steht auf und lächelt. Sein Weinkrampf scheint vergessen.

»Ich geh dann mal«, verkündet er. »Muss noch duschen vor der Party. Vielleicht sehen wir uns ja später.«

Bevor Doris oder ich antworten können, hebt er sein Fahrrad auf und schiebt es durchs Gestrüpp zurück Richtung Straße.

»Guck dir das an«, giftet Doris. »Der kann ja gar nicht schnell genug von uns wegkommen. Was für ein Weichei.«

»Er ist halt ein bisschen mitgenommen«, verteidige ich Ben überrascht. Ich bin zwar an Doris’ Sarkasmus gewöhnt, aber das hier ist selbst für ihre Verhältnisse hart.

»Ein bisschen mitgenommen? Wohl eher total fertig«, schnaubt sie. »Er hat einen öffentlichen Zusammenbruch nach dem anderen. Klar war das Ganze schrecklich, aber das war es für uns alle, und er spielt immer noch den Trauerkloß, egal, ob die Welt sich weiterdreht. Langsam könnte er sich doch wohl mal zusammenreißen, findest du nicht?«

»Ach komm, Doris. Die beiden standen sich nun mal nah.«

»Weiß ich. Aber das war bei uns anderen genauso und trotzdem heulen wir nicht mitten im Supermarkt Rotz und Wasser. Das macht nicht mal Connors Mutter.«

»Connors Mutter macht einfach gar nichts mehr«, kontere ich.

Ihre Miene wird etwas nachgiebiger. »Tja, wahrscheinlich war’s nicht anders zu erwarten. Aber es … es nervt mich halt, dass er die Sache so auswalzt. Ich will das Ganze einfach nur hinter mir lassen und möglichst schnell hier weg.«

»Jeder hat nun mal seine eigene Art, mit so was umzugehen.«

»Kann sein«, gesteht sie mir halbherzig zu. Dann fragt sie: »Was willst du denn?«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, Ben will anscheinend weiter in alten Wunden stochern und ich will alles vergessen. Wie hättest du’s gern?«

Ich überlege kurz. »Ich hätte gern, dass die Leute an Connor denken. Nicht bloß an seinen Tod, sondern daran, was er mit seinem Leben angefangen hätte. An seine Kunst.«

»Glaubst du, er wäre mal berühmt geworden?«

»Definitiv.« Ich greife nach Connors Zettel aus der Zeitkapsel. »Mir ist noch nie jemand mit so viel Talent begegnet.«

Einen Moment lang betrachten wir beide seine Zeichnung. Es ist kaum mehr als eine grobe Skizze, offensichtlich hastig hingeworfen, und trotzdem fängt sie unsere Persönlichkeiten besser ein als jedes Foto. Doris’ leicht erhobene Augenbraue, die subtil auf ihre skeptische Art hinweist, Bens lässige Sportlerhaltung, sein Mund, wie immer kurz davor loszulachen, Carries ungezwungene Coolness, ihre selbstbewusst verschränkten Arme und die eine Haarsträhne, die sich wie zufällig aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat und ihr übers Auge fällt. Ich, einen halben Schritt abseits, die Hände unbeholfen in den Taschen vergraben. Meine Schultern wirken etwas verkrampft, aber auf meinem gar nicht so übel aussehenden Gesicht liegt ein schüchternes Lächeln. Ich mag, wie er mich dargestellt hat.

Und schließlich Connor selbst, der vor uns anderen auf dem Boden hockt, immer mittendrin und zu allem bereit. Mit seinem dicken, welligen Haar, dem kantigen Kinn und den muskulösen Armen ist er eindeutig der Anführer, der Captain unserer Crew.

Wir sehen aus wie ein Trupp Teenie-Superhelden. So wie ich mir uns immer gern vorgestellt habe, als wir noch Freunde waren.

»Auf jeden Fall hatte er ein gutes Auge«, stimmt Doris mir zu.

Vorsichtig falte ich die Zeichnung wieder zusammen und packe sie in meinen Rucksack. Doris hilft mir, alles andere aufzusammeln und zurück in die Thermosflasche zu schieben.

Nur die Hundemarke drehe ich unschlüssig hin und her.

»Vielleicht bringe ich die einfach Mr Anderson zurück.« Ich stecke sie in die Hosentasche und wir machen uns zusammen auf den Rückweg. »Der freut sich bestimmt, wenn er sie wiederbekommt.«

Doris schüttelt sich. »Das darfst du gern alleine machen. Seit seine Frau gestorben ist, ist es mir auf der Farm irgendwie zu still und traurig. Ehrlich gesagt ist er mir ein bisschen unheimlich.«

»Er ist nicht unheimlich«, entgegne ich. »Bloß einsam.«

»Wenn du meinst.«

Der Pfad schlängelt sich ein Stück bergauf, ein schmales Band aus festgestampftem Schotter, hin und wieder durchsetzt von Granitbrocken. Rechts und links erhebt sich ein Dickicht aus Wacholder, Lorbeer und Wildrosen, und man muss aufpassen, dass man sich keine Kratzer holt. Wir erreichen eine niedrige Absperrung: ein rostiges, an zwei dicke Holzpfosten geschraubtes Stück Wellblech. Das hintere Ende der Anderson Lane, eine Sackgasse mit sechs Häusern.

