Beide Leben - Gabriel Krauze - E-Book

Beide Leben E-Book

Gabriel Krauze

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Beschreibung

Ein heikler Balanceakt zwischen zwei Welten: Der Rausch von Gewalt inmitten der Betontürme im Norden Londons, nebenher ein Literaturstudium. Ein Leben, das unweigerlich die Frage nach Gut und Böse aufwirft. Gabriel Krauze schreibt mit ungeschönter Ehrlichkeit von seiner früheren Existenz. Ein atemloser, sprachlich brillanter Großstadt-Roman, der Gewalt und Tristesse eine eigene Poesie verleiht.

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INHALT

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ÜBER DEN AUTOR

Gabriel Krauze wuchs in London auf und fühlte sich schon früh zu einem Leben der Gangs und Kriminalität hingezogen. Er hat diese Welt hinter sich gelassen und sie in seinem Schreiben verarbeitet. Seine Kurzgeschichten wurden in Vice veröffentlicht. Beide Leben ist sein Debütroman, stand 2020 auf der Longlist für den Booker Prize und 2021 auf derjenigen des Dylan Thomas Prize.

ÜBER DAS BUCH

Ein heikler Balanceakt zwischen zwei Welten: Der Rausch von Gewalt inmitten der Betontürme im Norden Londons, nebenher ein Literaturstudium. Ein Leben, das unweigerlich die Frage nach Gut und Böse aufwirft.

Gabriel Krauze schreibt mit ungeschönter Ehrlichkeit von seiner früheren Existenz. Ein atemloser, sprachlich brillanter Großstadt-Roman, der Gewalt und Tristesse eine eigene Poesie verleiht.

NICHT INS GESICHT KUCKEN

und raus aus der Karre und ich steh auf dem Gehweg und das ist der Moment, wenn du aus dem Wagen springst und es ist zu spät umzukehren, wenn du weißt, dass dus definitiv tun wirst, obwohl dich die Art, wie dir das Adrenalin durch den Körper pumpt, eine Sekunde lang wünschen lässt, dass du ganz woanders wärst. Und jetzt wieseln wir die Straße runter und sie ist zu weit vor uns, unser Timing war scheiße, aber wir können nicht einfach losrennen, denn das alarmiert sie und dann dreht sie sich um, also möglichst leise möglichst schnell hinter ihr her. Meine Bala sitzt mir fest auf dem Gesicht und ich hab noch die Kapuze drüber und spüre, wie mir das Adrenalin in der Brust explodiert wie eine Supernova, es ist, als wäre mein ganzer Körper nichts als mein dröhnendes Herz.

Und ich komme näher an sie ran und Gotti ist direkt neben mir und sie hört uns nicht, nicht so, wie wir uns voranbewegen, niedrig über der Erde, schwarze Nike-Trainingsanzüge aus Baumwolle, damit nichts raschelt. Die Nike-Sneakers geräuschlos auf den Gehwegplatten. Und ein paar Herzschläge lang wird mir bewusst, wie alles um uns herum den Eindruck von einem friedvollen Leben erwecken könnte, die Sonne über uns bläht sich im Himmelsbauch und taucht die Straße in eine Helligkeit, die alles durchbricht. Perfekte, ordentlich aneinandergereihte Häuser, gestutzte Büsche den Gehweg entlang, der kühle metallische Geruch des Morgens, und jetzt drückt die Frau ein Tor auf, biegt von der Straße und auf den schmalen Weg zu ihrem Haus.

Unser Timing war wirklich scheiße, aber wir können sie noch erwischen und sprinten los, versuchen immer noch, nicht aufzufallen, aber jetzt müssen wir richtig schnell sein, sonst ist sie weg, und wir biegen durch das kleine Tor, sie ist fast schon an der Haustür und sucht in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und wir schießen den Weg hoch und dann sind wir direkt hinter ihr und ich kann die Hand ausstrecken und ihr in die Haare greifen, ich rieche ihr Shampoo und wie weich sie sind, riech ihr teures Parfüm, das mich fast kotzen lässt, und in dem Augenblick fällt alles, was ich je gewusst hab, von mir ab, ist weg, Erinnerungen, Vergangenheit, Zukunft, und die Straße, der Morgen und alles andere um uns herum verschwindet, als vergäße ich die Welt, und da ist nur noch das Jetzt, kristallklar, auf der Türschwelle, und bevor ich meine Arme um ihren Hals bekomme, um sie ins Reich der Träume zu schicken, dreht sie sich um.

Und sie schreit. Sie sieht mich, das heißt meine Augen und einen Fetzen Mund durch die drei Löcher meiner schwarzen Bala und es ist, als kapierte sie den Albtraum, von dem sie nicht wusste, dass sie mittendrin ist, und wir wissen, das ist jetzt komplett verschissen, keine Chance mehr, das ruhig und unbemerkt durchzuziehn, und ich packe sie und drücke meinen Arm gegen ihre Kehle, dreh sie um und presse sie fest an mich und Gotti versucht, ihr die Cartier vom Handgelenk zu ziehn, aber aus irgendeinem verfickten Grund geht es nicht, und er reißt dran und das Metall gräbt sich in ihr Handgelenk und sie schreit, nimm sie nimm sie doch, und jetzt ist das Pumpen in meinem Herz und meinem Bauch völlig weg, weil wirs tatsächlich machen, nichts sonst existiert mehr in diesem Moment, alles ist ruhig und still in mir und ich sage ihr, hör verdammt auf, dich zu wehren, ins Ohr, aber Gotti kriegt die Uhr einfach nicht runter, obwohl sie ihm ihre Hand überlässt, und ich kann sehen, er kapiert nicht, was los ist, weil es noch nie so war, dass er eine Uhr nicht vom Arm runterkriegt, und die hier ist mit Diamanten besetzt und wir wollen sie unbedingt, weil sie leicht zehn, fünfzehn Riesen wert ist.

Und ich denke, scheiß drauf, wo sie schon so schreit, sinnlos, sie noch schlafen zu schicken, ich helfe lieber Gotti. Da öffnet sich die Haustür, knallweiß mit einem Messingklopfer, und da steht ein Junge, vielleicht siebzehn, und glotzt uns an, wie erstarrt, und sagt, Mum, und ich kucke ihn an, unsere Blicke treffen sich, und ich sehe in seinen Augen und hinter ihm im Haus ein komplett anderes Leben als meins, eines, das vielleicht besser ist, ohne so viele scharfe Kanten und zerbrochene Dinge und wir versuchen noch immer, ihr die Uhr von der Hand zu reißen und plötzlich dreht sich Gotti um und fetzt dem Sohn der Frau eine Faust ins Gesicht und der Junge fällt und Gotti knallt die Tür zu und wir sind wieder allein. Und jetzt sehe ich, sie hat einen fetten Diamantring an ihrem Ringfinger, und versuche ihn runterzuziehen, aber er bewegt sich nicht, die Haut schiebt sich zusammen, es tut ihr weh und ich kann ihn nicht runterdrehen, weil sie noch einen Ehering davor hat, der im Weg ist. Also knicke ich ihren Finger zurück, er klappt glatt rüber, bis die Spitze auf dem Handgelenk landet, und es ist komisch, weil ich immer dachte, wenn du wem den Finger brichst, kannst du spüren, wie der Knochen knackt, es sogar hören, aber da ist nichts, es ist wie ein Stück Papier zusammenzufalten, als würde sich der Finger ganz natürlich so weit zurückbiegen lassen, und sie schreit, ich soll den Ring nehmen, doch es geht nicht und ich sehe, die Bruchstelle unten am Fingeransatz schwillt in Sekundenschnelle an, was heißt, dass ich das Ding ganz sicher nicht runterkriege, und die Tür geht wieder auf und da steht ein Mann in einem roten Pullover und wir wissen, jetzt ist alles am Arsch, wir müssen hier weg, aber wir hoffen immer noch, dass wir irgendwas für unsre Mühen mitgehen lassen können, und der Mann fasst seine Frau um den Leib und zieht sie zu sich, zerrt sie in die Tür, und Gotti so, Snoopz, komm, vergiss es, wir verpissen uns, und er dreht sich von der Tür weg, um zum Wagen zurückzurennen, der auf der Straße wartet, und ich in meinem Kopf, ich so, Scheiße, ich hau hier nicht ohne was ab, und der Mann zerrt seine Frau ins Haus und will dabei gleichzeitig die Tür zuschlagen und ich kann in den Flur reinkucken und sehe den dicken, weichen, beigen Teppich, so einen, der die Wärme von jedem Sonnenstrahl aufsaugt, dass du dich einfach nur drauflegen und einschlafen willst, und ich streck irre schnell die Hand vor, erwische die Frau beim Handgelenk und zieh den Arm in dem Moment zu mir, als die Tür zuknallt, der Mann lässt sie voll auf den Arm seiner Frau krachen, und ich höre, wie sie schreit. Gotti rennt den Weg zum Tor runter und ich sehe durch den Türspalt, dass die Frau ihre Handtasche fallen gelassen hat, bücke mich, packe sie wie der Blitz, und schon öffnet sich die Tür wieder ganz und der Mann hat einen Kricketschläger, mit dem er ausholt, aber ich ducke mich weg und er verfehlt meinen Kopf, wobei ich den Luftzug auf meiner Bala spüre, als der Schläger drüber wegzieht. Ich wirble herum und renne mit der Handtasche den Weg runter, durchs Tor, aber unser Fluchtwagen ist nicht da, er fährt die Straße runter, eine der hinteren Türen weit offen und Gotti schreit, ich soll bloß kommen, und der Mann rennt hinter mir her, schwingt den Kricketschläger über dem Kopf und brüllt wie ein Irrer, da kommen keine Worte mehr raus, das ist nur ein Brüllen, und ich renne unserer Karre hinterher, atme den Morgen ein, gläserne Nadeln Sonnenlicht stechen durch die Wolken und schlagen um mich rum ein und ich bin nich sicher, ob ichs schaffe, ich komm einfach nicht auf Höhe der Tür und oh Mann was für eine Scheiße, so kann das nicht enden, das kann es nicht. Aber dann komm ich hin und hechte mit dem Kopf voran auf den Rücksitz und Gotti packt mich und der Wagen, meine Füße ragen noch raus, schießt die Straße runter. Gotti zerrt mich rein, beugt sich über mich, knallt die Tür zu, und Tyrell fährt uns weg.

