Bella, Bella - Svenja Haupt - E-Book

Bella, Bella E-Book

Svenja Haupt

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Beschreibung

Ein Dorf im Nebel. Eine Familie voller Geheimnisse. Und ein Mädchen, das nie wieder nach Hause kam. Als die siebzehnjährige Sofia Vapucci spurlos verschwindet, führt die Spur die Kommissarin Petra Lohmann zurück zu den Eichhoffs – einer alteingesessenen Hofbesitzerfamilie, deren Name seit Jahrzehnten mit Flüstern und Verdächtigungen verbunden ist. Je tiefer Petra gräbt, desto deutlicher wird: Der Fall von heute ist untrennbar mit dem ungeklärten Mord an Isabella Vertucci verknüpft, die dreißig Jahre zuvor verschwand. Zwischen Lügen, verdrängten Wahrheiten und einem Schweigen, das selbst nach Generationen noch anhält, stößt Petra auf ein Netz aus Schuld, Macht und zerstörter Liebe. Doch während der Nebel sich lichtet, rückt die Wahrheit gefährlich nah – und mit ihr ein tödliches Vermächtnis, das niemand ungestraft überlebt. Ein packender Psychokrimi über Abgründe, die nie vergehen, und die Frage, ob man der Wahrheit wirklich standhalten kann.

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bella, Bella

Svenja Haupt

Psychokrimi

1

2

„Bella, Bella“

Ein Psychokrimi von Svenja Haupt

Ersterscheinung der überarbeiteten Ausgabe:

August 2025

© 2025 Svenja Haupt

Alle Rechte vorbehalten.

Satz, Lektorat und Gestaltung:

Svenja Haupt

Titelbild: Svenja Haupt in Zusammenarbeit

mit KI

Druck & Vertrieb: Amazon Kindle Direct

Publishing & Epubli

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Kontakt:

Svenja Haupt – MordsTheater

E-Mail: [email protected]

www.instagram.com/mordstheater

Dieser Titel erscheint auch als E-Book und

Hörbuch

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Petra Lohmann

Für gewöhnlich mied Petra Lohmann den Arbeitsbeginn vor sieben Uhr wie andere Menschen den Zahnarztstuhl. Sie liebte es, den Morgen noch ein wenig länger auszukosten – nicht unbedingt, weil sie ein ausgesprochener Langschläfer war, sondern weil sie den hirnrissigen Fragen der Polizeianwärter entgehen wollte, die bereits ab sechs Uhr wie hungrige Katzen durch die Flure streiften.

Allen voran Jennifer Kunze, Polizeianwärterin, Vorzeigepüppchen und selbsternannte Bewunderin. Erst vor wenigen Tagen hatte sie in der Umkleide großspurig vor den Kollegen verkündet: „Ich werde genauso eine harte Nuss wie die Lohmann.“ Leider war sie das Paradebeispiel dafür, dass hervorragende Noten auf der Polizeischule und ein Spitzenergebnis im Sporttest noch lange keinen klaren Verstand garantierten. Kunze stellte unablässig Fragen, deren Antworten sich mit einer Prise gesunden Menschenverstands leicht hätten

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erschließen lassen und Petra, die wahrlich kein Morgenmensch war, fehlte um diese Uhrzeit jegliche Geduld für solches Geplapper.

Die räumliche Beschaffenheit des alten Rathaustrakts tat ihr übriges. Auf den Fluren der Station in Straßenhausen hatte der glatte Linoleumboden jeden Schritt schon aus zehn Metern Entfernung verraten – genug Zeit für eine diskrete Flucht in ein Büro. Hier aber, in den zwei kargen Räumen des Landpolizeipostens, den man sich mit dem Rathaus teilte, lag ein graubrauner Vliesteppich. Er schluckte jedes Geräusch, bis das Klopfen an der Tür oder der plötzliche Schatten hinter ihr unweigerlich den Fluchtweg versperrte. Petra stand am Fenster, die Kaffeetasse fest zwischen den Fingern. Schwarzer Kaffee, ein Löffel Zucker ihr morgendliches Ritual, bevor der Tag sie unweigerlich verschlingen würde. Unten auf dem Hof spielte sich das übliche Montagmorgenschauspiel ab: aggressive Parkplatzsuche. Das Rathaus verfügte nur über

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wenige Besucherparkplätze, und selbst die wurden meist von Mitarbeitern blockiert, die ihre eigenen Parkmöglichkeiten als unzumutbar empfanden. Von der Flammersfelderstraße schossen Autos auf das Gelände, es wurde gehupt, wild gestikuliert und lautstark gestritten. Petra beobachtete, wie ein Mann im dunklen Anzug einer Frau mit Babyschale am Arm zuwarf:

»Wie lange bleiben Sie dastehen?« Offenbar wollte er abschätzen, ob es sich lohnen würde, auf ihren Platz zu lauern. Die Frau verschwand ins Bürgerbüro und war keine fünf Minuten später zurück, während der Mann unbeirrt auf sein Smartphone starrte und dabei seelenruhig die Einfahrt blockierte.

