Die Töchter des Nordens - Sarah Hall - E-Book

Die Töchter des Nordens E-Book

Sarah Hall

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Beschreibung

Können Frauen eine bessere Welt erschaffen?

England, in einer unbestimmten Zukunft: Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen haben das alte politische System hinweggefegt. Diktatorisch regiert, leben die Menschen in städtischen Zentren, die Einwohnerinnen dürfen nur in Ausnahmefällen Kinder bekommen. Eine junge Frau, die sich »Schwester« nennt, entflieht den Kontrollen und schließt sich einer legendären Gruppe weiblicher Abtrünniger an, die in den Bergen des Lake District eine einsame Farm bewirtschaften. Unter Führung der charismatischen Jackie hat sich die Gemeinschaft immer stärker radikalisiert. Gewalt und militärischer Drill bestimmen inzwischen den Ton. Auch Schwester scheint bereit, Jackies Kampf gegen das verhasste System mitzutragen. Als Jackie den Krieg ausruft, muss sie sich entscheiden… Mitreißend und psychologisch eindrucksvoll schildert Sarah Hall die Kraft weiblicher Rebellion. »Ein prophetischer, futuristischer Roman in der Tradition von H.G. Wells, Margaret Atwood und Will Self« The Independent

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Können Frauen eine bessere Welt erschaffen?

England, in einer unbestimmten Zukunft: Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen haben das alte politische System hinweggefegt. Diktatorisch regiert, leben die Menschen in städtischen Zentren, die Einwohnerinnen dürfen nur in Ausnahmefällen gebären. Eine junge Frau, die sich »Schwester« nennt, entflieht den Kontrollen und schließt sich einer legendären Gruppe weiblicher Abtrünniger an, die in den Bergen des Lake District eine einsame Farm bewirtschaften. Unter Führung der charismatischen Jackie hat sich die Gemeinschaft immer stärker radikalisiert. Gewalt und militärischer Drill bestimmen inzwischen den Ton. Auch Schwester scheint bereit, Jackies Kampf gegen das verhasste System mitzutragen. Als Jackie den Krieg ausruft, muss sie sich entscheiden… Mitreißend und psychologisch eindrucksvoll schildert Sarah Hall die Kraft weiblicher Rebellion.

»Eines der 100 besten Bücher des Jahrzehnts« The Times

»Ein kraftvoller Beweis dafür, dass mit der Gefährdung des Staatskörpers auch die Unversehrtheit des Körpers gefährdet ist.« The New Yorker

»Ein prophetischer, futuristischer Roman in der Tradition von H. G. Wells, Margaret Atwood und Will Self« The Independent

Sarah Hall, 1974 in Cumbria geboren, studierte Literatur an der schottischen Universität St. Andrews. Sie hat Romane und Storys veröffentlicht, die alle mit bedeutenden Preisen und Stipendien ausgezeichnet und von der Kritik bejubelt wurden. Feministische Themen und intensive Naturbeschreibungen verbinden sich in ihrem Werk, das in zwölf Sprachen übersetzt ist, auf überraschende, ungewohnte Weise. Zuletzt erschien 2016 ihr Roman »Bei den Wölfen«. Sarah Hall lebt mit ihrer Familie in Norfolk.

Sarah Hall

Die Töchter des Nordens

Roman

Aus dem Englischen von Sophia Lindsey

Die Originalausgabe erschien 2007

unter dem Titel The Carhullan Army

bei Faber & Faber, London.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe Sarah Hall 2007

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: Sabine Kwauka

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24506-1V002

www.penguin-verlag.de

Für Jane und Mae

Strafaktenarchiv der Englischen Obrigkeit – Protokoll Nr. 498: Manuskript sichergestellt am ehemaligen Standort der Haftanstalt von Lancaster

Aussage einer Gefangenen, inhaftiert nach Paragraph 4(b) des Notstandsgesetzes zur Verhinderung von Aufständen

AKTE EINS

VOLLSTÄNDIG WIEDERHERGESTELLT

Ich heiße Schwester.

Das ist der Name, den man mir vor drei Jahren gab. So haben mich die anderen gerufen. So will ich genannt werden. Mein früherer Name hat nie eine Rolle gespielt. Ich erinnere mich nicht mal mehr an seinen Klang. Weder reagiere ich heute darauf, noch kommt er mir selbst über die Lippen. Ich werde nichts damit unterschreiben. Er ist fort. Ihr werdet mich Schwester nennen.

Ich war die letzte Frau, die sich auf die Suche nach Carhullan gemacht hat.

Ich verließ die Stadt an einem nassen, modrigen Oktobertag. Die Blätter fielen bereits, und auf der Erde lag ihr gelbes Mus. Die letzten Gewitter- und Regenfronten zogen über den Norden hinweg. Der Sommer war auf dem Rückzug, die Luft fühlte sich endlich weniger drückend an, und nachts und morgens kehrte eine neue Kühle ein. Es war eine Erleichterung, nicht mehr schweißgebadet unter dem Leintuch in unserer Kammer der Reihenunterkunft aufzuwachen und mit milchiger Feuchte auf der Brust aus irgendeinem hitzigen Albtraum hochzuschrecken. Schon immer konnte ich im Winter besser schlafen. Als würde mein Puls dann langsamer.

Diese Frische schien auch die Stadt zu reinigen. Abends, wenn die Wolken ausdünnten und die Hitze nachließ, zerstreute sich der bakterielle Geruch der Raffinerie und der Gaskraftwerke. Seit der Zivilen Reorganisation hielt die Schwüle des Sommers jedes Jahr ein wenig länger an, sodass die kälteren Jahreszeiten auf immer weniger Kalendermonate zusammenschrumpften und wir ununterbrochen vom Smog des abbrennenden Rapses und Ölsandes umgeben waren, eng zusammengepfercht wie Fische in einer Räucherkammer.

Der Temperaturumschwung löste Erregung in mir aus, eine Wachsamkeit, die sich nicht nur damit erklären ließ, dass ich nervös war oder an die Risiken dachte, die ich bei vollem Bewusstsein einging. Er war heilsam. Die Kühle erinnerte mich an meine Kindheit. Damals war das Wetter eindeutiger, unterscheidbarer gewesen. Ein paar ältere Kollegen aus der Fabrik meinten, von allen englischen Traditionen, die wir aufgegeben hätten, sei das mit dem Wetter am traurigsten. Als hätte irgendeine Art von Wahl stattgefunden, ein Volksentscheid über diese subtropischen Zustände.

