Radio Silent - Melde dich, wenn du das hörst - Tom Ryan - E-Book

Radio Silent - Melde dich, wenn du das hörst E-Book

Tom Ryan

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Beschreibung

Ein packender Thriller über einen ungelösten Vermisstenfall, der Protagonistin Dee in Atem hält Ich bin die Sucherin, und das ist Radio Silent. Hört zu. Helft mit. Dee weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand plötzlich verschwindet. Sie war erst sieben, als ihre beste Freundin Sibby vor ihren Augen entführt wurde. Deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Vermisstenfälle zu lösen. Nachts, wenn andere schlafen, nimmt sie heimlich und anonym einen Podcast auf. Radio Silent sammelt Hinweise aus der Bevölkerung und versucht so, vermisste Menschen aufzuspüren. Doch dann verschwindet wieder ein kleines Mädchen in der Nachbarschaft, und schnell wird klar, dass es eine Verbindung gibt zu Sibbys Entführung vor zehn Jahren. Dee will mit der Sache erst nichts zu tun haben, aber bald muss sie sich entscheiden: Wird sie sich der Vergangenheit stellen, selbst wenn sie sich dafür in Gefahr begibt?

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Seitenzahl: 436

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Für meine Eltern, in Liebe

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

DANKSAGUNG

LESEPROBE

EINS

ZWEI

1.

Transkript von RADIO SILENT

Episode 41

Ein siebzehnjähriger Junge verschwindet. Seine Familie und Freunde haben keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Er hinterlässt keine Spuren, keine Hinweise.

Oder doch?

In Nordamerika werden jedes Jahr fast eine Million Menschen als vermisst gemeldet. Aber wenn wir aufmerksam sind und alle zusammenarbeiten, gelingt es uns vielleicht, ein paar von ihnen zurück nach Hause zu holen.

Ich bin die Sucherin, und ihr hört Radio Silent.

2.

Zehn Jahre zuvor

Dee hat das Gefühl, als würde sie schon seit einer Ewigkeit bei Sibby vor dem Haus warten. An die Tür klopfen will sie nicht, denn dann würde Sibbys Mom ihnen garantiert Sibbys kleine Schwester Greta aufs Auge drücken. Greta ist ja echt süß, aber sie kann auch ziemlich nervig sein, weil sie so langsam ist und einem die ganze Zeit Löcher in den Bauch fragt. Dee und Sibby haben nur noch so selten Gelegenheit, mal alleine zu spielen, da können sie die Kleine jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Allzu große Sorgen macht Dee sich trotzdem nicht, Sibby hat nämlich ganz sicher irgendeinen Plan. Den hat sie immer. Dee setzt sich auf die Verandakante, lässt die Beine baumeln und bewundert ihre neuen Winterstiefel, die aussehen wie die von ihrem Dad, nur kleiner: schokobraunes Leder und knallrote Schnürsenkel, die man durch kleine Metallhaken zieht anstatt durch Löcher. Sie machen schön warme Füße, aber auch nicht zu warm – perfekt, um damit auf Abenteuersuche zu gehen.

Jetzt öffnet sich knarzend die Haustür und Sibbys Kopf erscheint in dem Spalt. Grinsend legt sie sich den Zeigefinger auf die Lippen, pssst, dann verschwindet sie wieder im Haus. Dee bleibt sitzen und bemüht sich, mucksmäuschenstill zu sein. Ein paar Sekunden später kommt Sibby auf Zehenspitzen nach draußen geschlichen. Sie hat ihre Stiefel an und steckt erst mit einem Arm in ihrem Mantel.

Während sie sich umständlich in den zweiten Ärmel kämpft, dreht sie sich noch mal um und ruft zurück ins Haus: »Ich geh mit Dee spielen!« Nach einem Moment ertönt Mrs Carmichaels Stimme, leise und gedämpft. Und vielleicht einen Tick gereizt? Dee ist sich nicht ganz sicher.

»Bin nicht lange weg!«, ruft Sibby zurück, bevor sie die Tür entschlossen hinter sich zuzieht, wobei sie sorgsam darauf achtet, sie nicht zuzuknallen.

»Komm schnell«, sagt sie dann, und ihr Tonfall ist unmissverständlich: Jetzt oder nie. Dee springt von der Verandakante. Es geht sowieso nicht tief runter, aber sie spürt, wie die Stiefel den Aufprall zusätzlich abfedern und das Profil ihr bei der Landung Halt gibt.

Kichernd rennen die beiden Mädchen die Auffahrt runter zur Straße. Beim Ahornbaum an der Ecke haben sie es geschafft: Jetzt kann man sie von Sibbys Haus aus nicht mehr sehen.

»Puh«, japst Sibby und lacht. »Greta hat gerade beim Mittagessen eine Riesensauerei gemacht und Mom muss erst mal alles wieder aufwischen. War der perfekte Zeitpunkt, um abzuhauen.«

Sie grinst und Dee grinst zurück. Auf Sibby ist einfach Verlass. »Was wollen wir machen?«, fragt Dee.

»Na, wir gehen zum Baumhaus«, antwortet Sibby, als wäre das ja wohl klar.

»Ohne Burke und die anderen?« Dee hat sich schon gedacht, dass Sibby zum Baumhaus will, trotzdem wird ihr bei dem Gedanken etwas mulmig. Im Wald ist es toll, aber eben auch dunkel und ein bisschen gruselig, vor allem, wenn man allein ist.

»Nur weil Burkes Onkel das Baumhaus gebaut hat, heißt das ja wohl nicht, dass es Burke allein gehört«, wendet Sibby ein. »Der Wald ist für alle da und ohne die anderen ist es bestimmt sowieso viel lustiger. Burkes Schwestern sind so anstrengend. Immer wollen die alles bestimmen.«

Insgeheim findet Dee es ziemlich lustig, dass ausgerechnet Sibby sich über Leute beschwert, die immer alles bestimmen wollen, aber sie hält lieber den Mund. Eigentlich waren Mara und Alicia überhaupt nur ein einziges Mal mit draußen beim Baumhaus, um es sich anzuschauen, kurz nachdem ihr Onkel Terry es fertig gebaut hatte. Die beiden sind schon älter und spielen nur noch selten mit. Es stimmt, dass am Baumhaus oft ein ganz schöner Trubel herrscht, aber heute müssen sie zumindest Greta nicht mitschleppen, Burke und seine Schwestern wollten ins Kino, und die Zwillinge – Dees Brüder – sind beim Hockeytraining.

Sibby hat recht. Heute werden sie das Baumhaus ganz für sich allein haben, und wer weiß, wann sich so eine Chance wieder ergibt.

»Okay«, sagt sie also. »Dann los.«

Sie gehen über die Straße, vorbei an Dees Haus und weiter zu Mrs Rose, von deren Garten aus ein Törchen in den Wald führt. Mrs Rose hat nichts dagegen. Sie ist so was wie eine Ersatz-Oma für die Kinder aus der Straße. Vielleicht kommt das daher, dass sie keine eigenen Enkelkinder hat.

Es ist Ende März und noch kalt genug für Mantel und Fäustlinge, aber immerhin weht der Wind mittlerweile nicht mehr ganz so eisig, und als Dee Sibby durch Mrs Rose’ Garten folgt, sieht sie überall kleine Krokusspitzen aus dem Boden lugen und winzige grüne Knospen an Büschen und Bäumen. Der Frühling ist nicht mehr weit.

Fast direkt hinter dem Grundstück fangen die Bäume an und nur ein schmaler Grasstreifen trennt den Wald von der Siedlung.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und im selben Moment frischt der Wind auf. Dee läuft ein Schauder über den Rücken.

»Komm!«, ruft Sibby, die ihr ein paar Schritte voraus ist.

Im Schatten der Wolke wirkt der Wald plötzlich finster und bedrohlich. Am liebsten würde Dee vorschlagen, zurück zu ihr zu gehen und einen Film zu gucken oder drinnen zu spielen. Aber sie weiß, dass das zwecklos ist: Sibby lässt sich durch nichts von ihrem Vorhaben abbringen.

Außerdem wird es sicher lustig. Wie eigentlich fast immer, wenn man mit Sibby zusammen ist.