Wir biegen auf die Hauptstraße, und wir reden auf Tyrell ein wie, was war das, Mann, bin nicht rangekommen, Bruder, was fürn Wahnsinn, und ich zieh meine Balaklava runter und Gotti seine und es ist wie tief aus dem Ozean wieder an die Luft zu gelangen und als wärst du so lange da unten gewesen, dass du gar nicht gemerkt hast, dass du am Ersaufen warst, und Gotti sagt, Junge, keine Ahnung, was los war, ich konnte die Uhr nicht runterkriegen, ging einfach nicht, ich hab gerissen und gerissen, aber sie wollte nicht, und Tyrell sagt, echt, Mann?, aber er sagt es tonlos und abwesend, weil er sich voll drauf konzentriert, uns möglichst schnell aus der Gegend zu bringen, die Anspannung verzerrt ihm das Gesicht und lässt es aschgelb werden, aber er macht das superclever, nicht zu schnell, dass man sieht, wir sind auf der Flucht, nur so, als müsste er noch wohin. Und der Wagen ist gut. Nicht zu auffällig, aber auch nicht zu runtergewirtschaftet und am Arsch, dass klar ist, der geht gleich irgendwo in Flammen auf.

Als er die High Street runterfährt, an den Läden vorbei und durch das normale Morgenleben, wies überall sein könnte, kommen uns mit Sirene die Bullen entgegen und das blaue Licht zuckt in blassen Streifen von Häusern und Fenstern zurück und zerfällt in der Helle des Lichts. Gotti und ich rutschen vom Rücksitz in den Fußraum, weil wir wissen, die kommen wegen uns. Wir drücken uns dicht auf den Boden, die Beine gegeneinandergepresst, und sorgen dafür, dass es aussieht, als säße hinten keiner, die Köpfe unten im Dreck und im Staub und ich sehe die Poren in der Gummimatte, die plötzlich zu was Wichtigem werden, ihre Form, ihre Oberfläche, ihre Farbe, ihre

Und der Bullenwagen fliegt in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei zu der Straße, aus der wir vor einer Minute weg sind und ich bin überrascht, weil du immer hörst, dass die Polizei nicht schnell genug reagiert und der ganze Scheiß, aber die waren jetzt echt schnell, ich meine, das Ganze kann nicht länger als drei Minuten her sein. Ich nehme an, der Sohn oder Mann hat schon die Bullen gerufen, als wir noch an der Frau dran waren und ihr den Scheiß runterzureißen versuchten und klar, es ist etwa zehn Uhr und hier gibts so gut wie keinen Verkehr und was wir veranstaltet haben, war so irre, kein Wunder, dass sie so schnell warn. Aber sie hatten nicht maln Blick für Tyrell übrig, haben nicht mal in unsere Richtung gekuckt und wir sind längst weit unten auf der High Street. Wir rutschen wieder hoch. Wir sind unterwegs zurück zum Treffpunkt, wir können uns entspannen, wir sind davongekommen, sie kriegen uns nicht mehr.

Und jetzt sagt Gotti, du bist krank, Bruder, so krank, und macht vor Tyrell den großen Mann aus mir, Snoopz ist so krank, weiß du, der wollte da einfach nicht weg, sagt er und macht große Augen und bleckt die Zähne, weiß weiß weiß. Und ich, Scheiße, Bro, ich zieh da doch nicht mit nichts wieder ab, und Tyrell sagt, was hast du erwischt, Bro? Und ich zeig ihm die Handtasche, ist von Prada, wahrscheinlich selbst schon einen Riesen wert und Tyrell sagt, sind dan paar Scheine drin? Und ich sehe nach.

Es ist der typische Plunder einer reichen Frau, Parfüm, teure Handcreme, ein paar Visitenkarten und anderer Kram, den ich nicht näher ankucke, weil sich nichts davon verkaufen lässt. Und dann ist da ihr Portemonnaie und Gotti redet mit Tyrell, er soll die anderen anrufen, weil wir nich wissen, wo sie sind, und ich seh durch ihr Portemonnaie und pass auf, dass Tyrell es nicht mitkriegt, und da sind siebenhundert, komplett in Fünfziger-Scheinen und ich hol sie schnell raus und steck sie mir tief in die Tasche, weil ich weiß, Tyrell und die anderen werden ihrn Anteil wollen, aber ich denke, Scheiße, die gehörn mir und Gotti, keiner sonst hat seine Freiheit riskiert und die Art Wahnsinn durchgezogen wie wir, auch wenns eine Pleite war, und da es sowieso sone Winzsumme ist, nehm ich die Scheine einfach und keiner erfährt was davon. Sonst sind es Jungle, Gotti und ich, die den größten Anteil kriegen, jeder so dreißig Prozent von der Beute. Jungle dafür, dass er die Sache auscheckt und uns drauf ansetzt, und Gotti und ich, weil wir das Ding durchziehen und das größte Risiko haben. Der Rest geht an Tyrell, der uns nur hinfahrn muss, wo die Sache steigt, und uns hinterher wieder rausholt. Und jetzt sagt Tyrell, was is in der Brieftasche, Bruder, ordentlich Bares?, und ich so, nichts, nur Karten, und ich zieh eine schwarze Amex raus und wir alle, Scheiiiße, weils beweist, wie viel die Uhr und der Ring abgeworfen hätten, die war definitiv satt reich, sagt Gotti. Ich meine, wir wussten schon, dass sie reich war, mit den Klamotten, dem Schmuck und dass sie mitten am Tag nicht wirklich was zu tun hatte, wahrscheinlich war sie vorher im Café oder hat sich die Haare machen lassen, weil die rochen wirklich gut und der Vorgarten, durch den sie zu dieser großen, weißen Tür ist, so ein Haus wird sich keiner von uns je leisten können, auch wenn wir uns gern vorstellen würden, dass wirs eines Tages so weit bringen. Aber die schwarze Amex, die ist noch mal was ganz anderes. Ich hab bisher nur in ein paar Songs davon gehört, von Jay-Z und Lil Wayne, auch von Kanye, wie sie angeben, wie dick sies haben mit ihren schwarzen Karten, dem ultimativen Symbol von Reichtum und wahrer sozialer Elite, himmelhoch über dem Rest.

