Bei den Wölfen - Sarah Hall - E-Book
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Bei den Wölfen E-Book

Sarah Hall

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Beschreibung

Eine starke Frau zwischen Wildnis und Zivilisation – „Sarah Halls Prosa ist meisterhaft.“ Chicago Tribune

Eigentlich wollte Rachel Caine nie mehr nach England und zu ihrer schwierigen Familie zurück. Die Wolfsexpertin lebt seit zehn Jahren in Amerika und geht in ihrer Arbeit auf. Doch dann stürzt das Angebot eines einflussreichen Lords, auf seinen Ländereien ein Wölfspärchen anzusiedeln, sie in Konflikte. Aber zu ihrer eigenen Überraschung sind ihre Heimkehr, eine ungeplante Schwangerschaft und die intensive Arbeit in der wilden Landschaft des Lake District die beste Medizin für ihre Seele. Sie kann sich sogar vorsichtig auf eine neue Liebe einlassen und kommt zur Ruhe. Bis ein unvorhergesehenes Ereignis die eigentlichen Motive ihres Arbeitgebers entlarvt.

In Sarah Halls außergewöhnlichem Roman verbinden sich eine lyrische und zugleich kraftvolle Sprache, starke und ungewöhnliche Bilder, vielschichtig-kantige Figuren sowie ein attraktives Thema zu einem Leseerlebnis der Extraklasse.

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Über das Buch:

Eigentlich wollte Rachel Caine nie mehr nach England und zu ihrer schwierigen Familie zurück. Die Wolfsexpertin lebt seit zehn Jahren in Amerika und geht in ihrer Arbeit auf. Doch das Angebot eines exzentrischen Earls, auf seinen Ländereien ein Wolfspaar anzusiedeln, stürzt sie in Konflikte. Zu ihrer eigenen Überraschung sind die Heimkehr und die intensive Arbeit in der wilden Landschaft des Lake District die beste Medizin für ihre Seele. Sie kann sich sogar vorsichtig auf eine neue Liebe einlassen. Aber als Rachel merkt, dass ihr Arbeitgeber die Wölfe für seine dubiosen politischen Ziele einsetzen will, muss sie sich entscheiden.

In Sarah Halls hoch gelobtem Roman verbinden sich eine lyrische und zugleich kraftvolle Sprache, starke und ungewöhnliche Bilder, vielschichtig-schillernde Figuren sowie ein attraktives Thema zu einem Leseerlebnis der Extraklasse.

Über die Autorin:

Sarah Hall, Jahrgang 1974, studierte Literatur an der schottischen Universität St. Andrews. Sie hat bisher fünf Bücher veröffentlicht, die alle mit bedeutenden Preisen und Stipendien ausgezeichnet und von der Kritik bejubelt wurden. Feministische Themen und intensive Naturbeschreibungen verbinden sich in ihrem Werk, das in zwölf Sprachen übersetzt ist, auf überraschende, ungewohnte Weise. Sarah Hall lebt mit ihrer Familie in Norfolk.

Sarah Hall

Bei den Wölfen

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Knaus

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Wolf Border« bei Faber&Faber Limited, London.

1. Auflage

Copyright © 2015 by Sarah Hall

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: Trevillion images / Marta Bevacqua

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-16578-9V001

www.knaus-verlag.de

Für Fiona

Susiraja

(Finnisch) – wörtlich »Wolfsgrenze«: Die Grenze zwischen der Hauptstadtregion und dem Rest des Landes. Der Name legt nahe, dass alles jenseits dieser Grenze Wildnis ist.

ALTES LAND

Es kommt nicht oft vor, dass sie von ihnen träumt. Tagsüber sind sie kaum zu sehen, halten sich im hohen Gras des Reservats auf, verschwinden aus der Umgebung ihres Baus. Sie sind flink oder träge, bewegen sich durch ihr eigenes lohgelbes Farbspektrum und schlafen unter Baumstämmen – in jedem Fall leicht zu übersehen. Sie haben die Kunst des Sich-unsichtbar-Machens perfektioniert. Nachts finden sie sich wieder ein. Die Kameras erfassen sie, rote Augen, dunkel verfärbte Schnauzen, bei der Rückkehr von der Jagd. Oder sie hört sie entlang der Pufferzone heulen, eine langgezogene Vielstimmigkeit. Zuerst einen, dann viele. Nachts ist man nicht auf Vorstellungen, auf Träume angewiesen. Nachts herrschen sie auch außerhalb der Fantasie.

Jetzt liegt früh gefallener Schnee im Chief-Joseph-Reservat. Die Kiefern biegen sich duldsam, die Flüsse sehen Weiß. In den Hütten im Hinterland werden Wildfleischvorräte angelegt, und Rohre beginnen einzufrieren. Millionärsfarmen stehen leer; die Thermostate sind eingestellt, die Gatter verschlossen. Die Straßen sind frei, doch es kommen nur wenige Besucher. Die Sommertagungen und Powwows sind längst vorbei. Nur die Kasinos machen noch Geschäfte mit Touristen, Junggesellenabschieden und spielsüchtigen alten Schachteln, neonbeleuchtete Wiedergutmachung. Bald wird auch das Rudel fort sein – im Norden, hinter den Karibus her –, das Zentrum wird über Winter schließen, und sie fliegt nach Hause, nach England. Ihr erster Besuch dort seit sechs Jahren. Der letzte endete schlimm, mit einer Auseinandersetzung, einem Familienzerwürfnis. Nun hat man sie aufgefordert, sich der Marotte eines reichen Mannes anzunehmen, eines Mannes, dem fast ein Fünftel der Grafschaft gehört, aus der sie kommt. Und ihre Mutter ist todkrank. Weder die eine noch die andere Aufgabe ist dringend; beide Beteiligten werden warten, mit unterschiedlich großer Geduld. Unterdessen Schnee. Die Chief-Joseph-Wölfe wittern Hufspuren, unternehmen Ausfälle aus ihrem Bau. Die Welpen sind groß geworden und bereit, sie werden jetzt jeden Tag ihre Wanderung antreten. In Lapwai kommen die Stammesräte zusammen, um über Stipendien, Straßeninstandsetzung, die Jagdquote des Gouverneurs und den Schutz des Rudels zu beraten. Im Osten, über den Lagern der Survivalisten, steht tief und trübe der Komet Hernandez.

In der Nacht, bevor Rachel Idaho verlässt, träumt sie dann doch von ihnen, und von Binny. Binny sitzt in einem langen Ledermantel auf einer Holzbank vor den Volieren in dem alten Wildpark und raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Sie hat kurzes, dunkles Haar und trägt eine grüne Cloche. Es ist Rachels Geburtstag. Das hat sie sich gewünscht – einen Tag in Setterah Keep, der verfallenen Menagerie aus dem 19. Jahrhundert in den Wäldern des Lowther Valley. Sie sind am Wildschweingehege, an Ottern und Pfauen vorbei zu den Eulen gegangen. Binny mag den Malayen-Uhu, mag seine Federohren, die starren orangefarbenen Tunnel seiner Augen. Sie sitzt ruhig da, raucht und sieht zu, wie der Vogel mit seinen gestutzten Flügeln schlägt und sich putzt. Unter ihrem Mantel ist sie nur Knochen und Busen: Ein Körper, der unbekleidet besser zur Geltung kommt, dazu geschaffen, Männer ins Verderben zu stürzen. Noch nicht mit Rachels Bruder schwanger. Ihre grünen Nylonhosen prickeln von Reibungselektrizität, wenn Rachel sich dagegen lehnt. Der gedrungene, geduckte Vogel streicht durch die Voliere zu seinem Futter, verschlingt eine Maus im Ganzen, bis zum Schwanz. Rachel hasst Eulen. Sie gleichen dicken Bürsten – eine alberne Form für ein Lebewesen. Sie schwenken und drehen den Kopf und haben einen scharfen spitzen Schnabel. Als sie in die Hütte geht, um sich die mondweiße Eule anzusehen, bekommt sie von der Dunkelheit Kopfschmerzen. Im Vogelschuppen stinkt es nach Kalk, Federn und Moder. Wieder draußen, setzt sie sich zu Binny auf die Bank und tritt gegen den Boden. Langweilst du dich, meine Kleine?, sagt Binny. Du wolltest doch hierher. Geh noch mal zu den Ottern.Du darfst dir auch ein Eis mitnehmen. Binny mag Freiheit. Der Mann im Süßigkeitenkiosk ist ihr sympathisch. Er bringt sie mit der Frage zum Lachen, ob sie Schwestern seien. Sie hält seinen Blick fest. Nun lauf schon, meine Kleine, sagt sie und zündet sich noch eine Zigarette an. Sei tapfer.