Dass er damit eine wachsende Kolonne ungeduldig hupender Fahrzeuge aufhielt, schien ihn nicht im Geringsten zu stören.

Petra nahm einen Schluck Kaffee. Heute hielt sich das Chaos in Grenzen – ein feiner, fieser Nieselregen hing über der Ortsgemeinde, schwer und kalt.

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Auf dem kurzen Weg von ihrem Dienstparkplatz bis zum Eingang hatte sich der feuchte Schleier in ihre Kleidung gekrochen, als wolle er ihr unter die Haut.

Bei diesem Wetter verzichteten viele auf den vorderen Besucherparkplatz und stellten ihre Wagen lieber hinter dem Rathaus ab, auch wenn der Weg von dort unüberdacht und bei Regen eine kleine Strafe war.

»Widerlicher Regen«, hatte Lohmann am Morgen gemurmelt – laut genug, dass selbst Jennifer Kunze für ein paar kostbare Minuten die Klappe hielt.

Ihre Jacke und der graue Strickpullover hingen nun tropfend über dem Heizkörper unter der Fensterbank. Petra stand in Jeans und T-Shirt an den Schreibtisch gelehnt und sah zu, wie einzelne Regentropfen am Panoramafenster langsam ihren

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Weg nach unten suchten, als führten sie ein Wettrennen.

Sie mochte ihr Büro. Jedenfalls meistens. Das große Fenster flutete den Raum mit Licht doch es ließ sie auch fühlen, als säße sie auf einem Präsentierteller. Für jeden potenziellen Heckenschützen wäre sie ein leichtes Ziel, ein Gedanke, der sich hartnäckig in ihr festgesetzt hatte. Trotzdem war ihr das allemal lieber, als sich ein stickiges Eckbüro mit einem Kollegen zu teilen.

Der PC summte träge vor sich hin, der blaue Einschaltknopf leuchtete wie ein Versprechen, das sich Zeit ließ. Ein altes Modell, das sich erst nach einer gefühlten Ewigkeit dazu herabließ, einsatzbereit zu sein. Also blieb genug Zeit für einen Schluck Kaffee, einen prüfenden Blick auf die chaotische Parkplatzsituation unten und ein kurzes mentales Warmwerden für die Einsatzbesprechung zum Stadtfest. Seit den Anschlägen auf Weihnachtsmärkte und andere Großveranstaltungen hatte ihre alte

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Dienststelle in Koblenz eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. Unter anderem diese lächerlich kleinen Blumenkübel, die angeblich einen Lastwagen stoppen sollten. Petra konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein paar Betontröge einen siebeneinhalb Tonner aufhalten sollten, wenn dessen Fahrer entschlossen war, in eine Menschenmenge zu rasen.

„Auf dem Asbacher Stadtfest? Kaum denkbar…“ dachte sie, doch am Ende galt auch hier: sicher war sicher. Ihre skeptische Haltung brachte ihr bei den Koblenzer Kollegen nur Kopfschütteln ein, aber Dieter Viesmann bestand darauf, dass sie mit ihrer kleinen Mannschaft ein Sicherheitsnetz spannte. Immerhin hatte er ihr drei zusätzliche Beamte aus Koblenz zugesagt.

Im Aufenthaltsraum stand bereits die Flipchart darauf ein Stadtplan, übersät mit handschriftlichen Markierungen, die jeden Einsatzposten verrieten. Petra hatte Viesmann mehrfach darauf hingewiesen, dass dieses Ding direkt vor dem

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bodentiefen Fenster stand, sodass jeder halbwegs interessierte Idiot mit einem Smartphone die komplette Einsatzplanung abfotografieren konnte. Er winkte nur ab so wie er bei fast allem abwinkte, was sie zu sagen hatte.