Ich stecke die Karte ein, mein Andenken an den heutigen Tag, und etwas, das ich wahrscheinlich nie mit meinem Namen drauf besitzen werde, warum da nicht die von wem anders behalten, auch wenn ich sie nicht benutzen kann, is wahrscheinlich längst gesperrt, sagt Tyrell, und alles fühlt sich wieder normal an. Die Sonne ist unwichtig, das Wetter ist einfach nur das Wetter und die Leute auf der Straße sind einfach nur Leute, die tun, was Leute an einem Montagmorgen eben tun. Es gibt Läden und Autos und Lärm. Was immer.

Wir fahren durch Golders Green. Die Kinder sind mittlerweile in der Schule, Leute frühstücken in Coffee Shops, die Läden sind offen, Busse halten, Leute steigen ein und aus und alle folgen ihren unterschiedlichen, nicht miteinander verbundenen Lebenslinien. Gotti telefoniert mit Jungle und erklärt ihm, wie die Geschichte gelaufen ist, und wir fahren zurück zu der Stelle in Willesden, wo wir uns vorher getroffen haben und irgendwann sehe ich den anderen Wagen vor uns, ich bin nicht mal sicher, wann sie zu uns gestoßen sind, irgendwo hinter Golders Green, und jetzt rede ich allein mit Gotti und wir können es immer noch nicht fassen, dass er die Uhr nicht runtergekriegt hat, weil ich es ihn schon viermal hab machen sehn, problemlos, immer gleich beim ersten Versuch, aber aus irgendeinem Grund hat es diesmal nicht hingehauen. Und wir hecheln noch mal alles durch, was abging und wies klang, als die Tür auf ihren Arm geknallt ist, und wir lachen drüber, dass einer seiner eigenen Frau den Arm so demoliert. Weil ich noch reingegriffen und ihn rausgezogen habe, sage ich. Und das ist das Ding, es gibt keine Reue, keine Gewissensbisse. Bei Gotti auch nicht und das liegt nicht dran, dass wir bösartig sind, das ist alles moralischer Bullshit. Es ist einfach so, dass diese Sache nichts in mir auslöst. Die Frau denkt auch nicht eine Sekunde in ihrem Leben an Menschen wie mich und wie es ist, so wie ich zu sein. Ich bin ihr egal und sie mir auch, und es ist ja nicht so, dass ich ihr wegen dem, was ich gerade gemacht habe, egal bin. Ich war es vorher schon und zwar, weil wir beide in unserer eigenen kleinen Welt eingeschlossen sind. Also scheiß auf alle Schuldgefühle. Es hat keinen Sinn, was fühlen zu wollen, das du nicht automatisch fühlst. Egal, also

Wir biegen auf den Parkplatz vor dem kleinen Häuserblock in Willesden, wo wir uns heute früh getroffen haben. Ich stopf meine Bala in die Tasche mit dem Geld, damit es einen Grund gibt, dass sien bisschen voll aussieht und wir steigen aus dem Wagen aus. Tyrell und Gotti stecken sich eine Zigarette an, als der zweite Wagen kommt, ein metallic blaugrauer Porsche, mit dem Jungle ständig rumfährt, mit Pest, seinem Neffen, am Steuer, damit er selbst Leute ausmachen kann, die lohnende Opfer sind. Es ist ein idealer Wagen für so was, weil er zu fett zu teuer ist, um mit einem dreckigen Raub in Verbindung gebracht zu werden, und so kann er sich die Leute in Ruhe ankucken und kalkulieren, wen wir uns vornehmen solln. Plus, wenn wir im Konvoi fahren, der Porsche normalerweise vor uns, weil Jungle die Planung hat und wir die sind, die den Scheiß tatsächlich machen, würde keiner draufkommen, als könnten wir was miteinander zu tun haben, ihr Wagen ist so krass, ich meine, wirklich, ein Typ im Porsche und dann wir in unserer abgewrackten Karre. Keiner macht mit unserm Wagen irgendwelche Frauen an, oder?

Es ist ein guter Platz hier, weg von allem, aber gleichzeitig nicht zu weit von den Häusern, keiner von uns wohnt hier oder hat Verbindungen hierher und der Parkplatz ist von einem Zaun und hohen Büschen umgeben, wodurch uns von außen keiner sieht. Jungle steigt aus seinem Wagen und hat die Stirn komplett zerfurcht. Pest kommt auch raus und stellt Fragen, aber keiner achtet auf ihn, während Gotti und ich Jungle die Sache erklären, das Ganze noch mal durchkauen und ihm die Handtasche zeigen, vergesst die Tasche, Scheiße, Mann, sagt er, aber ich denke, vielleicht holen wir sie später, weil die Dinger immer noch echtes Geld bringen und ich gehe und verstecke sie unter einem von den großen Büschen beim Zaun, bedecke sie mit Laub. Gotti und Jungle reden abseits mit gesenkten Stimmen, er ist der große Zampano, der uns diese Scheiße machen lässt, aber er kennt sich aus, besonders mit Gotti. Tyrell und Pest sind reine Statisten, die geben nur Gas, das sind keine Typen, die was abziehen, die haben nicht den Mumm dafür wie Gotti und ich. Es ist ein Witz, wie die beiden um ihr Aussehen besorgt sind, selbst wenns zur Sache geht. Pest zeigt immer seinen Weißgoldzahn mit dem großen Diamanten und Tyrell trägt eine neue weiße Moschino-Hose, als wollte er zum Raven. Es ist nun mal nicht so, als ginge es darum, ein paar heiße Chicks anzumachen und ihre Nummern einzusammeln, wenn wir losziehen, um ein Ding zu drehn. Aber klar, es macht schon Sinn, nicht zu mies auszusehen, wenn du am Steuer sitzt, schließlich willst du keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen oder den Eindruck erwecken, als könntest du dir den Schlitten nicht leisten, mit dem du unterwegs bist.

Jungle und Gotti reden also und sehen besorgt aus und als ich rübergehe, hör ich Jungle sagen, Gotti, wir müssen sofort einen neuen Wagen besorgen. Jungle beugt sich vor, zu Gotti hin, der die Hände vorn in die Trainingshose steckt und sich wegdreht, wann immer Jungle näher rückt, es ist, als wollte Gotti nicht, dass ihm die Worte aus Jungles Mund zu nahe kommen und ich krieg nicht wirklich mit, was sie sagen, aber Gotti dann, Scheiße, nein, den Schwachsinn mach ich nich, nich nach dem, was grade war, no way, und er fängt an, drüber zu reden, dass er nur seinem eigenen Instinkt vertraut und es sich einfach nicht richtig anfühlt, gleich wieder loszuziehen. Jungle will noch was sagen, aber Gotti dreht sich um, zieht an seiner Zigarette und wirft sie weg. Ich sage, was is denn, Jungle, und er legt los, dass wirn neuen Wagen kaufen müssen, wenn wir weitermachen wollen, und deshalb soll einer von uns in einen Klamottenladen in Golders Green rein, in dem die Verkäuferin immer eine Rolex Daytona trägt, und ihr das Ding abziehen, damit wir mit dem Geld dafür eine neue Karre kaufen können. Natürlich kriegt jeder auch nochn bisschen so was ab, fügt Jungle schnell hinzu und kuckt dann weg und spuckt in einen Busch, und Gotti dreht sich zu mir hin, nee, Snoopz, vergiss es, ich hab da son Gefühl, dass das danebengeht und ich hör Autos auf der Straße hinter den Büschen vorbeifahrn, aber das scheint alles so fern, als triebe die Welt von mir weg.

Das war bisher noch nie ein Problem. Jungle besorgt uns die Fluchtwagen immer, genau wie er den gekauft hat, mit dem wir heute Morgen unterwegs waren. Ich meine, er ist der, der die Gang zusammenstellt, also sollte das kein Thema sein. Er weiß, Gotti und ich sind ausgewiesene Greifer, weiß, das ist unser Ding und wenn überhaupt, war das heute die erste Pleite und er sollte auch wissen, dass wir den Ausfall beim nächsten Mal wettmachen, und mehr noch. Aber was er jetzt will, ist echter Irrsinn, ich meine, zurück nach Golders Green zu fahrn, wo wir praktisch gerade herkommen und das alles nur, um an Geld für einen Wagen zu kommen. Gotti hat völlig recht, da herrscht jetzt Aufruhr und die Bullen werden nach uns Ausschau halten. Und dann am helllichten Tag in den Laden rein? Eine Verkäuferin ausrauben? Ohne Anschleichen, ohne Tarnung, ohne alles? Einfach nur rein, ohne Rücksicht auf Verluste und sich ihren Scheiß schnappen und ich kann noch nicht mal meine Bala überziehen, weil ich dann schon vorher auffalle, bevor ich auch nur reinkomme in den Laden und ich hab keine Ahnung, wo da die Kameras sind und alles.

