Behind the Spotlights - Jo Jonson - E-Book

Behind the Spotlights E-Book

Jo Jonson

0,0

Beschreibung

Ich sang davon, dass wir alle Träumer waren und es sich anfühlte wie Liebe in der Sonne. Dass wir gerade erst begonnen hatten. Eine große Musikerkarriere – für die schüchterne Fay schon immer ein unerreichbarer Traum. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem ihre Sehnsucht größer ist als die Angst. Als sie spontan an einem Casting von Der Traum teilnimmt, verändert sich ihr Leben von Grund auf. Fay tritt ein in die glamouröse Welt des Showbiz und lässt sich dabei nur allzu gern in die aufregenden Gefühle fallen, die ihr Mitteilnehmer Sascha in ihr auslöst. Ob das die große Liebe ist? Zwischen all dem Druck auf dem Weg nach oben findet Fay Halt bei ihrem Konkurrenten Damien, der immer an ihrer Seite steht. Doch bald droht sie im Strudel der Empfindungen für diese beiden Männer die Kontrolle zu verlieren. Erst als es fast schon zu spät ist, erkennt sie: wonach sie all die Zeit so verzweifelt gesucht hat, war schon lange ganz in ihrer Nähe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 685

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Eintritt in eine neue Welt

Kapitel 2 Ein Traum wird wahr

Kapitel 3 Ich bin keine Diva!

Kapitel 4 Seelenfeuer

Kapitel 5 (Miss-)Verständnis

Kapitel 6 Vom Loslassen

Kapitel 7 Enthüllungen meiner Seele

Kapitel 8 Wie ein Stern am Firmament

Kapitel 9 Aufgewühltes Wasser

Kapitel 10 Glaube der Lüge

Kapitel 11 Sollte das alles sein?

Kapitel 12 Die Bergung des Lichts

Kapitel 13 Abschiede sind nie endgültig

Kapitel 14 Der amerikanische Traum

Kapitel 15 Die Krone aus Licht

Kapitel 16 Seelenfeuer

Kapitel 17 Paris Hilton

Kapitel 18 Ausgelöscht

Kapitel 19 »Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen soll!«

Kapitel 20 Die Wahrheit hinter einer Scheibe Glas

Kapitel 21 Spuren hinterlassen

Kapitel 22 Ein Leuchten zwischen den Zeilen

Kapitel 23 Gefangen im Wirbelsturm der Gefühle

Kapitel 24 Eine erste Liebe ohne Happy End

Kapitel 25 Liebe um jeden Preis

Kapitel 26 Kein Geheimnis ist dunkler als die Vergangenheit

Kapitel 27 Wohin die Zeit uns treibt

Kapitel 28 Ich lass für dich das Licht an

Kapitel 29 Vertrauen erfordert Mut

Kapitel 30 Nichts ist vorüber

Kapitel 31 Der Schmerz wird mich finden

Kapitel 32 Verblendung

Kapitel 33 Wie ein Tanz im Regen

Kapitel 34 Die Schatten einer Sommernacht

Kapitel 35 Thinking of you

Kapitel 36 Bin ich unbesiegbar?

Kapitel 37 Wenn die Schatten fallen

Kapitel 38 Ich folge deinem Schatten

Kapitel 39 Das endgültige Ende einer Freundschaft

Kapitel 40 Liebessucher

Kapitel 41 Morgen fängt der Himmel an

Kapitel 42 Ende und Beginn

Kapitel 43 Es ist nie zu spät für alles

Epilog

Danksagung

Jo Jonson
Behind the Spotlights – Tage aus Licht
Eisermann Verlag

Behind the Spotlights – Tage aus Licht E-Book-Ausgabe  09/2017 Copyright ©2017 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Sabrina Dahlenburg Satz: André Piotrowski Lektorat: Marie Weißdorn Korrektur: Wiebke Hoberg http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-043-8

Für Nici, beste Freundin, Seelenschwester, Shopping-Begleitung, Sorgentelefon, … Und für einen Traum, der endlich seine Erfüllung gefunden hat …

Vorwort

Ich weiß, dass ich nie sonderlich gut darin war, den perfekten Anfang zu finden. Dafür bin ich einfach viel zu impulsiv und ungeduldig. Wenn ich etwas zu sagen habe; wenn da Worte in meinem Kopf sind, dann wollen sie heraus. Mit viel Feingefühl und Talent zwar, aber dennoch ohne große Vorrede. Und das passt auch irgendwie zu meiner Geschichte. Denn das, was ich zu erzählen habe, brach ebenfalls ohne jede Vorwarnung über mich herein.

Mein Name ist Fay Hieler. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und zu Beginn meiner Geschichte in meinem letzten Ausbildungsjahr zur Buchhändlerin. Etwas, wovon ich immer geglaubt habe, es wäre mein absoluter Traumberuf. Ein gesichertes Einkommen und eine Tätigkeit, die sich einigermaßen mit meinen Interessen deckt. Vielleicht bin ich mit den Jahren ja genauso kopflastig geworden wie der Großteil der heutigen Weltbevölkerung. Dabei war gerade meine Kreativität immer mein Markenzeichen und das Einzige, worauf ich stolz sein konnte.

Ich war nie besonders gut in der Schule, und obwohl meine Mutter es niemals laut aussprach, so wussten wir doch beide, dass ich nicht das war, was sie sich seit meiner Geburt erhofft hatte. Was auch immer das gewesen sein mag. Ganz im Gegenteil zu der ach so perfekten Lilly, doch dazu später mehr.

Mit meinem älteren Bruder Jason kam sie hervorragend aus – und das, obwohl meine Mutter nicht gerade jemand war, den man umgänglich nannte. Andererseits fällt mir auch niemand ein, der nicht gut mit Jason klargekommen wäre. Mein Bruder war einfach der Inbegriff von fröhlicher Lässigkeit. Er war ein Tagträumer. Obwohl er sich nie wirklich in etwas reinhing, stolperte er immer wieder verwundert von einem Glückstreffer zum nächsten. So, wie ich meinerseits beschwerlich rudernd mit Ach und Krach immer noch so gerade eben die Kurve bekam.

Erstaunlicherweise neidete ich ihm dieses Geschick und Glück aber nie, dafür hatte er mich viel zu oft schon beschützt. Zuerst vor der Dunkelheit und den Monstern unter meinem Bett. Später vor den Wutausbrüchen meiner Mutter und Lillys gemeinen Sticheleien.

Wir leben seit ich denken kann in einem viel zu großen Haus in einem viel zu kleinen Dorf. So hatte ich das immer schon empfunden, oder zumindest so lange, bis Peter und seine Tochter Lilly in unser Leben traten. Peter machte das Haus gemütlich und seltsam vollständig, doch Lilly machte es zu klein.

Mein Vater war im Laufe meiner ersten Lebensjahre von unserer Bildfläche verschwunden. In meiner Erinnerung war er nur ein grauer Schatten ohne Gesicht, der mit jedem Jahr mehr und mehr verblasste. Mutter redete nicht von ihm, und ich hatte sie meinerseits nie nach ihm gefragt. Ich weiß nicht, ob sie glücklich gewesen sind oder warum er gegangen ist, aber ich vermute, dass es an mir gelegen haben muss. Denn obwohl Peter bereits eine Tochter im Teenager-Alter hatte, als er mit ihr zu uns gekommen ist, hat er meiner Mutter von Anfang an deutlich gemacht, dass er sich gemeinsame Kinder mit ihr wünschte. Diesem Wunsch war sie jedoch nie nachgekommen. Vielleicht waren wir ihr bereits zu viel.

Mir konnte das nur recht sein. Ich brauchte niemanden außer Jason, doch selbst der war – ging es um unseren Vater – ungewöhnlich schweigsam und distanziert. Er behauptete gern, er erinnere sich nicht an ihn, doch das habe ich ihm nie abgekauft und mich stattdessen heimlich gefragt, ob ein kleiner Teil von ihm mich dafür hasste, dass ich unseren Vater aus dem Haus getrieben hatte.

Trotzdem war Jason mir über all die Jahre eine große Stütze. Als er älter wurde, zuerst immer weniger zu Hause war und schließlich ganz auszog, um an der Bauhaus-Universität Weimar Architektur zu studieren, riss er ein klaffendes Loch in mein Leben, das sich lange Jahre nicht mehr schließen ließ.

Lilly und ich lebten all die Jahre wie Fremde in zwei benachbarten Zimmern, die sich ein Bad teilten und sonst nichts. Ich glaube nicht, dass es an den zehn Jahren Altersunterschied gelegen hat, dass mir ein tonnenschwerer Stein vom Herzen gefallen ist, als sie vor vier Jahren dann endlich auszog.

Lilly war eine extravagante Erscheinung. Eine große, langbeinige Schönheit mit weizenblondem Haar. Ihr Gesicht strahlte entweder pure Arroganz oder kalte Härte aus. Sie gab mir – wie auch meine Mutter – stets das Gefühl, ihren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, und irgendwann hörte ich damit auf, es zu versuchen. Selbst Jason hatte sich ihr gegenüber von Anfang an distanziert verhalten. Vielleicht lag das auch an seiner Loyalität mir gegenüber, worüber ich ihm immer unendlich dankbar blieb.