Rachel geht zum Otterteich, wickelt das Minz-Schoko-Eis aus und leckt an der grobkörnigen Halbkugel. Der Otterteich hat einen grün gefleckten Wassergraben mit einer Strömung wie ein Fluss. Die Otter paddeln auf dem Rücken darin herum und fressen Fischköpfe. Ihr Fell schmiegt sich ans Wasser. Sie schnattern miteinander. Unter dem Eis ist ein malziger Kegel. Rachel geht ins Schlangenhaus, wo an Terrarienwänden helle Insekten kleben. Die Schlangen bewegen sich langsamer als die Ewigkeit.

Binny unterhält sich immer noch am Kiosk, beugt sich hinein. Rachel hat ziemlich viel Bewegungsfreiheit – sie kennt sämtliche Wege um das Dorf, in dem sie lebt, die Feldwege und Viehtriebpfade über die Moore. Sie geht vorbei an den Papageien, die unter ihrem Netz aufeinander einkreischen, vorbei am Souvenirladen und den Toiletten, auf einer Brücke über einen Bach bis zu einem mit rußschwarzem Teeröl gestrichenen Tor, an dem ein Schild in roter Schrift hängt. Sie kann es nicht lesen, weil sie noch nicht zur Schule geht. Durch das Tor und zwischen die Bäume. Die Bäume riechen ebenfalls nach Minze. Plankenwege mit Hinweispfeilen, Schattenkorridore zu beiden Seiten. Sei tapfer. Es ist sehr still. Zwischen Baumstämmen ein Teppich aus braunen Nadeln, Rachels Schritte rufen ein winziges, seidiges Quietschen hervor. Abzweigung nach rechts. Abzweigung nach links. Ins dunkle, Licht filternde Grün. Am Boden des Kegels ist ein Schokoladenstummel. Sobald der weg ist, wird ihr bewusst, wo sie sich befindet.

Hier. An einem Zaun, hoch und gewichtig bis hinauf in die Bäume gebaut. Der Draht ist dick und kräftig, zu rautenförmigen Maschen geschlungen. Daran befestigt ein weiteres Schild. Vielleicht ist hier der Park zu Ende. Was ist auf der anderen Seite? Hallo? Sie greift nach oben und packt den Draht. Sie steckt die Fußspitzen in die Löcher und hievt sich hoch. Dahinter Buschwerk und ausgetretene Erde. Ein Bündel von etwas Blassrosafarbenem, mit Fetzen von struppigem Haar und summenden Fliegen. Sie lehnt sich zurück, beugt die Knie, wiegt sich und bringt das Metall zum Klirren. Dahinter Leere. Zitternde Blätter. Hallo?

Er kommt zwischen den Büschen hervor, wie dazu aufgefordert. Er kommt erbarmungslos nach vorn auf sie zu, mit sich hebenden Pfoten, rasch, aber ohne zu rennen. Ein Begriff, den sie bald lernen wird: geschnürter Trab. Er ist perfekt gebaut: lange Beine, ausgeprägter Brustkorb, gegen die Kälte in dichtes graues Fell gehüllt. Er kommt ganz nah an den Draht, bleibt stehen und sieht sie an, der Blick fest; reines gelbes Starren. Lange Nase, die schwarze Spitze zuckend, kurze Mähne. Ein Hund, bevor es überhaupt Hunde gab. Der Gott aller Hunde. Er ist ein Geschöpf, so großartig, dass sie es kaum fassen kann. Aber er erkennt sie. Er sieht und riecht Tiere wie sie schon seit zwei Millionen Jahren. Er steht da und sieht sie an. Gelbe Augen, schwarz umrandet. Seine Gedanken namenlos. Sie hält sich am Zaun fest, aber der Zaun ist fast verschwunden; sie hängt in der Luft, frei schwebend wie eine zarte Gabe. Jeden Augenblick wird er sich auf sie stürzen.

Im Schlaf hat Rachel zu atmen aufgehört. Durch weite Flächen von Schwärze fällt Schnee auf das Hüttendach; der Computer im Büro blinkt langsam, speichert E-Mails und Daten; die Elch-Saison ist eröffnet. Der Bau im Chief Joseph liegt verlassen, und das Rudel bewegt sich in einer Reihe durch das Gebiet der Bitterroot Mountains, Winternomaden. Rachels britischer Pass steckt in ihrer Jackentasche, ihre Mutter ist nicht mehr gesund und rüstig und liegt weit weg im Sterben. Nur zu, meine Kleine. Im Traum steht der Wolf da und sieht sie an. Unverwandt. Ein Mystiker aus dem Reservat hat sie einmal gebeten, das Gefühl von Verbundenheit zu beschreiben, das sie damals, als sie zum ersten Mal einen Wolf sah, empfunden hat. Was ihr Herz empfunden habe? Er hatte wohl gehofft, etwas daran verdienen zu können – sie war gerade erst angekommen, vielleicht würde sie ihm einen seiner Fellbeutel, ein Lederamulett, einen Zahn abkaufen. Ich glaube nicht, was Sie glauben, hatte sie gesagt.

Wie fühlt es sich an? Präerotische Angst. Das Herz in ihrem Brustkorb macht einen Sprung, riecht blutig. Sie lässt den Draht los und tritt auf den Boden. Sein Kopf senkt sich: seine Augen abermals fest, fein wie Gold, leidlos. Dann öffnet er den außergewöhnlichen Rachen. Darin ein Schimmer von Schärfe, weiße Halbmonde, Grate, schwarze, gefältelte Lippen. Eine lange, heraushängende Zunge. In ihrem Gehirn wird ein evolutionäres Signal ausgelöst. Was ein solches Maul bedeutet. Sie tritt zurück, dreht sich zur Seite und geht behutsam am Zaun entlang, die Fäuste geballt. Mit einem kurzen Trippelschritt wirft sich der Wolf herum und geht hinter dem Draht parallel zu ihr. Eine verschwommene Bewegung von langgestrecktem Grau, den Kopf zu ihr hingeneigt, ein beobachtendes Auge. Sie bleibt stehen, er bleibt stehen. Sie dreht sich langsam um und geht in die andere Richtung. Er macht einen Trippelschritt, dreht sich um und folgt. Ein Echo, ein Spiegel. Sie bleibt stehen. Was machst du denn? Seine Ohren spitzen sich, zucken nach vorn. Sie beginnt am Zaun entlangzurennen, über den rutschigen Waldboden, Nadeln und Zweige. Sie ist schnell. Aber er ist da, läuft neben ihr her, präzise, wechselt die Richtung, als sie sie wechselt, fast noch davor, und läuft denselben Weg zurück. Er dreht sich um, wie sie sich umdreht, rennt, wie sie rennt. Sie läuft so schnell sie kann durch den Wald von Setterah, am Zaun entlang, und er läuft mit ihr. Zwischen den Bäumen hindurch. Bis zur Ecke des Geheges, wo sie schwer atmend stehen bleibt und er ebenfalls stehen bleibt, sie ansieht. Was machst du denn?, sagt sie.

Aber sie weiß es bereits. Die Schichten von Schlaf lösen sich auf. Der Radiowecker plärrt, der Sender KIYE, ein Rocksong aus den Achtzigern. Ihre Schulter oberhalb der schweren Bettdecke ist kalt. Ihr Gehirn startet neu. Dieses Geschöpf der äußeren Dunkelheit – des Verbreitungserfolgs, der Sage und des Grauens, gejagt mit den Waffen jeder Epoche, mit Steinaxt, Speer, Fangeisen und Repetiergewehr – hat gespielt.

Fünf Uhr morgens, Mountain Time. Kyle wird sie vor Tagesanbruch zum Flughafen bringen, damit sie das Zubringerflugzeug nach Spokane erwischt. Sie liegt unter der Decke und lauscht dem Schnee, der sich leise vom Dach und von den Ästen schiebt. Setterah Keep: eine verlorene Welt. Als Kind war sie schrecklich gern zu Geburtstagen dorthin gegangen. Bis der Zoo Licensing Act 1981 vielen dieser Parks ein Ende machte und er schloss. Sie mussten schon ein Jahrhundert zuvor gewusst haben, dass die Gehege zu klein waren, Pferche, demenzielle Orte.