Gleich neben uns liegt die Farm der Andersons, ein schlichtes weißes Bauernhaus mit einer Scheune, ein paar weiteren Nebengebäuden und einem fantastischen Blick auf die Küste und die Stadt. Die anderen fünf Häuser sind neuer und wurden Anfang der Neunziger gebaut, nachdem Joe und Margaret Anderson beschlossen hatten, mehrere Grundstücke von der Farm abzuteilen und zu Geld zu machen. Meine Eltern waren die ersten, die eins davon gekauft haben, noch vor meiner Geburt, und als ich in die Grundschule kam, wurde das Haus von Carries Eltern fertig. Im Jahr darauf zog Connors Familie gegenüber ein und bis zum Ende der zweiten Klasse stießen auch Ben und Doris dazu.

Was für ein glücklicher Zufall, dass in fast jedem Haus in der Straße ein Kind in meinem Alter wohnte, und da wir so weit weg vom Rest der Stadt waren, wurden wir automatisch Freunde. Damals waren wir natürlich fest davon überzeugt, dass wir auch dann zueinandergefunden hätten, wenn wir über das ganze County verstreut gewesen wären. Erst viel später wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Freundschaft ist etwas vollkommen Willkürliches, und es gibt keinerlei Garantie dafür, dass sie hält, selbst wenn man sich ein Leben lang kennt.

An der Einfahrt zu Doris’ Haus bleiben wir stehen.

»Gehst du zur Party?«, frage ich.

Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Hast du sie noch alle? Ich wüsste nichts, worauf ich weniger Lust hätte.«

»Und was hast du dann vor?«

»Keine Ahnung. Lesen. Fotos auf der Cornell-Website anschmachten. Beten, dass es dieses Jahr früher September wird als sonst. Wieso? Willst du etwa hin?«

»Glaub nicht«, antworte ich. »Ich bin nicht so richtig in Partystimmung. Außerdem fängt morgen mein neuer Job an.«

»Ach, stimmt ja«, sagt sie, »in der Bücherei. Wenn das mal kein actiongeladener Sommer wird.«

Ich zucke mit den Schultern. »Hauptsache, Geld verdienen.«

Sie öffnet ihre Hand, und ich sehe, dass sie noch immer die Herzchenkette darin hält. Dann stößt sie einen tiefen Seufzer aus und all ihr Sarkasmus und ihr toughes Gehabe sind wie weggeblasen. Jetzt wirkt sie nur noch traurig und müde.

»Wie saublöd wir waren«, murmelt sie. »Jeder, der behauptet, die Highschoolzeit wäre die beste Zeit im Leben, ist definitiv nicht in Camera Cove aufgewachsen. Und da rechne ich den Katalogkiller noch nicht mal mit ein.«

Plötzlich zieht sie mich in eine ungelenke Umarmung. Ich drücke sie zurück und tätschele ihr die Schulter. Als wir uns wieder voneinander lösen, sehe ich Tränen in ihren Augen.

»Das letzte Jahr war echt abgefuckt, oder?« Sie wischt sich über die Augen. Einen Moment lang kommt es mir vor, als wollte sie noch etwas hinzufügen, aber dann dreht sie sich nur blinzelnd beiseite und kurz darauf ist ihre Miene wieder so abweisend wie zuvor. »Glückwunsch zum Schulabschluss, Mac«, sagt sie. »Man sieht sich.« Sie schiebt ihre Tasche auf der Schulter zurecht und hastet die Einfahrt hoch zum Haus.

Wenn Connor noch am Leben wäre, hätte sich die Frage mit der Party gar nicht gestellt. Wir wären alle zusammen hingegangen. Ben hätte was zu trinken organisiert. Doris hätte zu jedem der Gäste einen gemeinen, aber geistreichen Kommentar auf Lager gehabt. Carrie hätte lustige Geschichten aus unserer Kindheit rausgekramt. Connor hätte wie immer im Mittelpunkt gestanden und eine kitschige und irgendwie trotzdem perfekte Ansprache über unsere Clique gehalten, nach der wir überzeugt gewesen wären, dass wir für den Rest unseres Lebens Freunde bleiben würden. Und ich wäre einfach glücklich gewesen, wie immer, wenn wir fünf zusammen waren.

Aber Connor ist nicht mehr da, um uns beisammenzuhalten. Daran lässt sich nichts ändern.

Ich gehe über die Straße, vorbei an Bens altem Haus, das trotz des verblassten »Zu verkaufen«-Schilds am Briefkasten noch immer leer steht. Danach kommt Carries Haus und zuletzt unseres. Meine Eltern sitzen im Wohnzimmer und schauen einen Film. Ich rufe ihnen zu, dass ich wieder da bin, und gehe direkt weiter nach oben.