Ich sehe Gotti an und Jungle legt mir einen Arm um die Schultern und zieht mich ein Stück zur Seite, weg von den anderen und sein Arm fühlt sich zu eng an um meinen Hals und der Ärmel seiner Lederjacke knirscht, als würde sich eine Schlange häuten. Jungle riecht nach Aschenbecher und Aftershave und dann so, Snoopz, ich weiß, du machs das, es ist ganz einfach, du muss nur rein in den Laden und wenn du die Frau siehst, geh ganz ruhig zu ihr und reiß ihr dann plötzlich die Uhr vom Handgelenk.

Ich hab immer Hunger, auch wenn ich genug Scheine gebunkert habe, ich will immer mehr und so lass ich mich von ihm zur Seite ziehen, so schwer sein Arm auch auf mir lastet. Und ich frage Jungle, wie genau mache ich das, und er zeigt mir an seiner Rolly, wie ich sie packen muss, drehn und dran reißen, und er erklärt mir, dass der plötzliche Druck den Steg bricht, wo das Armband an der Uhr sitzt. Ich probier es aus, so wie er es mir gezeigt hat, an seinem Handgelenk, aber dann denk ich, Scheiße, wenn Gotti nicht dabei ist, keine Chance, am Ende lande ich noch im Knast. Ich lasse seine Uhr los und sage, nein, Mann, das is mir zu heiß, da kann zu viel danebengehen, ich mach das nicht.

Ich dreh mich weg, damit ich Jungles Fresse nicht sehen muss und gehe rüber zu Gotti. Für einen Moment ist hinter mir nichts als Stille und dann meldet sich die Welt zurück, laut, rauschend, unbeirrbar. Ich geh nah zu Gotti hin und er weiß, ich hab Nein gesagt und sein Gesicht ist ganz ruhig, die Schwärze ist raus aus seinen Augen und er sagt, glaub mir, Snoopz, es ist besser, auf seinen Bauch zu hören und kuck ihn nicht an. Wen kümmert es, was der Mann denkt, du muss nichts beweisen, Bro, der weiß, dass du dabei bist. Das jetzt zu machen, is eine miese Idee, Bro, ich weiß einfach, das würde schlecht ausgehen.

Ich krieg nicht wirklich mit, wie wir abziehen. Jungle sagt was davon, dass er später anruft und wir geben Pest und Tyrell zum Abschied die Faust. Tyrell geht rüber nach Cricklewood, Jungle und sein Neffe fahrn im Porsche weg und Gotti und ich, wir gehen zurück nach South Kilburn. Ich sage ihm, was ich mir gedacht habe, dass Jungle einen neuen Wagen kaufen sollte, damit wir weitermachen können, und was ist mit dem Mann eigentlich los? Ich dachte, er sollte sone Art Boss sein, der alles organisiert, und stattdessen tut er, als hätte er nicht ordentlich was in seiner Tasche, verfickt noch mal, sage ich. Gotti nickt nur und meint, genau genau, und ich denke, wir wissen beide, auch wenn wirs nicht sagen, dass wir keine Dinger mehr mit Jungle drehn werden.

Graue Wolken hängen wie schwere Schwämme an der Himmelshaut und die Sonne versteckt ihr Gesicht vor der Stadt, als wir uns South Kilburn nähern. Ich gebe Gotti seine Hälfte von den siebenhundert, die ich aus dem Portemonnaie habe, was seine Laune etwas hebt, und als wir die Kilburn Lane runtergehen, sagt er, ich soll die schwarze Amex wegwerfen. Ich bücke mich zu einem Gully runter und tu so, als würde ich sie reinfallen lassen, steck sie mir aber in den Ärmel. Ich will was, das mich an den Tag heute erinnert. Drankriegen kann uns keiner drüber, es sei denn, einer findet sie, aber da pass ich auf. Wir gehn weiter nach South Kilburn, zurück zu den Häuserblocks, bei Bimz abhängen. Wir können uns ein, zwei Joints kaufen oder vielleicht auch was mehr, um uns gut locker zu machen und dann high in die Tube rein und zurück nach East-London. Wie ich Gotti heute Morgen gesagt habe, als wir los sind, um das Ding zu machen, ich muss sehen, dass ich morgen früh rauskomme, ausgeschlafen und fit für meine Uni-Vorlesung um neun.

SOUTH KILBURN

Es gibt zwei oder drei Läden im Estate und wann immer ich Saft oder Rizlas oder sonst was besorgen geh, hängen da weiße Plakate im Fenster, auf denen MÖRDER quer oben in roten Großbuchstaben steht und drunter ein körniges Foto von einem Bruder namens Trickz und was zu einer Belohnung über 20000 Pfund für Informationen und dass alles anonym bleibt, was immer.

Was war, ist, dass Trickz seinem besten Freund Creeper Geld schuldete, einen Riesen oder so. Die Leute hingen alle draußen in der Sonne in Block D rum und Trickz war auch da, frisch aus dem Knast nach anderthalb Jahren wegen Besitz und Verkaufsabsicht und die Sache war die, dass sich Creeper um Trickz’ Braut gekümmert hatte, während der saß, ihr Geld zum Einkaufen gegeben, dem Baby einen neuen Buggy gekauft hatte und mit ihr Trickz im Gefängnis besucht hatte, und so wie Creeper es sah, schuldete der ihm was dafür, und als jetzt alle draußen in der Sonne in Block D rumhängen, kommt Creeper rüber und sagt zu Trickz, wann krieg ich mein Geld, Mann? Und Trickz sagt, du kriegs gar nichts, Weichei, mach, was du wills, und Creeper, der seine Knarre dabeihat, erschießt ihn und geht wieder. Es war ein heißer Tag im Juli, wirklich alle warn draußen, direkt beim Park, der vorm Wordsworth House liegt und Gotti war auch da und er erzählt mir, wie sich Trickz die Hände links aufs Herz gedrückt hat, wo der Einschuss war, und wie er so um die zehn Sekunden im Kreis gelaufen ist, ohne einen Ton, und das wars. Voll wie im Kino, Junge, sagt Gotti. Vielleicht hätte Creeper es nicht gemacht, wärn nicht die ganzen Leute draußen in der Sonne gewesen. Aber das warn sie und Trickz pisste ihn an, zeigte kein bisschen Respekt, Creeper hatte was tun müssen. Jetzt hängen überall diese Plakate in den Schaufenstern, weil es offiziell keine Zeugen gab, keiner hat der Polizei was gesteckt, keiner, der an dem Tag da war, hat mit den Bullen geredet, aber alle wissen, wers war. Sogar Trickz’ Mutter und seine Schwester.

Später habe ich gehört, dass Creeper nach Jamaika ist, doch da hatte er einen irren Verkehrsunfall, war total am Arsch und musste zur Behandlung wiederkommen, weil wär er da im Krankhaus geblieben, wär er am Ende gelähmt gewesen. Also kam er zurück nach London, aber sie haben schon auf ihn gewartet, aus dem Flugzeug raus haben ihn die Bullen in Heathrow verhaftet. Trotzdem, am Schluss gabs keine Anklage. Es hat sich nie ein Zeuge gemeldet und ich nehme an, gelähmt ist er auch nicht, weil ich habe ihn letzte Woche mit einer Braut in Queens auf dem Eis gesehen, wobei mein Kumpel, der ihn auch gesehen hat, meint, eine Seite von seinem Gesicht ist völlig hin so wie bei Two-Face. Es ist auch nicht so, dass irgendwer von außerhalb von South Kilburn es gesehen haben könnte. Ich meine, stells dir vor, du kommst eines Morgens bei dir raus, gehst rüber zum Block gegenüber, wo alle abhängen, rauchen, reden, was auch immer, und du siehst einen Feind und ihr streitet, also killst du ihn auf der Stelle und gehst zurück nach Hause, was eine Minute weg ist, zwanzig Sekunden, wenn du rennst. Du kapierst, wie abgekapselt und für uns wir hier sind, oder.