Nach Kaffee und einer Dusche, als sie richtig wach ist, ruft sie Binny an und erinnert sie daran, wann sie ankommen wird. Ja, Donnerstag. Ja, zum Abendessen, wenn der Verkehr nicht allzu schlimm ist. Dann erzählt sie ihrer Mutter untypischerweise von dem Traum. Nein, sagt Binny. Nein. Das war kein Traum. Eine Zeit lang hat es Wölfe im Park gegeben. Weißt du das denn nicht mehr? Ihr Kinder habt sie immer geärgert. Einer von ihnen ist entkommen, hat ziemlichen Schaden angerichtet.

*

Der Earl ist nicht zu Hause, als sie in Pennington Hall eintrifft. Seine Sekretärin hat sie vorgewarnt, dass er unzuverlässig ist und nur einige seiner Termine einhält. Das Vorrecht von Reichtum und Exzentrizität. Die Fahrt von London hat acht Stunden gedauert. Ein Stau am Flughafen und am nördlichen Autobahnring, ein Unfall südlich von Kendal, bei dem der Verkehr auf sämtlichen Spuren angehalten wurde, bis der Rettungshubschrauber auf der Fahrbahn landen und den schwer verletzten Motorradfahrer abtransportieren konnte. Auf den Straßen im Landesinnern geht es wie üblich schleppend voran: enge Fahrbahnen zwischen Trockensteinmauern und trödelnde Touristen. Ein Erdrutsch an einem der Bergpässe hat zur Sperrung der Straße geführt, deshalb hat sie an der Absperrung umkehren und die längere Straße an den Seen entlang in die westlichen Täler nehmen müssen. Die Fells erheben sich, tragen totes rostfarbenes Farnkraut auf ihren Hängen. Unterhalb sich ballender Wolken tritt Granit zutage. Sie stellt die Scheibenwischer auf Intervallschaltung, aber der Regen ist entweder zu kräftig oder zu fein; die Gummiwischerblätter quietschen, oder die Sicht verschwimmt. Das Navi berechnet neu, fordert sie auf umzukehren, die Strecke zurückzufahren, die sie gekommen ist. Sie schaltet es aus und kauft sich in einem Dorfladen eine Landkarte. In diesem Teil des Distrikts kennt sie sich nicht aus – ihr Heimatort liegt auf der anderen Seite der Berge.

Sie ist todmüde, als sie das Tor zum Gut erreicht, und von Jetlag und Tankstellenkaffee ist ihr übel. Aber sie ist wach genug, um die Schönheit der Landschaft wahrzunehmen – das in den Bäumen verblassende September-Rostrot, feucht und auf den Hügeln hell glänzend – und festzustellen, dass der See eine gute Reviergrenze abgäbe, wenn das hier noch Wildnis wäre. Es ist keine Wildnis mehr, seit der Urwald abgeholzt wurde. Das Tor zum Gut ist ein kunstvolles, schmiedeeisernes Ding, das ein Wappen trägt. Sie hält neben der Wechselsprechanlage, lässt die Seitenscheibe herunter und atmet tief ein. Moorland, Torf, Farne, Wasser und was immer mit dem Wasser in Berührung kommt: die Myrrhe des Herbstes. Sie hat sich an Fichte und Salbei gewöhnt, an den Geruch nach verdorbenem Gemüse, den die vom Reservat aus flussabwärts gelegene Papiermühle verströmt. Cumbrias typisches Aroma ist sofort erkennbar: Hochlandpheromone.

Sie streckt die Hand aus, um auf den Knopf zu drücken, aber das Tor öffnet sich geräuschlos. Sie wird über die Videoüberwachungsanlage beobachtet. Die Auffahrt ist lang und frisch gekiest, von Eichen gesäumt. Sie fährt an einem Baum vorbei, der so alt und von Rinde so feist ist, dass seine unteren Äste fast bis auf die Erde sacken. Man hat Holzstreben daruntergesetzt, um sie abzustützen. Neben der Auffahrt äsen ein paar Rehe. Sie heben die Köpfe, als sie vorbeifährt, und rühren sich nicht. Im Regen wirkt das aus rotem Stein erbaute Herrenhaus blutbefleckt. An der Fassade rankt sich struppiger Efeu empor, doch für ein Gebäude seiner Größe und seines Alters ist es von Verfall weit entfernt. Die Zinnen sind intakt; die Fenster teuer ersetzt. Wie es scheint, hat Thomas Pennington nicht unter schweren Zeiten, Erbschaftssteuern oder exorbitanten Abgaben zu leiden gehabt. Anders als so viele ländliche aristokratische Kolosse ist das Gebäude eindeutig kein Opfer demokratischen Wandels. Vielleicht stehen Park und Haus der Allgemeinheit offen, oder irgendwo hinter dem Irrgarten verbirgt sich ein lukrativer Tea Room, man kann Blumenzwiebeln und Schnittblumen kaufen, das Anwesen für Hochzeiten mieten, die üblichen Verwertungsmöglichkeiten. Oder vielleicht wurde das Geschäftsportfolio des Earls geschickt modernisiert, und er hat Schwarzgeldkonten. Rachel hält am Turm, neben einem schnittigen blauen MG und einem Kleintransporter, steigt aus und reckt sich. Die Luft ist feucht und kühl. In den Bäumen nahebei lärmen Krähen. Die Berge dahinter könnten aus ästhetischen Gründen errichtet worden sein – die Aussicht ist unglaublich schön.

Das Haupttor des Herrenhauses ist kompakt, mittelalterlich und versehen mit zahlreichen Riegeln: belagerungssicher. Zu beiden Seiten sitzen zwei Steinlöwen, die Mähnen von Flechten gesprenkelt. Es kommt ihr falsch vor, einen solchen Eingang zu benutzen, aber es gibt keinen anderen, kein Hinweisschild für Lieferanten. Sie drückt die Klingel, und drinnen ertönt ein eisenhaltiges Scheppern. Eine Frau öffnet die Tür: mittleren Alters, mollig, blaues Kostüm. Sie hat kastanienbraunes Haar, winterrosenfarbige Haut, trägt weder Schmuck noch Make-up. Eine überaus englische Erscheinung, aus einem England, das siebzig Jahre zurückliegt. Ein Rudel Jagdhunde zu ihren Füßen würde ihr stehen, denkt Rachel, eine aufgeklappte Flinte in der Armbeuge – wahrscheinlich hat es diese perfekte Verkörperung irgendwann gegeben. Die Frau stellt sich als Honor Clark, Sekretärin des Earls, vor.

Rachel gibt ihr die Hand. »Tut mir wirklich leid, dass ich zu spät komme. Der Flug hat sich verzögert. Schnee in Spokane. Wir haben zu lange auf der Startbahn gestanden – das Flugzeug musste noch einmal enteist werden. Fast hätte ich den Anschlussflug verpasst. Dann die Fahrt hierher … ich hoffe, er wartet noch nicht lange.«

Die Entschuldigung ist irrelevant. Er ist nicht da.

»Ich weiß auch nicht, wo er im Augenblick ist«, sagt Honor Clark. »Der Land Rover ist weg, was nichts Gutes verheißt, aber es bedeutet immerhin, dass er sich auf dem Besitz aufhält. Ich fahre in einer Stunde. Möchten Sie hereinkommen?«

Rachel sieht auf ihre Uhr. »Äh. Ja, okay. Danke.«

Sie folgt der Frau über die Schwelle in eine große, mäßig warme Empfangshalle, dann einen Flur entlang, in dem Darstellungen von Hirschen, Gemälde von Heaton Cooper und einige geschmackvolle abstrakte Bilder hängen. Sie wird in ein riesiges Gesellschaftszimmer geführt: aufwendige Möbelgarnitur, Bauhaussessel, Glasvitrinen, Bücherregale und ein gewaltiger steinerner Kamin. Auf dem Rost liegt kein Feuerholz, aber es ist warm, frei von mittelalterlicher Zugluft.