Ich erinnere mich noch gut an das frische Prickeln von Hagel auf dem Gesicht, wenn ich im März auf den Schulbus wartete. An die Herbstwinde, die kleine und große Gegenstände umherpusteten. An den unter die Haut kriechenden Januarfrost, die Hände und Füße taub unter Vlies und Wolle. Wenn man jung ist, hat man keine Angst vor dem, was möglich ist. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Welt tatsächlich zu Schaden kommen kann, dass während der eigenen Lebenszeit irgendeine echte Katastrophe eintreten wird.

Sogar der Regen hat sich verändert; launisch und brutal, hat er nichts mehr gemein mit dem anhaltenden grauen Nieseln auf den Postkarten, in den Witzen und Fernsehberichten von damals. Es ist ein Regen, der verletzt wurde. Auf den Fells, den kuppigen Bergen im Nordwesten des Landes, liegt nur noch selten Schnee, doch die Bewohner der Stadt halten aus Gewohnheit danach Ausschau.

Mein Ziel befand sich hoch oben, weit abgelegen, und insgeheim hoffte ich, dass ich die weißen Wehen wieder sehen würde, wenn ich nur lange genug dort blieb.

Ich brach im Morgengrauen auf, damit ich Rith unbemerkt verlassen konnte. Das Gewicht meines Rucksacks hielt sich in Grenzen; ich würde ihn über weite Strecken tragen können, bis hinauf in die Berge. Ich nahm so wenig wie möglich mit – Kleidung, ein paar Konserven und etwas Zwieback, einen Kanister Wasser und ein Erste-Hilfe-Set für den Fall, dass man mir die Vorrichtung entfernte, falls das überhaupt möglich war. Außerdem ein Gewehr aus dem Zweiten Weltkrieg, das ich zwischen Pullover und Regenjacke gestopft hatte; sein kurzer Lauf drückte gegen die Rucksackklappe. Mein Schmiergeld, wenn ich Carhullan erreichte.

Am Abend zuvor hatte ich den Rucksack in einer Gasse hinter dem Gebäude versteckt. Er lag in einer Mauernische hinter der Hauptkammer des Regenwassertanks, wo es dunkel und trocken war. Ich hatte ihn dort verstaut, als die Familien in den anderen Unterkünften zu Abend aßen und mein Mann noch nicht von seiner Schicht zurück war. Vorher hatte ich den Hohlraum mit einem Stock auf Rattennester untersucht.

Am frühen Morgen stand ich aus unserem Bett auf, ohne Andrew zu wecken, und zog mich leise im Gemeinschaftsbad an. Ich holte einen Plastikbeutel aus der Hosentasche. Die unbenutzte Packung Seife auf dem Regal gehörte der Familie von nebenan, doch ich nahm sie mir trotzdem und ließ sie zusammen mit Zahnpasta, Deo, Rasierer und einigen Klingen in die Tüte gleiten. Ich zögerte kurz, bevor ich auch das Medizinschränkchen der Nachbarn öffnete. Darin fand ich etwas Aspirin, eine Packung Binden und ein Pulver gegen Blasenentzündung, das längst abgelaufen war. Ich packte alles ein. Dann ging ich den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Vor der Haustür blieb ich einen Augenblick stehen, um sicherzugehen, dass Andrew mich nicht gehört hatte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. In schnellen Schüben pumpte mein Herz mir das Blut durch die Brust. Ich spürte den Puls bis in die Fingerspitzen. Es würde schon alles gut gehen, sagte ich mir. Den letzten Monat über hatte ich mir angewöhnt, früh aufzuwachen, und meine Flucht immer wieder geprobt. Jedes Mal hatte ich das Haus leise und unbemerkt verlassen, war eine Zeit lang durch die dunkle Stadt gestreift, hatte sorgfältig jene Orte gemieden, an denen wilde Hunde streunten, und war dann nach Hause zurückgekehrt. Doch dies war keine Trockenübung. Ich atmete tief ein, atmete aus und wartete. Um jeden Preis wollte ich vermeiden, dass Andrew mir folgte, mich für verrückt erklärte, mir eine Szene machte und die Leute über uns weckte. Nie im Leben hätte er mich mit gepacktem Rucksack ziehen lassen, raus aus den offiziellen Zonen, obwohl zwischen uns mittlerweile entweder Feindseligkeit oder Schweigen herrschte.

Ich war an dieses Gebäude gebunden. Er wusste das, und ich wusste es auch. Für uns gab es keine Alternative. Falls er mich entdeckte, würde er mich nach oben zerren oder mit Gewalt auf der Straße festhalten, bis ein Aufseher der Obrigkeit käme. Vielleicht würde er irgendeine Ausrede für mein Verhalten erfinden, etwa dass ich auf Drogen sei oder schlecht geträumt hätte. Er würde mir einschärfen, die Füße still zu halten. Auch wenn es momentan nicht danach aussehe, werde sich die Lage bald entspannen, und dann könnten wir gefahrlos getrennte Wege gehen.

An die Hauswand gelehnt blieb ich stehen und horchte ein letztes Mal. Doch das einzige Geräusch, wie von Wespen, war das Surren des Stromzählers im Ruhemodus. Ich blickte nach oben. Der Himmel hatte die dunkle Farbe von Pech, ähnlich wie der Ölschiefer, der in der Raffinerie, wo Andrew arbeitete, in den Kesseln rotierte. Da war auch ein weißer Streifen Mond, ein zerfurchtes und trübes Geschwür am Wolkenrand. In Rith brannte kein einziges Licht, und das würde noch bis sechs Uhr so bleiben; dann wurde den Bewohnern das morgendliche Stromkontingent zugeteilt, und sie konnten Wasser und Essen warm machen oder auch die Frühnachrichten schauen, in denen die Losnummern verkündet und vielleicht Meldungen von einer der Fronten gebracht wurden. Doch um die Zeit wäre ich längst fort.

Nachdem ich ein paar Minuten abgewartet hatte, holte ich meinen Rucksack. Jetzt galt es, schnell zu handeln und nicht zu viel nachzudenken. Auch wenn die Stadt um diese Zeit normalerweise wie ausgestorben war, bestand die Möglichkeit, einer Streife der Obrigkeit über den Weg zu laufen. Beim Gedanken daran wurde mir schlecht. Niemals würde es mir gelingen, eine plausible Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Auf keinen Fall wollte ich ins Grübeln verfallen und einen Rückzieher machen. Doch mittlerweile war ich mir sicher, dass das nicht passieren würde. Nicht nach den vergangenen Wochen.