Peter war der arme Schlichter zwischen allen Fronten, der uns alle wahrhaft gleichermaßen liebte, woran mir nie ein Zweifel blieb. Ich weiß bis heute nicht, wie er es mit dem bunten Haufen aus Schuldzuweisungen, Ignoranz und Chaos, der wir gewesen sind, all die Jahre ausgehalten hat. Und nicht nur, dass er uns einfach ausgehalten hätte – er hat uns genährt; sowohl physisch, wie auch psychisch. Wer weiß, ob ich je einen solch großen Schritt gewagt hätte, hätten er und Jason mir nicht fast sechzehn Jahre lang unermüdlich Mut zugesprochen und Selbstvertrauen eingeflößt.

Und an genau diesem Punkt beginnt meine Geschichte.

Kapitel 1Eintritt in eine neue Welt

Musik war für mich immer schon etwas Elementares. Normalerweise fällt es mir nicht schwer, meine Gefühle verständlich auszudrücken, doch hier fehlen mir die Worte. Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten dafür, was Musik für mich ist. Ich kann es versuchen, doch sicher endet dieser Erklärungsversuch meiner Leidenschaft für Klänge in einer komplizierten Sackgasse aus unvollendeten Gedankenansätzen.

Für mich ist die Musik einfach der beste Beweis dafür, dass wir alle auf einer bestimmten Frequenz schwingen … oder zumindest ich. Wenn ein Lied erklingt, das mir gefällt – oder auch nur ein einzelner Ton, legt sich in meinem Körper oder meinem Geist ein Schalter um. Vielleicht könnte man es am besten so erklären, dass sich mein Kopf dann völlig abschaltet. Vielleicht ist Musik für mich ja das, was für andere Fernsehen ist oder Feiern gehen oder vielleicht sogar Sex.

Ich bin leider zugegebenermaßen ein sehr kopflastiger Mensch, was allerdings nicht heißt, dass ich logisch bin. Im Gegenteil, ich bin hoffnungslos emotional. Ich sagte ja bereits, es wird kompliziert. Doch wenn meine Lieblingsmusik erklingt, sind all diese Fragen und Zweifel in mir plötzlich wie weggefegt und das Blut rauscht durch meine Adern. Vielleicht ist das ja die einzige Art und Weise für mich, richtig zu entspannen – die richtige Musik, richtig laut.

Es versteht sich von selbst, dass mein Traumberuf daher seit ich denken kann immer etwas Musikalisches gewesen ist. Eine Sängerin werden! Es gab keinen Tag, an dem ich nicht gesungen hätte. Sang ich einmal zu lange nicht, fühlte sich mein Herz an, als wolle es vor lauter Kummer bersten. Ich muss zugeben, dass ich ein ziemliches seelisches Wrack bin, denn ohne Musik komme ich mit keinem noch so geringen Problemchen klar.

Irgendwann begann ich dann, ernsthaft für mich allein meine Stimme, den Gesang und die Stimmbänder zu trainieren. Jeden Tag lernte ich von mir selbst ein klein wenig mehr. Nur Selbstvertrauen und Zuversicht lernte ich nicht.

Denn als meine Mutter mitbekam, was ich tat und warum, machte sie mir schnell klar, dass sie nichts davon hielt. Im Gegenteil: sie machte ziemlich deutlich, dass sie nicht daran glaubte, dass ich mit meinem Gesang je etwas erreichen könnte. Wenn die eigene Mutter so etwas über die größte Leidenschaft, mehr noch, über den größten Traum ihres Kindes sagt, dann fällt man mit vierzehn einfach in ein rabenschwarzes, tiefes Loch. Wenn ich bereits ihren Standards nicht genügte, wie sollte ich dann je einem großen Publikum gefallen?

In meiner jugendlichen Naivität und Verzweiflung verwarf ich den Gedanken an eine große Musikerkarriere sofort wieder. Ich verbannte alles, was damit zu tun hatte, aus meinem Leben, um den Schmerz zu überleben. So ging ich weiterhin lustlos zur Schule, ohne jedes Ziel, wie all meine Klassenkameraden auch. Meine Noten verschlechterten sich zunehmend. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Die vor mir liegenden Jahre erschienen mir schon in meiner Jugend unendlich trostlos und lang. Ich wusste einfach nicht, wofür ich mich anstrengen sollte und gab mich langsam Stück für Stück auf.

Erst meine Musiklehrerin schaffte es, mich aus meiner Lethargie zu reißen. Im letzten Schulhalbjahr vor den großen Abschlussprüfungen sahen meine Chancen, diese in allen Fächern zu bestehen, nicht gerade rosig aus. Wir sollten ein Herbstlied auswendig lernen und vortragen. Ich entschied mich für ›Bunt sind schon die Wälder‹. Den Text konnte ich in- und auswendig, da meine Mutter es mir an kalten Herbstabenden oft vorgesungen hatte. Seltsam, dass ich gerade dieses Lied wählte, oder? Seltsam, wie sich der Kreis des Lebens manchmal schließt.

Ich wusste als Kind schon, dass sie sehr schief sang. Doch die Art wie sie gesungen hat, hatte etwas in mir berührt. Die Musik hatte uns einander nähergebracht. Vielleicht waren wir uns ja auch ähnlicher, als wir es uns je eingestehen wollten.

Jedenfalls prägte sich ihre Version des Liedes so sehr in mein Gedächtnis ein, dass ich mit den Noten meiner Musiklehrerin rein gar nichts anzufangen wusste und schon bald in tiefer Verzweiflung versank. Irgendwann sagte ich mir, dass ich sowieso durch die Abschlussprüfungen rasseln würde und eine weitere schlechte Note nun auch nicht mehr so schlimm sei. Ich hörte auf, mich deshalb verrückt zu machen.

Vor meinen Klassenkameraden und meiner Musiklehrerin sang ich das Lied genauso schief und falsch wie damals schon meine Mutter. Falsch, aber echt und herzerweichend, mit so viel Gefühl, dass es jedes Denken verbot.

Alle Gespräche in unserer sonst so chaotischen Klasse verstummten und selbst die Köpfe der coolsten Jungs, die mich sonst keines Blickes würdigten, fuhren erstaunt nach vorn, während meine Musiklehrerin die ganze Zeit über still in sich hineinlächelte. Irgendetwas tief in mir begann seinerseits wieder zu strahlen.

Als ich endete, war mir klar, dass ich genau richtiggelegen hatte. Das bestätigte mir meine Lehrerin mit folgenden Worten: »Die Melodie war daneben, aber deine Stimme ist einfach so schön, dass ich dir trotzdem eine Eins gebe.«

Meine Wangen brannten. Niemand in der ganzen Klasse regte sich über diese nicht ganz objektive Bewertung auf. Es fühlte sich berauschend für mich an, im Applaus meiner Klassenkameraden zu baden.

Nachdem selbst meine kühle Freundin, die sich sonst mit Lob mehr als zurückhielt, noch sagte: »Ey, Fay, du hast echt eine tolle Stimme! Du solltest dich bei einer Castingshow anmelden!«, war die Sache klar für mich. Alle Zweifel waren vom Tisch und mein Weg schien mir auf einmal so klar, als wäre ich ihn bereits gegangen … vielleicht, weil ich mich ab diesem Moment mitten auf ihm befand.

Dennoch kam erst Jahre später der Tag, der mein Leben auf den goldrichtigen Kurs brachte. Ich befand mich im Zug auf meinem Heimweg von der Arbeit. Es war Viertel vor neun. Drei Jahre war es nun her, dass ich mir vorgenommen hatte, mich bei DerTraum – der mit Abstand erfolgreichsten Castingshow Deutschlands – zu bewerben. Zuvor hatte ich aber beschlossen, noch eine Ausbildung zu machen. Schließlich litt ich noch immer nicht unter Selbstüberschätzung, ich brauchte einfach einen Plan B, um nachts ruhig schlafen zu können.

Also folgten auf die Schulzeit drei stressige, nervenaufreibende Lehrjahre. Der Schulstoff schob die Gedanken an meine musikalischen Pläne weit nach hinten und die praktische Ausbildung in einem gut besuchten Buchladen der Simbacher Innenstadt verbot jedes Trainieren meiner Gesangsinstrumente. Irgendwann dachte ich nicht einmal mehr mit einer Silbe daran und fiel abends einfach nur noch todmüde ins Bett.

Doch manchmal, oft in ganz unerwarteten Momenten, traf mich das schlechte Gewissen, weil ich kaum noch etwas (oder seien wir doch ehrlich: gar nichts mehr) tat, um irgendwann einmal das tun zu können, was ich wirklich tun wollte. Je mehr Jahre verstrichen, desto größer wurde der Abstand zwischen dem Mädchen mit dem Traum, für den es einfach alles tun würde, und der Frau, die sich ängstigte, dass dieser Traum nur das dumme Hirngespinst eines kleinen Mädchens war.