Die Sekretärin hebt die Hände, wie um etwas abzuwehren. »Ich kann Ihnen leider kein Abendessen anbieten. Thomas hat heute Abend eine Veranstaltung in Windermere, deshalb isst er auswärts. Wir haben diese Woche keine Gäste – der Koch hat frei.«

»Das macht nichts.«

»Wie gesagt, ich bezweifle, dass er zu sprechen sein wird, ehe er losmuss.«

»Okay. Aber ich habe einen Termin. Wahrscheinlich sollte ich warten.«

Die Sekretärin nickt und lässt die Hände sinken. »Sie haben gesagt, Sie bräuchten kein Hotelzimmer, also habe ich keines für Sie reserviert.«

»Ja. Ich wohne bei meiner Familie.«

»Sie sind von hier? Ich höre keinen Akzent.«

»Ich war eine ganze Weile weg.«

»Aha.«

Honor Clark führt sie durch das Zimmer, und Rachel setzt sich auf die Chaiselongue bei dem leeren Kamin. Schillernde chinesische Seide in fast perfektem Zustand. Ihre Hose ist stark zerknittert. Das Etikett auf der Innenseite des Bundes kratzt sie am Rücken, aber sie hat versäumt, es im Laufe des Fluges oder der Fahrt herauszureißen. Sie hat seit über einem Jahr keine Anzughose mehr getragen, seit der Tagung in Minnesota, auf der sie das Grundsatzreferat gehalten, in der Hotelbar mit Kyle und Oran zu viel getrunken, mit dem Vorsitzenden des IWC gestritten, wieder mit Oran geschlafen hat und einen Tag früher als geplant abgereist ist. Nicht direkt in Ungnade gefallen, aber auf dem besten Weg dahin. In den Bars und Restaurants von Kamiah, wo die Mitarbeiter des Zentrums am Wochenende hingehen, beschränkt sich der Dresscode für Männer wie Frauen auf Stiefel und Jeans. Seit ihrem Aufbruch im Zentrum hat sie nicht geduscht; jede Spur von Deo ist verflogen. Sie ist noch nie, in keinem Land, in dieser Gesellschaftsschicht empfangen worden. Auch wenn man den Zeitzonenkater und das Déjà-vu der Heimkehr berücksichtigt, kommt ihr das Ereignis zutiefst unheimlich vor.

Honor Clark tritt an das Sideboard. »Gut. Ich versorge Sie und lasse Sie dann allein. Möchten Sie einen Sherry?«

»Ja, gern.«

»Süß oder trocken?«

»Trocken.«

Die Sekretärin hebt eine der Karaffen aus geschliffenem Glas, zieht den Stopfen heraus und gießt eine schwere topasfarbene Flüssigkeit in ein Glas. Die Teppiche unter ihren Füßen sind von komplizierter Webart, pflaumenblau und seegrün, jeder zweifellos Tausende wert. Rachels Hütte im Wohnkomplex des Zentrums hat Selbstaufbauschränke und Linoleumböden, Kaffeebecher aus Plastik mit aufgedrucktem Chief-Joseph-Logo. Ihre ganze Hütte würde, wenn nicht in dieses geräumige Zimmer mit der Seidentapete, so doch in den Gebäudeflügel passen. Sie kommt sich vor wie in einer Art Dickens’schem Experiment, nur dass es nicht zu einer wohltätigen Vormundschaft, einem gesellschaftlichen Aufstieg kommen wird. Die ihr zugedachte Rolle ist noch nicht definiert worden. Beraterin? Bestellte Sachwalterin? Eine Art Spezialistin, die man in Zeiten extravaganter ökologischer Hobbys plötzlich in Anspruch nimmt?

Honor Clark reicht ihr ein zierliches, glockenförmiges Glas und steuert die Tür an. »Ich komme noch einmal wieder, bevor ich fahre. Muss noch ein paar Telefonate erledigen. Falls er auftaucht, schicke ich ihn zu Ihnen. Aber das ist, wie gesagt, unwahrscheinlich. Sie kommen so lange zurecht?«

»Ja. Wunderbar. Danke.«

Und fort ist sie, zurückgekehrt in die vertäfelte Opulenz der Herrenhausflure, zurückgekehrt in welche Kammer des Anwesens auch immer sie bewohnt, während sie das erratische Kommen und Gehen des Earls organisiert. Die Sonne tritt hinter einer Wolke hervor, und das Gesellschaftszimmer wird in feuchtes Lakeland-Licht getaucht. Rachel nippt an dem Sherry, der frisch und überraschend genießbar ist. Keine Spur von Staub oder schimmeligem Korken. Sie trinkt rasch aus, dann steht sie auf und durchquert das Zimmer.

Jenseits der hohen Fenster erstreckt sich der Besitz meilenweit. Mittlerweile ist es der größte Privatbesitz in England. Von der Fläche ist wenig verkauft worden. Ganz im Gegenteil: Thomas Pennington besitzt den größten Teil des privaten Waldgeländes in der Gegend, Gehöfte, die meisten leer, alles bis auf die Allmende. Am Horizont wälzen sich die Fells bläulich den kahlen Gipfeln entgegen. Am Fuße des abfallenden Rasens, am Seeufer, steht ein Reiki-Gebilde aus Holz – eines der anderen Hobbys des Earls vielleicht, jedenfalls sicherer als das Fliegen mit Ultraleichtflugzeugen, das ihn, wie bekannt, fast und seine Frau tatsächlich das Leben gekostet hat.

Die Oberfläche des Sees spiegelt kompliziertes Wetter. Auf einer Insel nahe dem gegenüberliegenden Ufer steht ein Zierbau aus rotem Stein, eine architektonische Miniaturnachbildung des Anwesens, und auf diese hält gerade ein winziges Ruderboot zu, das ein sanftes V über die wolkige Wasserfläche zieht. Die Westküste ist fünfundzwanzig Kilometer entfernt, hässlich und Standort eines Atomkraftwerks. Irgendwo dazwischen, hinter den Herbstbäumen, liegt das Gehege.

Man hat ihr Karten von dem Besitz geschickt. Topografisch gesehen lässt sich die Sache ohne Weiteres vertreten; es handelt sich um einen der wenigen Landstriche, wo ein solches Projekt möglich ist. Das neue Gesetz über Wildtierreservate hat dem Earl einen Freibrief für sein Vorhaben ausgestellt. Zweifellos hat er einige Strippen gezogen, damit es verabschiedet wurde. An der Absperrung wird schon gearbeitet. Geld scheint unbegrenzt vorhanden. Was er nicht hat, aber haben will, ist sie – die einheimische Expertin.

Sie zieht ihr Handy aus der Jackentasche. Binny hat angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Von Kyle sind zwei SMS gekommen. Left Paw Sender ausgefallen, möglicherweise Abwanderung. Scheckbuchhippie-Praktikant hat hingeschmissen, schulde dir50. Dann, außer Dienst: Was macht Merry Old England, schon ein warmes Bier getrunken? Er wird draußen sein und versuchen, Left Paw aufzuspüren, dessen Verschwinden nicht unerwartet kommt. Der junge Rüde hat bereits Solostreifzüge unternommen, sich darauf vorbereitet, eine Partnerin zu finden. Trotzdem, solche Vorkommnisse sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie hat eine weitere SMS von einem dortigen Ranger erhalten, verheiratet, aber hartnäckig. Ein Fehler während des Sommers. Auch das eine schlaflose Nacht. Sie löscht die Nachricht, ohne sie zu lesen.

Das Licht vor den Fenstern bleibt hell, doch über dem See hängen feine Regenschleier. Das Boot ist bei der Insel angelangt und hat festgemacht. Rachel geht an der Wand des Zimmers entlang, bleibt an einer Zwischentür stehen, öffnet sie. Eine Bibliothek. Sie geht davon aus, dass sie nichts Unbefugtes tut – hat sie nicht irgendwie das Recht dazu, solange sie wartet? –, und geht hinein. Auch dort ist ein Kamin, tief in die Wand eingelassen und mit Bänken, die Fliesen mit klassischen Szenen bemalt. An jeder Wand deckenhohe, nach Maß gefertigte Regale aus glänzendem, massivem Holz. Sie überfliegt den Inhalt. Ledergebundene antiquarische Bücher, Hardcover zeitgenössischer Romane, illustrierte Enzyklopädien über die Tierwelt. Eine eindrucksvolle Reihe Erstausgaben von Lyrikbänden: Auden, Eliot, Douglas. Ein großer Audubon-Foliant. Es ist eine bürgerliche Sammlung – mit nichts besonders Aufschlussreichem. Aber was für Hinweise erwartet sie überhaupt zu finden? Bände mit Okkultem? Märchen? Hat sie sich Thomas Pennington als Gothic-Fetischisten vorgestellt? Als Romantiker mit einer Vorliebe für exotische Haustiere? Wer ist dieser Mann, der sie für viel Geld über Tausende von Kilometern hat hierherkommen lassen?