Ich ließ die Gemeinschaftsunterkünfte hinter mir und lief durch die Stadt, vorbei an dem alten Einkaufszentrum mit den verbarrikadierten Fenstern, vorbei am Turbinenlager, wo die gestapelten Metallkörper auf ihren Einsatz warteten, und das nun schon seit Jahren. Die Straßen waren verlassen, alles war still. Nur die glasierten Ziegel des alten roten Mauerwerks, die Schieferplatten und der Asphalt warfen überhaupt irgendein Licht zurück und ließen die Siedlung gespenstisch und aus der Zeit gefallen wirken.

Es war schwer, sich die vielen Menschen vorzustellen, die hinter den Backsteinmauern zu zweit oder dritt in einem Zimmer schliefen oder wach lagen und sich unterhielten, leise, um die anderen Familien nicht zu stören. Manche weinten vielleicht, wurden getröstet oder ignoriert. Andere wälzten sich von einem lädierten Körper herunter, während die Wirkung des billigen Aufputschmittels nachließ, und scherten sich nicht darum, ob man sie durch die Wand hörte. Jedes Mal wenn ich mich versuchsweise auf den Weg gemacht hatte, war mir dieses Morgengrauen seltsam leer vorgekommen, als wären die Menschen in Wahrheit ausgedünnt und nicht zusammengepfercht worden.

Am Ende jeder Häuserreihe zeichnete sich die Silhouette eines Zählers ab, kleine summende Zysten, ursprünglich dafür gedacht, die Energieproduktion der Fotovoltaikanlagen zu messen. Nun wurden sie dazu benutzt, die Verteilung des Stroms über das alte örtliche Netzwerk zu regeln. Die Reorganisation hatte nur wenige Verbesserungen mit sich gebracht. Der Zehnjahresplan für den Wiederaufbau erwies sich immer mehr als hoffnungsloser Mythos. Ich zwang mich dazu, mich nicht umzusehen, ob mir nicht doch jemand folgte oder einfach nur dastand und zusah, wie ich ging. Ich redete mir ein, dass ich am ehesten weitergehen würde, wenn meinen Augen nur eine einzige Blickrichtung zur Wahl stünde – vorwärts.

Am Himmel war ein leises Knistern zu hören und weiter westlich der Nachhall von Donner. Bald würde es regnen, und ich würde meine Jacke anziehen müssen. Doch solange ich mich innerhalb der Grenzen befand, konnte ich mir nicht leisten, stehen zu bleiben. Vielleicht würde ich mich später, wenn die Stadt weit hinter mir lag und ich mich warm gelaufen hatte, auch ausziehen. Ich wusste, dass ich schneller trocknen würde als meine Kleidung.

Seit Jahren hatte ich Rith nicht mehr verlassen. Zivilisten blieben grundsätzlich am selben Ort, wenn sie nicht gerade in ein Gefangenenlager gebracht wurden. Die Übersiedlung in eine andere Zone war verboten. Die Menschen waren an die Gebiete gebunden, in denen sie zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs gewesen waren und auf die sie das Register von damals festlegte. Nur Regierungsbeamte und die Obrigkeit hatten Anlass und überhaupt die Möglichkeit, zu reisen, und sie nahmen meistens den Zug.

Rith war meine Heimatstadt, und ihre Umgebung war mir vertraut – die abschüssigen Straßen und das Gewirr der Dächer, der Beacon Hill und gegenüber davon, auf einem Zwillingshügel, das Schloss. Ich ging weiter, die alte Schnellstraßenüberführung entlang. Darunter häuften sich Schutt und Abfall; ich hörte das Rascheln von Tieren. Jenseits der Siedlung, in den niedrig gelegeneren Gegenden, waren die Straßen verfallen. Ihr Zustand war noch viel schlimmer, als ich es mir ausgemalt hatte. Jahrelang sich selbst überlassen, waren sie abgesunken und zerklüftet. Die Wassermassen hatten ganze Abschnitte mit sich gerissen. Beim Betreten fühlten sie sich locker an, wie Geröll. Immer wieder stolperte ich in kleine Krater voller Regenwasser; meine Hose war durchnässt bis zu den Knien. Die Leute in der Fabrik und bei den Treffen hatten die Wahrheit gesagt: Abgesehen von den Hauptverkehrsadern, die die Obrigkeit benutzte, wurde rein gar nichts instand gesetzt.

Anfangs trabte ich, wann immer ich konnte, konzentrierte mich darauf, nicht zu stolpern oder umzuknicken, und teilte mir die Kräfte ein. Es würde ein langer, anstrengender Tag werden. Nach einer halben Stunde erreichte ich die Anhöhe, auf der das weiße Zollhaus stand. Die Fensterscheiben waren zerborsten, das Dach war an einer Giebelseite eingebrochen. Aus dem Heimatkundeunterricht wusste ich, dass es zweimal von den Schotten niedergebrannt und dann neu aufgebaut worden war. Nun war es auf dem besten Weg, wieder zur Ruine zu werden. Die Besitzer waren sicher längst nach Rith übergesiedelt, wie alle anderen Bewohner der angrenzenden Gebiete auch.

Etwas weiter hügelabwärts stand noch immer die alte Yanwath Bridge. Vor dem Reiseverbot war ich viele Male darübergefahren. Die Ampel, die einst den Verkehr geregelt hatte, war erloschen; das Glas der Lampen war schwarz vor Schmutz, der Pfosten ragte schief aus dem Betonbett. Dort, wo die Straße sich senkte, bevor sie an das Widerlager der Brücke anschloss, sammelte sich strudelnd das Wasser. Darauf trieben undefinierbare Trümmerteile, Putzbrocken vielleicht, die von den Häusern flussaufwärts stammten. Ich watete hindurch, ging weiter bis zur Mitte des Brückenbogens und blickte über die Brüstung. In der Tiefe lag der Fluss Eden, braun und angeschwollen, und brauste mit beängstigender Geschwindigkeit vorbei. Im Halbdunkel nahm ich die hellen Bewegungen an seinen Rändern wahr, den schaumigen Auslauf der Wellen und Wasserwirbel. In der Regenzeit war der Fluss über die Ufer getreten und hatte Gräben und Gärten zu beiden Seiten geflutet. Ich hörte das Knacken der tief liegenden Äste, als die Bäume ihre Blätter lassen mussten.