Jedes Jahr sagte ich mir wieder: Ich tu es nächstes Jahr.

Die Fernsehübertragungen der Castingshow DerTraum sah ich mir mit einer Mischung aus Sehnsucht, Abneigung und abgrundtiefem Neid an, weil ich mir selbst verbot, was andere sich trauten. Dieses Gefühl hatte ich nach der letzten Staffel komplett in meinen Alltag mitgenommen.

Ich hatte einfach an nichts mehr Freude. Ich hatte eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung zur Buchhändlerin vorzuweisen und sonst nichts. Das genügte mir nicht mehr. Weder hatte ich besonders viele Freunde, noch eine tiefschürfende, befriedigende Beziehung. Doch ich hatte das untrügliche Gefühl, dass ich all das bekäme, würde ich nur den ersten Schritt zu meinem großen Traum hin wagen.

So saß ich an jenem schicksalhaften Abend deprimiert und gefangen in meine eigenen Ängste im Zug und sah aus dem Fenster, an dem tausend Lichtpunkte vorbeihuschten. Ich stellte mir vor, durch eine richtige Großstadt zu fahren; von einer Party zur nächsten.

Denn es war Freitag, ein heißer Abend im August. Als ich aus dem Zug stieg, schlugen mir der Geruch nach frisch gemähtem Gras und das Gelächter einer Gruppe ausgelassener Jugendlicher entgegen. Sonst war alles verlassen. Trotz des lauten Lachens der jungen Leute fühlte ich mich seltsam allein auf diesem Flecken Erde.

Es war einfach einer dieser Tage, an denen ich mich nutzlos fühlte. Langweilig und alt mit meinen einundzwanzig Jahren, weil ich nirgendwo dazugehörte. Jetzt spürte ich mit einer herben Heftigkeit, dass ich mich nach einem ganz anderen Leben sehnte.

Ich drehte den Schlüssel im Schloss unserer Haustür. Obwohl Mutter und Peter noch lange wach waren, war diese ab Punkt acht Uhr abends stets fest verschlossen, so als warteten alle Einbrecher ganz Bayerns nur darauf, dieses kleine Haus am äußersten Rande Simbachs auszurauben.

Ich seufzte tief, als ich den kleinen Flur betrat, in dem es – seit Peter ihn vor fast zehn Jahren renoviert hatte – immer noch nach frischer Farbe und neuem Laminat roch. Immer, wenn ich diese Düfte irgendwo wahrnahm, musste ich an mein Zuhause denken.

Ich sah auf die Uhr über der Garderobe, die meine Mutter, wie ich bis heute vermute, einzig zu dem Zweck dort hingehangen hatte, jedem schon beim Übertreten der Türschwelle aufzuzeigen, dass er zu spät zum Abendessen kam.

Es war jetzt Viertel nach neun an einem herrlichen Freitagabend. Ich versank in Selbstmitleid, wenn ich an all meine Bekannten dachte, die jetzt mit ihren Freunden unterwegs waren und die Städte unsicher machten, während das Leben an mir vorbeizog.

In meinem Zimmer angekommen, schmiss ich meine Tasche in eine Ecke, zog die Vorhänge zu und griff nach Stift und Zettel, um mir den ganzen Ballast von der Seele zu schreiben. Ich schrieb leidenschaftlich gerne Songs, auch wenn ich nicht dazu in der Lage war, sie zu vertonen. Denn auch Worte haben ihre ganz eigene Magie, wenn man sie zu erkennen weiß. Da es für mich nie infrage kam, beruflich zu schreiben, blieb dies immer etwas Harmonisches und Entspannendes für mich. Etwas, das ganz und gar mir allein gehörte. Etwas, das ich in meinem Kopf formte und mit meinen Händen schuf.

An diesem Abend konnte ich mich jedoch partout nicht konzentrieren. Ich war zu geschafft von der Arbeit, darum legte ich den Block frustriert wieder weg, legte mich auf mein Bett und zappte etwas durch die Kanäle. Wie es das Schicksal wollte, blieb ich bei einer Reportage über meine Lieblingsfernsehsendung DerTraum hängen.

»Endlich ist es so weit! DerTraum geht in die nächste Runde!«, brüllte eine aufgekratzte Reporterin in die Kamera. Ich horchte auf und merkte nicht, wie sich mein Kopf abschaltete, während Bilder von zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen eingeblendet wurden.

Sie standen in einer Schlange vor einer Art Theke, an der jeder eine Nummer bekam, und plötzlich legte sich der Schalter in mir komplett um. Alles war wieder da. Es fühlte sich an, als hauchte mir ein Sanitäter lebenswichtigen Atem in meinen toten, vertrockneten Körper. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Brust und mir rauschte das Blut in den Ohren. Da war wieder dieser eine Moment vor meiner applaudierenden Abschlussklasse und der anerkennende Blick meiner Musiklehrerin. Beinahe war ich versucht, mir die Handfläche gegen die Stirn zu schlagen, weil ich erkannte, wie dumm ich die letzten drei Jahre gewesen war. Es war so leicht. Es war leuchtend klar. Der richtige Moment, meinen Traum zu verwirklichen, war jetzt – und er würde niemals wiederkommen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass das Schicksal gewollt hatte, dass ich genau in diesem Jahr teilnehmen würde. Dass dies mein Jahr werden sollte.

Von dieser Sekunde an konnte mich nichts und niemand mehr von meinem Plan abbringen. Ich musste nur noch herausfinden, wann und wo das nächste Casting stattfinden würde. Wie im Fieberwahn fuhr ich meinen Computer hoch und googelte nach dem nächsten Castingtermin, während tausend Gedanken durch meinen Kopf rasten wie Güterzüge durch einen toten Bahnhof.

Auch hier klopfte mir das Schicksal sanft auf die Schulter. Am morgigen Tag, in München … Mir schwirrte der Kopf, denn obwohl sich von meiner Ausgangssituation absolut nichts geändert hatte, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das untrügliche Gefühl, für mein Glück selbst verantwortlich zu sein und ihm auf die Sprünge helfen zu können.

München, dachte ich mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Näher geht es für mich ja gar nicht mehr. So, als wolle das Schicksal mir einen Schubs geben.

Da schlug plötzlich dieses unglaubliche Feuer in mir hoch. Ich war mit einem Mal hellwach. In weniger als zwölf Stunden würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen und aufhören, mich nur darüber zu beschweren wie ein bockiges Kleinkind, das keine Schokolade bekam.

Es war erstaunlich leicht, mich für ein Lied zu entscheiden, welches mir beim Vorsingen Glück bringen sollte. Ich wählte Kelly Clarksons ›A Moment Like This‹. Welcher Songtext könnte besser zu mir passen? Voller Enthusiasmus begann ich zu üben.

Es war anders als früher, weil ich aus der Übung war und es zum ersten Mal um etwas ging. Ich hatte nur noch ein paar Stunden, dann musste ich mich schon in die Bahn nach München setzen. Für Schlaf blieb keine Zeit. Es war verrückt und waghalsig und viel zu spontan, aber ich wusste, dass ich es tun musste. Jetzt oder nie.

Erst als sich in meinem Hals ein schmerzhaftes Kratzen bemerkbar machte und ich das Lied nicht mehr hören konnte, stellte ich mir meinen Wecker auf vier Uhr morgens und ging eilig zu Bett.

Natürlich bekam ich kein Auge zu und fühlte mich dann wie gerädert, als ich um kurz vor vier völlig überdreht wieder aufstand. In meinem Zimmer roch die Luft angenehm nach Heu, da ich mit weit offen stehendem Fenster eingeschlafen war. Ich streckte mich noch einmal ausgiebig, tappte blindlings unter die Dusche und drehte das kalte Wasser mutig voll auf, wobei ich mir einen spitzen Schrei verkneifen musste. Ich hasste Kälte, aber mit diesen müden Augen konnte ich unmöglich aus dem Haus. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper pumpte und meine Wangen anfingen zu brennen, erst da drehte ich das Wasser ab und traute mich endlich wieder zu atmen. Bibbernd wickelte ich mich in ein Handtuch und zerrte panisch die ersten Klamotten aus meinem Schrank, die mir in die Hände fielen, da ich von Mode absolut keine Ahnung hatte und mir die Zeit wie Sand durch die Finger rann. Doch umso gewissenhafter kümmerte ich mich um mein Make-up, damit ich die Spuren der kurzen Nacht vertreiben konnte. Mein Haar ließ ich wie immer offen über meine Schultern fallen. Ich hatte einfach keine Geduld dafür, mich im Frisieren zu üben.

Endlich schlich ich mich wie ein Dieb aus dem Haus, da ich keine Lust hatte, mich vor meiner Mutter zu rechtfertigen, nur um mir ein missbilligendes Kopfschütteln einzuhandeln.

Ich nahm den nächsten Bus zum Bahnhof, um dort in den Zug nach München umzusteigen. Die Fahrt verging relativ schnell, doch das Warten auf den Zug nach München zog sich endlos in die Länge. Meine Nervosität steigerte sich ins schier Unermessliche. Unruhig beobachtete ich die Leute auf dem Bahnsteig. Sie starrten wie Zombies müde vor sich hin. Niemand lächelte oder sprach miteinander, dafür schien es einfach noch viel zu früh zu sein. Und so herrschte erdrückende Stille.