Auf dem Kaminsims steht eine wuchtige Bronzereplik der Kapitolinischen Wölfin mit den unter ihr knienden, an ihr säugenden Kleinkindern Romulus und Remus. Es könnte, was weiß Rachel, sogar das Original sein. Sie hat gleich vermutet – sobald sie wusste, welcher Name mit dem Projekt verbunden war –, dass dieser landbesitzende britische Unternehmer, der bekannt dafür ist, im Parlament Ärger zu machen, Seeadler zu fördern und gegen die Bestandsreduzierung von Dachsen zu sein, es mit seinem neuesten Umweltprojekt todernst meint. Deswegen ist sie hier. Nicht wegen Binny, die einfach von der Großzügigkeit eines Fremden profitiert. Sie schließt die Bibliothekstür, geht ins Gesellschaftszimmer zurück, setzt sich auf die Chaiselongue, lehnt sich gegen das üppige Rückenpolster und macht die Augen zu.

Eine Dreiviertelstunde später wird sie von Honor Clark geweckt, die ihr höflich die Hand auf die Schulter legt. Sie trägt einen gegürteten braunen Regenmantel und hält eine ochsenblutfarbene Damenaktentasche in der Hand. Ein Kopftuch mit Paisleymuster ist unter ihrem Kinn verknotet. Am liebsten hätte Rachel gefragt, ob die Läden in der Grafschaft immer noch ohne jede Ironie solche Sachen verkaufen. Wird in den Zeitschriften für das Leben auf dem Lande immer noch dieser Look abgebildet?

»Wir werden den Termin streichen müssen«, sagt Honor Clark. »Können Sie morgen wiederkommen?«

Ihr Ton ist leicht triumphierend. Offensichtlich kennt sie die Gewohnheiten ihres Chefs; Gespür und Organisationstalent sind selbstverständlicher Bestandteil ihrer Arbeitsplatzbeschreibung, und es gehört sicherlich nicht zu ihrem Aufgabenbereich, sich für den unzuverlässigen Earl zu entschuldigen. Das Flugticket von Spokane war Business-Class, Rachels Mietwagen ist ein BMW. Sämtliche zusätzlichen Kosten während ihres Aufenthalts werden erstattet; alles, was sie tun muss, ist Quittungen aufbewahren und vorlegen. Falls der Mann selbst ein Chaot, vielleicht sogar ein Spinner ist, scheint das seiner Souveränität keinen Abbruch zu tun.

Rachel steht auf. »Klar. Morgen. Um wie viel Uhr?«

»Versuchen wir’s mal mit elf. Von neun bis zehn hat er Tai-Chi.«

Natürlich hat er das, denkt Rachel. Während sie durchs Zimmer geht, kratzt das Etikett in ihrer Hose sie am Rücken. Sie greift in den Bund, reißt es von der Plastiklasche ab, zerknüllt es und steckt es in die Gesäßtasche. Sie hat eine Woche Urlaub vom Chief Joseph, und in dieser Zeit kann sich ihr um sie werbender Wohltäter blicken lassen oder nicht, ganz wie es ihm beliebt. Es wird so oder so keine Rolle spielen; ihre Verpflichtung endet, nachdem sie mit ihm gesprochen hat. Sie weiß, sie wird den Job nicht annehmen, so reizvoll der Vorschlag oder so neugierig sie auch sein mag. Doch auch wenn sich sein Bemühen vielleicht als albern, als Zeitverschwendung herausstellt, es hat ihr immerhin einen Grund geliefert, nach Hause zu kommen.

*

»Bist du das, meine Kleine?«

»Du siehst kleiner aus, Mum.«

Es stimmt. Seit Rachels letztem Besuch ist Binny beträchtlich geschrumpft. Sie klammert sich an den Türrahmen ihres Pflegeheim-Apartments, einen buckelartigen Rundrücken unter dem wattierten Morgenmantel. Sie hat fast keine Haare mehr, ihre Kopfhaut ist so rissig und stumpf wie eine Kalkschale. Die Hand, die sich am Türrahmen festhält, sieht aus wie fossilisiert, wie etwas aus einem Moor oder einem versteinerten Wald Gezogenes, für ihren dünnen Arm unverhältnismäßig groß. Im Gesicht hat sie schuppig verkrebste Stellen. Seit Rachels letztem Besuch, als ihre Mutter noch imstande war, eine Vase gegen die Wand zu werfen, hat ein deutlicher Verfall stattgefunden.

»Du siehst aus wie eine Amerikanerin. Aber Staatsbürgerin bist du nicht, oder?«

»Noch nicht, nein.«

»Gut.«

Binny lässt die Tür los, und sie umarmen einander. Sie hält Rachel ungestüm fest, ein Griff, weit stärker, als ihre hinfällige Erscheinung vermuten lässt, ein Griff, der ihre Tochter daran erinnert, wie lange sie weg gewesen ist. Unter dem wattierten Morgenmantel dringt der Gestank von Schweiß und Ammoniak hervor, und einem Parfüm, das ihn kaschieren soll – nicht das Paestum Rose, das Binny einmal bevorzugt hat, Geschenk von Verehrern und hoch in der Mulde ihrer Oberschenkel getragen, sondern etwas Süßeres, Billigeres, ein Duft, der die Sünden des Körpers überdeckt.

Die dotterartigen Augen ihrer Mutter mustern sie. »Hast auch ein bisschen abgenommen. Du ernährst dich also nicht von Hamburgern und Fritten.«

»Meistens doch.«

»Dabei habe ich dir das Kochen beigebracht.«

Binny spricht mit einem leichten Lallen, einer Ansammlung von Speichel in einem Mundwinkel. Der Schlaganfall vor drei Jahren. Irgendwie hat es Rachel geschafft, die Behinderung während ihrer Telefonate nicht richtig zu registrieren. Binny versucht, ihrer Tochter in die Augen zu schauen, aber sie sieht nicht mehr sehr gut und hat ihre Größe eingebüßt. Du hast mir das Kochen beigebracht, denkt Rachel, weil du nie einen Topf angefasst hast und Lawrence ständig Hunger hatte.

»Ich hasse das Kochen. Das weißt du doch.«

»Wahrscheinlich fährst du einfach mit dem Auto bei diesen Läden vorbei.«

»Manchmal. Und ich bin eine Expertin mit dem Dosenöffner.«

»Du lieber Gott.«

Ihre Mutter wirkt wie ins Stocken geraten, als ob sie sich umdrehen und ins Zimmer treten möchte, aber ihr Körper nicht mitmacht. Vielleicht weiß sie aber auch nicht recht, ob sie ihre Besucherin hereinbitten soll. Rachel schaut auf sie hinab. Das kann in Wirklichkeit nicht Binny sein – die gefährliche, umwerfende Londonerin, die die Dorfbewohner im Norden mit ihren unverschämten linken Sprüchen und ihrem schicken Aussehen bezaubert und empört hat. Binny – die Frau, die mehrere Ehen kaputt gemacht und die ausgeliehenen Männer, sobald sie ihr gehörten, beiseitegeschoben oder als Mieter behalten hat. Die Frau, die das kleine Postamt betrieben hat, als wäre es ein Geselligkeitsverein, die Tee ausgeschenkt, Ratschläge in sexuellen Fragen erteilt und den kleinen Vorraum mit umstrittenen Waren – gezuckerten Cornflakes, Kondomen, dem Guardian – bestückt hat. Die allein eine kleine Tochter großgezogen hat. Oder vielmehr die Tochter sich selbst hat großziehen lassen. Kommunistin in einer Tory-Hochburg. Ein selbst ernannter, heißblütiger Sinnenmensch, dessen zweites Kind, Rachels Halbbruder Lawrence, lieber mit vierzehn ausgezogen ist, als sich mit den Männern zu streiten, die das Haus frequentierten.

Und jetzt das – ein ohnmächtiges, undichtes Wrack. Die Wirklichkeit ist entsetzlicher als alles, worauf sich Rachel gefasst gemacht hatte. Und das Gefühl, das sie erfüllt, ist schrecklich. Mitleid. Bedauern. Das Verlangen, diese übelriechende Frau in jene Jahre des Draufgängertums und des damit verbundenen schlechten Rufs zurückzuversetzen. Zurück in das Postamt-Cottage, zu dem Klatsch und Tratsch im Dorf, dem alten blauen Jaguar, der auf dem Weg in die Stadt ständig streikte, und der nachlässigen Garderobe. Sie wiederherzustellen, selbst wenn das auch alles andere bedeuten würde. Die Kräche. Die Beschimpfungen in der Schule. Andere Frauen, die an die Tür hämmerten. Keine Jungs mit nach Hause bringen zu können, weil sie nur glotzten, wegen Binnys Geflirte anfingen zu stottern und dann oben in Rachels Zimmer ungestüm waren, ohne zu verstehen, warum.