Die Cottages neben der Brücke waren fenstertief in der Strömung verschwunden. Es roch nach nassem Mörtel, feuchtem Stoff und Schlick: der vertraute Geruch unter Wasser stehender Wohnhäuser, wenn das Flussbett die Hauswände verschlammte und Vorhänge und Teppiche verrotten ließ. Mit diesem Geruch in der Nase war ich vor über einem Jahrzehnt aufgewacht, bevor ich nach unten ging und in einer Brühe aus Müll und Abwasser stand.

Ich wusste, dass die Straße auf der anderen Seite der Brücke durch ein kleines, verwaistes Dorf führte und dann mitten hinein in die grüne, verlassene Wildnis, die früher ein Nationalpark gewesen war – jenen Ort, den die Generation meines Vaters den Lake District nannte.

Als das Auto auftauchte, war es Mittag und regnete in Strömen. Zuerst dachte ich, das Geräusch komme bloß vom Wasser, das herunterprasselte und in unterirdischen Kanälen dahinfloss. Dann hörte ich das Knirschen einer Gangschaltung. Mit einem Satz war ich auf der Böschung und drehte mich um. Fast erwartete ich, den dunkelblauen Umriss einer Streife zu erblicken, und wollte mich schon hinter die Mauer ducken. Stattdessen kam ein weißer Kleintransporter langsam die Straße entlang. Seine Radaufhängung wirkte wie aufgepumpt, als wäre die Karosserie höher gelegt worden, und das Fahrzeug schaukelte behäbig über Buckel und Schlaglöcher. Die Fenster waren völlig verdreckt, übersät mit Erde, Samenhülsen und Blättern, die beim letzten Schlenker von den Bäumen geschüttelt worden waren. Der Wagen rollte an mir vorbei, wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Nervös trat ich an die Fahrertür; das Fenster fuhr quietschend nach unten.

»Wo soll’s denn hingehen, Kleine?« Das Gesicht des Mannes war rot wie Glasmasse, die frisch aus dem Schmelzofen kam. Aus blassen Augen musterte er mich von Kopf bis Fuß. Ich sah sicher fürchterlich aus. Von meinen Haaren tropfte Wasser, und das alte weiße Tanktop, das ich trug, war klatschnass und klebte mir an der Haut. Ich zog die Schultern nach vorne und hob die Arme, um meine Brust zu bedecken. Er lachte. Seine Zähne faulten an den Rändern. Ein trüber gelber Belag bedeckte den Höcker eines jeden einzelnen, und den Zahnfleischrand säumte ein verräterischer Streifen Silber. »Sieht mir ja schwer nach ’ner Wandertour aus. Rauf auf den letzten Wainwright, was? Willst wohl die Erste sein, die’s wieder bis ganz nach oben schafft. ’ne Flagge hissen. Wenn das so ist, geht’s wohl wieder aufwärts in der Stadt. Na komm. Spring rein.«

Ich zögerte. Eigentlich hatte ich mich unterwegs auf absolut niemanden einlassen wollen, und Fragen würden mir nur Ärger einhandeln. Doch mir taten die Schultern und Füße weh, und mein Widerstand hielt nicht lange an. Während ich hinten um den Transporter herum zur Beifahrerseite ging, schälte ich mir das durchnässte Stück Stoff von der Brust und wrang es aus. Er streckte sich und öffnete mir die Tür, genau wie mein Vater es früher immer gemacht hatte, wenn er mich zur Schule fuhr. Auf dem Sitz hatte er einen schmutzig wirkenden Lumpen ausgebreitet. Ich legte meinen Rucksack in den Fußraum und stieg ein. »Braves Mädchen«, sagte er. »Gutes Timing, was?«

Er legte den ersten Gang ein und fuhr los. Es war ein seltsames Gefühl, nach so vielen Jahren wieder in einem Auto zu sein. Wie alle anderen hatte auch ich meinen Schlüssel und meine Papiere abgegeben und wusste schon gar nicht mehr, wie es war, einen Wagen zu steuern, eingeschlossen zu sein und doch fahren zu können, wohin auch immer man wollte. Als er auf die Kupplung trat und die Scheibenwischer einschaltete, fühlte ich mich wie in einen Traum oder eine längst verblasste Erinnerung versetzt. Der Geruch in der Fahrerkabine war streng und säuerlich, erinnerte an alte Kleidung, eine Mischung aus Essig und Urin, doch vielleicht war es auch der ungepflegte Mann selbst, der ihn verströmte. Ich ließ mir nichts anmerken und versuchte auch nicht, das Beifahrerfenster herunterzukurbeln. Ich war einfach nur froh, im Trockenen zu sein.

Meine Fußsohlen waren wund, obwohl ich zwei Paar dicke Socken trug. In meinen Fußspitzen begann ein Kribbeln wie von tausend kleinen Nadelstichen, und ich wackelte vorsichtig mit den Zehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich jemand mitnehmen würde. Seit Monaten hatte ich die freie Zeit zwischen meinen Schichten mit kurzen Wanderungen verbracht, zunächst ohne erkennbares Ziel, als wollte ich mir einfach nur die Zeit vertreiben, doch schließlich entschlossener, bis in die Randgebiete von Rith, den Berg zum Beacon hinauf und wieder hinunter. Spazieren zu gehen war schließlich nicht verboten, auch wenn Andrew es für dumm hielt, sich den Straßenhunden auszusetzen, die in der Stadt ihr Unwesen trieben und am Stadtrand nach Essbarem suchten. Sie seien dreckig und aggressiv, und ich lege es geradezu darauf an, gebissen zu werden. Ab und zu wurde ich tatsächlich angefallen, kam aber jedes Mal unverletzt davon. Meinen Rucksack hatte ich auf diese Streifzüge nicht mitnehmen können; das wäre zu verdächtig gewesen, und nun war sein schieres Gewicht ein Schock für meinen Körper.

Ich hatte darauf geachtet, die ganze Woche über ausreichend zu essen; zwei Portionen Reis statt nur einer und Sardinen zum Frühstück, obwohl das unsere Vorräte schrumpfen ließ und Andrew den Rest des Monats darunter leiden würde. Ich war so frisch und fit wie nur möglich. Doch in der Morgendämmerung die Festung zu umrunden und etwas mehr Fisch zu essen war das eine; mich mit dem Großteil meines Besitzes auf dem Rücken hinaus in den verlassenen Park zu schleppen war etwas vollkommen anderes. Nachdem ich etwa zwölf Meilen marschiert war, tat mir alles weh. Der Rucksack zog stark nach unten, und meine Wirbelsäule fühlte sich wie gestaucht an. Seit Stunden hatte es immer wieder geregnet, der nasse Saum meiner Kleidung scheuerte auf der Haut. Jeder Schritt brachte mich weiter hinaus aus der Stadt und näher an meine eigenen Grenzen. Hier einem Auto zu begegnen war unwahrscheinlich, es kam einem Wunder gleich, und ich war dankbar dafür.