Sibby dreht sich wieder um und verschwindet zwischen den Bäumen. Und Dee folgt ihr.

3.

Was ist damals an dem Nachmittag im Wald mit Sibby Carmichael passiert?

Wenn sich irgendjemand daran erinnern müsste, dann ich. Ich war schließlich dabei. Aber selbst zehn Jahre und unzählige schlaflose Nächte später fällt mir nichts dazu ein. Es gibt keine plötzlichen Erleuchtungen, keine tief vergrabenen Erinnerungen, die sich unverhofft aus dem Nebel lösen. Stattdessen sehe ich immer nur dieselben paar Bruchstücke, klar und scharf umrissen und genauso nutzlos wie eh und je.

Ich liege im Bett, hellwach inmitten einer schlafenden Welt, und es ist, als hätte die Platte in meinem Kopf einen Sprung. Dieselbe Zeile, immer und immer und immer wieder.

Du hättest es verhindern müssen.

Wen interessiert’s, dass ich damals erst sieben war? Wen interessiert’s, dass niemand mir – einem völlig verängstigten kleinen Mädchen – die Schuld daran gegeben hat, nicht mal Sibbys Eltern, keine Sekunde lang. Nichts davon zählt, wenn die Platte erst mal einen Sprung hat.

Du hättest aufmerksamer sein müssen, irgendwas bemerken müssen, was bei der Suche nach ihr geholfen hätte.

Man hört so viele Geschichten über die unglaublichsten Kinder. Kinder, die über sich hinauswachsen. Ein Mädchen, das tagelang auf einem Rettungsboot auf offener See ausharren musste, nachdem der Rest seiner Familie auf deren Segelyacht ermordet worden war. Ein Junge, der seine kleinen Geschwister mit nichts als einem Stock vor einem Puma beschützt hat. Drei Kinder, die sich vor einem Tsunami auf einen Baum retten konnten, während unter ihnen ihre gesamte Welt vorbeitrieb, ein einziges Chaos aus Wasser und Zerstörung.

Warum konnte ich nicht eins von diesen Kindern sein? Warum konnte ich damals nicht irgendwo tief in mir verborgene Kräfte finden und die Situation meistern?

Du hättest Sibby retten können.

Du hättest Sibby retten können.

Du hättest Sibby retten können.

Genug jetzt. Resolut setze ich mich in meinem Deckennest auf. Die knackig kalte Luft am Oberkörper tut gut und verschafft mir einen klaren Kopf, sodass ich mich schließlich zum Aufstehen überwinden kann.

Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und ziehe mir eine der Decken um die Schultern. Unser Haus ist ein großer alter, zugiger Kasten, den zu heizen ein Vermögen kostet, wie meine Eltern uns immer wieder erinnern. Selbst bei Temperaturen wie heute ist das Thermostat kaum aufgedreht. Dabei ist es ganz oben unter dem Dach, wo ich mein Zimmer habe, am kältesten, aber das ist ein fairer Preis für mehr Privatsphäre, ganz abgesehen von der tollen Aussicht.

Mein Schreibtisch steht an der Giebelwand vor einem großen Rundbogenfenster, von dem aus man einen Blick über die ganze Stadt hat. Ich lasse mich auf den Drehstuhl fallen und wickele mich fester in die Decke.

Auf dem Highway in der Ferne huschen Lichter vorbei, ein endloser Fluss aus Autos, Lastwagen und Bussen, der einen Menschen im Nullkommanichts in jede Richtung davontragen könnte. Der Wald erstreckt sich wie ein riesiger grüner Teppich aus Fichten und Kiefern, durchsetzt von ein paar Grüppchen kahler Laubbäume.

Unmittelbar an den Wald grenzt eine Wohnsiedlung aus den Siebzigern. Die Straße, in der wir früher gewohnt haben, verläuft genau parallel zum Waldrand, und dort schlummert noch immer unser ehemaliges Haus zwischen all den anderen vor sich hin.

Von hier oben wirkt der kleine Backsteinbungalow so winzig und ungeschützt, mein Kindheitszuhause, das sich in den Schatten der Bäume duckt. Es sieht aus, als wäre der Wald drauf und dran, es zu verschlingen und nie wieder aus seinen Fängen zu lassen.

Ich mag das Haus, in dem wir heute wohnen, mitten in der Stadt, weit weg vom Wald. Mein Zimmer, das hoch oben über dem Rest der Welt zu schweben scheint.

Ich mag es, dass niemand, der hier raufwill, der zu mir will, unbemerkt bleiben würde.

Einen Stock tiefer liegen das Schlafzimmer meiner Eltern, das meiner Brüder, das Bad und das Arbeitszimmer, bevor es weiter runter ins Erdgeschoss geht. So gut wie jede Treppenstufe hier gibt ein verräterisches Knarzen von sich, sobald man drauftritt, wie eine mit dem Haus verwachsene Alarmanlage.

Durch eine Glastür, die nachts fest verriegelt wird, gelangt man erst in einen Windfang und schließlich zur Haustür, bleischwer und rund um die Uhr abgeschlossen.

Rechts und links von uns sowie auf der anderen Straßenseite stehen Häuser. Wir sind umgeben von Fenstern und aufmerksamen Nachbarn. Mit anderen Worten: in Sicherheit.

Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Ich stemme mich hoch und lehne mich ein Stück über den Schreibtisch. Seit vor einem Jahr die alte Mrs Dunlop gestorben ist, steht das hübsche gelbe Häuschen direkt gegenüber von uns leer, und ich habe mich längst an das »ZU VERKAUFEN«-Schild im Vorgarten gewöhnt. Jetzt jedoch parkt ein Umzugslaster davor.

Der Motor läuft noch, Abgas quillt aus dem Auspuff, und die roten Rücklichter leuchten, doch dann geht ein kurzer Schauder durch den Wagen, und das Brummen erstirbt. Die Fahrertür öffnet sich und ein Mann steigt aus, reckt sich und gähnt. Einen Moment später gesellt sich von der Beifahrerseite eine Frau dazu.

Eine Weile stehen sie einträchtig nebeneinander auf dem Bürgersteig und gucken hoch zum Dunlop-Haus, doch als direkt hinter dem Laster ein weiteres Auto hält, drehen sie sich um. Es ist ein ziemlich cooler Oldtimer, himmelblau, mit breiten Reifen und zwei silbernen Streifen längs über der Motorhaube. Ein Mädchen steigt aus, bleibt jedoch hinter der offenen Fahrertür stehen wie hinter einem Schutzschild, und betrachtet, die Ellenbogen auf den Rahmen gestützt, ebenfalls das Haus.

Der Mann und die Frau, eindeutig die Eltern, gehen zu ihr. Die drei scheinen über irgendetwas zu diskutieren und deuten dabei immer wieder auf den Umzugswagen. Schließlich fangen die Eltern an, ein paar Taschen aus dem Führerhaus des Lasters zu laden.

Als mein Blick wieder zu dem Mädchen wandert, schaut es geradewegs zu mir hoch.

Erschrocken springe ich zurück, bevor mir zu meiner Erleichterung einfällt, dass ich mich in einem dunklen Zimmer befinde. Sie kann mich nicht sehen.

Das Gesicht dicht am Rand des Fensters, beobachte ich, wie sie unser Haus mustert, die Veranda, die verschnörkelten Zierleisten, den kleinen Eckturm. So schäbig, zugig und unfertig es auch sein mag, unser Haus ist das auffälligste in der ganzen Straße, und darum gilt ihr Interesse ihm, nicht mir.

Ich dagegen starre sie unverhohlen an. Ich kann einfach nicht anders. Sie ist zierlich, wenn auch nicht unbedingt viel kleiner als ich. Ihre dunklen Haare sind zu einem asymmetrischen Bob geschnitten und auf ihrer Nase sitzt eine Brille mit einem dicken schwarzen Rahmen. Sie trägt Jeans, Lederboots und einen Wintermantel in dunklem Olivgrün mit einem breiten weißen Streifen über der Brust. Der Mantel ist eindeutig Vintage und sieht aus, als würde er aus derselben Zeit stammen wie ihr Auto.