Mein Zimmer sieht mal wieder aus wie ein Katastrophengebiet. Das Bett ist nicht einfach nur ungemacht – Decken, Kissen und sogar das Laken sind von der Matratze auf den Boden gerutscht, wo schon überall Häufchen aus Kleidern, Büchern und Schulsachen liegen. Mein Schreibtisch ist unter dem Kram, der sich im Laufe des Schuljahrs darauf angesammelt hat, kaum noch zu erkennen.

Früher haben meine Eltern mich ständig zum Aufräumen ermahnt, aber nach den Morden haben sie es irgendwann gelassen. Keine Ahnung, ob sie beschlossen haben, weniger an mir rumzunörgeln, oder ob es sie einfach nicht mehr interessiert. Mittlerweile ist das Chaos hier oben so schlimm wie nie, aber das ist mir egal. Was macht ein bisschen Durcheinander, wenn sowieso das ganze Leben entgleist ist?

Connor, der sein Zimmer stets so zwanghaft sauber und ordentlich gehalten hat, wie meins chaotisch ist, hat mich andauernd damit aufgezogen.

»Ich dachte, bei euch Schwulen muss immer alles picobello sein«, hat er gesagt und mich dabei freundschaftlich auf den Arm geboxt, um mir zu zeigen, dass er es nicht böse meinte. »Was ist denn bei dir falsch gelaufen?«

Wenn Connor einen Fehler gehabt hat, dann diesen. Seine Neigung dazu, Leute abzustempeln und in Schubladen zu stecken.

Trotzdem konnte man ihm nie wirklich böse deswegen sein, weil er uns schließlich genau so mochte, wie wir waren. Seine Gang, jeder in seiner altbewährten Rolle. Ich war der schüchterne Schwule. Doris der zickige Nerd. Ben der sportliche Sidekick. Und Carrie die Coole.

Manchmal glaube ich, er hat die Welt zu sehr in Schwarz-Weiß betrachtet, so als wären wir bloß lebendige Versionen seiner Zeichnungen. Aber andererseits fand ich es auch ganz tröstlich, dass ich in Connors Augen einen festen Platz darin hatte.

Trotzdem war – und bin – ich natürlich vielschichtiger.

Glaube ich zumindest. Vor letztem Sommer, vor den Morden, hatte ich gerade angefangen, mir vorsichtig ein Leben außerhalb von Camera Cove auszumalen. Zwar hatte ich noch keinen festen Plan, aber immerhin konnte ich mir vorstellen, wie ich am College anfing, interessante Vorlesungen besuchte, Jungs kennenlernte, vielleicht sogar Dates hatte. Klar, ich war weder so begabt wie Connor noch so klug wie Doris, aber trotzdem zuversichtlich, dass sich schon irgendwas ergeben und eine Zukunft für mich auftun würde.

Und dann war mit einem Mal die Kacke am Dampfen und meine Träume wurden fürs Erste von der entsetzlichen Realität verdrängt. Das Problem ist nur: Selbst jetzt, ein Jahr später, ist meine Motivation noch nicht zurückgekehrt. Wie könnte ich hier einfach weggehen, wo noch so vieles im Unklaren ist?

Ich verbanne die alte Thermosflasche aufs oberste Regalbrett in meinem begehbaren Kleiderschrank, hinter einen Stapel Pullover und ein paar zerfledderte Taschenbücher. Dabei segelt eine leere Chipstüte zu Boden. Mit einem Tritt befördere ich sie hinter meine überquellende Wäschetruhe und knalle schnell die Tür wieder zu.

Dann hole ich Connors Zeichnung aus dem Rucksack, falte sie auseinander und suche nach einem guten Platz dafür. Die Deko in meinem Zimmer ist genauso wüst wie alles andere. Jeder Zentimeter Wand ist bedeckt: Bandposter, aus Zeitschriften ausgerissene Bilder von schicken Häusern, teuren Uhren oder heißen Typen mit nacktem Oberkörper, Karten von Orten, an die ich gerne mal reisen würde, alte Fotos und jede Menge Zeichnungen von Connor.

In den letzten Jahren vor seinem Tod hat Connor das Zeichnen immer ernster genommen und hatte sogar Unterricht bei einer Privatlehrerin. Aber angefangen hat er damit, Superhelden abzumalen, und viele davon zieren noch heute meine Wände: Batman, Rogue und der Silver Surfer in selbstbewussten, dramatischen Posen, mit Filzstift, Buntstift oder sogar Kuli gezeichnet. Und egal, wie gut Connor irgendwann den seriöseren Kram draufhatte, seine Comics waren ihm weiterhin heilig.

Ich hefte Connors Gruppenbild direkt über meinem Schreibtisch an die Wand, fege einen Haufen Klamotten von meinem Drehstuhl und setze mich darauf. Dann starre ich quer durchs Zimmer auf mein mit Comics vollgestopftes Bücherregal. Allein auf dem obersten Brett ist noch ein bisschen Platz, denn dort liegt nur eine einzige Sache: eine Plastikeinkaufstüte – die ich mich seit dem Tag, an dem ich sie bekommen habe, nicht zu öffnen getraut habe. Dem Tag, an dem Connor gestorben ist.