In meinem Kopf war noch immer Chaos. Der Gedanke daran, dass all die Leute um mich herum einfach normal ihren Alltag lebten, während ich zu einem Casting für DerTraum unterwegs war, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich fühlte mich wie die Hauptperson in meinem Lieblingsfilm und mir wurde klar, dass ich in meinem eigenen Leben bis jetzt immer nur eine Nebenrolle gespielt hatte.

Was, wenn ich es wirklich schaffte? Nicht gewinnen, nein. Aber unter die letzten zehn kommen! Es ging mir nicht um das endgültige Ziel, sondern um diesen einmaligen Weg dahin. Wie es wohl sein würde, vor der Jury zu stehen? Was waren es für Leute, die über all diese Schicksale entschieden? In den letzten Jahren hatten meist berühmte Sänger oder erfolgreiche Musikproduzenten hinter dem Jurypult gesessen, sodass ich aufgeregt war, vor wem ich mich in wenigen Stunden zu beweisen hatte.

Endlich war es zu spät für einen erneuten Rückzieher, der Zug kam mit einem ohrenbetäubenden Quietschen am Münchener Hauptbahnhof zum Stehen. Ich drängelte mich durch die Massen und schob mich eilig in Richtung Ausgang, um nicht neben meiner Aufregung auch noch Platzangst zu bekommen.

Draußen begrüßte mich schwacher Sonnenschein, der es nicht ganz durch die Wolkendecke schaffte. Trotzdem war die Luft angenehm und ich konnte meine Jacke ausziehen.

Ich ging auf dem kürzesten Weg zum Castinggebäude, vor welchem ich schon oft sehnsuchtsvoll Halt gemacht hatte, wenn ich zum Shoppen in der Stadt gewesen war.

Im Foyer wimmelte es von Kameraleuten. Überall lagen Kabel herum, standen Scheinwerfer und Lautsprecher und um diese herum wieder Dutzende von Leuten, die sie in ihre richtigen Positionen rückten. Die Vorstellung, dass mich vielleicht bald ganz Deutschland sehen konnte, fand ich mehr als nur befremdlich.

»Name?«

Erschrocken sah ich in das Gesicht einer jungen, genervt wirkenden Mitarbeiterin, die hinter dem Tresen saß und die Teilnehmernummern vergab. »Fay.«

»Alter?« Sie hatte eine Art, ihren Missmut an ihre Umgebung abzugeben, dass ich sofort feuchte Hände bekam.

»Einundzwanzig.«

Stumm schob sie die Nummer über den Tisch. Als ich sie fragend ansah, nickte sie nur zur Seite, damit ich aus dem Weg ging. Eilig griff ich nach dem Zettel und klebte ihn mir auf meine Jeans. Jetzt war ich namenlos, nur noch Nummer null-eins-neun-sieben.

Ich sah mich nach einem freien Platz um, wobei mir auffiel, dass sich fast alle seelischen Beistand mitgebracht hatten. Ob ich wohl auf diese Idee gekommen wäre, wenn meine Entscheidung zur Teilnahme nicht so kurzfristig gefallen wäre? Wohl eher nicht, da ich nicht gewusst hätte, welche Person mir eine Stütze gewesen wäre. All meine oberflächlichen Bekanntschaften hätten mich mit ihrer aufgekratzten Art nur noch nervöser gemacht. Meine Familie hätte ich nie in Betracht gezogen. Jason wäre vielleicht eine gute Wahl gewesen, doch aus irgendeinem Grund hätte ich gerade ihm nicht mehr unter die Augen treten können, wenn ich schon in der Vorrunde rausgeflogen wäre. Vielleicht, weil er immer an mich geglaubt hatte.

In letzter Sekunde entdeckte ich einen freien Platz neben einem gut aussehenden Typen, der allein mit seiner Gitarre in einer Ecke saß und genüsslich ein Stück Pizza aß. Der hatte vielleicht Nerven!

»Darf ich?«, fragte ich und deutete auf den freien Platz neben ihm, an welchem die Gitarre lehnte. Er sah auf, und als erstes stachen mir seine braunen, schräg liegenden Katzenaugen ins Blickfeld. Sein Lächeln hatte etwas Schelmisches an sich, sodass ich gar keine andere Wahl hatte, als es zu erwidern.

Er nahm die Gitarre weg und sagte: »Aber sicher doch.«

Ich bedankte mich und setzte mich schweigend neben ihn, wobei ich es tunlichst vermied, in seine Richtung zu sehen. Dennoch merkte ich, dass er mich immer mal von der Seite musterte, was mich noch nervöser machte. Ich versuchte, mich wieder damit abzulenken, dass ich die anderen Casting-Teilnehmer inspizierte, und dabei fasste ich einen Mann ins Auge, von dem ich meinen Blick ab diesem Tag nicht mehr lassen konnte. Eine Strähne seines weizenblonden Haares fiel ihm locker ins Gesicht. Eigentlich war es eine Frisur, die nicht zu einem so großen muskulösen Mann passte. Und doch wirkte seine Erscheinung, zusammen mit seinen zerfetzten Jeans und dem legeren weißen T-Shirt, das sich über seine breite Brust spannte, irgendwie stimmig. Ich sah ihn nur von Weitem und im Seitenprofil, doch selbst von diesem Punkt aus konnte ich seine strahlend blauen Augen erkennen, die mir das Herz in die Kehle springen ließen.

Meine Observierung wurde von dem Typ neben mir unterbrochen, der mir fragend das letzte Stück seiner Pizza hinhielt. Mein Magen stieß erregte Freudenschreie aus. »Danke! Ich bin am Verhungern!«

Er lachte und wurde mir immer sympathischer. »So siehst du auch aus.«

Ich zuckte die Schultern und biss genüsslich in die Pizza.

»Aufgeregt?«, fragte er amüsiert, als ich den letzten Rest mit einem Mal in meinen Mund stopfte und es dauerte eine Minute, bis ich ihm antworten konnte.

»Sehr«, erwiderte ich schließlich etwas atemlos, aber ehrlich. »Wie heißt du eigentlich?«

»Nicolás. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Fay«, erwiderte ich und merkte nicht einmal, wie ich mich entspannte, während ich meine eiskalte Hand in seine große warme Pranke legte, um den Handschlag zu besiegeln.

Es stellte sich schnell heraus, dass Nicolás keinerlei Berührungsängste hatte, innerhalb einer halben Stunde wusste ich seine komplette Lebensgeschichte. Er war Halb-Italiener und so auffallend hübsch, dass es mir schwerfiel, mich auf all die Worte und Informationen zu konzentrieren, die wie ein Wasserfall aus seinem Mund purzelten. Er hatte eine angenehm rauchige Stimme mit einem leichten Kratzen. Sofort wusste ich, dass ich Gänsehaut bekäme, wenn ich ihn zum ersten Mal singen hörte. Ich hatte das Gefühl, dass er schon genau wusste, wohin er im Leben wollte, aber schließlich war er auch acht Jahre älter als ich. Ich hoffte inständig, dass ich in diesem Alter auch endlich so weit sein würde!

»Bist du gar nicht aufgeregt?«, fragte ich, als ich endlich einmal zu Wort kam.

»Doch, natürlich. Aber ich kann doch nichts ändern, wenn ich jetzt hier sitze und zittere. Entweder ich schaffe es oder ich schaffe es nicht«, erwiderte er und lachte locker. Wie ich ihn für diese Einstellung beneidete!

Noch eine weitere halbe Stunde saßen wir so beieinander und redeten über Gott und die Welt, dann wurde es allmählich still. Die Tür am anderen Ende der Halle wurde geöffnet und heraus trat ein ziemlich beleibter, nett wirkender Mann mittleren Alters mit grauem Stoppelhaar. Ein Mitglied der neuen Jury?

»Wir möchten jetzt gern mit dem Casting beginnen. Wer ist der Erste?«, fragte er und sah in die Runde.

Eine schwarzhaarige Schönheit löste sich aus der Menge und schritt selbstbewusst auf die große Flügeltür zu, die sich wenige Augenblicke später hinter ihr schloss. Hinter dieser Tür war alles, was mir erstrebenswert erschien. Doch wenn ich mich mit der Frau verglich, die gerade den Raum dahinter betreten hatte, fragte ich mich ernsthaft, ob ich hier richtig war. Warum nur hatte ich mich nicht hübscher gemacht? Natürlich war das hier nur ein Casting, aber gleichzeitig konnte es gut sein, dass gerade mein Auftritt im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Ich zwang meine Gedanken bewusst von der perfekten Frau und meiner lässigen Aufmachung weg und versuchte, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, um nicht noch in Panik auszubrechen.