Schließlich dreht sich ihre Mutter um, ohne dass es eine Katastrophe gibt, und schlurft in die Wohnung. »Na, dann komm rein. Hoffentlich hast du schon gegessen. Das Essen hier ist scheußlich. Die glauben, wir können Filet nicht von Schweinefraß unterscheiden. Die meisten können es ja auch nicht. Du sitzt am besten neben Dora – das ist die Einzige, die noch ein bisschen was im Kopf hat.«

Der gleiche Witz. Der gleiche Schmiss. Der alte schlechte Charakter eingeschlossen in die sterbliche Hülle und bemüht, herauszukommen. Aber der Text hört sich einstudiert an.

»Dora. Verstanden.«

Rachel nimmt ihre Reisetasche und folgt ihrer Mutter in ein kleines Wohnzimmer, in dem subtropische Hitze herrscht. Ein grüner Ledersessel – der Sessel ihrer Mutter aus der Küche des Postamts – ist das einzige erkennbare Stück aus der Vergangenheit. Rachel ist nie zuvor in Willowbrook gewesen. Es ist nett, soweit derlei nett sein kann, ein umgebautes ehemaliges Krankenhaus. Lawrence hat Binny hier untergebracht und das Cottage ausgeräumt. Er übernimmt auch sämtliche Kosten und verlangt sehr zum Leidwesen seiner Frau keinen Beitrag von Rachel. Sie hat kein Treffen mit ihrem Bruder vereinbart. Tatsächlich hat sie ihm schon eine ganze Weile keine Mail mehr geschrieben, obwohl Binny ihn wahrscheinlich über ihren Besuch informiert hat. Jetzt müht sich ihre Mutter damit ab, aus dem Morgenmantel herauszukommen, schiebt ihn sich zentimeterweise über die Schultern nach unten, ihre Hände eher ein Unvermögen als ein nützliches Werkzeug. Rachel macht Anstalten, ihr zu helfen.

»Nein. Geh weg. Ich kann das allein. Setz dich hin. Du siehst todmüde aus.«

Binny schlurft ins Schlafzimmer und kommt ein paar Minuten später in einer blauen Jacke mit Stehkragen wieder, einem erstaunlich konservativen Kleidungsstück. Sie hat einen verschmierten Tupfer burgunderroten Lippenstift aufgelegt und trägt eine Perlenkette. Ist das der übliche Aufwand zum Essen, fragt sich Rachel, oder wird er nur zur Rückkehr und Vorstellung der verlorenen Tochter veranstaltet?

Binny bewegt sich langsam in Richtung Sessel, beugt sich darüber, bringt sich in Position und setzt sich. Sie seufzt vor Anstrengung. »Du ziehst dich besser um. Sie werden gleich servieren. Dann kannst du mir erzählen, was Graf Koks gewollt hat. Und mit wem du zurzeit verbandelt bist. Hoffentlich nicht mit diesem Jüngling von der Arbeit. Der hört sich an wie einer, der nie zu Potte kommt. Der andere ist viel besser – Carl, heißt er nicht so? Du kannst deine Sachen da unterbringen.«

»Kyle. Und wir sind bloß befreundet. Ich behalte das an.«

»Na schön. Aber dann mach wenigstens was mit deinen Haaren. Die stehen hoch wie eine Klobürste. Wieso hast du sie überhaupt so kurz geschnitten? Du siehst aus wie eine Lesbe.«

Rachel lässt sich nicht provozieren; sie hat einen Pakt mit sich selbst geschlossen, dass sie das nicht tun wird, solange sie hier ist. In dem kleinen, angrenzenden Zimmer ist ein schmales Bett aufgestellt worden. Gäste dürfen eine Woche lang kostenlos in Willowbrook wohnen. Sie stellt ihre Tasche auf das Bett. Als sie ins Bad geht, ist der Uringeruch übermächtig. In einem Weidenkorb auf dem Spülkasten der Toilette liegt eine graue Perücke mit künstlich wirkenden Nylonlocken. Die Handtücher auf der Stange haben Puderflecken. Die Dusche hat einen Sitz und einen Haltegriff; gleich daneben ist eine Alarmglocke. Es gibt Schachteln mit Inkontinenzbinden. Vorzeichen von Rachels Zukunft, falls alles genetisch angelegt ist. Stell dich nicht so an, denkt sie, du schaffst das – eine Woche. Im Nebenzimmer zieht sie den Reißverschluss des Seitenfachs ihrer Tasche auf und entnimmt ihm eine gesprenkelte Feder, die die Reise heil überstanden hat. Ihre Mutter sitzt ungelenk vorgebeugt auf der Sesselkante und wartet.

Rachel hält ihr die Feder hin. »Hier, ein Geschenk aus dem Reservat. Ich glaube, die ist von einer Sperbereule.«

Beim Essen machen die geistig regen Bewohner ein Getue um Rachel, erkundigen sich nach ihrer Arbeit und ihrem Leben. Es wird deutlich, dass sie glauben, Rachel wäre so etwas wie eine Tierärztin, obwohl ihre Mutter durchaus imstande ist, das Missverständnis aufzuklären. Sie fragen, ob sie verheiratet sei oder Kinder habe. Nein und nein, sagt sie. Macht nichts, sie sei ja noch jung, meint irgendwer.

Binny schnaubt. »Fast vierzig!«

Rachel legt behutsam ihr Messer hin und greift nach dem Salz. »Warst du nicht auch so alt, als du Lawrence bekommen hast? Eine ›jung gebliebene Schwangere‹?«

Gelächter der anderen Damen über die schlagfertige Antwort, das Gekabbel zwischen Mutter und Tochter. Ob sie einen Freund habe, wollen sie wissen. Rachel zuckt die Achseln. Nein. Sie denkt an die Scherze der Zentrumsmitarbeiter über Beziehungen: »Gemeinsam pissen«, wie bei den Harnmarkierungen sich fortpflanzender Paare. Aber sie hält den Mund. Trotz der Freude der Heimbewohner am leicht Gewagten wäre eine solche Bemerkung bei Tisch unangebracht. Schon jetzt fühlt sie sich unter diesen ausgelaugten, vertrockneten Wesen zu ausgelassen, zu lebendig. Die Frau rechts neben ihr – Dora –, ein winziges, wabbeliges Geschöpf, ergreift Rachels Handgelenk und teilt ihr mit, Binny sei ein sehr beliebtes Mitglied der Gemeinschaft von Willowbrook, eine der amüsanten Persönlichkeiten, eine gute Kartenspielerin, die keinem Flirt aus dem Weg gehe. Dora hält einen luziden Gesprächsfluss aufrecht, tätschelt Rachels Arm und lässt Namen fallen, als ob Rachel die betreffenden Leute kenne, als ob Binny sie auf dem Laufenden hielte. Während die Damen gackern und klatschen, bleibt ihre Mutter stumm, stochert mit finsterem Gesicht ein Stück Fisch auseinander und versucht, die graue Haut abzuheben. Man hört das leise Klicken von Gebissen und das Kratzen von Besteck. Das Essen nimmt kein Ende. Die Speisen sind gekocht und blanchiert, leicht zu verdauen, dennoch scheint die Anstrengung des Essens die meisten zu überfordern. Fast jeder Bewohner hat neben seinem Gedeck eine Tablettenschachtel. Cholesterinsenker, gerinnungshemmende Mittel, Schmerzmittel, Steroide. Die Medikamente ihrer Mutter sind gegen Bluthochdruck und gegen ihre Blasenschwäche. Sie nimmt schon seit fünfzehn Jahren kein Herceptin mehr; gilt nicht mehr als gefährdet. Ihre linke Brust ist intakt; die rechte ist nie rekonstruiert worden. Für ihre Mutter hat die Operation das Ende einer Ära eingeläutet; entweder sie hat das Interesse an Männern oder die Männer haben das Interesse an ihr verloren. Rachel bemerkt nur sehr wenige Männer im Heim, andererseits ist Langlebigkeit nicht gerade deren Stärke. Ihr gegenüber sitzt eine Frau mit vorn aufklaffender Bluse, die Brust gefurcht und runzelig, das Gesicht leer. Von Zeit zu Zeit hilft ihr eine Pflegerin. An den Tischen gibt es ein paar freie Stühle, und man spricht ganz offen über die Gesundheit der jeweils Fehlenden. Die und die ist gestürzt, hat sich die Hüfte gebrochen, ist ins Krankenhaus gekommen, hat einen Darmverschluss, eine Infektion, kommt wohl nicht wieder.