Jetzt beugt sie sich in besagtes Auto und holt einen Rucksack heraus, bevor sie die Tür zuknallt und zu ihren Eltern aufschließt, die schon mit ihren eigenen Taschen auf sie warten. Ihr Vater legt ihr den Arm um die Schultern und die drei gehen langsam den schmalen Pfad hoch zum Haus.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz nach drei.

Ohne die Decke um meine Schultern loszulassen, setze ich mich auf meinen Schreibtischstuhl und klappe den Laptop auf.

Abgesehen von den drei Neuankömmlingen auf der anderen Straßenseite, scheint alles um mich herum zu schlafen. Meine Familie. Die Nachbarn. Die ganze Stadt.

Ich ziehe meine unterste Schreibtischschublade auf und hole ein kleines USB-Mikrofon mit Ständer heraus. Stöpsele es an meinen Laptop, angele nach meinen Kopfhörern und setze sie auf.

Irgendwo auf der Welt, genau in diesem Moment, verschwindet jemand spurlos.

Ich klicke auf das Icon für mein Audio-Programm, und als es fertig geladen hat, klopfe ich testweise mit dem Zeigefinger auf das Mikro.

Ich klicke auf AUFNAHME.

Und los geht’s.

4.

Transkript von RADIO SILENT

Episode 41 – 4. Januar

DIE SUCHERIN: Es gibt Neuigkeiten im Fall Nathan Chestnut. Ihr werdet euch sicher daran erinnern, dass Nathan am Nachmittag des 27. Dezember einen Freund besuchen gegangen ist, der vier Blocks weiter wohnt.

Als er zum Abendessen nicht nach Hause kam, hat seine Mutter ihm geschrieben, ihn angerufen und es schließlich bei seinem Freund versucht, der meinte, Nathan hätte sich schon vor drei Stunden auf den Heimweg gemacht. Eine weitere Stunde später hatten Nathans Eltern sämtliche Freunde ihres Sohns abtelefoniert, jedoch ohne Erfolg. Bei Einbruch der Nacht verständigten sie die Polizei und nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden wurde Nathan offiziell als vermisst gemeldet.

Ich pausiere die Aufnahme, bearbeite ein paar Details und lege meinen gewohnten Stimmfilter über das Ganze. Dann höre ich mir die Sequenz noch mal komplett an, und erst, als ich der Meinung bin, dass es sich okay anhört – soll heißen: kein bisschen nach mir –, mache ich weiter.

DIE SUCHERIN: Am Morgen darauf wandte sich Nathans große Schwester Cassandra, die ein Fan von Radio Silent ist, an mich. Noch am selben Abend habe ich über den Fall berichtet und die wichtigsten Eckpunkte, ein paar Fotos und die offizielle Polizeimeldung auf meiner Website gepostet.

Nicht mal eine Stunde, nachdem die Episode online gegangen war, trudelten auch schon die ersten Hinweise der VLD ein. Unter anderem beteuerten zwei Hörer aus Maple Mills, einer Kleinstadt zwei Stunden außerhalb von Hamilton, unabhängig voneinander, Nathan in einem Lebensmittelgeschäft gesehen zu haben.

Natürlich leiteten wir die Information sofort an die Familie und die zuständigen Behörden weiter. Wie es danach weiterging, hört ihr jetzt von Nathans Schwester.

Wieder unterbreche ich den Track, mache einen Schnitt und füge der Dramatik halber ein paar Sekunden statisches Rauschen ein, dann zeichne ich das nächste Stück Text auf und arbeite dabei die Stichpunkte ab, die ich mir in meinem Notizbuch gemacht habe. Langsam komme ich in eine Art Flow.

Ich öffne den Ordner, in dem ich alle für den Fall relevanten Daten gespeichert habe, wähle die Audiodatei aus, die Nathans Schwester mir am Nachmittag geschickt hat, und füge sie ein.

EINSPIELER (Cassandra): Es war total untypisch für Nathan, einfach so zu verschwinden. Wir haben alles nach ihm abgesucht, von den örtlichen Krankenhäusern über Obdachlosenunterkünfte bis hin zu irgendwelchen leer stehenden Gebäuden. Die Polizei meinte, wir sollten uns besser auf das Schlimmste gefasst machen.

Keiner von uns ist auch nur auf die Idee gekommen, dass Nathan die Stadt verlassen haben könnte. Er versteht sich mit der ganzen Familie, hat gute Noten und haufenweise Freunde. Er hatte überhaupt keinen Grund abzuhauen.

Aber dann kamen die Hinweise aus Maple Mills und plötzlich ergab alles einen Sinn …

Zügig und der Reihe nach lege ich die aktuellen Entwicklungen in Nathans Fall dar, bis die Details sich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen.

Auf die Idee mit dem Podcast bin ich vor ungefähr einem Jahr gekommen, in genauso einer Nacht wie der heutigen. Ich lag hellwach im Bett, hilflos meinen kreisenden Gedanken ausgeliefert, als mit einem Mal etwas in mir klick machte. Ich hatte es so satt. Irgendetwas musste es doch geben, was ich tun konnte.

Kurz darauf saß ich an meinem Schreibtisch, fuhr meinen Laptop hoch und öffnete den Browser.

Ich hatte schon immer ein bisschen Angst vor dem Internet, vor all den Entsetzlichkeiten, die dort auf einen einprasseln. Den Nachrichten über Terroranschläge, Amokläufe oder durchgeknallte Politiker, die ihre Hassbotschaften verbreiten, und den Massen an sensationslüsternen Schlagzeilen, die den virtuellen Raum überfluten, bis einem jedes noch so bedeutende Ereignis innerhalb weniger Stunden wie Schnee von gestern vorkommt. Das Einzige, worauf man sich dabei verlassen kann, ist, dass es nie besser wird.

Aber in dieser Nacht damals habe ich mich davon nicht abschrecken lassen, sondern mich kopfüber hineingestürzt. Während der Cursor im Suchfenster blinkte, schwebten meine Finger einen Moment über der Tastatur. Dann tippte ich vermisste Personen und der Bildschirm füllte sich mit seitenweise Links zu Nachrichtenportalen, Lokalzeitungen, Blogs und Social-Media-Profilen. Mit Geschichten und noch mehr Geschichten. Geschichten wie meiner.

Und Sibbys.

Schon bald verlor ich mich immer tiefer in diesem Labyrinth, klickte mich durch Foren über Foren – Vermisste im ganzen Land, auf der ganzen Welt – und machte dabei eine ziemlich interessante Entdeckung: Es gab Menschen, die tatsächlich versuchten, diese Vermisstenfälle zu lösen.

Natürlich stieß ich dabei auf jede Menge verrückter Theorien, aber auch auf sehr clevere, sinnvolle Ansätze von Usern, die Hinweise posteten und die Ermittlungen richtig professionell angingen. »Sofadetektive«, würde man solche Leute wahrscheinlich nennen, aber je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr sah ich sie als »Laptopdetektive«.

Nicht dass ich selbst eine Laptopdetektivin werden wollte. Die Vorstellung war mir zu intensiv, zu nah an dem, was ich selbst durchgemacht hatte, und außerdem hatte ich ja schon bewiesen, was für eine miese Ermittlerin ich abgab. Dafür wusste ich ziemlich gut, was für ein Gefühl es war, sich auf der anderen Seite einer dieser Geschichten zu befinden, sich zu wünschen, dass irgendwer irgendwo endlich des Rätsels Lösung fand. Und mir wurde klar, dass all diese Laptopdetektive ein Ventil brauchten, eine Plattform für ihre Ideen, auf der sie die nötige Aufmerksamkeit dafür bekamen.

Also fing ich mit dem Podcast an. Wie schwer kann das schon sein?, dachte ich.

Ich bestellte ein Mikrofon, lud mir online kostenlose Aufnahmesoftware herunter und legte los.

Ziemlich schwer, wie ich bald erkannte. Anfangs versuchte ich es mit einem Rundumschlag über alle möglichen Fälle, von denen ich so gelesen hatte, und floppte damit komplett. Nach drei Episoden beschloss ich, dass ich meinen Fokus etwas eingrenzen musste.

Beim vierten Mal pickte ich mir also einen einzelnen Fall heraus. Es ging um einen Bruder und eine Schwester, die nachmittags, bevor ihre Eltern von der Arbeit kamen, von zu Hause entführt worden waren. Nachdem ich den Beitrag gepostet hatte, flatterte noch am selben Tag ein anonymer Hinweis in mein Postfach, den ich an die Polizei weiterleitete, woraufhin die Kinder im Haus ihrer ehemaligen Babysitterin gefunden wurden.