Connor und ich mögen ziemlich ungleiche Freunde gewesen sein, aber unsere Comicbesessenheit hat uns immer verbunden. Schon als Kinder haben wir regelmäßig unser letztes Taschengeld für die Hefte ausgegeben, sie einander ausgeliehen und uns stundenlang darüber unterhalten, während Ben, Carrie und Doris nur die Augen verdrehten.

Mit neun kam Connor dann auf die geniale Idee, wir sollten unsere Käufe strategisch untereinander aufteilen. Also besorgte Connor von da an die neusten Ausgaben von Spider-Man, Iron Man und X-Men, während ich für Superman, Batman und die Justice League zuständig war. Und dann tauschten wir, jede Woche. Bis zu seinem Tod.

In der Tüte ist der letzte Satz Comics, den Connor gekauft hat. Die er nach dem Lesen sorgfältig in alphabetischer Reihenfolge eingepackt und sie mir über die Straße gebracht hat. Genau wie seit Jahren. Da niemand zu Hause war, hat er sie von außen an den Türknauf gehängt. Meine Mutter hat die Tüte gefunden und auf meinen Schreibtisch gelegt, aber dann vergessen, mir Bescheid zu sagen.

Am selben Tag fiel Connor dem Katalogkiller zum Opfer.

Die Tüte fand ich erst, nachdem seine Leiche entdeckt worden und meine komplette Welt aus den Fugen geraten war. Damals brachte ich es nicht fertig, sie zu öffnen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Es kommt mir einfach falsch vor. Als würde ich Connor dadurch endgültig hinter mir lassen.

Ich stehe auf, gehe zum Regal und nehme die Tüte herunter, streiche mit dem Zeigefinger über die Kanten der dünnen Bücher.

Diese Hefte hat Connor kurz vor seinem Tod noch in den Händen gehalten.

Die Tüte umklammert, trete ich ans Fenster und gucke rüber auf die andere Straßenseite. In Connors Haus ist es dunkel, nur über der Seitentür, dort, wo es in die Küche geht, brennt Licht. Das rechte der beiden Mansardenfenster im oberen Stock liegt meinem Zimmer direkt gegenüber. Connors Fenster. Wie oft haben wir als Kinder hier gesessen und einander komplizierte Taschenlampensignale gegeben.

Die Tüte wiegt schwer in meinen Händen. Ich setze mich zurück an meinen Schreibtisch und stelle überrascht fest, dass mein Kinn zittert und meine Augen feucht geworden sind.

Connor lebt nicht mehr. Das alles hat keinerlei Bedeutung mehr für ihn.

Ich wische mir über die Augen, hole tief Luft und öffne die Tüte. Dann ziehe ich den Comicstapel heraus. Die Hefte sind wie neu, obwohl sie schon ein Jahr alt sind, die Geschichten auf dem glänzenden Papier längst Schnee von gestern.

Ich schlage den obersten Band auf. Die Avengers, Connors Lieblingsreihe. Mir stockt der Atem, als ich einen losen, säuberlich zusammengefalteten Zettel darin entdecke.

Mit zitternder Hand klappe ich ihn auf. Eine Nachricht, in Connors sorgfältigen Großbuchstaben.

MAC, ICH BRAUCHE DEINE HILFE, KÖNNEN WIR UNS HEUTE NACHT TREFFEN? ICH HAB WAS RAUSGEFUNDEN – WAS WICHTIGES. KOMM UM MITTERNACHT ZUM STRAND. UND BEHALTE DAS FÜR DICH!

DREI

Zitternd starre ich auf die Nachricht. Mein Magen verkrampft sich, und ich krümme mich zusammen, bis ich auf allen vieren am Boden kauere.

Zuerst fürchte ich, mich übergeben zu müssen, aber irgendwann legt sich die Übelkeit wieder, das Klingeln in meinen Ohren hört auf, und ich schaffe es, mich so weit aufzurichten, dass ich mich mit dem Rücken ans Bett lehnen kann.

Neben mir liegt der Zettel. Ein kleines, unwichtig aussehendes Stück Papier. Und gleichzeitig so viel mehr. Eine Botschaft aus dem Jenseits, mit einem Jahr Verspätung.

Wofür hätte Connor meine Hilfe gebraucht? Was hatte er Wichtiges herausgefunden?

Wenn ich diese Nachricht, die er mir an seinem Todestag hinterlassen hat, nicht übersehen hätte … wäre dann jetzt alles anders? Hätte ich es verhindern können?

Leise fluchend vergrabe ich das Gesicht in den Händen. Ich muss hier weg und mit irgendwem reden. Irgendwem, der Connor gekannt hat und der mir jetzt raten kann, was ich machen soll.

Zu Doris sind es bloß ein paar Meter die Straße runter, aber ihren Sarkasmus ertrage ich jetzt einfach nicht. Carrie würde die Sache vermutlich ernster nehmen, aber die ist so gut wie nie zu Hause. Ich überlege, ihr zu schreiben, aber wahrscheinlich ist sie gerade mit ihrem Freund unterwegs, und ich will nicht, dass er hiervon etwas mitkriegt. Bleibt noch Ben. Ich muss mit Ben reden.