Rachel hat längst keinen Hunger mehr und ist so müde, dass sich Grausamkeit in ihre Gedanken einzuschleichen beginnt. Die knotigen Hände und schlaffen Wangen, das Hängen und Sacken von Körperteilen wirken grotesk. Das Tischtuch trägt ein auffallendes Muster von Saucenflecken. Sie kleckern. Sie zittern. Sie sind Gespenster, die über die Grenzen eines lohnenden Daseins in ein dementes Zwischenreich eingetreten sind. Eine solche Lebenserhaltung ist nicht natürlich, denkt sie. Man sollte ihnen helfen. Letztes Jahr haben sie und Kyle eine Autopsie an Nab, dem ältesten Rüden im Chief-Joseph-Rudel, vorgenommen, der von Tungsten, einem jungen, vom Rudel aufgenommenen Rüden, getötet worden war. Das Halsband sendete noch; sie waren rasch bei seinem Kadaver, sodass er frisch auf den Sektionstisch kam, schlaff, die Hinterbeine grau gerändert, mit eingezogenem Penis. Seine Vorderbeine trugen alte Kampfnarben. Die Bissverletzungen an seinem Hals waren tödlich. Aber das Ableben von Menschen, denkt sie, ist schrecklich. Wir ziehen es in die Länge, humpeln weiter, nehmen Medikamente, werden für viel Geld immer schwächer. Für Menschen gibt es keine letzten Rangkämpfe, kein Von-der-Führungsposition-Verdrängen, keinen gesunden Tod. Der Verfall geht immer weiter. Nur ein gnädiges Ende kommt rasch oder im Schlaf.

Nach dem Essen machen sie und Binny sich bettfertig und zanken sich darüber, wer zuerst das Badezimmer benutzt. Obwohl nur noch ein Schatten ihrer selbst, gibt ihre Mutter ihre Autorität nicht auf.

»Du siehst beschissen aus. Schwarze Ringe unter den Augen und alles. Geh einfach schlafen.«

»Mir geht’s gut. Wenn ich im Feld bin, muss ich tagelang wach bleiben.«

»Du bist mein Gast, und du gehst, wenn ich es sage, meine Kleine.«

Meine Kleine. Rachel ist zu müde, um sich zu streiten – warum Binny das bisschen Kontrolle nehmen, das sie noch hat? Sie duscht und putzt sich die Zähne. Im Wohnzimmer kann sie ihre Mutter mit Milka, der polnischen Pflegerin, streiten hören.

Das Feldbett ist hart und schmal, in der Mitte durchgelegen, aber nach ein, zwei Augenblicken hört das Zimmer auf, sich zu drehen, das Rauschen in ihren Ohren verstummt, und sie schläft ein. Die ganze Nacht bewegt sie sich kaum, wacht nur einmal verwirrt auf und weiß nicht, wo sie ist. Richtig geweckt wird sie am Morgen von dem Licht, das dank der nicht geschlossenen Vorhänge einfällt, und von Milka, die ihrer Mutter beim Aufstehen hilft.

»Heute ist nicht viel auf dem Laken, Binny. Schon besser. Gut gemacht.«

»Nimm das Bein da weg, Milka. Musst du mich denn so herumschubsen?«

Rachel liegt auf dem Feldbett und schaut zum Fenster hinaus auf den stumpfgrauen Himmel. Sie sieht auf ihr Handy. Von Kyle keine Nachricht, was nicht schlecht ist. Die Sender streiken; manchmal werden sie abgestreift; manchmal versagen sie auch ganz. Sie malt sich aus, wie Left Paw über Felsblöcke klettert, sich mit seinen kräftigen Hinterbeinen abstößt, die Ebenen und Wälder durchquert, auf der Suche nach einer Partnerin viele Kilometer zurücklegt. Dann stellt sie ihn sich im Unterholz liegend vor, die Schnauze offen, die Augen nur Schlitze, Blut um die Einschusswunden. Seit die Jagdquote erhöht worden ist, sind die Arbeiter nie ohne Sorge, auch im Reservat nicht, wo die Tiere geschützt sind. Die Jäger kommen immer noch in Flugzeugen oder zu Fuß, benutzen elektrische Locksignale und geben falsche Koordinaten an, wenn sie ihre Marken abliefern.

Der graue, freie Himmel erscheint unwirklich. England ist unwirklich, eine vergessene Version seiner selbst mit nur wenigen Belegen zur Bestätigung – und Rachels Erinnerungen. Selbst ihre Mutter ist nicht wiederzuerkennen. In einer Stunde wird der Earl Tai-Chi machen wie ein neuzeitlicher Fürst, so etwas wie ein Versuch, ein heruntergekommenes System zu revolutionieren. Sie kommt nicht gegen das Gefühl an, dass sie nicht hätte zurückkommen sollen, auch nicht aus Höflichkeit. Sie betrachtet den Himmel und hört zu, wie ihre Mutter die Pflegerin herumkommandiert. Zerr nicht an mir herum, Milka! Macht man das so in Krakau? Rachel steht auf, wankt ins Wohnzimmer. Das Radio bringt die Nachrichtenmeldungen – die Suche nach einem vermissten Kind in den Midlands, das Erscheinen des lange erwarteten Schottland-Weißbuchs, der regenreichste Herbst seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In der winzigen Kochnische gibt es nur Instantkaffee. Sie macht sich einen starken Becher, gibt Zucker hinein, wartet darauf, ins Bad zu können. Ihre Gedanken schweifen zum Chief Joseph und dem Rudel zurück. Inzwischen könnten die Tiere gut hundertfünfzig Kilometer zurückgelegt haben. Tungsten wird die anderen hinter dem wandernden Rotwild herführen, durch die hohen Schneeverwehungen, wo sie alle kräftesparend in einer einzigen Spur gehen. Je weiter sie nach Norden kommen, desto sicherer werden sie sein.

*

Thomas Pennington fährt selbst, aber nur innerhalb von Annerdale, wie er Rachel auf der Rundfahrt durch den Besitz erzählt, nicht auf öffentlichen Straßen. Bei den vielen Veranstaltungen könne er nie sicher sein, dass er nicht zu viel getrunken habe. Er wolle keinen Unfall bauen. Oder ein Pferd anfahren. Oder sich mit dem Landy überschlagen. Der Land Rover holpert schnell über Felder, an Weißdornhecken entlang, über kleine Hügel und Gräben. Rachel klammert sich an der Schlaufe über der Beifahrertür fest, wird auf ihrem Platz durchgeschüttelt und hört zu, während er sie unterhält. Außerdem könne er viel Arbeit im Zug erledigen – WLAN –, und der Pendolino von Oxenholme brauche bis London nur wenige Stunden – außergewöhnlich, in seiner Kindheit habe es noch sieben bis acht gedauert.

»Sie erinnern sich wahrscheinlich noch«, sagt er, »alles ist über Crewe gegangen.«

Sie nickt. Viele seiner Fragen sind rhetorisch. Schwer zu sagen, ob er eine Antwort erwartet. Er ist ein hochgewachsener Mann und trotz seiner informellen Kleidung, Cordhose, kariertes Hemd und Jacke, so elegant, wie sie erwartet hat. Seine Knie ragen beim Fahren hoch. Sie schätzt sein Alter; Ende fünfzig, Anfang sechzig vielleicht, mit leicht ergrauendem Haar, davon allerdings einen dichten, üppigen Schopf, um den ihn Männer seiner Generation zweifellos beneiden. Seine Gesichtszüge sind entspannt, frei von erkennbarer Belastung, wie die Südseite eines Berges. Haselnussbraune Augen, dunkle Brauen, eine gerade Nase mit breiten Flügeln – ein irgendwie französischer Einschlag, findet Rachel. Er ist nicht unattraktiv, sogar recht gutaussehend, strahlt aber keine Spur von Erotik aus – der kastrierende Einfluss britischer Privatschulerziehung oder die große Politik hat ihn zum Neutrum gemacht.