Unser Estate liegt zwischen Maida Vale mit seinen viktorianischen Villen und Häusern aus rotem Backstein an baumgesäumten Straßen und dem Bahnhof Queen’s Park, von wo es in Viertel geht, die völlig gegensätzlich sind. Von Maida Vale aus gehst du die Malvern Road hoch, vorbei am Wettbüro, dem Geflügelladen und zwei chinesischen Take-aways, dem grünen Eckladen links, kleinen schmuddeligen Häusern mit Satellitenschüsseln überall und der Post an dem kleinen Platz rechts, bei der immer die Rollläden runter sind und die schwarz vollgesprüht sind, und dann bist du praktisch in South Kilburn. Du weißt es irgendwie schon, bevor du ankommst, weil da sind die niedrigen Häuserreihen, an denen du vorbeiläufst und dahinter die hohen braunen Blöcke, die aussehen wie vom Himmel runtergekracht, massiv genug, um in der Erde stecken zu bleiben. Du weißt, dass das hier was anderes ist, denn kaum bist du zehn Sekunden die Malvern Road lang, siehst du eine Kamera mitten auf dem Gehsteig, oben auf einem Pfosten mit Anti-Kletterfarbe und unter der Kamera sitzt eine Jesus-Krone mit spitzen Metalldornen, nur für den Fall. Und die Kamera bewegt sich, schwenkt rum und kuckt die Straße rauf und runter und ich hab schon gesehen, wie sie mich beobachtet hat, mir langsam gefolgt ist, als ich an ihr vorbei bin.

Weiter die Malvern Road hoch gibt es noch eine Kamera auf einem Pfosten und dann kommst du zu den Blocks, angefangen mit Blake Court und daneben Dickens House mit achtzehn Stockwerken. Sie ragen hoch über dir auf und wenn du ihnen zu nahe kommst, werfen sie blaue Schatten auf dich und du spürst die Kälte, die der rostige Beton ausstrahlt und die Stille, die mit Macht aus sämtlichen Fenstern hervorzubrechen versucht. Geh an den Blocks vorbei und du kommst zu einem kleinen Park, nicht mehr eigentlich als ein Streifen Gras mit den braunen Türmen, die von rechts rüberstarren und noch einer von den Überwachungskameras oben auf einem Pfosten. Die Dinger sind alle mit irgendeinem unsichtbaren Kontrollzentrum irgendwo verbunden. Durchquer den Park und du kommst auf die Carlton Vale, eine lange Straße, die das Viertel mit einem ständigen Strom Autos in beiden Richtungen zerteilt. Alle wollen sie woandershin, hier bei uns hält keiner. Früher gab es mal eine Brücke, so ein Betonding, das den einen Teil des Estates mit dem anderen verband, wie um den Leuten die Möglichkeit zu geben, ihr Leben lang keinen Schritt aus South Kilburn rauszutun und immer im Estate zu bleiben, selbst wenn du über die lange Straße voller Verkehr musstest, auf der unaufhörlich andere Leben vorbeizogen.

Auf der anderen Seite der Carlton Vale liegt der Peel Precinct mit einem kleinen rechteckigen Betonplatz, umgeben von blaugrau verkleideten Blocks mit weißen Balkonen und mitten im Precinct, vor einer Reihe alter, schmuddeliger Läden und niedriger Blocks gibts noch eine Kamera mit Metalldornen drunter und auf einem Schild steht: LAUFENDE VIDEOÜBERWACHUNG. DIE KAMERA IST IN BETRIEB. Ich sehe, wie sich das Ding ständig bewegt und die Leute verfolgt, die durch den Precinct gehen und wir nennen diese Seite von South Kilburn den Precinct und die andere mit den rostfarbigen Blocks bei der Malvern Road Block D.

Ich bin mit siebzehn nach South Kilburn gekommen und hab auf der Block-D-Seite bei Uncle T im Blake Court gewohnt, dem fünfstöckigen Block gleich beim Dickens House und da standen immer Junkies am Eingang vom Blake Court herum, schmuddelig und verfilzt, mit fauligen schwarzen Mündern, gelben Augen und sauer riechenden Klamotten, die unbedingt Heroin und Crack brauchten, H und C, und eine Menge Leute aus South Kilburn hing auf den Balkonen ab, den offenen Zugängen zu den Wohnungen vom Wordsworth House, dem Block gleich neben dem Dickens House, von dem man auf das Stück Park kuckte, aber da ging praktisch nie einer vorbei, obwohl da ein Weg quer durchgeht, gleich am Wordsworth vorbei, eine Abkürzung, wenn du von einer Seite des Estates auf die andere willst. Die Leute auf den Balkonen standen mit Hoodies tief ins Gesicht gezogen und hielten Ausschau nach Junkies, Bullen und Feinden und keiner wollte von denen ins Visier genommen werden. Es ist verrückt, aber erst, als ich mit meinem Englisch-Studium angefangen hatte, wurde mir bewusst, dass all die Betontürme im Block D nach großen englischen Schriftstellern benannt sind: der Blake Court nach William Blake, das Austen House nach Jane Austen, das Bronte House nach den Brontë-Schwestern, das Dickens House nach Charles Dickens und das Wordsworth House nach William Wordsworth.

Sobald du da reinkommst, stehst du schon unter Beobachtung, denn abgesehen von den Kameras oben auf den Pfosten, die allen folgen, die sich dem Estate nähern, und der großen mitten im Precinct und der auf dem Spielplatz im Zentrum des Estates, abgesehen von all denen auf dem Weg in den Black Court, hängt noch eine Kamera direkt über dem Eingang und bist du durch die Tür, gibts noch eine oben in der Ecke. Sie hängt an der schmierigen Decke und auf einem gelben Schild an der Wand steht: DIESES GEBÄUDE WIRD VIDEOÜBERWACHT, und drunter: DIE BRENT-WOHNUNGSGESELLSCHAFT HILFT, VERBRECHEN ZU VERHINDERN, UND FÖRDERT DIE ÖFFENTLICHE SICHERHEIT. Steigst du in den Aufzug, ist auch da eine Kamera, dazu gibts einen so komplett mit Namen zerkratzten Spiegel, dass du, wenn du reinkuckst, in Stücke zerschnitten wirst.

Da war dieser Bruder namens Bishop, der eines Sommerabends eine Party in seiner Wohnung im Dickens House veranstaltete. Bishop nahm keine Drogen und hatte nichts mit irgendwelchen Geschichten zu tun, er war einfach nur ein Bruder aus South Kilburn, aber sein Cousin und einige andere Typen hatten ein paar Top-Leuten aus South Kilburn den Schmuck geklaut und waren untergetaucht. Keine Spur von ihnen im ganzen Nordwesten, aber dummerweise warn die Beklauten Bugz Bunnys Leute und der kommt morgens um zwei, die Party ist voll im Gang, in die Wohnung gerannt, maskiert, ganz in Schwarz, mit einer Glock 9 und schießt Bishop in die Brust. Bishop will fliehen, voll auf Adrenalin, rennt auf den Balkon und springt runter. Aber die Wohnung ist im zweiten Stock und er bricht sich beim Aufprall die Beine. Jemand auf der Party macht die Musik aus und sie können hören, wie Bishop um Hilfe ruft. Leute kommen aus dem Block gelaufen, Rufe und Schreie und die lärmende Stille des Schreckens schaudert durch die warme Nachtluft. Dann kommt Bunny raus, geht zu der Stelle, wo Bishop liegt und schießt ihm dreimal in den Kopf, bevor er in die Nacht verschwindet. Bishop stirbt im Schatten des Blocks, weiß nichts von Charles Dickens und kein Mond, keine Sterne kucken auf ihn runter, weil die Lichtverschmutzung der Stadt nachts einen öligen Schleier in die Unterseite des Himmels brennt.

Verhaftet wurde nie einer, keine Zeugen, und wenn du heute versuchs, was drüber rauszufinden, ist es so, als hätte es Bishop nie gegeben. Wenn du seinen Namen googelst, kommt da nichts und wenn die Bullen ihre Liste mit den ungelösten Mordfällen in der Hauptstadt rausgeben, ist Bishop nie mit drauf. Es ist fast so, als wäre es nie passiert. Dabei war es mit das Erste, was mir erzählt wurde, als ich hergezogen bin. Ich hörte Uncle T sagen, du meins, der Junge ist vom Balkon im Kriminellen-Block gesprungen? Das war die Standardbeschreibung vom Dickens House für Leute wie ihn, die hier fast schon ihr ganzes Leben wohnten. Die Leute in SK wissen, was passiert ist, viele, die hier leben, erinnern sich daran. Ich meine, die meisten mussten nur ans Fenster gehn, nachdem sie von den Schüssen geweckt worden waren. Von da konnten sie Bishop sehn und das Drama mit den Krankenwagen und Bullenkarren, wobei die Schnelleren vielleicht sogar noch mitkriegten, wie Bunny davonlief und von der Nacht verschluckt wurde.