In den kommenden Minuten folgten Tränenausbrüche, wüste Beschimpfungen und Jubelschreie bei all jenen, die wieder aus der Flügeltür heraustraten. Einige lächelten schüchtern in die Kameras und hielten stolz beide Daumen nach oben. Andere schimpften wild durcheinander und belegten die einzelnen Juroren mit unschönen Spitznamen.

Ich sah zu Nicolás, der in den letzten Minuten immer ruhiger geworden war. Seine Nummer wurde aufgerufen, und er erhob sich lässig. Bevor er ging, warf er mir noch sein schiefes Lächeln zu, dann verschwand auch er hinter der Tür des Schicksals. Ich hoffte ehrlich, dass er es schaffen würde.

Währenddessen vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und hoffte, dass die Zeit schneller verginge. Mein Magen vollführte zwischenzeitlich schmerzhafte Purzelbäume. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tür am anderen Ende der Halle aufflog und Nicolás laut schreiend herausgesprungen kam. Ein Lächeln huschte mir wie automatisch übers Gesicht. Alle Kameras waren auf ihn gerichtet und er genoss das Bad in der allgemeinen Aufmerksamkeit sichtlich, als er auf mich zurannte, mich vom Stuhl riss und in der Luft herumwirbelte. »Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft!«

Ein ehrliches, befreites Lachen brach sich aus meiner Seele Bahn, ehe er mich wieder auf dem Boden absetzte, wo ich ihm endlich gratulieren konnte. Zu mehr Worten kam ich nicht, denn schon war ein Reporter bei uns, der Nicolás interviewen wollte. »Eins-A-Urteil. Wie fühlt sich das an?«

»Unbeschreiblich!«, erwiderte Nicolás strahlend und schob sich mir nichts dir nichts an dem Reporter vorbei. »Ich muss gleich mal meine Eltern anrufen.«

Unglaublich! Er ließ mich einfach bei dem Reporter stehen, umringt von drei eingeschalteten Kameras und brühend heißem Scheinwerferlicht. Hätte ich ihn besser gekannt, hätte ich gewusst, dass er das zu seinem Amüsement mit Absicht getan hatte.

Sofort fiel der Reporter wie ein Geier über mich her. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Bist du seine Begleitung heute? Die Freundin vielleicht?«

»Nein, ich nehme auch hier teil«, erwiderte ich beklommen und zeigte auf die Nummer an meinem Oberschenkel. In den Augen des Reporters blitzte es gierig.

»Du hast es also noch vor dir? Was hast du für ein Gefühl?«

»Tja, ich … ich … ich glaube, ich bin gleich dran«, sagte ich eilig, als ein weiterer Kandidat die Flügeltür hinter sich ins Schloss warf, und eilte quer durch die Halle. Doch die Rechnung hatte ich ohne das Fernsehteam gemacht, denn es blieb mir auf den Fersen. Nicolás konnte noch etwas erleben!

»Gut, dann gehen wir schon einmal zur Tür, dort kann ich dir noch einige Fragen stellen.«

»Sicher«, seufzte ich resigniert, wobei meine Augen verzweifelt die Halle nach Nicolás absuchten. Er schien bereits auf und davon. Ehrliche Reue regte sich kurz, die ich schnell unterdrückte, schließlich waren wir keine Freunde, sondern hatten nur nett geplaudert.

Jetzt war niemand mehr da, der mich hätte beruhigen können; meine Nerven begannen völlig zu flattern, als das Kamerateam sich wieder vor mir aufbaute.

»Warum nimmst du hier teil?«, wollte der Reporter wissen und mir brach der Schweiß auf der Stirn aus. Meine Antworten auf diese Frage waren zu vielschichtig, um sie in einem kurzen Satz beantworten zu können, darum sagte ich das Erste, das mir einfiel: »Um zu gewinnen.«

Der Reporter lachte, und die Verlegenheit trieb mir die Röte ins Gesicht. »Ein ziemlich hochgestecktes Ziel.«

»Ich glaube nicht, dass die anderen hier sind, um sich die Zeit zu vertreiben«, erwiderte ich spitz.

Bevor eine Reaktion folgen konnte, öffnete sich zum Glück die Tür vor mir; ein wütender Typ stürmte an mir vorbei und schimpfte so laut, dass man es selbst dann noch hören konnte, als er das Gebäude schon verlassen hatte. Ich sah ihm nach und vergaß beinahe, dass ich nun an der Reihe war.

»Der Nächste, bitte!«, rief eine nette Frauenstimme aus dem Raum.

Der nächste Schritt war der Schwerste meines Lebens.

Die Tür schloss sich hinter mir mit einem lauten, endgültigen Geräusch. Der Raum war viel kleiner, als er im Fernsehen wirkte. Überall lagen Kabel herum, die man als Zuschauer nie sah. Ich musste aufpassen, dass ich nicht stürzte, als ich mir meinen Weg vor das Jury-Pult bahnte.

Dahinter saß neben zwei mir unbekannten Gesichtern die Musikproduzentin des deutschsprachigen Raumes! Ich wusste, dass sie nur wenige Jahre älter war als ich, doch alles an ihr strahlte Glamour und Erfolg aus. Ihre stahlblonden Extensions reichten bis über ihre Hüften und ihre großen braunen Rehaugen – umrahmt von massig falschen Wimpern und Kajal – täuschten perfekt über ihren scharfen Verstand und ihre Gnadenlosigkeit hinweg. Vor mir saß Daniela Börner. Neben ihr saß eine eher unscheinbare junge Frau mit Brille und einem netten Gesicht, aus dem mich zwei blaue, wissende Augen anlächelten. Das musste die Frau sein, die mich in den Raum gerufen hatte. Neben ihr befand sich der Beleibte, der den ersten Kandidaten in den Raum gerufen hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie mich alle auffordernd anstarrten.

»Hallo!«, sagte ich nervös.

»Wie heißt du?«, fragte Daniela, obwohl ich wusste, dass mein Name auf dem Zettel vor ihr stand.

»Fay.«

»Ziemlich wortkarg«, scherzte der Beleibte und alle lachten. Die Anspannung in meinem Bauch löste sich etwas. »Ich habe ziemliche Angst.«

»Das musst du nicht«, sagte die Frau in der Mitte schwesterlich. »Was möchtest du denn singen?«

»›A Moment Like This‹ von Kelly Clarkson.«

Daniela pfiff durch die Zähne und runzelte die Stirn. »Dann versuch mal dein Glück.«

Ich holte tief Luft und sandte ein Stoßgebet zu allen Göttern, ehe ich begann. Während ich sang war es, als würde ich mir selbst dabei zuschauen. Ich war nicht mehr wirklich Herrin über das Geschehen. Fast war es so, als lenke das Schicksal die Fäden. Und auch meine Stimme.

»Stopp!« Daniela winkte übertrieben mit beiden Armen ab. Ich sah erschrocken auf und dachte nur: Was kommt denn jetzt? »Perfekt ist was anderes, aber ganz klar hast du für mich etwas, aus dem sich noch mehr machen lässt. Ich würde das probieren.«

Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört und in meinem Kopf fing es schon wieder zu rattern an, doch da fuhr schon die zweite Frau fort: »Das sehe ich ganz genauso wie Daniela. Holger?«

Der Beleibte lachte warm und erwiderte: »Hoffen wir, dass du in Berlin mehr Selbstvertrauen an den Tag legst. Es geht doch!«

In meinem Kopf hatte sich eine dröhnende Leere eingestellt, und ich nahm den Zettel mechanisch entgegen. Als ich wieder aus der Tür trat, spürte nichts anderes als das dünne Pergament zwischen meinen Fingern und stand komplett neben mir. Das konnte unmöglich wirklich passieren!

Draußen sahen mich alle fragend an. Ich flüsterte nur verständnislos: »Ich bin weiter …«

Alle in Hörweite beglückwünschten mich lächelnd, der süße Typ zeigte mit dem Daumen nach oben. Ich hoffte nur noch, ich würde nicht allzu bald erwachen.

Ich erkannte erst, dass es echt war, als ich Nicolás entdeckte, der mit verschränkten Armen an einer Wand lehnte und offenbar auf mich gewartet hatte. »Na? Überlebt?«

Er breitete die Arme aus und ich drückte ihn herzlich, dann flüsterte er grinsend: »Willkommen im Team, Kollegin.«

Kapitel 2Ein Traum wird wahr

Erschöpft schloss ich die Haustür auf. Meine Mutter kam mir entgegengestürmt und bombardierte mich sofort mit Vorwürfen. »Wo warst du denn den ganzen Tag? Hättest du uns nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen können? Ich habe gefühlt hundertmal versucht, dich auf dem Handy zu erreichen. Weißt du eigentlich, was wir uns für Sorgen gemacht haben?«

Ich stand da wie vom Donner gerührt und sah verblüfft meine total aufgelöste Mutter an. In der Tat hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein stilles Verschwinden so einen Wirbel verursachen würde. Etwas in meinem Herzen regte sich. Das erste Mal seit Jahren sprach ich sanft und weich mit meiner Mutter. »Das tut mir ehrlich leid, daran habe ich wirklich nicht gedacht. Lass uns uns bitte kurz hinsetzen. Ich erzähle euch in Ruhe von meinem Tag. Vielleicht versteht ihr dann, dass ich nicht daran gedacht habe, mich bei euch zu melden.«

Meine Mutter blinzelte überrascht ob dieser verständnisvollen Reaktion und ihr schienen die Worte zu fehlen. Vielleicht wären wir ja über die Jahre besser miteinander klargekommen, wenn wir beide mehr Rücksicht aufeinander genommen hätten. Ich habe immer nur meine Seite der Dinge gesehen, doch vielleicht hat sie sich einfach stets um mich gesorgt.