Ich renne zurück nach unten und stecke den Kopf ins Wohnzimmer.

»Kann ich kurz das Auto nehmen?« Ich bemühe mich, einigermaßen normal zu wirken, und kann nur hoffen, dass man mir meinen inneren Aufruhr nicht anhört.

Meine Eltern drehen sich auf der Couch zu mir um. Ich merke ihnen ihre Sorge an, obwohl sie versuchen, sie zu vertuschen – nach allem, was passiert ist, ist das ihre Standardreaktion auf Unvorhergesehenes.

Das kann man ihnen wohl kaum verübeln. Letztes Jahr gab es eine Ausgangssperre, was Mom und Dad, die mich natürlich vor allem Übel behüten wollten, nur recht war. Aber die Polizei hat sämtliche Beschränkungen schon vor Monaten wieder aufgehoben und uns immer wieder gepredigt, die Gefahr sei vorbei. Worauf sich allerdings keiner so recht verlassen will, schon gar nicht unsere Eltern.

»Wo willst du denn hin, Schatz?«, fragt meine Mutter.

»Abschlussparty am Strand«, antworte ich. »Ich dachte, ich lass mich da mal blicken.«

»Am Strand«, wiederholt mein Vater, und ich weiß, was ihm durch den Kopf geht – dasselbe wie mir jeden Tag seit letztem Jahr.

»Keine Sorge«, beruhige ich die beiden. »Die Polizei will den ganzen Abend jemanden auf dem Parkplatz stationieren. Da kann nichts schiefgehen.«

»Schon gut.« Meine Mom steht auf und nimmt mich in den Arm. »Du hast dir ein bisschen Spaß verdient. Ihr alle.«

»Danke. Ich bleibe auch nicht lange.«

»Denk dran, dass du morgen arbeiten musst!«, ruft mein Dad mir hinterher.

***

Tatsächlich steht an der Einfahrt zum Strandparkplatz ein Streifenwagen. Im Vorbeifahren erkenne ich Patricia Parnatsky hinter dem Steuer. Die Polizeichefin wirkt permanent erschöpft, seit es ihr nicht gelungen ist, den Mörder zu fassen. Zu dieser Parkplatzwache hätte sie jeden ihrer Officer abstellen können, aber ich glaube, Trish fühlt sich persönlich verantwortlich für das, was passiert ist. Und das, was noch passieren könnte, sollte der Killer wiederauftauchen.

Vor letztem Sommer wäre jede Party sofort gelaufen gewesen, wenn eine Polizistin aufgetaucht wäre. Alle hätten sich ihre Jacken und Rucksäcke geschnappt, den Alkohol versteckt, sich in ihre Autos geflüchtet und einen neuen Ort zum Feiern gesucht. Jetzt dagegen wird der Streifenwagen einfach ignoriert, und auch wenn niemand es laut sagen würde, sind die meisten wahrscheinlich froh über die Sicherheit, die er ausstrahlt. Über eines herrscht in unserer Stadt mittlerweile stillschweigende Einigkeit: Es gibt Schlimmeres auf der Welt als ein paar betrunkene Teenager.

Sosehr wir auch tun, als wäre wieder alles beim Alten – insgeheim wissen wir, dass das nicht stimmt.

Unwillkürlich taste ich nach dem winzig klein zusammengefalteten Zettel in meiner Tasche. Ich könnte einfach über den Parkplatz marschieren und ihn Parnatsky zeigen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Was, wenn sie mir meine Angst bestätigt – dass Connor noch zu retten gewesen wäre, wenn ich die Nachricht nur rechtzeitig gelesen hätte? Das würde ich nicht aushalten. Nicht heute. Ich weiß, früher oder später muss ich wohl einem Erwachsenen davon erzählen, aber auf ein, zwei Tage kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Also halte ich auf die Strandpromenade zu und nehme die erste Treppe runter zum Wasser. Noch ist der Abend hell und klar, und ich sehe Grüppchen von Leuten, die über den Strand in Richtung der Felsen ganz am Ende gehen.

In Richtung der Höhlen.

Mir läuft ein Schauder über den Rücken, als mir plötzlich klar wird, wo die Party stattfindet, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Auf gar keinen Fall betrete ich diese Höhlen. Nie wieder.

»Mac!«, ertönt eine schrille Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehe, sehe ich Anna Silver die Treppe runterhüpfen. Unsere Jahrgangsbeste, Abschlussballkönigin, Kapitänin des Volleyballteams und Schulsprecherin in einer Person.