Es ist schon ganz schön abgefuckt, für die Leute hier allerdings nicht, die akzeptieren das, wenn überhaupt, dann setzt es Maßstäbe für die Jungen, denen es gerecht zu werden gilt, und man kann sehen, wie die Gewalt zur Inspiration für die Texte wird, wenn sie ihren Rap und Grime-Takte über geile Kanonen und Killertypen rausspucken. Weil hier dreht sich für bestimmte Männer alles darum, ihren Ruf zu sichern, du kannst dir absolut keine Schwachheiten leisten und darfst nicht als Pussy gelten, die sich Scheiße gefallen lässt. Wenn du ohne deinen Ruf ein Niemand bist, kann gewalttätige Rache Erlösung und Befreiung bedeuten. Bunny vermochte zwar keinen von den Jungs zu erwischen, die seine Leute beklaut hatten, aber er wusste, Bishops Cousin und die Leute, hinter denen er eigentlich her war, würden die Message schon kapieren und sich wahrscheinlich nie wieder im Nordwesten blicken lassen. Kannst du den Feind nicht direkt schlagen, suchst du dir einen Verwandten oder Freund aus, weil du damit ein Zeichen setzt, wobei das nicht unbedingt endgültig oder entscheidend ist, eine Fehde oder einen Gewaltkreislauf nicht zwingend beendet. Du machst nur klar, dass du gnadenlos bist und keiner sicher ist, und mach dir bloß nichts vor, bei diesem Scheiß gibt es keine Regeln.

Wenn du den Estate verlässt, sagen wir, du fährst nach London rein oder irgendwohin, wos normaler ist, stellst du fest, dass niemand was von diesen ungelösten Morden und den körnigen Fotos in den Läden im Schatten der Blocks gehört hat. Du setzt dich in den Bus oder nimmst die Tube und plötzlich bist du aus deiner Wirklichkeit raus und in einer anderen, hast aber immer noch das ganze Wissen darüber im Kopf. Und das Irre ist, dass die Plakate genau an dem einen Ort hängen, wo die Leute nicht mit den Bullen zusammenarbeiten. Wo es scheiß auf das Gesetz heißt, beschaff dir Kohle, egal wie, rauben, schießen, dealen und leg dir ein paar diamantenbesetzte Grillz für deine Zähne zu, eine brillibesetzte Rolex oder was immer, fick die Chicks, dröhn dich zu, ignorier die Junkies, die wie halbe Mumien auf den Betontreppen rumlungern, und leb dein Leben auf der Überholspur, hör nur nicht auf zu denken, weil du nie weißt, welcher Tag dein letzter sein könnte.

Männer wie Bunny und andere, die rundheraus bösartig sind, ziehen die Jüngeren groß und zeigen ihnen, wie sie leben sollen, wie man gnadenlos ist und dass nur Geld und Status wichtig sind, und sie lernen schnell, dass in dieser Art Umgebung keine Gewalttat, kein Missbrauch, was immer, unfair sein kann, weil die Welt nun mal so tickt.

Das Leben ist gewalttätig, Dinge passiern unversehens. Das Gesetz ist nur eines von vielen Machtwerkzeugen, die hier wirken, und das nicht nur mittels der Razzien, zu denen es immer wieder kommt, sondern auch so wie das eine Mal, als ein Bruder auf einer Straße im Estate von einem Polizeiwagen überfahren wurde, es war ein blöder Unfall, aber als Erstes kam ein SCO19-Sonderkommando, bewaffnete Polizisten mit schusssicheren Westen sprangen aus einem silbernen Benz, die Finger am Abzug von ihren MP5-Maschinenpistolen und dann, später erst, kam der Krankenwagen.

Und was hier alles nicht angezeigt wird, sogar wenn Leute zusammengeschlagen, entführt, ausgeraubt werden oder wenn du ein Dealer bist und Crack und Heroin verkaufs und ein paar Kerle kommen zu dir reingerannt, nehmen dich aus, ziehn dir eins mit der Knarre über, foltern dich vielleicht sogarn bisschen mitm glühenden Eisen oder kochendem Wasser, läufst du nicht zu den Bullen. Weil wenn sie spitzkriegen, wer du bist und was du tus, ist es denen scheißegal, was mit dir ist, weil du in deren Augen durch dein kriminelles Verhalten keinen Anspruch auf Schutz durch die Gesellschaft hast. Und nicht nur das, wenns dich erwischt hat, muss du los und dich rächen, denn auch wenn du dein Geld oder deinen Stoff dadurch nicht zurückkriegst, dann doch zumindest was von deiner Ehre. Und sowieso, verpfiffen wird hier nicht. Keiner von uns traut den Bullen, und wer mit ihnen redet, ist ein Informant, ein Spitzel, und als Spitzel gerätst du ins Visier und machst dich automatisch zum nächsten Opfer. Die Schlägereien und Messerstechereien, die ich hier schon gesehen habe und wens erwischt hat, der wird von seinen Jungs aufgesammelt, nachdem er k. o. gegangen ist oder ihm die Fresse eingetreten wurde, oder er springt in den Wagen von seim Kumpel und fährt ins Krankenhaus oder geht, wenns nicht so schlimm ist, in die Wohnung von wem, um seine Verletzungen zu versorgen, die Blutung mitm T-Shirt zu stoppen, ein paar Pflaster und Desinfektionsmittel drauf zu geben, wenn keine lebenswichtigen Organe oder Arterien aufgeschlitzt wurden, und er betäubt sich mit Gras oder Alk und kaut auf seiner Wut. Und weil keiner zu den Bullen läuft, werden Leute gekascht und ihre älteren Brüder, die eigentlichen Ziele, so erpresst. Bei Top-Dealern, die Geld machen, aber zu geschützt agieren, als dass man an sie rankäme, um sie auszurauben, wird der jüngere Bruder entführt und dann muss der, hinter dem sie wirklich her sind, mit Lösegeld oder sonst was zahlen und ich kenne etliche Leute, bei denen es so war, aber es wird nicht angezeigt, nie.

An den Bushaltestellen beim South Kilburn Estate hingen früher Plakate zur OPERATION TRIDENT, mit Hinweisen, wie man die Polizei anonym kontaktieren konnte. Es gab sogar ein Plakat mit dem Foto von einem Bruder in einer Blutlache und einer Pistole neben seiner ausgestreckten Hand und drüber stand in großen weißen Buchstaben: JUNG, TALENTIERT UND TOT. Solche Anzeigen siehst du in reichen Gegenden oder in der Innenstadt nie, nur bei uns. Stell dir vor. Diesen Scheiß jeden Morgen beim Warten auf den Schulbus zu sehn. Bevor ich in die Türme gezogen bin, musste ich von meinen Eltern beim Westbourne Park mit dem 31er hier vorbei. Ich hab mich immer gefragt, wer da wohl alles lebt, all die Fenster in den riesigen Blocks und all die Leben dahinter. Was hatten die alles durchzumachen? Man sollte denken, dass so ein Ort laut und voller Leben wäre, aber nein. Von außen ist es nur Beton überall, wie ein leiser Herzschlag in der Stille, Fenster an Fenster, schmutzig und leer.

DIE MASKE

Vielleicht ist »zu Hause« kein Ort, sondern ein unabänderlicher Zustand.

JAMES BALDWIN, GIOVANNIS ZIMMER

Ich war siebzehn und hatte diese afrikanische Maske, die mir ein Freund der Familie geschenkt hatte. Sie stammte aus dem Kongo, war aus dunklem Holz mit Palmblatt-Fransen als Haare, einem geschnitzten Mund und schmalen Augen. Ich konnte nicht sagen, ob sie müde, traurig oder was anderes waren. Ich stellte die Maske ins Bücherregal in meinem Zimmer, aber wann immer meine Mutter reinkam, sagte sie, ich mag die nicht, wofür willst du die, da lastet wahrscheinlich ein Fluch drauf.

Die Finger meiner Mutter sind immer mit Ölfarbe beschmiert. Sie beißt die Haut um die Nägel weg, bis sie ganz wund ist, und versucht den Schaden dann wiedergutzumachen, indem sie noch mehr wegbeißt, aber dann blutet es.