Diese Sicht der Dinge war mir völlig neu, und so viel Neues an einem Tag war ziemlich viel auf einmal. Ich wollte nur noch mit meiner fantastischen Neuigkeit hausieren gehen. »Wo ist Peter?«

»Einkaufen«, erwiderte sie und schloss, immer noch perplex, die Küchentür hinter uns. »Warum fragst du?«

Jetzt konnte ich einfach nicht mehr an mich halten und platzte geradewegs damit heraus: »Ich komme gerade aus München. Von einem Casting für DerTraum.«

Ihr klappte die Kinnlade herunter, und sie sah mich so an, als warte sie auf die Pointe für diesen schlechten Scherz. Als sie einsah, dass ich es ernst meinte, schüttelte sie langsam den Kopf. »Dort warst du die ganze Zeit? Ganz allein?«

Ich nickte strahlend.

»Wie bist du nur auf diese Idee gekommen? Was ist denn los mit dir?«

»Ich bin in der zweiten Runde!«, unterbrach ich sie triumphierend.

Noch einmal schien ihr die Spucke wegzubleiben. Sie begann einige Sprechversuche, scheiterte jedoch immer wieder kläglich. Dann fasste sie sich ans Herz und atmete ziemlich schnell. Ich fürchtete schon, sie bekäme einen Herzanfall, aber stattdessen wurde ihre Stimme schrill, und sie begann wie wild in der Küche auf und ab zu gehen. »Das ist ja unglaublich, Fay! Ich rufe sofort Jason, Lilly und Peter an. Sie müssen sofort hierherkommen. Sofort!« Ich hatte noch nie jemanden in so kurzer Zeit so oft das Wort ›sofort‹ benutzen hören und beobachtete verblüfft, wie meine kühle Mutter hektisch Töpfe, Teller und Pfannen aus den Küchenschränken zerrte, ehe sie mit dem Kopf im Kühlschrank verschwand. »Wir haben nichts da! Was soll ich nur kochen?«

»Ganz ruhig. Peter ist doch einkaufen, er bringt sicher etwas mit. Jetzt mach doch nicht so einen Aufstand!«, versuchte ich gerührt, sie zu beruhigen. Ich hatte mit einer völlig anderen Reaktion gerechnet, ihre freudige Erregung war zu viel für mich.

»Keinen Aufstand machen? Hörst du dir zu, was du da sagst? Dein ganzes Leben lang redest du von nichts anderem als vom Singen und jetzt …«

»Ich bin doch nur eine Runde weiter, Mutti«, beschwichtigte ich sie schnell.

»Ja, sicher.« Sie atmete tief durch. »Ich muss mich setzen.«

Eine halbe Stunde später saßen wir mit Peter, Jason und Lilly am großen Küchentisch und warteten darauf, dass die Tiefkühlpizza im Ofen fertig wurde. Niemand war mehr in der Lage dazu gewesen, etwas Richtiges zu kochen.

Alle sahen mich erwartungsvoll an. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich ihnen sagen sollte. Mir fehlten die Worte. Der Tag lag hinter mir wie ein viel zu ferner, wunderschöner Traum.

»Jetzt erzähl schon!«, forderte Lilly gierig. Ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber war kurzzeitig wie weggefegt. Ich hatte einen Fuß auf der Schwelle zu einer Welt, die uns beiden immer erstrebenswert erschienen war.

Also erzählte ich ihnen alles. Angefangen von der ewig dauernden Zugfahrt bis zu meiner Freundschaft mit Nicolás und schließlich dem Vorsingen vor der Jury.

»Da hast du aber ganz schön lange warten müssen, bis du dich endlich unter Beweis stellen konntest«, stellte Jason nach meinem Bericht fest. Ich war mir nicht sicher, ob er nur diesen Tag heute meinte oder mein gesamtes bisheriges Leben.

»Aber trotzdem hättest du viel eher zu Hause sein müssen, oder nicht?«, fragte Peter mit einem zweideutigen Unterton und zwinkerte.

Ich wurde rot. »Ich war mit Nicolás noch etwas essen und wir haben uns zu einem Treffen am Tag des zweiten Vorsingens verabredet, weil wir beide fremd in Berlin sind.« Gedanklich fragte ich mich plötzlich, ob es der Fremde, der meine Blicke auf sich gezogen hatte, auch bis in die zweite Runde geschafft hatte. Meinte das Schicksal es wohl so gut mit mir?

»Erzähl uns doch mal mehr über diesen Nicolás. Dir muss man ja alles einzeln aus der Nase ziehen«, forderte Lilly. Es war das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl hatte, dass sie mir zuhörte.

Ich zuckte unbehaglich mit den Schultern, da mir schwante, dass sich meine liebe Familie völlig auf dem Holzweg befand. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben über Gott und die Welt geredet. Er ist einfach ein verdammt lieber Kerl, der mir geholfen hat, mit meiner Aufregung klarzukommen.«

»Sieht er denn gut aus?«, fragte meine Mutter mit diesem typisch mütterlichen Grinsen, welches mir in dieser Situation gehörig auf die Nerven ging.

»Das ist völlig egal!«, erwiderte ich.

»Jetzt lasst sie doch damit in Ruhe«, fuhr Peter ärgerlich dazwischen, als sowohl Lilly als auch meine Mutter die Münder zu erneuten Protesten und Fragen öffneten. Nie war ich ihm dankbarer gewesen.

Ich spürte, dass mir der lange Tag langsam zu Kopf und in die Knochen stieg und wollte nur noch aus der Situation entkommen. »Entschuldigt mich bitte, aber ich bin todmüde und will jetzt nur noch ins Bett.«

»Okay. Gönn dir deinen Schönheitsschlaf«, sagte Lilly munter und zähneknirschend fragte ich mich, ob sie sich die Worte ›Du kannst ihn gebrauchen‹ verkniff.

»Das war ein großer Tag für dich, Schwesterherz. Du hast dir die Ruhe mehr als verdient«, sagte Jason und zwinkerte mir aufmunternd zu.

Erleichtert bedankte ich mich und machte mich daran, die Küche zu verlassen, als Peter mich noch einmal zurückrief: »Fay? Wir sind sehr, sehr stolz auf dich.«

Das war zu viel. Mir schossen Tränen in die Augen und ich wandte mich schnell ab, um die Treppe zu meinem Zimmer hinaufzustürmen. Diesen Satz hatte ich mein ganzes Leben lang noch niemals zu hören bekommen.

In meinem Zimmer angekommen, wollte das altbekannte erdrückende Gefühl der Einsamkeit gerade wieder zuschlagen, da klingelte plötzlich mein Handy. Ich fuhr erschrocken zusammen, da das Geräusch meines Klingeltons peinlicherweise ein längst vergessener Ton für mich geworden war. Ich sah neugierig auf das Display. Die Nummer war mir unbekannt.

Mit vorsichtiger Stimme nahm ich ab. »Ja, hallo?«

Ein herzliches, selbstbewusstes Lachen ertönte. Ich konnte es nicht gleich zuordnen, doch es war so ansteckend, dass ich einfach mitlachen musste.

»Nicolás hier. Sag nicht, du hast mich nach unseren schönen gemeinsamen Stunden schon vergessen!«, kam es dann neben weiteren Lachern aus dem Telefon heraus, und da war mir plötzlich, als zerbräche die dunkle Wand vor mir in tausend Teile. Hinter ihr befand sich nichts als Sonnenschein. Alle Bilder dieses Tages kehrten mit jeder seiner Silben wieder zu mir zurück. Ich hing an seinen Lippen wie eine Ertrinkende an einem Rettungsring.

Erleichtert warf ich mich bäuchlings auf mein Bett, das Handy noch immer fest ans Ohr gedrückt, und fragte fröhlich: »Woher hast du denn meine Nummer?«

»Ich habe gerade dein Facebook-Profil angeschaut. Süßes Foto, übrigens. Findest du es nicht waghalsig, wenn jeder im Internet an deine Handynummer rankommen kann?«

Kurz war ich sprachlos über so viel Einfallsreichtum und eine Sekunde später tief gerührt, dass er sich die Mühe gemacht hatte, um mit mir sprechen zu können. Zugegebenermaßen hatte ich in diesen Minuten tierisches Herzklopfen, aber das lag nur daran, dass ich so viel Aufmerksamkeit von einem Mann einfach nicht gewohnt war. »Bis jetzt hatte ich deswegen noch keinen Stalker.«

»Dann bin ich der Erste? Ich konnte den Gedanken daran, dich erst in einer Woche wieder zu sprechen, einfach nicht ertragen«, sagte er.