Der Transporter schaukelte und schwankte den gewundenen Weg entlang, und der Mann fuhr weitläufige Kurven, um Hindernissen, Schlaglöchern und dem Gestrüpp auszuweichen, das in Büscheln aus der Böschung geborsten war. Ich presste die Handflächen neben meinen Oberschenkeln gegen den Sitz, um das Gleichgewicht zu halten, und schwieg. Ich wollte ein Gespräch vermeiden, wollte keinen Fragen ausweichen müssen, deren Antworten vielleicht kolportiert werden könnten. Ab und zu warf mir der Mann einen Blick zu und zog hörbar Luft durch die Nase ein. Doch ich spürte, dass er ohnehin lieber reden als zuhören wollte. Seine Einsamkeit war förmlich greifbar. Bestimmt lag seine Arbeitsstätte außerhalb der Zone, dachte ich.

»Also. Das Verbot ist wohl aufgehoben, was?«, fragte er schließlich. »Du bist die Erste hier draußen seit … Gott, ich weiß es schon gar nicht mehr. Einfach irre, wie du da plötzlich auf der Straße aufgetaucht bist. Ich dachte schon, dieses Teufelszeug lässt mich Gespenster sehen.« Er deutete auf ein silbernes Fläschchen, das in einer der Mulden auf dem Armaturenbrett lag, und bot mir einen Schluck an. Ich schüttelte den Kopf und fixierte den Rucksack mit den Füßen, als der Transporter durch die seichte Stelle eines Bachs pflügte. Das Fahrgestell schrappte knirschend über den steinigen Untergrund, und es klang, als schaufelten wir Kies. Der Mann trat die Kupplung durch, legte einen niedrigeren Gang ein und ließ den Motor aufheulen.

Überall schienen neue Wildbäche entstanden zu sein, die aus Mauern und Feldern quollen. Als die Reifen wieder Bodenhaftung gewonnen hatten, ging er vom Gas und wiederholte die Frage. »Für mich wurde es aufgehoben, ja«, sagte ich. Ich versuchte, weder ängstlich noch verdächtig zu wirken, und warf ihm einen Seitenblick zu. Sicher hatte er längst gemerkt, dass etwas nicht stimmte, schließlich war ich allein unterwegs, weit weg von der Stadt, und hatte offensichtlich nicht vor, zurückzugehen. Ich wartete nur darauf, dass er nachbohrte.

Er zeigte auf meinen Rucksack. »Ist da ein Zelt drin? So schnell kommst du hier nämlich nicht wieder weg. Ich fahr nach Rosgill und dann weiter nach Blackrigg. Wenn du hier draußen noch Leute hast, ist ja alles gut. Ich kenn sie bestimmt, ich kenn alle, die geblieben sind. Sind ja nur ’ne Handvoll, wenn überhaupt. Die meisten sind abgehauen, diese Schwachköpfe, aber ich nicht – ich arbeite oben an der Talsperre am Entnahmeturm. Außer rumzusitzen und das Schütz zu steuern, gibt’s nicht viel zu tun. Ich hab ’ne Zulassung und Anspruch auf den Transporter, alles hochoffiziell. Ich trag meinen Teil zum Wiederaufbau bei. Hier ist sonst kein Mensch, und ich fahr auch nur raus, wenn ich meine Ration abhole oder einen Ingenieur brauche. Die nächsten drei Wochen rühr ich mich sicher nicht vom Fleck. Mindestens. Du hattest Glück, dass ich überhaupt vorbeigekommen bin.«

Ich hatte wirklich Glück. Das war mir klar. Wenn er mich mit nach Rosgill nahm, würde mir das die Blasen von fünfzehn Meilen ersparen. Er ratterte eine kurze Liste von Anwohnern herunter, die zu stur gewesen waren, um zu gehen, wohl in der Erwartung, irgendeiner der Namen würde eine Reaktion bei mir hervorrufen, und beklagte sich dann über die immer knapper bemessenen Treibstoffkontingente und den Mangel an frischen Lebensmitteln in seiner blauen Kiste. »Es gibt nichts Widerlicheres als H-Milch«, sagte er. »Schmeckt doch wie Dünnschiss, oder? ’tschuldige. Das haben wir nun davon, dass wir die Bauern schikaniert haben mit diesem ganzen Zentralisierungswahnsinn. Jetzt, wo wir sie dringend brauchen, sind sie alle pleite.« Ich ließ ihn reden und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich musste mich konzentrieren.

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Rith so früh wie möglich zu verlassen und den ganzen Weg zu Fuß zu gehen. Ich schätzte, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit in der Nähe sein könnte, solange ich mein Tempo beibehielte und keine langen Pausen einlegte. Ich hatte die Route auf einer alten topografischen Karte studiert, die Andrew in einer der Kisten unter dem Bett aufbewahrte, und sie schien mir innerhalb von einem Tag oder höchstens eineinhalb Tagen bewältigbar zu sein, auch wenn das letzte Stück sehr steil aussah, den dichten Schraffuren nach zu urteilen. Der Aufstieg würde eine Qual werden. Aber das wäre es wert. Wenn ich die Farm erst einmal erreicht hätte, würde alles besser werden. Dafür würden die Frauen schon sorgen.

In all den Wochen der Vorbereitung hatte ich nie in Betracht gezogen, dass sie vielleicht nicht mehr da sein könnten. Oder, schlimmer noch, dass sie mich abweisen würden. Bedenken dieser Art hatte ich weit von mir geschoben, aus Angst, sie könnten mich von meinem Plan abbringen. Ich konnte nur hoffen. Hoffnung nährte mich auf eine Weise, wie es der Dosenfraß niemals könnte. In Wahrheit konnte ich mir nicht sicher sein, wie man mich auf Carhullan empfangen würde, was ich dort vorfinden würde und wen. Doch ich weigerte mich, zu glauben, dass der Ort mittlerweile verwaist war, dass sie aufgegeben hatten. Denn hätte ich diesem Gedanken erlaubt, sich einzunisten, wäre ich niemals aufgebrochen.