Die Geschwister kehrten wohlbehalten zu ihren Eltern zurück und die Polizei bedankte sich bei meinem Podcast für die Information.

Danach lief es fast wie von selbst. Ich stöberte einen neuen Fall auf, recherchierte, so gut es ging, die Umstände, bastelte alles zu einer stringenten Reportage zusammen und überließ der Community den Rest. Es dauerte nicht lange, bis meine Hörerinnen und Hörer anfingen, mir Themen zu schicken, von denen sie meinten, sie würden sich gut für den Podcast eignen, sodass ich mich gar nicht mehr selbst danach umsehen musste.

Radio Silent bricht eine ganze Menge ungeschriebener Podcast-Regeln: Zunächst mal bleibe ich selbst anonym, außerdem sind die Fälle, die ich aussuche, sehr unterschiedlich, und einen festen Zeitplan gibt es auch nicht – ich poste einfach immer dann eine neue Episode, wenn es sich gerade anbietet. Aber aus irgendeinem Grund scheine ich trotzdem einen Nerv getroffen zu haben. Die Hörerzahlen nahmen rasch zu, und wie sich herausstellte, sind die meisten Laptopdetektive sehr engagiert. Schon nach kurzer Zeit übertrafen sie meine kühnsten Erwartungen mit all ihren Tipps und Hinweisen und der Online-Community, die sie gründeten. Sie gaben sich den Namen VLD, kurz für: Vereinigung der Laptopdetektive. Ich sichte das Material, wähle die Fälle aus und recherchiere sie, und dann erstelle, redigiere und poste ich den Podcast, aber die eigentliche Arbeit erledigt die VLD. Und Arbeit ist es definitiv, doch sie lohnt sich: Gemeinsam haben wir schon mehrere Vermisste ausfindig gemacht.

Eine fünfzehnjährige Ausreißerin, die wohlbehalten in Seattle aufgegabelt wurde, nachdem sie bei einem Freund untergeschlüpft war. Einen alten Mann, der aus dem Pflegeheim verschwunden war und hundert Meilen weit entfernt in dem Dorf gefunden wurde, in dem er aufgewachsen war.

Okay, und dann war da noch Danny Lurlee, ein kompletter Vollidiot, der seine eigene Entführung inszeniert hat. Dank der VLD wurde er an der Grenze zu Mexiko gestoppt, bevor er sich ins Ausland davonmachen konnte.

Ganz ehrlich, auf den Typen bin ich immer noch sauer. Immerhin habe ich drei Episoden an ihn verschwendet.

Natürlich nehmen nicht alle Ermittlungen ein glückliches Ende. Mord. Selbstmord. Tragische Unfälle. Mit so was kommt man dabei unweigerlich in Berührung. Aber, und das könnt ihr mir glauben, ein Ende mit Schrecken ist immer noch besser als gar keins. Und genau das war von Anfang an mein Ziel: So viele Geschichten wie möglich zu einem Ende zu bringen.

Dabei mache ich selbst gar nicht viel. Ich sortiere lediglich die Fakten. Höre zu, wenn jemand sagt, er habe Informationen. Und dann berichte ich meiner Hörerschaft davon.

Die eigentliche Arbeit machen sie. Ich erzähle bloß Geschichten.

Und das alles in der Hoffnung, damit einen Ausgleich zu schaffen. Für die eine Geschichte, die bis heute kein Ende gefunden hat.

Sibbys und meine Geschichte.

DIE SUCHERIN: Vor etwas über einem Jahr ist Nathan und Cassandras Großvater Walter gestorben. Besonders Nathan hat das hart getroffen. Die beiden standen sich sehr nahe und haben viel Zeit in Grandpa Walts kleiner Jagdhütte verbracht, die – na, wer hat’s erraten? – genau, ausgerechnet im Wald außerhalb von Maple Mills steht.

EINSPIELER (Cassandra): Mein Dad und seine Schwestern haben an Weihnachten gemeinsam beschlossen, die Hütte zu verkaufen, weil sie jetzt ja keiner mehr nutzt und es einfach zu viel Zeit und Geld kosten würde, sie instand zu halten. Also wollten sie sich davon trennen und den Erlös untereinander aufteilen. Niemand hat Nathan nach seiner Meinung dazu gefragt.

DIE SUCHERIN: Nachdem ich die Hinweise der beiden Hörer weitergegeben hatte, wandten sich Cassandra und ihre Eltern mit ihrem Verdacht an die Polizei und machten sich sofort auf den Weg nach Maple Mills. Schon von Weitem sahen sie Rauch aus dem Schornstein der Jagdhütte aufsteigen.

EINSPIELER (Nathan): Okay, das war ’ne ziemlich bescheuerte Aktion, aber ich war halt stinksauer. Keiner ist auch nur auf die Idee gekommen, mal mit mir über Grandpa Walts Hütte zu reden, dabei war ich der Einzige in der Familie, dem sie was bedeutet hat. Na, jedenfalls hatte ich noch eine Woche Zeit, bevor die Schule wieder losging, also hab ich meinen Rucksack gepackt und den Bus nach Maple Mills genommen. Ich wollte bloß ein paar letzte Tage da verbringen. Meine Alten hätten sowieso Nein gesagt, wenn ich vorher gefragt hätte, darum wollte ich ihnen einfach von der Hütte aus schreiben, dass ich in ein paar Tagen wieder da wäre und sie sich keine Sorgen machen sollten. Aber dann war mein Handyakku leer, und ich hatte nicht dran gedacht, dass es in der Hütte keinen Strom mehr gab … Also hab ich mir eingeredet, dass sie schon selbst darauf kommen würden, wo ich hingegangen war. Schon klar, das war ziemlich scheiße von mir.

EINSPIELER: (Cassandra): Oh Mann, der Junge kann sich echt auf was gefasst machen. (lacht) Zum Glück hat die Polizei total cool reagiert, weil es am Ende nur ein Missverständnis war, darum müssen wir jetzt nicht auch noch für die Einsatzkosten aufkommen oder so. Aber bei meinen Eltern sieht die Sache anders aus.

Nathan kann sich glücklich schätzen, wenn die ihn überhaupt je wieder aus dem Haus lassen, bevor er dreißig ist.

DIE SUCHERIN: Also, Ende gut, alles gut im Fall von Familie Chestnut, aber wie wir inzwischen wissen, gilt das längst nicht für jede Geschichte. Die Welt ist voller vermisster Menschen, und die traurige Wahrheit ist, dass viele von ihnen nie wieder nach Hause zurückkehren. Aber ich glaube fest daran, dass hinter jedem Vermisstenfall eine Geschichte steckt, und wenn wir die einzelnen Puzzleteile richtig kombinieren, können wir vielleicht hin und wieder dazu beitragen, dass alles gut ausgeht.

Ob es etwas gibt, was ihr tun könnt?

Hört zu.

Helft mit.

Es dauert ungefähr zwei Stunden, bis ich mit der Aufnahme durch bin und dem Ganzen den letzten Schliff verpasst habe. Schließlich werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz vor fünf, was bedeutet, dass ich noch ein oder zwei Stündchen schlafen kann, bevor Mom von unten ruft, um mich für die Schule zu wecken.

»Ich gebe mein Bestes, Sibby«, flüstere ich.

Ich klicke auf Hochladen und die neue Episode ist online.

Eine letzte Minute nehme ich mir noch Zeit und schicke eine E-Mail an den Verteiler, um meine Abonnenten zu informieren. Anschließend poste ich dasselbe Update auf meinen diversen Social-Media-Profilen und in ein paar der größeren True-Crime-Foren auf Reddit.

Ich strecke mich und gucke an meinem Laptopbildschirm vorbei aus dem Fenster. Im Dunlop-Haus gegenüber ist alles dunkel, bis auf ein einsames, orangegelb erleuchtetes Fenster im ersten Stock. Ich überlege, ob hinter dem zugezogenen Vorhang wohl das Mädchen sitzt, ob sie noch wach ist und mit ihren Freunden redet, die sie dort zurückgelassen hat, wo auch immer sie herkommt.