Ich hörte ihm an, dass er wieder schelmisch grinste, freute mich aber dennoch über seine Worte. »Ich freu mich so, deine Stimme zu hören! Es ist so seltsam, wieder zu Hause zu sein.«

»Das geht mir genauso«, erwiderte er, jetzt ganz ernst. »Als gehöre man gar nicht mehr dahin.«

Ich nickte, obwohl er mich gar nicht sehen konnte und wunderte mich darüber, dass mich ein Fremder so gut verstand. Vielleicht waren alle Vollblutmusiker ja irgendwie miteinander seelenverwandt, wenn es so etwas wie Seelenverwandtschaft überhaupt gab.

»Ich kann es kaum erwarten. Ich habe überhaupt keine Lust, am Montag zur Arbeit zu gehen«, gab ich dann freiheraus zu.

Nicolás lachte und fügte dann gehässig hinzu: »Tja, ich kann meine Vorlesungen einfach schwänzen und irgendwann wiederholen, sollte es mit DerTraum nicht so klappen, wie ich mir das denke.«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Soso, wie du dir das denkst. Und wie denkst du es dir, wenn ich fragen darf?«

Wir telefonierten bis tief in die Nacht hinein, meine Müdigkeit war wie weggefegt. Es war so leicht, mit ihm zu reden; so unkompliziert, ich selbst zu sein. Es war so leicht, bei ihm meine ganzen Sorgen zu vergessen, denn weit in meinem Hinterkopf lauerte noch immer die Angst vor dem Schritt, den ich nächste Woche einfach gehen musste – meinen Job kündigen.

Und was, wenn es bei mir mit DerTraum nicht so klappte, wie ich es mir vorstellte? Was stellte ich mir eigentlich vor? Und würde ich mit meinem mittelmäßigen Realschulabschluss dann wieder so eine wunderbare Arbeit finden? Aber wie hieß es doch so schön: Wer Freiheiten aufgibt, um sicher zu sein, verdient weder Freiheit noch Sicherheit. Ich musste den Sprung ins kalte Wasser einfach wagen.

»Du hast Angst, oder?«, fragte Nicolás plötzlich sanft in meine Gedanken hinein. Ich erschrak darüber, wie schnell es ihm gelang, in meine Gedanken hineinzusehen, während ich noch nicht einmal vor ihm stand.

Ich war so verblüfft, dass ich nur ehrlich sein konnte: »Ja, klar. Wenn man bedenkt, was alles schiefgehen könnte.«

»Angst zu haben ist nie falsch, aber du musst auch den Mut für etwas Neues haben. Wer weiß, vielleicht verpasst du sonst die Chance deines Lebens. Selbst, wenn du nicht gewinnst, könntest du entdeckt werden oder es passiert dir etwas anderes Tolles. Das ist eine einmalige Chance für dich, Süße.«

Ich war gerührt, wie sehr er eine seiner Konkurrentinnen überzeugen wollte, dass sie das Richtige tat. »Ich werde gleich am Montag mit meiner Chefin reden.«

»Gut so, Tiger! Zeig es ihnen.«

Ich musste wieder lachen. Unser Gespräch zog sich noch eine halbe Stunde hin, bis wir es schafften, uns voneinander zu verabschieden. Ich glaube, ich war für ihn genauso die erste und vorerst einzige Verbindung zu DerTraum, wie er für mich.

Überraschenderweise hielt ich gleich Montag mein Wort und machte mich ohne Umschweife sofort auf den Weg, um mit meiner Chefin zu sprechen. In meinem Magen regte sich ein nervöses Flattern.

Als ich an die Tür ihres Büros klopfte und gleich darauf eintrat, war sie nicht gerade bester Laune. Vor ihr stapelten sich die Papiere in die Höhe. Sie hatte ihre Lesebrille auf der Nase und die Augen auf einen dicken Ordner vor sich geheftet. »Gut, dass Sie kommen. Ich brauche dringend Ihre Hilfe!«

Mein Herz sank in die Hose. Kurz überlegte ich ernsthaft, wieder den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und alles hinzuschmeißen. Oder feige ohne ein Wort einfach nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Doch dann musste ich daran denken, was Marlies Müller schon alles für mich getan hatte – wie sie in der Ausbildung zusammen mit mir Buchhaltung gebüffelt hatte –, und verwarf diesen dummen Gedanken sofort.

»Das kann ich gerne noch für Sie erledigen, doch danach muss ich dringend mit Ihnen sprechen«, sagte ich stattdessen.

Sofort flog ihr Kopf bei dieser entschlossenen Rede meinerseits nach oben. Sie lehnte sich zurück, nahm ihre Brille ab und bedeutete mir mit einer knappen Geste, mich auf den Stuhl ihr gegenüber zu setzen. »Was haben Sie auf dem Herzen?«

Es war typisch für sie, dass sie sofort zum Kern des Problems vordringen wollte, weil sie der Ansicht war, dass ein Mensch nur dann wirklich gute Arbeit leisten konnte, wenn alle Unklarheiten beseitigt waren.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll und ich fürchte mich vor Ihrer Reaktion«, erwiderte ich ehrlich.

»Also bitte, nun ist aber Schluss. Habe ich Ihnen je Grund dazu gegeben, sich vor mir zu fürchten?«, fragte sie barsch.

Ehrlich gesagt fürchtete ich ihre Launen schon seit Beginn meiner Ausbildung, doch ich hielt es für klüger, das an diesem Punkt des Gespräches lieber nicht zu erwähnen.

Ich atmete schwer aus und ein, dann brachte ich es hinter mich. Das war fast noch schwerer als das Vorsingen vor der Jury! »Ich war Samstag zu einem Casting von DerTraum und bin in die nächste Runde gekommen, deshalb bräuchte ich eine Freistellung auf unbestimmte Zeit oder eine Kündigung im beidseitigen Einvernehmen.«

Sie sah mich nicht einmal an. Lange Zeit reagierte sie gar nicht und putzte nur seelenruhig ihre Brille an einem Zipfel ihrer Bluse. Ich begann mich schon zu fragen, ob sie überhaupt verstanden hatte, was ich gesagt hatte, da begann sie endlich zu sprechen und mir wurde klar, dass sie sich Bedenkzeit gegönnt hatte. »Nun, das nenne ich mal direkt. Obwohl Sie immer hervorragende Arbeit geleistet haben, habe ich Sie nie zuvor so direkt und entschlossen wie gerade eben erlebt, was mir zeigt, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, Ihnen schon jetzt guttut.«

Das war nicht gerade eine aufschlussreiche Antwort auf meine Frage. Ich starrte sie unsicher über den Tisch hinweg weiter an und wartete darauf, dass sie noch etwas sagte. Sie tat es mir gleich.

Dann geschah etwas, bei dem ich das Gefühl hatte, als Außenstehende mir selbst zuzusehen, weil ich etwas tat, was ich nicht bewusst vorgehabt hatte und sogar als unklug empfand. Ich erhob mich, stützte mich entschlossen auf dem Tisch ab und sagte geradeheraus mit fester Stimme: »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und für die jahrelange Hilfe. Ich habe gerade das Gefühl, Sie im Stich zu lassen, was sich schrecklich anfühlt, aber ich möchte kündigen. Ich muss das tun. Hier und jetzt. Ich kann nicht einfach in dieses Leben zurück. Für mich ist auf einmal alles anders.«

Schockiert über meine eigenen Worte klappte ich den Mund wieder zu, während sie mir schweigend eine Kündigung ausstellte und mir diese, still lächelnd, über den Schreibtisch zuschob. »Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben.«

Ich sah sie schockiert an. Das war viel zu leicht! Vielleicht war ich hier doch entbehrlicher, als ich gedacht hatte. Sie lachte, als sie meine säuerliche Miene sah. »Ich habe nur nicht reagiert, weil ich wollte, dass Sie von allein kündigen. Ich kann Ihnen diese Entscheidung nicht abnehmen, halte sie aber für richtig, wenn ich den Ausdruck in Ihren Augen sehe, wenn Sie jetzt hier bei mir Ihr Recht einfordern. Ich glaube nicht, dass Sie das je zuvor in Ihrem Leben schon getan haben.«

Ich schluckte und steckte die Kündigung mit gemischten Gefühlen in meine Tasche. »Und das ist wirklich okay? Sie kommen klar?«

»Ich habe schließlich noch Mindy und Paul, oder nicht? In der Tat habe ich ohnehin gerade überlegt, ob ich nicht wieder einen Lehrling ausbilden sollte. Vielleicht gelingt mir ja noch einmal ein ähnlicher Glücksgriff.«

Ich schluckte. Das schlechte Gewissen wollte nicht verschwinden. »Ich kann heute bleiben und Ihnen mit dem Papierstapel helfen.«

»Es war zu erwarten, dass Sie das anbieten«, erwiderte sie vergnügt. »Danke, aber nein, danke. Um eines möchte ich Sie allerdings doch noch bitten.«

»Natürlich«, sagte ich sofort und sie schob mir ein leeres Blatt Papier über den Tisch zu.