»Hey, herzlichen Glückwunsch!« Sie fällt mir um den Hals. »Ist das zu fassen? Wir haben es geschafft!«

Ich lächele, überrascht und auch ein bisschen geschmeichelt, dass sie sich so offensichtlich freut, mich zu sehen. »Ja«, antworte ich, »wer hätte das gedacht? Tolle Rede übrigens.«

Sie erwidert mein Lächeln bescheiden, reine Routine, nachdem sie vermutlich schon den ganzen Tag mit Komplimenten überhäuft wurde. »Schön, dass du da bist«, sagt sie. »Eigentlich kommst du doch nie zu Partys.«

»Hatte ich auch erst nicht vor«, erwidere ich, »aber ich bin gerade einfach ein bisschen rumgefahren und dachte, dann kann ich ja auch mal kurz anhalten und gucken, was hier so los ist.« Plötzlich nervös, drehe ich mich zurück zum Parkplatz. Ich muss dringend mit Ben reden, aber jetzt, da ich weiß, dass ich dafür in die Höhlen muss, gerät meine Entschlossenheit ins Wanken. Vielleicht sollte ich doch lieber bis morgen warten. »Ich glaube, ich mache mich dann auch langsam wieder auf den Heimweg.«

»Kommt gar nicht infrage!«, protestiert sie. »Du hast heute deinen Abschluss gemacht, Mac. Das muss gefeiert werden!«

Sie schnappt sich meine Hand. Okay, so leicht komme ich wohl nicht davon. Anna zerrt mich mit zu ihrem Freund Jeremy, der gerade eine Kühlbox die Treppe runterschleppt.

»Hey, Jeremy«, begrüße ich ihn, woraufhin er grunzt und mit dem Kinn ruckt. Jeremy ist kein Mann vieler Worte.

»Wo sind denn alle?« Anna guckt sich suchend um.

»Ich glaube, in der Haupthöhle«, antworte ich bemüht ruhig.

Anna reißt die Augen auf. »Was? Ich dachte, wir machen ein Lagerfeuer am Strand! Von der Höhle hat keiner was gesagt!«

»Die Party ist immer in der Höhle«, schaltet Jeremy sich ein.

»Letztes Jahr nicht«, widerspricht sie.

»Letztes Jahr gab es ja auch gar keine«, merke ich an.

»Das ist doch wohl total daneben«, schimpft sie. »Richtig geschmacklos. So was kann man doch nicht machen, nachdem … na ja, ihr wisst schon.«

»Nachdem Connor gestorben ist«, sage ich. »Du kannst seinen Namen ruhig aussprechen. Er ist ja nicht Voldemort.«

»Ich hab echt kein gutes Gefühl dabei«, übergeht Anna meinen Kommentar. »Es ist einfach nur unheimlich in diesen Höhlen. Da spielen sich total schlimme Sachen ab.«

»Das ist doch alles Tratsch, Anna«, versucht Jeremy, sie zu beschwichtigen.

»Von wegen«, beharrt sie. »Du hast doch selbst auch schon gehört, dass Junior Merlin da seine Drogen lagert.«

»Junior Merlin ist aber heute Abend nicht hier«, entgegnet Jeremy. »Der taucht bestimmt nicht mit einem Sack voll Gras auf einer Highschoolparty auf, während eine Polizistin oben auf dem Parkplatz Wache schiebt.«

»Du weißt ganz genau, dass ich nicht von Gras rede.« Anna wendet sich mir zu. »Stimmt es eigentlich, dass Carrie was mit seinem Bruder hat?«

Ich zucke mit den Schultern. »Glaub schon.«

»Die spinnt doch.« Sie schüttelt sich angewidert. »Flo Merlin. Was findet sie denn an dem?«

Wieder hebe ich die Schultern. »Wir haben kaum noch miteinander zu tun.«

»Wollen wir dann mal los oder was?« Jeremy scheint langsam die Geduld zu verlieren. Er stellt die Kühlbox im Sand ab und streckt sich. Ich versuche, nicht auf seinen Sixpack zu schielen, der kurz zwischen Shorts und T-Shirt hervorblitzt. Gar nicht so leicht.

»Wie stehst du denn dazu, Mac?«, will Anna wissen. »Du warst immerhin mit ihm befreundet. Findest du’s nicht auch pietätlos, da zu feiern?«

»Er war doch mit allen befreundet«, erwidere ich. Ich könnte schwören, den Zettel in meiner Tasche pulsieren zu spüren.

»Ja, aber du hast direkt neben ihm gewohnt. Ihr zwei kanntet euch ewig.«

Ich will nicht zugeben, dass mir diese Höhlen eine Heidenangst einjagen, und zucke mit den Schultern. Schließlich habe ich heute schon genug »Armes Schwein«-Blicke von Ben und Doris kassiert. »Keine Ahnung. Ein Lagerfeuer in der Höhle ist jetzt auch nicht groß anders als ein Lagerfeuer am Strand.«

»Okay, wenn selbst du das so siehst. Gehen wir.«

Und im nächsten Moment schlendere ich mit den beiden den Strand entlang und höre Annas Geplapper zu.

»Jeremy und ich wollen diesen Sommer noch so gut wie möglich auskosten«, erklärt sie. »Stimmt’s, Babe?«

Jeremy brummt irgendwas und hält kurz an, um die Kühlbox auf seiner Schulter zurechtzurücken.