Seit mindestens fünf Jahren hatten wir keine unverfälschten Berichte mehr aus dieser Region gehört. Die Obrigkeit hatte daran kein Interesse. Ihre offiziellen Mitteilungen erwähnten diese Landschaft, die andere Seite Großbritanniens, mit keinem Wort. Ab und zu kam ein vereinzelter Sturkopf auf einem Pferd, einem hergerichteten Fahrrad oder auch zu Fuß in die Stadt, doch meist wollte er nur erfahren, ob hier etwas voranging, die New-Fuel-Fabriken und die Ölraffinerie Uncon bestaunen oder um Antibiotika betteln. Manchmal tauschte er Waren auf dem Schwarzmarkt. Selten wurde ein Tod, ein Begräbnis vermeldet. Wer nicht an der Volkszählung teilgenommen hatte, war in der Versenkung verschwunden; wer jenseits der ausgewiesenen Bereiche lebte, galt als autonom, als ausheimisch. Diese Menschen zählten ganz einfach nicht. Sie hatten sich dagegen entschieden, beim Wiederaufbau zu helfen, und waren keine anerkannten Mitglieder der Nation mehr. Die Obrigkeit bezeichnete sie als Inoffizielle.

»Versteh mich nicht falsch, ich konnte die ganzen Touristen nicht ausstehen«, sagte der Mann gerade, »aber jetzt ist hier draußen tote Hose. Es gibt keine Gemeinschaft mehr, obwohl das mal unsere Stärke war. Kein Leben. Es gibt überhaupt nichts mehr außer Karnickel und Hirsche. Ich bin ein Mann, der Gesellschaft braucht.« Er blickte zu mir. Ich bückte mich nach meinem Rucksack, schnürte ihn auf und holte vorsichtig einen Pullover heraus. Ich streifte ihn über mein nasses Tanktop, das ich gerne vorher ausgezogen hätte. »Mensch, sag doch, dass dir kalt ist. Die Heizung geht.« Er öffnete den Luftschacht am Armaturenbrett, und ein muffiger Schwall Wärme traf mein Gesicht und meine Schienbeine.

Der Mann sprach weiter. »Das soll nicht heißen, dass ich lieber in der Stadt wäre. Ich kann die Stadt nicht ausstehen, vor allem jetzt, wo sie zu ’nem Getto verkommen ist. Diese ganzen Regeln. Und dann das Ungeziefer. Das ist doch ein Witz. Wer hätte gedacht, dass es bei uns mal zugeht wie in der Dritten Welt. Da kann ich froh sein, dass ich diesen Posten bekommen hab. Hier hab ich Platz und saubere Luft. Ich bin mein eigener Chef.« Ich nickte, und er sah mich wieder von der Seite an. »Hör mal, mach keine Dummheiten, wenn du da draußen bist«, sagte er. »Sonst muss ich mich noch schuldig fühlen, weil ich dich abgesetzt hab. Gib mir lieber deine Sektionsnummer, nur zur Sicherheit. Schreib sie auf oder so.« Ich nickte, schwieg jedoch und blickte aus dem Fenster.

Er redete weiter, um die Stille zu übertönen. »Jawoll. Es ist schön, mal wieder Besuch zu bekommen. Muss ja wirklich aufwärtsgehen. Es ist so scheißeinsam hier draußen, vor allem seit das Pub zugemacht hat. Und ich ertrag die Nachrichten nicht mehr. Alles Lügen. Die glauben, wir könnten nicht damit umgehen. Die glauben, wir wüssten nicht, wie völlig hinüber alles ist. Versteh mich nicht falsch. Ich steh zu hundert Prozent hinter unseren Soldaten, und der König hat auf jeden Fall Eier in der Hose, da rauszugehen, aber mal ehrlich, was soll das bringen?« Er seufzte. »Weißt du, man vergisst ganz, wie das ist, sich normal zu unterhalten. Man vergisst so vieles.«

Die Luft im Auto war innerhalb kürzester Zeit heiß und stickig geworden. Ich spürte, wie ein Tropfen Schweiß oder Regenwasser meine Wirbelsäule hinunterrann. Ich roch die faulige Feuchte unter den Achseln des Mannes, als er die Ellbogen hob und sich auf dem Lenkrad nach vorne beugte. Er öffnete sein Fenster einen Spalt. »Du hast gar nicht gesagt, wo du abgesetzt werden willst, oder? Hör mal, wenn du willst, kannst du auch bei mir unterkommen, ’ne Kleinigkeit essen und dich ausruhen, bevor du die Fells besteigst. Ich hab gerade Dörrfleisch geholt.« Er setzte einen sarkastischen amerikanischen Akzent auf. »Von unseren christlichen Freunden aus den Ver-eynigten Staaaaten.« Dann lachte er abfällig und schüttelte den Kopf. Ich spürte seinen Blick auf meinen Beinen, wie er die nassen Umrisse meiner Oberschenkel entlangwanderte. »Hör mal, wenn ich fragen darf, werden Frauen immer noch, du weißt schon … verarztet, damit wir nicht aus allen Nähten platzen?« Er lachte noch mal, und seine Augen leuchteten. »Ich schätze, das ist das einzig Gute an alldem, die Rückkehr zur Ära der freien Liebe. Mmmmh, ja.« Er streckte die Finger auf dem Lenkrad durch.

Ein Stoß Adrenalin durchfuhr mich. Ich spürte, wie er gegen mein Brustbein loderte und meine Nervenenden in Brand setzte. Plötzlich wollte ich mich von allen Zwängen befreien, wollte so losgelöst und leichtsinnig sein, wie es dieser Reise angemessen war. Ich hatte es bis hierher geschafft. Ich war ohne Zögern oder Zwischenfälle entkommen. Nie wieder würde man mich in den Laderaum eines Streifenwagens führen und demütigen. Hinter mir lagen ein Ehemann, mit dem zu reden ich nicht mehr ertrug, eine Fabrik voller unnützer Wasserturbinen, in die ich keinen Fuß mehr setzen wollte, und der Aufseher, der mich gezwungen hatte, vor seinem Kollegen die Arbeitshose herunterzulassen, und, während er einen Witz über Hundeleinen riss, mit seiner behandschuhten Hand nach dem Draht meiner Spirale tastete, obwohl dieser deutlich sichtbar war.

Hier draußen gab es keine Vorschriften. Hier gab es keine Stümperei und kein Chaos, schlecht durchdacht und kaum lebenswürdig. Hier gab es nur mich, meinen eigenen Körper, durch den das Blut immer schneller pulsierte. Was ich vorhatte, fühlte sich nun nicht mehr wie ein Glücksspiel an, sondern wie meine einzige Wahl.