»Ein Autogramm, bitte!«

Ich sah sie entgeistert an. Wollte sie mich auf den Arm nehmen, weil sie das alles so lächerlich fand? Doch als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nur geduldig abwartend zu mir zurückstarrte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir einen Stift zu nehmen und ihn zittrig auf dem Papier anzusetzen. Als ich fertig war, sah ich mit klopfendem Herzen auf meinen eigenen Namen herab, der plötzlich so exotisch wirkte in diesen geschwungenen Lettern.

»Na bitte.« Damit schnappte sie sich das Papier und pinnte es kurzerhand an ihre Pinnwand. Ich schluckte. »Jetzt habe ich das Erste. Dann bleibt mir nichts anderes mehr, als Ihnen viel Glück für Ihre Zukunft zu wünschen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen«, sagte ich erleichtert.

Am nächsten Tag saß ich in meinem Zimmer und versuchte, mich krampfhaft auf die zweite Runde vorzubereiten. Dieses Mal hatte ich mir den Badfinger-Song ›Without you‹ ausgesucht, in der Cover-Version von Mariah Carey. Ehrlich gesagt war ich kein großer Fan von ihr, doch dieses Lied hatte es mir bereits angetan, als ich kaum acht Jahre alt war.

Ich weiß noch, dass wir gerade alle an der See im Urlaub gewesen sind, als es im Radio rauf und runter gespielt wurde. Die ersten Klaviertöne hatten mich gleich genauso bezaubert wie das Meer und so verband ich sie bis heute mit den tosenden, dunklen Wellen von damals.

Aber so sehr ich auch versuchte, Gefühl in meine Stimme zu bringen, so merkte ich doch, dass es mir einfach nicht gelingen wollte. Das Lied war so anspruchsvoll, dass ich mich konzentrieren musste, alle Töne zu treffen und sie vor allem halten zu können.

Außerdem wusste ich nicht einmal, wie es sich anfühlte, nicht mehr ohne jemanden leben zu wollen. Ich kannte das Gefühl nicht, jemanden zu brauchen, weil ich mir früh beigebracht hatte, nur auf mich selbst angewiesen zu sein. Ich wollte etwas Flehendes in meiner Stimme haben, wie Mariah es bei diesem Song perfektioniert hatte, doch ich wusste nicht, worum ich überhaupt bitten sollte. Nach und nach wurde ich immer niedergeschlagener.

Ich hatte gekündigt! Hatte einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben gezogen, oder nicht? Ich wusste, was ich wollte! Und ich wollte es nur noch so, und nicht mehr anders! Auf keinen Fall wollte ich mehr zu den Menschen gehören, die sich einen Leckerbissen vom Leben zeigen ließen und dann niemals das ganze Kuchenstück bekamen.

Da wusste ich plötzlich genau, welche Emotionen ich in meinen Gesang hineingeben musste – genau diese. Okay, ich hatte keinen Menschen, den ich mehr wollte als mein eigenes Leben, aber dafür hatte ich ein solches Ziel, auch das war schon einmal mehr als die meisten Menschen hatten. Ich strotzte nur so vor Entschlossenheit. Jetzt oder nie!

Zufrieden ging ich zum Fenster hinüber, um in den nächtlichen Himmel zu sehen. Er war mit Sternen übersät. Vielleicht gab es ja wirklich Hoffnung und alle Türen standen mir offen. Vielleicht gab es sogar diese eine große Liebe für mich.

Ich dachte an all meine kurzen Beziehungen zurück – die Längste davon hatte gerade einmal ein halbes Jahr gehalten, war aber auch gleichzeitig die intensivste gewesen. Und das bei einer Fernbeziehung. Auch wir hatten uns – wie Frau Müller und ich heute – im gegenseitigen Einvernehmen getrennt. Ich weiß nicht, wem es mehr das Herz zerrissen hat. Er hat die Entfernung irgendwann nicht mehr ertragen, während ich gelernt hatte, mit diesem bittersüßen Schmerz zu leben. Ich wäre für ihn durch die Hölle gegangen und zurück. Aber er war nicht stark genug, zu jung für diese Art von fester Bindung und tiefen Gefühlen, die wir schon füreinander empfunden hatten.

Vielleicht hätte ich kurz nach der Trennung auch gesagt, dass ich nicht mehr ohne ihn leben kann, doch ich hatte überlebt. Es war der schlimmste Schmerz in meinem Leben gewesen, doch er hatte mich gelehrt, dass man auch den größten Schmerz überleben kann, wenn man nur wollte. Auch hier hatte die Musik mich gehalten. Ich hatte mich von meiner Lieblingsband auffangen und davontragen lassen und hatte ihr allein mein Herz gegeben, damit es niemals wieder zerstört werden konnte.

Jetzt merkte ich allerdings, dass ich wieder bereit war, dieses Wagnis erneut einzugehen. DerTraum hatte mir jetzt schon mehr Mut gegeben, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben besessen hatte.

Just in dem Moment, als ich diese Gedanken hegte, bekam ich eine SMS von Nicolás.

Was machst du grade? Ich überleg mir schon mal einen Künstlernamen für mich. Fällt dir einer ein? Liebe Grüße vom Gewinner von DerTraum …

Ich grinste und tippte kichernd zurück:

Hm, wie wäre es mit ›charmantes Schlitzohr‹? Ich denke gerade darüber nach, wie ich es dir schonend beibringe, wenn ich gewonnen habe. Grüße vom Megastar.

Grinsend schickte ich die SMS ab. Immer wieder von Neuem war ich über mich selbst verwundert, wenn ich Kontakt zu Nicolás hatte. Könnte ich mit jedem so unbeschwert reden und ich selbst sein, wäre mein Leben bis jetzt ganz anders verlaufen. Andererseits hätte ich Nicolás dann vielleicht nie kennengelernt.

Als ich mich ins Bett legte, beschloss ich, am nächsten Tag einkaufen zu gehen, um mich komplett neu einzukleiden. Dazu brauchte ich aber gute Beratung, und ich hatte ohnehin keine Lust, allein einkaufen zu gehen. Das hätte viel mehr zu der alten Fay gepasst.

Also rief ich kurzerhand eine alte Schulkameradin an. Sie war so ein Mensch, bei dem man sich, selbst wenn man jahrelang keinen Kontakt hatte, immer wieder melden konnte, ohne dass es Vorwürfe oder Unklarheiten gab.

Kapitel 3Ich bin keine Diva!

»Hey, Mausi!« Tina fiel mir sofort um den Hals, als sie mich sah und ich fühlte mich sogleich um drei Jahre zurückversetzt, als wir uns jeden Tag vor der Schule so begrüßt hatten. Seltsam, dass man sich – sobald man eine Arbeit hat – keine Zeit mehr für diese kleinen Dinge nimmt. Das stundenlange Telefonat letzte Nacht hatte das Eis bereits wieder gebrochen. So machten wir einfach da weiter, wo wir bei unserer Abschlussfeier aufgehört hatten.

»Wie geht es dir?«, fragte ich gut gelaunt.

»Super natürlich«, antwortete sie lachend. »Ich tanze immer noch und trete jetzt sogar für Geld auf größeren Veranstaltungen auf. Hochzeitsfeiern, Betriebsfeste – diese Dinge. Aber das ist ja nichts gegen dich! Damit stellst du alle in den Schatten.«

Ich kratzte mich verlegen am Kopf. »Das ist eigentlich nicht meine Absicht.«

»Nein, natürlich nicht. Das passt auch nicht zu dir. Trotzdem ist es so«, erwiderte sie fröhlich. »Das hätte dir niemand je zugetraut!«

Ich wusste, dass sie die Worte nicht böse meinte, dennoch versetzten sie mir einen Stich. War ich wirklich so unscheinbar gewesen?

»Ich wusste aber immer, dass du irgendwann aus deiner Schale brichst. Du hast dich immer in dich selbst zurückgezogen und oft traurig gewirkt. Jetzt habe ich das Gefühl, einen ganz neuen Menschen vor mir zu haben.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es tut, das zu hören!«, erwiderte ich ehrlich. »Wie wäre es, wenn du heute bei mir übernachtest? Genau wie früher! Heute kommt die Fernsehübertragung der Casting-Zusammenschnitte.«

»Da fragst du noch? Liebend gern! Aber jetzt wird erst einmal geshoppt, bis uns Hören und Sehen vergeht. Wir wollen ja, dass du alle in Berlin umhaust.«

Einmal mehr fragte ich mich, warum ich nicht schon eher wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte.

Kaum im Kaufhaus angekommen, steuerte sie sofort auf einen Schuhladen zu.

»Sollten wir nicht zuerst das Outfit aussuchen?«, fragte ich zweifelnd. Sie wischte meinen Einwand einfach mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite.

»Das wird um die Schuhe herum aufgebaut. Du brauchst hohe Hacken, wenn du eine Diva sein willst.«

»Ich bin keine Diva!«, widersprach ich. »Außerdem kann ich darauf nicht laufen.«

»Das bringe ich dir bei.«