Ich bin in einer Wohnung voller Gemälde und Zeichnungen aufgewachsen. Nicht nur Bilder an der Wand, sondern Leinwände, die an Türen lehnten, hinters Sofa gerückt wurden und Platz in Mutters Schlafzimmer und ihrer Vorstellung beanspruchten. Solange ich zurückdenken kann, hat mein Vater auf dem Sofa geschlafen, weil das eheliche Schlafzimmer eine winzige Schachtel war, in dem es zwar mal ein Doppelbett gegeben hatte, aber das war eines Tages weg gewesen und dafür stand ein neues Bett da, in dem meine Mutter allein schlief, dazu ein Kleiderschrank und eine Kommode, die sie sich teilten, doch dann beschlagnahmte sie alles, mit Büchern und Papieren und mit den Babysachen von mir und meinem Zwillingsbruder, von denen sie sich einfach nicht trennen konnte. Ich habe sie als Kind nie umarmt oder an mich gedrückt, nicht mal bevor es mit unseren Problemen losging, und deshalb nannte sie mich ihren sassolino, was auf Italienisch kleiner Stein heißt, als wäre ich der eine Kiesel, den sie am Strand ausgesucht und in ihrer Tasche trug, wohin immer sie ging. Manchmal erzählt meine Mutter den Leuten die Geschichte, wie sie mit mir in der National Gallery gewesen war. Da war ich sechs. Stundenlang waren wir da und sind schließlich nur gegangen, weil sie schlossen. Meine Mutter sagt, ich bin von Bild zu Bild gegangen, während mir immer mehr Leute folgten, die mir zuhörten, wie ich jedes einzelne Gemälde kommentierte. Ich glaube, dieser letzte Teil der Geschichte ist ihre Übertreibung, weil sie so glücklich darüber war, ein Kind zu haben, das auf Kunst stand. Ich weiß noch, dass ich die großen Schlachtszenen mit Rittern, die sich gegenseitig umbrachten, am liebsten mochte.

Ich war also siebzehn. Ich kam vom College nach Hause und konnte die Maske nicht finden. Überall habe ich nach ihr gesucht und sie am Ende im kaputten Lüftungsschacht meines Zimmers gefunden, in den sie einer reingedrückt haben musste. Sie war zerkratzt, weiße Farbspuren klebten auf dem Holz und die Palmblatt-Haare waren voller Schmutz und Backsteinstaub. Ich bin zu meiner Mutter ins Zimmer und hab sie gefragt, hast du meine Maske in die Lüftung gerammt? Und sie sagte Ja, und ich, warum hast du das gemacht? Und sie, weil ich es wollte und das Ding nicht mag, und ich, du kannst nicht einfach die Sachen von anderen Leuten kaputt machen, und sie, doch, kann ich, und ich, ach so, cool, und dann habe ich die Lüftung in ihrem Zimmer eingeschlagen, das Ding komplett zertrümmert, sodass die Backsteine dahinter zum Vorschein kamen, und dann hab ich gesagt, damit sind wir quitt. Meine Mutter machte ein Riesentheater und ging auf mich los, und ich darauf, Scheiße und dass ich am selben Tag noch nach South Kilburn ziehe. Uncle T hatte mir erst kurz vorher gesagt, dass er ein Zimmer bei sich frei hätte und ob ich es mieten wolle, also wusste ich, wohin.

Es war sowieso der richtige Moment, um auszuziehn. Ich war schon mehrfach verhaftet worden, einmal, weil ich auf die Polizei losgegangen war, nachdem sie mich direkt vor unserer Wohnung gestoppt hatten und ich wegrennen wollte, weil ich ein Messer und einen Joint dabeihatte. Zwar hatte ich mich meinem Vater immer näher gefühlt als meiner Mutter, aber jetzt hasste ich ihn dafür, dass er mir mein Butterflymesser weggenommen hatte, wo ich doch so gut darin geworden war, es rauszuholen und gekonnt aufschnappen zu lassen. Mittlerweile fühlte sich die Wohnung nur noch in Bezug auf Erinnerungen und Vertrautheit wie zu Hause an. Mein Bett war mein Bett und der kleine hölzerne Hocker daneben und die Bücher auf den Regalen gehörten mir auch und die CDs und die Klamotten im Schrank. Das alles war meins. Aber die Wohnung war kein Ort mehr, wo ich mich wohlfühlte, das Wohnzimmer ständig von meinem Bruder Danny besetzt, der da sieben, acht Stunden am Tag Geige übte, weil er nach der Mittleren Reife mit der Schule aufgehört hatte, um Profi-Geiger zu werden, und meine Mutter meinte, er müsse das Wohnzimmer für sich haben, und wenn es am Abend frei war, durften Danny und ich nicht rein und fernsehen, und wenn wirs versuchten, schaltete unsere Mutter den Fernseher wieder aus, stellte sich davor und sagte, wir sollten ins Bett, auch wenn es erst neun oder so war. Und in der ganzen Wohnung stapelten sich Bücher und alte Zeitungen, nicht geöffnete Umschläge, kaputte Stühle und alte Spielzeuge, die meine Mutter für weiß Gott was sammelte, für ihre Kunstwerke, sagte sie, aber die Haufen wurden immer nur noch größer und ich schwöre, sie hatte drei Schreibtische in der Wohnung, alle so bepackt mit Papieren, dass sie sie nicht mal benutzen konnte. Und ich durfte in meinem Zimmer keine Musik hören, nur mit Kopfhörern, weil sie alle kein Rap oder Grime oder was immer mir gerade gefiel, mochten. Einmal, nachdem wir wieder gestritten hatten, ist sie in mein Zimmer rein, hat sich meine Rap-CDs geschnappt, sie zerbrochen und in die Tonne geworfen, und während ich am Tag darauf in der Schule war, hat sie auch noch die Poster von Mobb Deep, Foxy Brown und anderen Rappern von meinen Wänden gerissen, ab wann es sich wirklich so anfühlte, dass es weniger mein Zimmer war, sondern einfach nur noch das Zimmer, in dem ich schlief. Dazu war auch noch die Tür kaputt, der obere Teil der Verkleidung war rausgebrochen, das heißt, wenn sie zu war, machte das null Unterschied. Aber klar, ich war es, der sie zerschlagen hatte.

Ich hatte einen von diesen Mini-Basketballkörben, von den Charlotte Hornets, den mir meine Mutter bei einem Urlaub in Italien gekauft hatte, und eines Tages nach einem Streit griff sie nach dem Korb, packte das Netz, riss das ganze Ding runter und nahm den dazugehörenden kleinen Gummi-Basketball und stach mit dem Taschenmesser in ihn rein, das ich in meinem Zimmer hatte, und er seufzte, schrumpfte platt in sich zusammen und sie sagte, jetzt siehst dus, jetzt siehst du, was passiert, wenn du deiner Mutter nicht gehorchst. Ich war so gefrustet, dass ich zu heulen anfing, brennende, wütende Tränen wie ein Muttersöhnchen und sie verzog das Gesicht, als täte es ihr leid, so heul nur heul nur, du armer Junge, schämen solltest du dich, und da hab ich auf die Tür eingehämmert und das ganze obere Teil rausgeschlagen, wonach ich mich nur noch schlechter fühlte, weil mein Vater eine Menge von seinem hart erarbeiteten Geld dafür ausgegeben hatte, unsere Wohnung zu renovieren und Holztüren für alle Zimmer hatte schreinern lassen. Und er hat echt irre hart gearbeitet, praktisch sieben Tage die Woche hat er an Zeichnungen für verschiedene Zeitungen und Publikationen gesessen. Als ich jünger war, hab ich ihn unter der Woche oft tagelang nicht gesehen, es sei denn, ich bin nachts um eins oder so aufgewacht und runter, um was zu trinken und er saß mit einem Glas Wasser am Küchentisch, das da vor sich hinblubberte und zusammen mit dem Kratzen seines Stifts auf dem Papier die Stille durchbrach, während er noch irgendwas bis zum Morgen fertig machen musste. Er hielt inne, lächelte und sagte nocny marek, was auf Polnisch Nachteule oder Schlafwandler heißt und ich hab ihn umarmt und seinen Schweiß und seine Müdigkeit gerochen, bevor ich zurück ins Bett bin. Am Morgen war er um sechs schon wieder auf und hatte alle Fenster unten weit offen gelassen, auch im Winter, und oft war er schon wieder weg, bevor ich überhaupt erst aufstand. Die Tür habe ich aber nie repariert und an dem Tag, als ich meine Tasche packte und auszog, knallte ich sie heftig zu, konnte aber natürlich immer noch in mein Zimmer reinkucken und lief nach unten, um da wegzukommen.