Anfangs hatte sie sich darüber aufgeregt, bis ein Kollege ihr gesteckt hatte, dass Viesmanns Abneigung nichts Persönliches war oder vielleicht doch. Er konnte es ihr schlicht nicht verzeihen, dass sie von Erich Hofstädter ausgebildet worden war, einem Mann, mit dem Viesmann zu Beginn seiner Laufbahn um jede Beförderung gerungen hatte. Hofstädter war längst in Pension und bereiste mit seiner Frau Irene Insel um Insel. Petra wusste das genau täglich trudelten neue Urlaubsfotos in ihrem Postfach ein: mal in grellen Hawaiihemden, mal mit kitschigen Blumenketten, mal in albernen Posen, die so gar nicht zu ihrem ehemaligen Mentor passen wollten. Sie ging davon aus, dass er diese Bilder eher Irene zuliebe machte, nicht etwa aus plötzlicher Leidenschaft für bunten Nippes.

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Hofstädters letzte Beurteilung hatte ihr den Posten als Hauptkommissarin in der Straßenhausener Dienststelle eingebracht und dafür war sie ihm, trotz der Postkartenhumor-Offensive, immer noch dankbar.

Sie hatte keine Sekunde gezögert, die Stelle anzunehmen. Natürlich hätte sie zugeben können, dass der Weggang aus der Stadt nicht nur berufliche Gründe hatte. Vier Jahre hatte sie mit Achim in der Nähe von Koblenz gelebt vierundzwanzig Jahre insgesamt hatten sie ihr Leben geteilt, fast die Hälfte ihres Lebens. Dass er fünfzehn Jahre älter war, hatte sie nie gestört. Achim war ein Mann gewesen, der sein Alter charmant weglachte, mit dem man genauso ausgelassen sein konnte wie mit einem Mittzwanziger.

Bis das Alter ihn doch einholte. Zuerst war es nur ein hartnäckiger Husten gewesen, dann eine Lungenentzündung. Gestorben war er im Krankenhaus so plötzlich, dass Petra zum ersten Mal in ihrem Leben die Sprache verschlug.

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Minuten vorher hatte er noch von Anjas Hochzeit gesprochen, vom Kleid, das sie sich kaufen müsse. Dann hatte eine alte Dame in der Cafeteria zu lange gebraucht, um sich zwischen Kirsch- und Apfelkuchen zu entscheiden. Petra hatte sich nicht daran gestört; sie kannte das von ihrer Mutter je älter die Menschen wurden, desto langsamer wurden ihre Entscheidungen.

Als sie schließlich die Station betrat, kamen zwei Ärzte und zwei Schwestern aus Achims Zimmer, schoben einen Wagen und warfen ihr diesen ganz bestimmten Blick zu den mitleidigen, betretenen Blick, den man nicht erklären musste. Sie war Polizistin, sie kannte ihn nur zu gut. Trotz dass sie die Hand hob, um den Arzt zum Schweigen zu bringen, redete er weiter, Worte wie ein fernes Rauschen. Drei Monate Auszeit hatte man ihr verordnet. Drei Monate, in denen sich nichts änderte – außer, dass sie nun allein am Küchentisch saß, Kaffee trank und auf eine Wand voller gemeinsamer Fotos starrte wie auf einen Schrein.

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Als eine Nachbarin einmal zu laut meinte, sie sei ein bedauernswertes Ding keine Kinder, die ihr Trost spendeten – war das Angebot aus Straßenhausen wie eine Rettungsleine. Sie sollte die Nachfolge ihres Mentors antreten. Weniger als eine Stunde später hatte sie den Wagen vollgepackt und steuerte die Autobahn in den Westerwald an. Ja, sie kroch zurück in den Schoß der Heimat, ins leere Elternhaus aber noch einen Tag länger hätte sie diese Fotowand nicht ertragen. Und vielleicht hätte sie die Nachbarin beim nächsten Kommentar erschossen.

Ein leises pling riss sie aus den Gedanken der Computer spielte die Windows-Startmelodie. Petra wandte sich der Tastatur zu, tippte mit den Zeigefingern das ellenlange Passwort ein, das ihr Anwärter Florian Weigel empfohlen hatte. Gerade wollte sie Enter drücken, da quietschten unten Bremsen.