Jetzt bleibt nur noch eine einzige Sache, die ich erledigen muss. Ich lösche meinen Browserverlauf.

Es ist nämlich so: Ich halte meinen Kram streng geheim. Ich habe bombensichere Passwörter, benutze den Browser ausschließlich im privaten Modus und lösche trotzdem jedes Mal am Ende die Historie. Ich nenne nirgends meinen richtigen Namen. Und ich verfremde meine Stimme mit einem Audiofilter.

Ich leiste mir niemals einen Ausrutscher.

Ich bin die Schöpferin eines der beliebtesten True-Crime-Podcasts der Welt, und niemand – weder meine Eltern noch meine Lehrer oder meine Nachbarn – weiß davon.

5.

Als der Wecker klingelt, bin ich vollkommen erschöpft, aber gleichzeitig immer noch aufgedreht von meiner nächtlichen Session. Gähnend quäle ich mich aus dem Bett, recke mich und werfe einen Blick auf mein Handy. Mich erwarten Tausende von Benachrichtigungen, die über Nacht eingetrudelt sind, alles Reaktionen auf meinen neusten Upload.

Ich widerstehe dem Drang, direkt alles durchzusehen, die ganzen E-Mails und bis ins Unendliche wachsenden Threads und Subthreads auf meiner Pinnwand. Das muss bis später warten. Ich habe von Anfang an darauf geachtet, eine strikte Grenze zwischen dem zu ziehen, was in meinem Podcast und in meinem realen Leben passiert. Sonst würde ich wahnsinnig werden.

Also schlurfe ich ins Badezimmer, das ich mir mit den Zwillingen teile. Nach dem Duschen trockne ich mich fröstelnd ab – das uralte, zugige Bleiglasfenster steht wie so vieles andere hier seit Ewigkeiten auf Dads Liste der Sachen, die repariert oder ausgetauscht werden müssen. Dann schlüpfe ich in eine ausgeblichene Jeans und mein »We should all be feminists«-T-Shirt und gehe nach unten.

Unser Haus ist riesig. Die Hälfte der Zimmer im ersten Stock steht leer, die Türen sind abgeschlossen, die Ritzen darunter mit alten Socken ausgestopft. Die hohen Decken sind an den Rändern mit Stuck verziert, von dem allerdings ziemlich viel abgebröckelt ist. Im Erdgeschoss hat Dad schon einiges renoviert, aber bis nach oben ist er noch nicht vorgedrungen, was auch die sich abschälende Tapete und die morschen Bodendielen erklärt.

Meine Mutter beklagt sich jeden Tag über irgendwas davon, aber ich weiß, dass sie das Haus genauso sehr liebt wie mein Dad. Hauptsächlich liebt sie es dafür, dass mein Dad es liebt.

Wir sind hierhergezogen, als ich sieben war, nach der Sache mit Sibby. In den zehn Jahren seither wurde das Haus mehr oder weniger komplett auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt, und trotzdem hat man das Gefühl, es wird niemals fertig.

Mir macht das nichts aus. Ich mag all die Macken und charmanten Eigenheiten, die verschnörkelten alten Lampenfassungen und Messingtürknäufe. Aber am allermeisten mag ich die breite Treppe, die zweimal ums Eck führt, mit einem handgeschnitzten Geländer, dessen Restaurierung Dad Jahre gekostet hat. Wie jeden Morgen bleibe ich auf dem Absatz stehen und spähe durch die bläschendurchsetzte Scheibe des Buntglasfensters nach draußen in die Einfahrt. Nachmittags, wenn die Sonne in einem ganz bestimmten Winkel auf das Glas trifft, tauchen farbige Lichtstrahlen den Eingangsbereich in ein geradezu magisches Leuchten.

Unten suche ich mir einen Weg zwischen leeren Abbeizmitteldosen und Pappunterlagen mit einem Sammelsurium aus Werkzeugen, Klebeband und Pinseln drauf hindurch. Dad ist schon seit Monaten mit der Eichenholzverkleidung der Treppe beschäftigt und arbeitet sich Stückchen für Stückchen durch die alten Farbschichten vor. Er schwört, dass das Ergebnis atemberaubend sein wird, aber bei seinem Schneckentempo wird das in diesem Leben wohl nichts mehr.

Ich mache einen weiten Bogen um die riesigen Sporttaschen der Zwillinge und vor allem die widerlich feuchte Wolke Hockeymief, die daraus aufsteigt, und halte auf die Küche zu, aus der ich Stimmen höre.

»Morgen«, murmele ich, als ich den sonnendurchfluteten Anbau auf der Rückseite des Hauses betrete.

»Delia, hilf mir doch mal«, begrüßt mich mein Dad, der, eine Schürze über seinem farbbespritzten T-Shirt und seiner Arbeitsjeans, an der Spüle steht. »Sag deiner Mutter, dass ich durchaus in der Lage bin, den Schornstein selbst zu reparieren.«

Ich wende mich meiner Mutter an der Kücheninsel zu. Sie trägt bereits ihren schicken Hosenanzug für die Arbeit samt zierlicher goldener Halskette und hat sich das Haar zu einem straffen Knoten zurückgebunden. Niemand, der meine Eltern nur vom Sehen kennt, käme auf die Idee, dass sie miteinander verheiratet sind.

Bei uns ist Dad für den Haushalt zuständig, was alles von Kochen und Putzen bis hin zu den endlosen Renovierungsarbeiten umfasst. Optisch ist er irgendwo in den Neunzigern hängen geblieben: zerrissene Jeans, ausgeblichene Grunge-Band-Shirts unter groß karierten Flanellhemden, zottelige Haare. Mom dagegen ist Geschäftsführerin unseres städtischen Krankenhauses, und man sieht ihr die Karrierefrau sofort an: maßgeschneiderte Anzüge, manikürte Nägel, perfektes Make-up. Doch obwohl die beiden rein äußerlich kaum unterschiedlicher sein könnten, sind sie so verliebt wie am ersten Tag. Sie haben denselben verschrobenen Sinn für Humor, eine Schwäche für gutes Essen und guten Wein, und ihren unübersehbaren, manchmal echt peinlichen Zuneigungsbekundungen nach zu schließen, sind sie wohl immer noch ziemlich heiß aufeinander.

»Mom, Dad ist durchaus in der Lage, den Schornstein selbst zu reparieren.«

Mom guckt geistesabwesend von ihrem Laptop hoch.

»Delia, frag deinen Vater, ob er nichts Besseres zu tun hat, als mitten im kältesten Januar auf einem sehr steilen Dach herumzuklettern.«

»Dad, hast du nichts Besseres zu tun, als –«

Mein Dad hebt die Hand. »Okay, schon gut. Dann hole ich eben ein paar Angebote ein.« Er tritt an die Kücheninsel und schlingt Mom die Arme um die Taille. »Ich steh drauf, wenn du so streng bist.« Mom lächelt zu ihm hoch und im nächsten Moment zerschmelzen die beiden vor meinen Augen zu einer klebrigsüßen Masse aus klimpernden Wimpern und aneinandergeriebenen Nasen.

Die Zwillinge, Kurt und Eddie, sitzen am Frühstückstisch im großen Erkerfenster. Sie lassen ein gemeinschaftliches Stöhnen vernehmen, ohne auch nur den Blick von ihren Handys zu heben.

»Oh Mann«, brummt Kurt. »Muss das sein?«

»Aber echt«, pflichtet Eddie ihm bei. »Das ist so was von abartig.«

»Hey«, protestiert Dad. »Ihr zwei solltet lieber beten, dass ihr auch mal jemanden findet, der euch mit über vierzig noch hochgradig sexy findet.«

»Okay, mir reicht’s«, sagt Kurt zu Eddie. »Lass uns abhauen.«

Die Jungs stehen auf und sind schneller an der Haustür, als meine Eltern reagieren können.

»Seid ihr zum Abendessen da?«, ruft meine Mom ihnen hinterher.

»Hockey«, lautet Eddies Antwort, dann geht die Tür auf und knallt kurz darauf wieder zu. Wenn es nach den Zwillingen geht, ist »Hockey« nicht nur Substantiv, Verb und Adjektiv in einem, sondern auch eine universal einsetzbare Ein-Wort-Erklärung für jede Lebenslage.