Sie packt die Halteschlaufe fester, als sie über die Kuppe eines Hügels abschwenken und nach vorn auf das Gefälle in Richtung Fluss abkippen. Unterholz peitscht gegen Räder und Türen. Vor ihnen brachliegende Felder, junge Gehölze und die breiten, gekräuselten Untiefen der Furt. Der Earl bevorzugt eine Safariroute anstelle der Asphaltstraßen, die sein Land durchziehen. Das Fahrzeug hat keinerlei Extras und Annehmlichkeiten, ein ehemaliges Armee-Modell, vermutet Rachel, so etwas wie ein Spielzeug.

»Ich habe vor ein paar Jahren im Geographic von Ihnen gelesen«, sagt er. »Ich habe mir gedacht, das ist mal ein braves Mädchen von hier; wenn die es nicht weit gebracht hat. Aber das tun die Leute von hier, nicht wahr, sie kommen auf der ganzen Welt herum, geraten manchmal auch in Schwierigkeiten. Sind aber ebenso oft erfolgreich. Sie kommen aus Keld? Wohnen Ihre Eltern noch dort?«

»Nein. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren von dort weggezogen.«

»Schöner kleiner Ort, Keld. Cromwells Armee ist in der Kirche untergekrochen, wissen Sie, auf dem Weg in den Norden, um sich die lästigen Schotten zur Brust zu nehmen. Meine Güte. Offenbar kommen diese Zeiten jetzt wieder, wie? Haben Sie das Weißbuch gelesen?«

»Nein. Ich dachte, es käme erst heute heraus?«

»Machen Sie sich nicht die Mühe. Es enthält eine ganze Menge Fantasie und nichts von einem Geschäftsplan. Interessante Gedanken zur Ökologie, obwohl ich vermute, dass Caleb Douglas nicht den Mut und übrigens auch nicht das Geld hat, um sie umzusetzen.«

Rachel nickt erneut und sagt nichts. Sie verfolgt die britische Politik schon lange nicht mehr. Aber sie weiß von den Reformplänen jenseits der Grenze – Aufkauf von privatem Grund und Boden durch die öffentliche Hand, Umwidmung von Ressourcen –, eine Vorstellung, die Thomas Pennington und seinesgleichen bestimmt mehr als nur ein bisschen Unbehagen bereitet. Auf BBC wird ständig über Unabhängigkeit und die bevorstehende Volksabstimmung debattiert; Rachel war überrascht, wie knapp die Ergebnisse in den Umfragen sind, als wie lästig sich die Angelegenheit für Westminster erweist.

Vielleicht weil er ihre Zurückhaltung spürt, fährt der Earl mit seiner historischen Rhapsodie über ihr Heimatdorf fort. »Das Taufbecken in der Kirche von Keld ist aus dem Mittelalter – ein großartiges Stück. Und auf dem Friedhof gibt es ein Hügelgrab aus der Wikingerzeit in ausgezeichnetem Zustand. Wie schön, an einem solchen Ort groß zu werden; was für ein Glück Sie hatten. Also, geben Sie mir einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte von Rachel Caine. Sie sind zweifellos auf die Grammar School gegangen, und dann haben Sie Biologie studiert – in Cambridge?«

»Zoologie. Ich habe in Aberystwyth studiert.«

Ihr weiterführendes Studium in Oxford und das Stipendium lässt sie unerwähnt. Soll er sich ruhig in Vermutungen ergehen.

»Ah, Wales! Ausgezeichnet! Tja, unser künftiger König hat auch dort studiert.«

»Aber nicht freiwillig, könnte ich mir denken.«

Thomas Pennington lacht, obwohl sie es nicht scherzhaft gemeint hat. »Ganz recht! Hat es Ihnen gefallen? Muss ein ziemlich guter Studiengang sein, wenn Sie daraus hervorgegangen sind.«

Das Chassis des Land Rovers scheppert gegen einen Felsbrocken. Der Fluss nähert sich rasch.

»Ja, es war schön. Es ist ein gutes Institut. Ich war zwischenzeitlich wieder dort und habe Vorlesungen gehalten. Wir haben im Chief Joseph ein, zwei Praktikanten von dort beschäftigt – so etwas wie ein Austauschprogramm.«

»Wunderbar! Ja, wir müssen Möglichkeiten für die jungen Leute schaffen.«

Trotz aller Ungezwungenheit und Redseligkeit ihres Begleiters ist das Gespräch nicht einfach. Sein Enthusiasmus grenzt ans Tyrannische, ist schwindelerregend. Sie kommt sich unbeholfen, ungeübt vor; es gibt soziale Gepflogenheiten, für die ihr das Geschick abhandengekommen ist, falls sie ihnen überhaupt je gerecht wurde. Sie kann nicht vergessen, wer sie ist. Aber der von ihr verlangte Gesprächsbeitrag scheint minimal zu sein. Thomas Pennington ist trotz fehlender Gegenseitigkeit ungeniert imstande, Phrasen zu dreschen und Monologe zu halten. Sie schaut flüchtig zu ihm hinüber. Er lächelt breit und wirkt hocherfreut.

»Und dann ging es nach Amerika? Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, Rachel, dass es eine ganze Menge Präsidenten mit Nachnamen von Border Reivers gibt? Was sollen wir davon halten?«

Sie gibt keine Antwort. Tapfer neigt der Land Rover die Nase über das Flussufer. Rachel stemmt die Füße gegen den Boden. Thomas Pennington drückt kräftig aufs Gaspedal, und der Motor heult auf. Er beugt sich über das Lenkrad. Ihr fällt auf, dass er nicht angeschnallt ist. Der Wagen saust über das Kiesbett, Steine werden hochgeschleudert und prasseln in den Radkästen. Flusswasser klatscht gegen die Windschutzscheibe und läuft davon ab.

»Geronimo!«

Am anderen Ufer bremst er ab und schaltet in einen niedrigen Gang. Sie mühen sich den steilen, mit Disteln bewachsenen Hang hinauf, zerquetschen die Stängel, deren Laubblätter rascheln und schaben. Rachel schaut auf die Berge und die dunklen Talmulden dazwischen. Rede einfach, denkt sie. Erzähl ihm, was er hören will.

»Zuerst habe ich in einer Rettungsstation in Rumänien gearbeitet. Dann in Weißrussland. Es gab dort Probleme mit der Industrialisierung und den in die Städte einfallenden Rudeln, die in Abfällen nach Essbarem gesucht haben. Dann habe ich ehrenamtlich im Yellowstone Park gearbeitet, danach hat sich der Job bei den Nez Perce ergeben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn kriege.«

»Natürlich haben Sie ihn gekriegt. Die führende Zoologin von Aberystwyth!«

Thomas Pennington klatscht mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett, eine extravagante, fast exzentrische Geste. Wieder wirft sie einen flüchtigen Blick auf ihn. Macht er sich über sie lustig? Oder schmeichelt er ihr auf Teufel komm raus? Er ist durchaus sympathisch oder jedenfalls enthusiastisch, ein positiv denkender Mensch. So wohlhabend und einflussreich, wie er ist, hat er vielleicht die soziale Pflicht, so zu sein. Im Profil zeigt er ein jungenhaftes Strahlen, die Eigenwilligkeit eines Pan. Wahrscheinlich hat er trotz der in ihn gesetzten Erwartungen, der ernsten Natur seiner privilegierten Stellung und der mit seinem Sitz im Oberhaus einhergehenden Verpflichtungen sein Leben lang gespielt.

»Ich wollte damit sagen, dass es im Reservat ein Einstellungsverfahren gibt.«

»Natürlich. Und Idaho. Gefällt es Ihnen dort?«

Der erste Test, was ihre Verfügbarkeit angeht.

»Ja. Sehr.«

»Ich war nie dort. In Seattle war ich natürlich – mein Vater hat Geschäfte mit Boeing gemacht. Aber diese Ecke ist so etwas wie ein blinder Fleck für mich. Ich weiß allerdings, dass die Kasinos eine schlechte Idee waren. Der Versuch, mithilfe von Alkohol und Algorithmen Geld zurückzugewinnen, ist noch keinem geschlagenen Volk gut bekommen. Ich habe gegen die Superkasinos hier gestimmt. Das Letzte, was dieses Land mitten in einer Rezession braucht, ist noch mehr Glücksspiel.«

ENDE DER LESEPROBE