»Ich gehe nicht wandern«, sagte ich zu dem Mann. »Ich gehe an einen Ort namens Carhullan.«

Er schnaubte geräuschvoll und warf den Kopf in den Nacken, als wollte er eine Fliege loswerden, die in seinem Nasenloch feststeckte. »Carhullan?«, wiederholte er und teilte das Wort beim Sprechen entzwei, als könnte er es nicht als Ganzes verarbeiten. »Soll das ein Scherz sein? Willst du mich vergackeiern?«

»Nein«, sagte ich, »da gehe ich hin.«

Er schnaufte noch einmal. »O mein Gott. Du meinst das ernst. Dieser vermaledeite Ort! Du dummes, dummes Mädchen. Was in aller Welt denkst du …?«

Er brach ab, sein Blick nun finster, die Mundwinkel nach unten verzogen. Er hatte also nicht nur davon gehört, er hatte auch eine Meinung zu den Bewohnerinnen der Farm. Auch ich hatte den Namen auf eine Art und Weise ausgesprochen, die keinen Zweifel daran ließ, dass ich ihre Geschichte kannte. Ich warf ihm einen Blick zu. Sein Gesicht glühte. Die Augen flitzten in den rot geränderten Höhlen hin und her.

»Also. Ich weiß ja nicht. Was auch immer du vorhast oder vorzuhaben meinst, du machst ’nen Fehler. Halt dich von denen lieber fern. Ich weiß ja nicht. Die sind schlimmer drauf als je zuvor, ich seh sie manchmal in der Gegend rumstromern. Weiß auch nicht, für wen die sich halten oder warum sich irgendwer mit ihnen abgeben will. Ausgerechnet eine nette junge Frau wie du. Man hätte ihnen nie erlauben dürfen, hier oben zu bleiben wie so ’ne Terroristenbande. Das ist krank, wenn du mich fragst.«

Ich blickte stur geradeaus und senkte die Stimme. »Ich habe Sie nicht gefragt.«

Ich spürte einen weiteren Blitz meine Brust durchzucken, doch diesmal war es Euphorie, keine Wut. Sie waren also immer noch da. Sie waren immer noch auf Carhullan. Sie hatten tatsächlich durchgehalten, trotz allem, was passiert war. Ich fragte mich, wie viele heute dort sein mochten. Fünfzig? Oder noch mehr? Unter welchen Bedingungen sie wohl lebten? Zu gerne hätte ich all diese Fragen dem Mann neben mir gestellt. Ich wollte, dass er weitersprach, denn egal wie abfällig und beleidigend seine Worte waren, sie würden mich darin bestärken, dass die Farm nach wie vor bewohnt wurde. Ich wollte alles hören, was er mir sagen konnte. Vor allem aber brannte ich darauf, zu erfahren, ob sie noch da war. Jackie Nixon. Ob sie noch das Sagen hatte. Doch dafür war es nun zu spät. Ich wusste, dass es unmöglich sein würde, dem Mann die Antworten zu entlocken. Das Gespräch war beendet. Nach diesem Schlagabtausch würden wir weder darüber sprechen noch über etwas anderes.

Der Transporter fuhr nun schneller, und der Mann kämpfte mit dem Lenkrad, als er eine enge Kurve nahm. Empörung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und ich hörte, wie er leise vor sich hin fluchte. Als die Biegung hinter uns lag, schaltete er die Heizlüftung aus. Ob ich mich wohlfühlte, war ihm nun egal. Wie der Geruch des Transporters war auch die Atmosphäre umgekippt und sauer geworden. Anscheinend hatten wir uns den Krieg erklärt, und das wegen eines einzigen Wortes. Ich hatte meine Karten aufgedeckt und er seine. Ihm lag nun nichts mehr an meiner Gesellschaft; er würde weder seine Vorräte mit mir teilen noch versuchen, mich zu vögeln. Zweifellos hatte er monatelang darauf gehofft, dass sein wunderschönes, fruchtbares Tal wieder bevölkert würde, als Zeichen dafür, dass die Zivilisation mit ihrer alten Ordnung und den traditionellen Verhältnissen zurückkehrte, doch stattdessen hatte er eine Abweichlerin angetroffen, eine Deserteurin.

Er versuchte nicht, mir meinen Plan auszureden. Er hatte wohl erkannt, dass es mir ernst war. Es gab einen Grund dafür, warum er in all den Jahren seit dem Zusammenbruch nur einer einzigen Person auf dieser Straße begegnet war. Bestimmt hätte er mehr zu sagen gehabt oder war sogar damit beschäftigt, sich Argumente zurechtzulegen und neue Beleidigungen auszudenken. Weitere Wörter lagen ihm mit Sicherheit auf der Zunge, warteten hinter den stumpfen, verrottenden Zähnen auf ihren Einsatz. Ich hatte sie alle schon gehört. Kult. Sekte. Hexennest. Ich machte mich darauf gefasst, dass er sein Gift verspritzte und die haarsträubendsten Gerüchte von damals wiederholte, als es noch Medien gab, die neugierig werden und Carhullan verurteilen konnten. Berichte über Babys, Verstümmelungen und andere grausame Praktiken. Vielleicht würde er aber auch einfach eine Vollbremsung machen und mich aus dem Auto schmeißen.

Doch der alte Transporter rumpelte weiter voran, über ein Gitterwerk aus verfallenem Beton und durch den schweren Herbstregen. Ich behielt die Nerven und wartete ab, was als Nächstes passieren würde.

Weil niemand die Hecken beschnitt, waren sie groß und breit gewachsen. Äste ragten in die Straße hinein und kratzten über den Lack, als der Transporter darunter hindurchkroch. Überall wucherten Brombeerranken, doch die Früchte waren schwarz und winzig, als wären sie zu früh gereift und dann verschrumpelt. Auf den Feldern weiter unten gewann der Rhododendron allmählich die Überhand. Und da war auch eine Pflanze, die ich nicht kannte, ein dichtes, grünes Schlinggewächs, das Telefonmasten hinaufkletterte und sich um Baumstämme wand.