Anna pikst ihn spielerisch in die Seite. »Jeremy hat ein Stipendium für die Northeastern und ich fürs Amherst. Wird sicher nicht einfach, ab dem Herbst auf unterschiedliche Unis zu gehen, aber andererseits sind es ja nur ein paar Stunden mit dem Auto. Da können wir uns immer noch an den Wochenenden treffen.«

»Ach, du gehst aufs Amherst?«, frage ich. »Ich auch.«

Sie bleibt mit offenem Mund stehen. »Ist nicht wahr! Wie toll ist das denn? Und ich dachte schon, ich kenne da keinen!«

»Ja, echt super«, stimme ich zu. »Wirkt gleich viel weniger einschüchternd.«

»Da müssen wir uns auf jeden Fall zusammentun. Was wählst du denn als Hauptfach?«

»Weiß ich noch gar nicht genau. Man muss sich ja erst nach dem zweiten Studienjahr festlegen. Vielleicht Literaturwissenschaft.«

»Cool. Ich nehme Chemie und Bio. Soll da beides richtig gut sein und ich konnte mich einfach nicht entscheiden.« Sie klingt, als wollte sie sich dafür entschuldigen. »Und schadet sicher nicht, wenn ich mich nach dem Bachelor für Medizin einschreiben will.«

»Wow, das ist ja mal ein Plan«, kommentiere ich. »Ich bin schon froh, dass ich meine Bewerbung rechtzeitig fertig gekriegt hab.« Dass ich mir nicht mal hundertprozentig sicher bin, ob ich überhaupt studieren will, behalte ich lieber für mich. Wer könnte denn auch bitte von uns erwarten, dass wir alles hinter uns lassen und woanders ein neues Leben anfangen, als wäre nichts passiert?

Wir erreichen das Ende des Strands. Die Granitfelsen dort sind von einem tiefen Höhlensystem durchzogen, für das Camera Cove berühmt ist – der perfekte Stoff für Abenteuergeschichten über Schatzsucher und Rumschmuggler. Einen knappen Meter über dem Sand gähnt eine große Öffnung, aus der schwacher Feuerschein flackert. Das hier ist die einzige Möglichkeit, vom Land aus in die Höhlen zu gelangen. Die restlichen Zugänge liegen weiter hinten, wo die Klippe steil ins Wasser abfällt.

Die Legenden über die Höhlen reichen weit zurück. Angeblich haben schon vor Hunderten von Jahren Piraten dort ihre Beute versteckt. Für den Rumschmuggel während der Prohibition in den Zwanzigern gibt es schon handfestere Beweise. Damals wurde der Alkohol mithilfe von Ruderbooten aus den Höhlen auf Segelschiffe geschafft, die ihn dann entlang der Küste auslieferten.

Aber es gibt auch neuere Geschichten über die Höhlen und auf eine davon hat Anna gerade angespielt. Es heißt, Junior Merlin, der berüchtigtste Dealer der Stadt, würde dort im großen Stil Drogen lagern, sie mitten in der Nacht herbringen und dann mit dem Boot verteilen, ganz ähnlich wie vor hundert Jahren die Rumschmuggler.

Aber Jeremy hat recht – so blöd, sich während einer Highschoolparty hier rumzutreiben, wird Merlin nicht sein. Wenn er dadrin wirklich irgendwo Drogen bunkert, dann wahrscheinlich ein ganzes Stück weiter die Küste runter und nicht direkt in der Hauptkammer.

Das rote Glühen lässt den Höhleneingang wie das Tor zur Hölle wirken. Alles in mir sträubt sich dagegen, sie zu betreten, und das hat absolut nichts mit irgendwelchen mutmaßlichen Drogenvorräten zu tun.

»Ich find’s einfach komplett unnötig«, ereifert Anna sich weiter. »Wer ist denn auf diese bescheuerte Idee gekommen?«

»Ach komm, du Angsthase«, zieht Jeremy sie auf, »dadrin sind mindestens hundert Leute.«

Anna funkelt ihn böse an, stakst dann aber um ihn herum und die grob in den Fels geschlagenen Stufen hoch. Jeremy folgt ihr und die beiden verschwinden im Tunnel.

Ich könnte einfach wieder gehen. Niemand würde mich deswegen schräg anmachen oder es auch nur bemerken. Der Strand ist mittlerweile menschenleer, nichts als mondbeschienener Sand. Ich lasse den Blick über die Dünen schweifen; das Gras darauf wiegt sich im Wind und die Täler dazwischen liegen in tiefem Schatten. Meine Nackenhärchen stellen sich auf. Natürlich weiß ich, dass niemand dort ist, aber mit einem Mal erscheint mir die Vorstellung, ganz allein wieder zurückzulaufen, schlimmer als die, die Höhle zu betreten.

Wieder taste ich nach dem zusammengefalteten Zettel in meiner Tasche. Wenn ich heute noch mit jemandem darüber reden will, muss ich zu Ben.

Zögernd klettere ich die Stufen hoch zum Höhleneingang.

VIER

Im Tunnel hallen mir geisterhaft körperlose Schreie und Gelächter entgegen. Der Durchgang ist schmal, aber immerhin hoch genug, dass ich nur leicht den Kopf einziehen muss.