Mein Vater reicht mir einen Teller mit Ei und Toast und ich lasse mich auf einen Stuhl am Frühstückstisch fallen.

»Wer hat denn das Dunlop-Haus gekauft?«, frage ich. »Heute Nacht ist da ein Umzugswagen vorgefahren.«

»Hast du etwa schon wieder nicht geschlafen?«, entgegnet Mom argwöhnisch.

»Nee«, lüge ich, »ich bin bloß von den Geräuschen draußen aufgewacht.«

»Hab ich ganz vergessen zu erwähnen«, sagt Dad. »Georgina Walsh hat mir neulich beim Einkaufen davon erzählt. Da ziehen irgendwelche entfernten Verwandten von Mrs Dunlop ein.«

Dad ist eine der größten Klatschtanten der Nachbarschaft. Nicht selten findet man ihn in der Küche vor seinem Laptop, vertieft in einen Gruppenchat über das neuste pikante Gerücht.

»Eine Familie?«, will Mom wissen.

»Ein Paar etwa in unserem Alter«, bestätigt Dad. »Und ich glaube, sie haben eine Tochter. Sind von irgendwo an der Westküste.«

»Dann sollten wir demnächst mal rübergehen und sie willkommen heißen«, sagt Mom und schiebt ihren Laptop in die Tasche. »Okay, ich muss los. In einer halben Stunde habe ich eine Besprechung. Kümmerst du dich ums Abendessen?«

»Mach ich doch immer«, antwortet Dad und gibt ihr einen dicken Schmatzer auf den Mund.

Ich wende mich demonstrativ ab.

»Bis später, Liebes.« Mom kommt zu mir und küsst mich auf die Wange. »Hab einen schönen Tag.«

»Du auch«, erwidere ich.

Sie verschwindet in den Flur, und Dad zieht die Schürze aus, macht sich selbst einen Frühstücksteller fertig und setzt sich zu mir an den Tisch.

»Was steht denn dieses Halbjahr so an in der Schule?«, erkundigt er sich.

»In der Schule?«, frage ich überrascht. »Vermutlich derselbe Mist wie immer, nur anders verpackt.«

Er lächelt, lässt jedoch nicht locker. »Na, das kann ja wohl nicht alles sein. Macht ihr gar nichts Aufregendes? Frösche sezieren? Eure eigene Short Story schreiben?«

Er wirkt dermaßen ausgehungert nach interessanten Neuigkeiten, dass ich beim Anblick des hoffnungsvollen Funkelns in seinen Augen kurz überlege, ob ich ihm von meinem Podcast erzählen und ihn in das größte Geheimnis einweihen soll, das ich jemals hatte. Aber nein. Niemals.

»Äh, ich glaube, in Kunst bauen wir dieses Jahr Hundehütten.«

»Cool.« Er klingt leicht enttäuscht.

»Und du?«, wechsle ich das Thema, um ihn aufzuheitern. »Hast du heute was Besonderes vor?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich glaube, ich mache ein bisschen mit der Holzverkleidung weiter. Und vielleicht gehe ich mal im Fresh Brew vorbei und gucke, was die Jungs so treiben.«

»Sollen wir gleich zusammen los?«, biete ich an.

»Klar, gerne! Ich ziehe mich nur kurz um.«

So aufgedreht wie ein kleines Kind, dem man ein Eis versprochen hat, rennt er die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Währenddessen ziehe ich mir Mantel und Stiefel an und warte dann auf der Veranda.

Gegenüber im Dunlop-Haus ist alles ruhig. Die Vorhänge sind zugezogen und auch draußen regt sich nichts. Kein Wunder, so spät, wie die gestern hier aufgelaufen sind.

Hinter mir geht die Tür auf, und mein Vater tritt neben mich, dick eingemummelt in sein bestes Althipster-Winteroutfit.

»Wow, guck dir das an«, sagt er und deutet auf das blaue Auto gegenüber. »Ein Siebenundsiebziger Chevy Nova. Als ich noch jung war, hätte ich für so einen ’nen Mord begangen. Meine Tante war damals mit einem Typen zusammen, der alte Autos auf Vordermann gebracht hat.«

»Echt?«, ringe ich mir ab. »Faszinierend.«

Er grinst. »Immer wieder schön, wenn man direkt am frühen Morgen unter die Nase gerieben kriegt, wie langweilig man ist.«

»Was denn? Ich hab doch ›faszinierend‹ gesagt.«

An der Ampel überholen wir einen jungen Mann, der mit einem kleinen Mädchen an der Hand über die Straße geht. Die Kleine quasselt ihren Vater fröhlich zu, während er zu ihr runterstrahlt und geduldig ihre Fragen beantwortet. Die beiden geben ein echt süßes Bild ab.

Jetzt lächelt der Typ uns an, und Dad und er wechseln ein kurzes Kinnrucken nebst gemurmeltem »Hey, alles klar?«. Die genauso typisch wie lächerlich männliche Art, einen Bekannten zu begrüßen.

»Kanntest du den?«, frage ich.

»Ja«, antwortet er. »Aras heißt er.« Er klingt ein bisschen wehmütig, und als ich hochgucke, fällt mir auf, dass er sich nach den beiden umgedreht hat und ihnen nachstarrt. »Das war ein tolles Alter.«

»Was, dreißig?«

»Nein«, sagt er. »Oder doch, klar, das auch. Aber eigentlich meinte ich die Kleine. Dich in dem Alter. Damals wolltest du auch nie meine Hand loslassen. Du warst so was von verkuschelt.«

»War ich nicht«, erwidere ich schockiert. Einen Hauch weniger verkuschelt und ich wäre ein Stachelschwein.

»Doch, warst du«, beharrt er. »Aber nach … na ja, allem, was passiert ist, brauchtest du mehr Abstand.«

Ich denke darüber nach. »Soll das heißen, du würdest mich jetzt gerne an die Hand nehmen?«, frage ich, während ich gleichzeitig überlege, was ich machen soll, wenn er Ja sagt.

Er lacht. »Keine Sorge. Das würde ich dir nie zumuten.«

Kurz darauf erreichen wir das Café und Dad gibt mir einen Abschiedskuss auf die Wange. »Viel Spaß, Süße.«

»Dir auch, Dad.«

Als das Türglöckchen bimmelt, erhasche ich einen Blick auf seine Männerclique, Jaron und Pickle und wie sie alle heißen. Sie sitzen an ihrem angestammten Tisch und heben grüßend die Hände, als Dad auf sie zukommt. Im Laufe der Jahre hat er sich ein kleines Rudel junger Hausmänner gesucht, mit denen er sich regelmäßig trifft. Er sagt, dass er so gern Zeit mit ihnen verbringt, weil sie genau das Leben führen, das er sich als junger Vater immer gewünscht hat. Heutzutage ist es einfach wesentlich üblicher, dass die Väter zu Hause bleiben und sich um die Familie kümmern, als noch vor zehn Jahren.

Auf dem restlichen Weg zur Schule spukt mir unablässig Dads Bemerkung darüber durch den Kopf, dass ich plötzlich mehr Abstand brauchte. Wie sehr habe ich mich seit damals verändert? Wie wäre ich, wenn das alles nicht passiert wäre? Wäre ich dann heute ein völlig anderer Mensch? Was wäre, wenn ich an Sibbys Stelle entführt worden wäre?

6.

An der Schule angekommen, bleibe ich erst mal auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und schaue zu, wie die Horden aufs Gelände strömen.

Bis zum ersten Klingeln dauert es noch mindestens zehn Minuten, und ich habe es nicht eilig, mich ins Getümmel zu stürzen, also hocke ich mich auf ein kleines Steinmäuerchen und hole mein Handy aus der Tasche. Noch immer trudeln reihenweise neue Radio-Silent-Benachrichtigungen ein. Lauter Retweets, Antworten und Markierungen, wie jedes Mal am Tag nach einem gelösten Fall.