Wir fuhren durch ein kleines Dorf, und ich sah etwa ein Dutzend Autos, die am Straßenrand stehen gelassen worden waren oder in den Einfahrten und Vorgärten der Cottages Rost ansetzten. Manche waren mit flatternden Planen oder auch mit Plastik abgedeckt, als hofften ihre früheren Besitzer darauf, sie irgendwann wieder zu fahren, für Biokraftstoff tauglich zu machen oder in irgendeiner Form entschädigt zu werden. Wo früher in Rith die Supermärkte gewesen waren, standen mittlerweile Meter um Meter geparkter Autos, deren Schlüssel beschlagnahmt und deren Nummernschilder in den Registern der Obrigkeit vermerkt worden waren. Hier waren die Menschen offenbar weniger gutgläubig gewesen, hatten an ihrem Besitz festgehalten und sich gegen die Entmündigung gesträubt.

Im Vorbeifahren betrachtete ich die Logos der Automarken und sah förmlich vor mir, wie Menschen in Ausstellungsräumen oder Autohäusern das passende Modell aussuchten. Kredite zur Finanzierung aufnahmen. Airbags, Anschnallgurte und Musikanlagen begutachteten. Das alles erschien nun so lächerlich. In den Gärten der leeren Häuser war Gras um die Reifen gewachsen, bis unter die Radkappen. Schimmel trübte die Windschutzscheiben, die Seitenspiegel hingen schief herab. Regen hatte den glänzenden Lack zerfressen. Die Motoren im Inneren waren zweifellos verrostet und verstopft, und bestimmt nisteten Mäuse und Vögel in den metallenen Winkeln und Schächten.

Es war alles so schnell passiert, so unerbittlich, zuerst der Engpass, dann die Preiserhöhungen und schließlich das Verbot. Damals waren die Autos nicht flächendeckend zu retten gewesen, und mittlerweile glaubte niemand mehr, dass das jemals geschehen würde. Sie waren wertlos, leere Hülsen einer privilegierten Epoche. Die New-Fuel-Fabriken und Uncon zusammen waren kaum in der Lage, das Stromnetz zu versorgen, geschweige denn ein groß angelegtes Verkehrssystem zu betreiben. Die kleinen Leute würden immer den Kürzeren ziehen. In dem Moment wurde mir auch klar, woher der strenge Geruch im Transporter stammte. Er kam von den Dämpfen des Benzinersatzstoffs, die der Auspuff absonderte.

Ich türmte, als der Mann das nächste Mal langsamer wurde, wartete nicht mal darauf, dass er richtig anhielt. Ich öffnete die Beifahrertür, sprang ab und landete unsanft mit meinem Rucksack in einer Furche aus Kies. Er bremste scharf, und der Transporter kam ein paar Meter weiter schlitternd zum Stehen. »Du blödes Miststück«, brüllte er mir nach. »Wenn du glaubst, dass es da oben besser ist, hast du dich geschnitten. Mädchen, du hast ja keinen blassen Schimmer! Ich geb dir ’ne Woche, bis du deinen kleinen Arsch wieder nach unten bewegst und mich anbettelst, dich nach Hause zu fahren. Darauf wett ich was.«

Ich war schon im Weggehen. Er streckte den Arm aus, knallte die Tür zu und fuhr davon. In seiner Stimme hatte eine Furcht mitgeklungen, die an Hysterie grenzte. Fast glaubte ich ihm, dass er Angst um mich hatte. Kurz bekam ich Mitleid. Er hatte eine Frau von der Straße aufgelesen und ihr geholfen, nur um dann zu erfahren, dass sie sich einem Leben verschreiben wollte, in dem er nichts wert war, so unnütz wie eines der überflüssigen Autos. Ich hatte nicht mit ihm geflirtet. Ich hatte nichts für ihn übriggehabt und nicht mal um der Mitfahrgelegenheit willen so getan, als ob. Unsere Begegnung bot ihm keinerlei Vorlage, nichts, was sich später verwenden ließe. Doch vielleicht wäre ihm das Bild eines vom Regen durchnässten Körpers schon genug.

Ich fröstelte. Hier draußen war es kühl, doch ich war froh, nicht mehr im Transporter zu sein. Auf einmal hatte ich den Mann vor Augen, wie er über mir kauerte, mir die Arme nach unten drückte, seinen Mund auf meinen presste und blind vor Verlangen mit den dicken, weißen Schenkeln wippte. Ich war nicht schwach, aber auch nicht stark genug, um so etwas zu verhindern. Das wusste ich. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, wie riskant es gewesen war, zu ihm ins Auto zu steigen. Wahrscheinlich hatte er die letzten Jahre alleine am Stausee verbracht und war immer frustrierter geworden, während die Einsamkeit seinen Geist lähmte und seine Körpersäfte stocken ließ.

Doch kaum hatte ich mir diesen Kampf ausgemalt, trat ein anderes Bild an seine Stelle. Darin stand ich über dem Mann und rammte ihm die Ferse ins Gesicht, bis es barst und entzweibrach wie ein Kürbis. Es war so viel klarer, dieses zweite Bild, so viel naheliegender, wenn auch nur in meinem Kopf. Ich wusste, dass es richtig gewesen war, Andrew zu verlassen und dem streng getakteten Leben in der Stadt den Rücken zu kehren, dem erbärmlichen, ausgehöhlten Etwas, zu dem der verwaltete Teil unseres Landes verkommen war.

Der Transporter verschwand hinter dem Wirrwarr aus wachsartigen grünen Büschen, die den Weg säumten. Ich hörte, wie der Motor abgewürgt wurde und die Zündung schwerfällig anging; ein Geräusch wie das verschleimte Husten der kranken Hunde in der Stadt. Der Motor sprang an, heulte einmal dreckig auf, und der Wagen fuhr brummend außer Hörweite.

Ich hatte den Fahrer nicht nach dem Weg nach Carhullan gefragt. Doch das war auch gar nicht nötig. Auf dem Schild gegenüber stand Vaughsteele. Ein Stück weiter vorn gabelte sich die Straße, und auf einer Seite stand eine Kirche. Ich hatte mir die Karte eingeprägt, bevor ich aufgebrochen war, und wusste den Weg auswendig. In der Siedlung würde ich mich rechts halten müssen, dann beim letzten Gebäude den steilen Felsenpfad einschlagen und vier Meilen geradeaus gehen, allmählich die Fells hinauf, bis ich an eine Abzweigung käme. Dort müsste ich rechts an einem Grundstück namens Moora Hill vorbei, dann wieder drei Meilen bergauf, immer an den alten Trockenmauern entlang, die den Weg zum Gipfel des High Street wiesen und mich direkt durch das Tor von Carhullan führen würden.

Die Karte hatte ich in Andrews Kiste unter dem Bett gelassen. Ich würde sie nicht noch mal brauchen. Ich hatte nicht vor, jemals zurückzukehren.