Ich drehe mich seitwärts, als mir zwei aufgeregt tuschelnde Zehntklässlerinnen entgegenkommen.

»Wie krass, dass er hier wirklich gestorben ist!«, flüstert eine von ihnen, als sie sich an mir vorbei Richtung Ausgang drängeln.

Ich bleibe stehen, unschlüssig, ob ich weitergehen soll. Der Lichtschein zuckt und flackert in warmem Rotorange. Verirrte Rauchschwaden wabern an mir vorbei. Sie tragen den Geruch von Tabak und Marihuana und die leicht scharfe Note von brennendem Treibholz und sonstigem Strandgut mit sich.

Ich könnte einfach umkehren, zurück an die frische Luft der klaren Sommernacht. Könnte mich den beiden Mädchen auf dem Weg zum Parkplatz anschließen, damit ich nicht allein am Strand bin. Könnte die Schuhe ausziehen und mit den Füßen im Wasser ein Weilchen zu den Sternen hochsehen. Könnte mir eine Flasche suchen, Connors Nachricht hineinstecken und sie ins Meer werfen. Dann wäre sie nicht mehr mein Problem.

Aber ich gehe weiter.

Der Tunnel endet in der Hauptkammer, deren Ausmaße mich schier überwältigen. Sie ist locker halb so groß wie unsere Schulturnhalle und stellenweise genauso hoch. In der Mitte lodert das Lagerfeuer. Man sollte meinen, dass es in einem geschlossenen Raum wie diesem hier qualmen würde wie verrückt, aber das tut es nicht. Stattdessen zwirbelt sich der Rauch zu einer dünnen Säule zusammen und zieht ab in irgendeine verborgene Deckenkammer.

In einer Ecke hat jemand einen Lautsprecher aufgestellt und die fetten Bässe bringen alles zum Vibrieren. Die Musik vermischt sich mit einer Kakofonie aus Menschengeräuschen: Lachen, Kreischen, alkoholbefeuerte Diskussionen und gemurmelte Gespräche.

Und unter alldem liegt ein tiefes, rhythmisches Grollen, ein stetiges Auf und Ab wie ein Herzschlag. Das Meer sucht sich seinen Weg durch das Höhlenlabyrinth unter unseren Füßen. Am liebsten würde ich gar nicht hinsehen, aber mein Blick wandert unwillkürlich zu der niedrigen Öffnung in der rückwärtigen Wand der Kammer. Es ist wohl kaum überraschend, dass alle einen weiten Bogen darum schlagen; niemand wagt sich in die Nähe.

Eine Weile bleibe ich am Ende des Tunnels stehen und beobachte einfach nur das Treiben. Die meisten Leute hier kenne ich schon mein Leben lang und trotzdem habe ich mich in ihrer Gesellschaft nie besonders wohlgefühlt. Wieder brodeln meine alten Ängste in mir hoch. Und obwohl keiner in meine Richtung guckt, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich abschätzig aus dem Augenwinkel mustern und sich fragen, was ich eigentlich hier will. Dass sie gemeine Sachen über mich denken.

Wenn Connor hier wäre, würden mich jetzt nicht solche Gedanken plagen, dann wäre ich entspannter. Seine Anwesenheit – ob auf Partys oder auf dem Schulflur – hat auf mich immer beruhigend gewirkt und mir das Gefühl gegeben, auch in der Welt jenseits der Anderson Lane zu Hause zu sein. Ein Gefühl, das ich seit seinem Tod nicht mehr verspürt habe.

Ob ein so zusammengewürfelter Haufen wie wir fünf sich ohne Connor überhaupt jemals angefreundet hätte? Danach zu urteilen, wie schnell wir uns auseinandergelebt haben, wage ich, es zu bezweifeln.

Connor kannte die ganze Schule, die ganze Stadt. War mit allen gut befreundet. In einer Ecke entdecke ich Garnet Fuller, der mit Connor im Debattierclub war, zusammen mit seiner Freundin Meryl Brandt, mit der Connor in der Neunten oder Zehnten mal kurz was hatte. Als ich mich umgucke, wird mir klar, dass das auf ziemlich viele der Mädchen hier zutrifft.

Mit Gina Kay, die gerade den Rest von ihrem leuchtend roten Mixgetränk runterkippt, hatte er eine lockere On-off-Geschichte.

Flossie McKenna, die im Schneidersitz am Feuer hockt und sich mit Cliff Starling einen Joint teilt, hat ihren Freund mit ihm betrogen.

Und dann ist da noch Taryn Watts, die gerade mit Anna und ein paar anderen Mädchen die Köpfe zusammensteckt. Taryn und Connor waren mehrere Monate zusammen, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod. Wenn Connor je so was wie eine echte Beziehung hatte, dann wohl mit ihr.

Als er sie abserviert hat, war sie stinksauer und hat ihm eine richtige Szene gemacht. Aber auf seiner Beerdigung war sie fix und fertig, das weiß ich noch genau.