»Yo, Dee!«

Ich gucke hoch und sehe Burke auf mich zukommen. Er hat sich den Rucksack über eine Schulter gehängt und späht über den Rand seiner nutzlos auf der Nasenspitze sitzenden Sonnenbrille auf mich runter. Wie immer erinnert er mich an einen fröhlichen, leicht verwirrten Welpen. Wir sind schon von klein auf miteinander befreundet; damals hat er bei uns nebenan gewohnt und Sibby schräg gegenüber. Wir drei waren unzertrennlich. Bis eine von uns verschwunden ist.

»Yo!«, antworte ich und mache dazu eine ironische Pistolengeste in seine Richtung.

Er breitet die Arme aus und atmet tief und genüsslich ein. »Na, ist das nicht ein herrlicher Tag, um in die Anstalt für soziale Anpassung zurückzukehren?«

Ich schiebe mein Handy zurück in die Tasche und stehe auf. »Als hätten wir da groß die Wahl«, brumme ich.

»Und, wie war Weihnachten?«, fragt er, während wir uns gemeinsam auf den Weg über die Straße machen.

»Ganz okay. Truthahn, Geschenke, das Übliche halt. Schätze mal, bei dir war’s spannender.« Burke hat die Feiertage mit seiner Familie bei seiner Großmutter in Florida verbracht und zwei Wochen lang Strandfotos auf Instagram gepostet.

»Ja, war schon ziemlich genial«, sagt er. »Sonne, Surfen, das volle Programm.« Wir bahnen uns einen Weg durch die Massen von Rumstehern vor dem Eingang. »Irgendwelche spannenden neuen Fälle?«

»Burke«, zische ich panisch und versetze ihm einen Schubs. »Spinnst du?« Hastig blicke ich mich um, ob jemand was mitbekommen hat, aber dafür ist es viel zu laut, und um ehrlich zu sein, interessieren weder wir noch unser Gesprächsthema hier irgendwen.

»’tschuldige«, murmelt er. »Bin bloß neugierig.«

»Ich dachte, du hörst nicht mal mit«, sage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Gute Freunde heucheln eben selbst an den albernsten Hobbys ein Mindestmaß an Teilnahme.«

Als ich gesagt habe, niemand wüsste von meinem Podcast, war das nicht ganz die Wahrheit, denn es gibt eine große Ausnahme: Burke. Was sich vor allem dadurch erklärt, dass er Ahnung von Computern hat und ich nicht. Oder zumindest nicht mehr als unbedingt nötig: Ich schreibe und organisiere die Beiträge, weiß, wie man mit dem Tonschnitt-Programm umgeht, update meine Profile in den sozialen Netzwerken und so weiter. Aber sobald Sachen wie Cybersicherheit, Verschlüsselungstechniken und Firewalls ins Spiel kommen, bin ich raus, und darum habe ich mir Burke ins Boot geholt.

Weil ihm der Podcast bislang total schnuppe war, vergesse ich manchmal, dass er überhaupt davon weiß. Also, natürlich freut er sich, dass alles gut läuft, und erzählt mir ständig, dass ich richtig Kohle machen könnte, wenn ich nur wollte. Aber mehr auch nicht.

»Nicht hingucken«, flüstert er mir jetzt zu. »Da kommt die vierte apokalyptische Reiterin.«

Und da sehe ich auch schon Brianna Jax-Covington auf uns zuhalten. Wie immer, wenn Brianna irgendwo auftaucht, verdrehen sich völlig ohne mein Zutun meine Augen.

Als Kinder haben Brianna und ich oft zusammen gespielt. Zwar wohnte sie nicht in unserer Nähe, aber ihre Mom war mit Sibbys befreundet, und so haben wir uns brav gegenseitig zu unseren Geburtstagen eingeladen und sogar hin und wieder beieinander übernachtet. Nach Sibbys Verschwinden jedoch hatten wir kaum noch miteinander zu tun.

Was nicht heißt, dass ich was gegen Brianna habe. Kinder entwickeln sich oft auseinander und im Grunde lief ja schon vorher alles nur über Sibby. Nur leider hat Brianna ganz eindeutig was gegen mich. Sie hüllt sich mir gegenüber in eine regelrechte Wolke aus Ablehnung, wie ein blumigschweres Parfüm, das zwar zweifellos teuer ist, aber gleichzeitig eine unausgesprochene Warnung verströmt: Legt euch nicht mit mir an.

Jetzt allerdings nickt sie Burke knapp zu und wendet sich dann mit einem betont liebenswürdigen Lächeln an mich. »Hallo, Delia«, sagt sie in einem Ton, als würden wir ständig höflichen Erwachsenen-Small-Talk führen. »Hattest du schöne Weihnachten?«

»Ja, war ganz okay«, antworte ich. »Und du?« Ich habe keine Ahnung, warum sie überhaupt mit mir redet. Brianna und ich verkehren nicht in denselben Kreisen. Ihr Kreis ist die Crème de la Crème unserer Highschool, mein Kreis ist Burke.

»Ach danke, es war ganz toll«, sagt sie. »Wir waren mit meinem Bruder und seiner Frau in Aspen. Die Wetterbedingungen waren top, da haben wir Heli-Skiing gemacht. Musst du unbedingt auch mal ausprobieren, das würde dir bestimmt gefallen.«

»Klar«, schnaube ich. »Ich geh gleich mal meine Ski abstauben.«

»Und ich meinen Heli«, ätzt Burke. »Geht doch nichts über Teamwork.«

»Ich wollte dich was fragen«, sagt Brianna zu mir, ohne sich von unserem Sarkasmus beirren zu lassen. »Kann ich bei den Vorbereitungen für das Winterfestival demnächst auf deine Hilfe zählen? Dieses Jahr ist ja unsere Stufe für Deko, Ticketverkauf, Verpflegung und das alles zuständig. Und als Vorsitzende des Komitees will ich dafür sorgen, dass es das beste Winterfestival aller Zeiten wird. Das Motto ist La La Land.«

»Woooooooooowww!«, haucht Burke gespielt ergriffen.

Brianna wendet ihm den Rücken zu. »Na ja, jedenfalls hoffe ich, du meldest dich als freiwillige Helferin.«

»Freiwillig?« Ich merke zu spät, wie entsetzt ich klinge. Burke neben mir kichert in sich hinein und Briannas Lächeln verblasst.

»Ja. Freiwillig«, wiederholt sie. »Du weißt schon, von wegen ›deine Fähigkeiten und Talente in den Dienst der Allgemeinheit stellen‹ und so.«

»Äh, ja«, sage ich. »Die Sache ist nur, ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Fähigkeiten und Talente habe, die dir da weiterhelfen könnten.«

»Ich suche zum Beispiel jemanden, der beim RedBoy-Match Tombolalose verkauft«, erklärt sie. »Dafür braucht man kein besonderes Talent.«

Allein die Vorstellung, beim größten Event des Jahres, dem alljährlichen Wohltätigkeits-Hockeyspiel zwischen den Redfields Cardinals und ihrem größten Rivalen, den Boyseton Thunderbirds – kurz: RedBoy – Lose an Massen von Kleinstädtern zu verticken, lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Ich tue mich ja schon schwer genug mit meinen gelangweilten, vollkommen desinteressierten Mitschülern, wie soll ich mich da erst ein paar Hundert ach so wohlmeinenden Erwachsenen aussetzen, von denen mich jeder als das Mädchen kennt, das damals bei Sibby Carmichaels Entführung dabei war? Das Mädchen, das zurückgelassen wurde.

»Tut mir echt leid, Brianna«, sage ich also. »Aber daraus wird nichts.«

»Wie jetzt? Warum?«, fragt sie irritiert. Offenbar ist sie es nicht gewohnt, dass Leute ihr eine Abfuhr erteilen.

Ich weiß nicht so recht, was ich antworten soll. »Eigentlich hatte ich gar nicht vor, zu dem Spiel zu gehen«, erkläre ich schließlich.

»Das ist ja wohl kein Grund!«, empört sie sich. »Man sollte meinen, wenn irgendjemand wissen müsste, wie wichtig es ist, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, dann du, nach allem, was unsere Stadt für dich und deine Familie getan hat. Aber da hab ich mich wohl getäuscht.«

»Moment mal, was?« Mir wird ernsthaft mulmig, als mir auffällt, dass es um uns immer stiller wird.