Bei Uncle T gab es nie genug warmes Wasser zum Waschen. Ich hockte mit einem Eimer in der Wanne und manchmal war es eben saukalt und ich zuckte zusammen und keuchte, wenn ich mir das Wasser über den Kopf schüttete. Aber hinterher wartete eine super Tüte mit bestem Gras auf mich, dazu ein Teller gebratene Kochbananen, Rührei und festes Brot und abends gab es jamaikanisches Ziegen-Curry, Reis mit Erbsen und Saltfish Fritters und der warme, salzige Frittiergeruch füllte die Wohnung und konkurrierte mit dem wie süße, modrige Erde riechenden Gras, übertönte alles und strich dir sanft über Nase und Augenlider. Ehrlich, ich schlief bestens nach diesen Essen. Uncle T hatte eine Musikanlage, die ständig lief, Roots und Reggae und Lovers Rock und seine alten Schulkumpel kamen und brachten Dubplates und die Bude vibrierte mit den Sounds, und sie rauchten und tauchten mit der Musik weg. Wenn das Geld knapp war, gab es mittags und abends gebratenes Corned Beef mit Zwiebeln und weißem Reis, er sorgte immer dafür, dass ich was zu essen hatte. Schlag dir den Bauch voll, mein Sohn, sagte Uncle T, und wenn seine Kumpel in der Küche waren, während ich aß, sagte er, seht mal, wie der Junge reinhaut, der spielt da nicht rum, und sie lachten alle, weil egal, wie viel ich auch aß, ich hab nie ein Gramm zugelegt, ich war immer der Hering.

Was geht, Snoopz?, rief Uncle T jedes Mal, wenn ich in die Wohnung kam. Ging ich in die Küche und er füllte grade seine Tütchen, gab er mir ein paar Blüten ab und sagte, na los, mein Sohn, was zum Rauchen, und dann fragte er, hast du heute schon was gegessen? Er war mal ein Rasta gewesen, und eines Tages, als ich bei ihm wohnte, zeigte er mir seine alten Locken, die er in einer Plastiktüte aufbewahrte. Irgendwann hatte er sie abgeschnitten und aufgehört, ein Rasta zu sein, weil da zu viel Schwachsinn dazugehört, der keinen Sinn ergibt, wie bei fast allen Religionen, sagte er. Er hatte eine Katze, einen Kater namens Scratch, der wahrscheinlich immer high war und Uncle T nahm ihn auf den Arm, während wir alle kifften und in Rauch gehüllt waren, und strich über Scratchs Rücken und der drückte sich gegen Uncle Ts raue Hand, an der der kleine Finger fehlte. Als junger Mann hatte er ihn bei einem Unfall in einer Fabrik verloren. Uncle T trug eine Brille und hatte eine Trommel, war aber auf eine Art fett, bei der du erkennen konntes, dass er als junger Kerl mal irre gebaut gewesen war. Aber das Leben ist das Leben und die Dinge ändern sich. Ich mach sie immer noch platt, sagte er, wenn er mit seinem Schlagring in der Tasche unten saß und auf einen Kunden wartete, der was zum Rauchen kaufen wollte. Es hatte gerade erst Aufstand im Block gegeben und er war auf der Hut, falls ihn einer ausnehmen wollte.

Uncle T war der Dad von Taz und Naf, zwei Kumpel, die ich seit dieser Geschichte im Marian Center hatte, einem braunen Backsteinbau mitten in South Kilburn, in dem ein Gemeinschaftszentrum untergebracht war. Ich hatte eine Art Gesangswettbewerb, die »Schlacht der Mikes« gewonnen. Das war zu der Zeit, als T-Mobile diese Verträge machte, bei denen du mit dem Kauf eines Monatsguthabens abends nach sechs mit jeder beliebigen Nummer für Nüsse telefonieren konntest und ich hab den einen Bruder in der letzten Runde mit Blood, your mum’s like T-Mobile – free after six any day of the week geschlagen. Damit war die Sache klar und die Leute sind schier ausgerastet, Mann, ich konnte nicht mal mehr den Rest raushauen und hinterher kam Taz und sagte, bist der Renner, Junge, hör zu, wir baun da sone Musiksache auf, hast du Bock?, und ich, bin dabei. Es war das erste Mal, dass ich wirklich in SK war, noch vor der Zeit bei Uncle T und ich fing grade erst an, bei ihm Gras zu kaufen und im Blake Court zu jammen und zu kiffen.

So standen wir eine Woche, nachdem ich die Schlacht gewonnen hatte, draußen vor dem Marian Centre und die Sonne floss warmgelb über den Backstein auf uns runter und wir redeten drüber, wie ein Rapper namens Bashy, der hier auftreten wollte, genau an dem Abend aus SK gejagt worden war, als ich gewonnen hatte. Taz rollte seinen T-Shirt-Ärmel hoch, zeigte mir einen auf seinen rechten Bizeps tätowierten tasmanischen Teufel mit zwei rauchenden Pistolen und meinte, deswegen nennen sie mich Taz, Bro, und ich werd meim Namen gerecht, oder, und die Worte kamen scharf raus aus seinem Mund und sein Gesicht blieb unbewegt, während wir auf die andern warteten. Er hatte angefangen, Musik-Sessions im Marian Centre zu veranstalten. Den ganzen Sommer über trafen wir uns jeden zweiten Tag ein paar Stunden und spuckten einer nach dem andern unsere Texte über die neusten Grime-Beats. Da waren Malice, Terminator, Mazey, Bimz, Naf, Smoothy, Grizzy und ich und Taz nannte uns Secret Service. Er war im Prinzip unser Boss, die meisten von uns waren noch Teenager und wir wollten einfach nur unsere Verse raushaun, während Taz eine Art Vision hatte, es im Musikbusiness mit uns zu schaffen.

Taz war einer von den Brüdern, wenn du mit dem durch den Estate gingst, blieb er ständig stehen und fragte, was geht, Alter, und die Leute nickten und grüßten und irgendwer rief, hi, Taz, läuft alles, und er hob im Vorbeigehen die Hand und sagte klar, Mann, passt schon. Manchmal wars sogar so, wenn wir woanders waren, im Osten oder Norden und er traf wen, den er kannte, und erzählte mir, den Bruder kenn ich aus dem Knast. Er saß schon öfters. Es rief auch immer irgendeine Braut an und selbst wenn er scheiße mit ihnen redete, sie meldeten sich wieder, ich meine, er hatte was an sich und es kann nicht nur sein Aussehn gewesen sein, wobei ich denke, das gefiel ihnen auch. Seine Haut hatte diesen gelben Schimmer, aber wenn er sich über was ärgerte, dann fing sie an zu brennen, als würde das Blut unter seiner Haut buchstäblich kochen.

Einmal hing ich mit Taz im Block ab, wir kifften auf dem Balkon draußen vor Uncle Ts Wohnung im Blake Court und kuckten raus auf den Estate, hinter dem die Sonne in den Horizont schmolz, bis sie in der Dunkelheit ausblutete und ich sagte, ey, Mann, kuck dir das an, irre, das wärne Eins-a-Filmaufnahme, kein Scheiß, oder? Er sah kaum hin und sagte, ehrlich, Snoopz, das seh ich schon mein ganzes Leben, ich seh da nichts Besondres, einfach nur Blocks und Fenster, ich weiß wirklich nicht, was du meinst, und dann spuckte er vom Balkon, ging die Treppe runter und raus aus dem Block Tabak und Rizlas kaufen. Aber wenn wir bei irgendwelchen Bräuten warn oder so, grinste er von einem Ohr zum andern, hatte die Augen praktisch zu, besonders beim Kiffen und wir kifften echt immer und dann erzählte er allen, dass ich sein Bruder wär und keiner soll mir irgendn Scheiß vormachen. Und wenn ich ihm was Interessantes erzählte, dann sagte er, oh Mann, als gäbs in dem Moment nichts Irreres auf der Welt als das, was ich da sagte, ich meine, er konnte dir wirklich das Gefühl geben, was Besonderes zu sein und du dachtest nicht mal dran, seine Worte oder Absichten infrage zu stellen. Und dann hörte ich, wie ihn Uncle T eines Tages Taswan nannte, als wir bei seinem Dad Gras kaufen waren und ich kapierte, dass Taz einfach nur die Kurzform von Taswan war, nicht für tasmanischer Teufel.