»Ich dachte, das könnte dir guttun«, führt Brianna aus. »Da kämst du mal raus und hättest ein bisschen mehr Kontakt zu deinen Mitschülern und dem Rest der Welt.«

Mein Mund klappt auf und meine Angst vor zu viel Aufmerksamkeit weicht der Wut. »Na klar, als würdest du das alles mir zuliebe machen! Was mir guttut, entscheide immer noch ich selbst!«

»Ist nun mal nicht gerade ein Geheimnis, dass du von damals einen kleinen Knacks davongetragen hast. Und ja auch kein Wunder.«

Immer mehr Gespräche um uns verstummen, und ich wünschte, ich könnte einfach im Erdboden versinken. Zum Glück schreitet jetzt Burke ein.

»Ich wollte dich auch noch was fragen, Brianna: Was machen eigentlich deine Chlamydien?«, fragt er laut genug, um ein paar Lacher aus nächster Nähe zu ernten.

»Leck mich doch, Burke«, sagt Brianna.

Burke verzieht angewidert das Gesicht und weicht zurück. »Nee, lass mal. Nicht bevor du dein kleines Problem im Griff hast.«

Brianna dreht sich ruckartig wieder zu mir um. »Schon okay, Delia«, sagt sie. »Ich finde bestimmt auch so genug Leute, die mir helfen. Wäre halt einfach schön gewesen, wenn du bereit gewesen wärst, ausnahmsweise auch mal was für andere zu tun.« Damit macht sie auf dem Absatz kehrt und marschiert den Flur runter, gerade als es zum ersten Mal klingelt. Die Umstehenden zerstreuen sich, um das nun offiziell eingeläutete neue Halbjahr in Angriff zu nehmen.

»So was kannst du doch nicht sagen«, weise ich Burke zurecht, während wir uns auf den Weg zu unserem Klassenraum machen. »Das war Slut-Shaming.«

»Hä?«, entgegnet er. »Das war kein Slut-, sondern Arschgeigen-Shaming. Und wieso verteidigst du sie jetzt überhaupt, nachdem sie gerade so scheiße zu dir war?«

Ich schüttele bloß den Kopf und starre zu Boden. Solche Sprüche gehen einfach gar nicht, aber ich habe keinen Nerv, Burke das zu erklären. Immerhin ist es nicht meine Aufgabe, ihn auf den neusten Stand der Feminismusdebatte zu bringen, so dringend notwendig das anscheinend auch wäre.

In der ersten Stunde haben wir Mathe, aber nach ein paar Minuten klopft es an der Tür. Mr Langley hält mitten in seiner Zusammenfassung des Lehrplans inne und verschwindet auf den Flur.

Kurz darauf kommt er zurück. Hinter ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ein Auge hinter einer dicken schwarzen Haarsträhne verborgen, betritt das Mädchen aus dem Dunlop-Haus das Klassenzimmer.

»Leute«, verkündet Mr Langley. »Das hier ist Sarah Cash. Sie ist neu in der Stadt, also seid nett und geht ein bisschen auf sie zu, ja?«

Sarah Cash streicht sich lässig die Strähne aus der Stirn und präsentiert den Anwesenden ihr Gesicht. Einer ihrer Mundwinkel hebt sich, während sie den Blick langsam durch den Raum schweifen lässt, als würde sie uns begutachten, nicht umgekehrt. Als sie bei mir anlangt, bin ich für den Bruchteil einer Sekunde wie versteinert vor Angst, dass sie mich erkennen könnte. Was, wenn sie doch gesehen hat, dass ich sie gestern Nacht von meinem Fenster aus beobachtet habe? Aber ihr Blick wandert weiter und schließlich dirigiert Langley sie zu einem freien Platz, direkt neben Brianna. Nachdem sie sich gesetzt hat, macht er mit seiner Einführung weiter.

Ich gucke zu Burke rüber, der mir zuzwinkert. Ich bin so überrumpelt, dass ich rot werde, und drehe mich schnell wieder nach vorn.

Den ganzen Rest der Stunde über schenke ich Sarah Cash keinerlei Beachtung.

Sobald es klingelt, quatscht Brianna die Neue direkt an. Sie scheint ihr irgendeinen Vorschlag zu machen, und als Sarah den Kopf schüttelt und sich wortlos abwendet, beschleicht mich der Verdacht, dass Brianna gerade die zweite Abfuhr des Tages kassiert hat.

Vielleicht haben Sarah Cash und ich ja mehr gemeinsam als bloß die Straße, in der wir wohnen.

7.

Als Burke und ich nach der letzten Stunde durch den Seiteneingang rausgehen, hat sich auf dem Parkplatz eine kleine Menschenmenge versammelt. Wir bleiben am Fuß der Treppe stehen und sehen Sarah Cash zu ihrem Chevy Nova schlendern. Ein Stück entfernt entdecke ich Brianna, die, umringt von einem Grüppchen Freundinnen, das Geschehen mit schmalem Blick beobachtet.

Während Sarah ihren Rucksack auf den Rücksitz pfeffert, lehnt sich Brianna – ohne Sarah aus den Augen zu lassen – zu den anderen rüber und flüstert ihnen etwas zu. Daraufhin drehen sich alle um und starren abschätzig zu Sarah hinüber, die sich inzwischen hinters Steuer gesetzt hat und die Tür hinter sich zuschlägt.

So unbeeindruckt sich Briannas Clique auch gibt, die meisten anderen Leute, Burke eingeschlossen, machen aus ihrer Bewunderung keinen Hehl. Während Sarah ausparkt, stößt einer der Jungs ein anerkennendes Johlen aus. Woraufhin der Chevy anhält, das Fahrerfenster heruntergekurbelt und ein gehobener Mittelfinger herausgestreckt wird, bevor das Auto mit quietschenden Reifen vom Parkplatz rast.

Ich klappe Burkes Kinnlade wieder hoch. »Achtung, du sabberst.«

»Ach, und du etwa nicht?«, erwidert er. »Ich hab genau gesehen, wie du sie vorhin in Mathe angestarrt hast.«

»Hab ich gar nicht«, protestiere ich und marschiere los, damit er nicht mitkriegt, dass ich schon wieder rot werde.

Er hat mich schnell eingeholt, kennt mich aber gut genug, um die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Hey, kann ich noch ein bisschen mit zu dir?«

»Klar.«

»Terry ist wieder da«, schiebt er als Erklärung hinterher.

Oha, verstehe. »Der gute alte Terrence«, seufze ich. Burkes Onkel Terry ist ein Versager, wie er im Buche steht. Keine feste Adresse, kein fester Job, aber dafür taucht er regelmäßig alle paar Jahre mit Sack und Pack bei Burkes Familie auf. Er tut zwar immer so, als käme er nur zu Besuch, aber dann bleibt er mehrere Wochen oder sogar Monate.

»Diesmal hat er sich bei mir im Keller breitgemacht«, redet Burke weiter. »Hängt den ganzen Tag vor der Glotze, kippt ein Bier nach dem anderen und furzt in einer Tour. Mann, der ist so widerlich.«

Ich lache.

Nachdem letztes Jahr Burkes Schwester Alicia ausgezogen ist, um aufs College zu gehen, hat Burke ihr altes Zimmer im Keller geerbt. Es ist nichts Besonderes, bloß ein kleiner abgetrennter Bereich vom Hauptraum, aber dafür hat man dort seine Ruhe. Außerdem gibt es eine eigene Toilette und Dusche im Wäschekeller und eine kleine Lounge mit zwei zerschlissenen Sofas und einem riesigen Fernseher. Und jetzt stört Terry den Frieden dieser Oase.

Wir verlassen das Schulgelände und gehen die Straße hoch. »Das Schlimmste ist«, fährt Burke fort, »dass er diesmal bleiben will. Angeblich guckt er sich schon nach ’nem Job um und hat vor, sich dann ’ne eigene Bude zu suchen, aber das ist doch alles nur Gelaber. Wahrscheinlich hockt er uns jetzt wieder Monate auf der Pelle.«

»Warum schmeißen deine Eltern ihn denn nicht einfach raus?«, frage ich.

»Wenn es nach meiner Mom ginge, hätten sie das schon längst, aber mein Dad stellt sich quer«, sagt Burke. »Terry ist immerhin sein kleiner Bruder. Ein Loser, klar, aber er gehört halt zur Familie.«