Ein silberner Audi bog viel zu schnell um die Ecke, verfehlte nur knapp einen Radfahrer Weigel. Er musste scharf gebremst haben, kippte seitlich

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vom Mountainbike und landete unsanft auf dem nassen Asphalt. Nun hockte er, auffällig in seiner knalligen Regenjacke und der passenden Hose, mitten in der Einfahrt des Parkplatzes, während der Audifahrer ihn durchs geöffnete Fenster anbrüllte. „Blinder Vollidiot!“, fauchte der Mann, der offenbar der Meinung war, Weigel sei nicht ausreichend beleuchtet gewesen. Völliger Unsinn. Jeder Kollege, der Florian kannte, wusste, dass seine Regenkleidung so grell war, dass man ihn selbst aus dem Orbit gesehen hätte, und fast ebenso oft machten sie sich darüber lustig. An grauen Regentagen sah Weigel aus wie eine fahrende Lichtorgel grelle Neonfarben, die sich im nassen Asphalt spiegelten und Passanten zu schmerzhaften Augenlidreflexen zwangen. Die biedere Erscheinung des schlaksigen, bebrillten jungen Mannes mit dem Igelhaarschnitt führte allerdings oft dazu, dass man ihn unterschätzte. Viele hielten ihn für einen „Nerd“, in diesem Fall wohl die Kurzform für „kann mit Computern Dinge tun, die anderen unheimlich sind“.

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Eine Freundin hatte er nach Auskunft von Kunze nicht. Er lebte allein in einer kleinen Dachgeschosswohnung, der Inbegriff eines Ortes, an dem niemand zufällig vorbeikam, und war definitiv keiner, den man an einem Samstagabend auf einer Party antreffen würde. Zu Petras Glück war er auch kein großer Redner Unterhaltungen beschränkten sich auf das Nötigste. Man hatte ihn ihr zugeteilt, weil er der Beste seines Jahrgangs war und irgendjemand die romantische Vorstellung hatte, dass er unter ihrer Führung in ein paar Jahren ihre Methoden übernehmen könnte, wenn man sie in Pension schickte.

Mittlerweile hatte sich Weigel erhoben. Durch das halb geöffnete Fenster des Audis hielt er dem Fahrer eine Standpauke zum Thema Verkehrssicherheit ein Feld, auf dem er fast olympisches Niveau erreicht hatte. Seine Vorträge in Schulen und Kindergärten waren legendär; Kunze behauptete, an ihm sei ein Grundschullehrer verloren gegangen. Nur seine Sozialkompetenz war… ausbaufähig. Petra erinnerte ihn immer

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wieder daran, Menschen beim Sprechen in die Augen zu sehen. Er vergaß es trotzdem. Genauso, wie er nur selten das Lächeln einer älteren Dame erwiderte.

Dafür war er in anderer Hinsicht ein Glücksgriff: zuverlässig, akkurat, schnell. Einsatzberichte landeten oft so rasch auf Petras Schreibtisch, dass sie kaum hinterherkam, knapp formuliert, aber vollständig und auf den Punkt. Frank Reingard, der Archivar, liebte ihn für diese Präzision. Jennifer Kunze dagegen schaffte den perfekten Ausgleich: ihre Berichte kamen grundsätzlich zu spät, strotzten vor Tippfehlern und trugen zuverlässig das falsche Aktenzeichen.

So kam es öfter vor, dass Reingard knurrend in den zweiten Stock stapfte, weil in der Akte zu einer gestohlenen Uhr plötzlich Unterlagen eines Verkehrsunfalls steckten – während die eigentliche Uhrensache spurlos verschwunden war.

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Der Audifahrer verschwand schließlich, und Weigel schob sein Rad die restlichen Meter bis zum Fahrradständer, wo es den Rest des Tages einsam und verlassen stehen würde. Niemand fuhr hier freiwillig mit dem Rad zur Arbeit nur Weigel, der glänzende Vorbildmensch, ließ sich nicht beirren, selbst wenn er dabei beinahe unter die Räder kam. Petra beobachtete, wie er die große Tasche vom Sattel nahm, in der er seine Uniform transportierte. Trotz der holprigen Fahrt war sie wie aus dem Ei gepellt und duftete frisch. Petras eigene Uniform hing seit Jahren unberührt im Schrank. Das Höchste der Gefühle war die Softshelljacke mit silberner „Polizei“-Aufschrift. Meist trug sie lieber ihre Lederjacke und bequeme Jeans so kannten sie die Leute auf dem Land, und so wollte sie bleiben. Direktor Viesmann war kein Fan dieser Kleiderpolitik, sparte sich aber Diskussionen. So einen dickköpfigen Drachen konnte man ohnehin nicht mehr bekehren. Als Weigel schließlich aus dem Blickfeld verschwand, wandte sich Petra wieder ihrem

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Computer zu. Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet. Mit einem genervten Seufzer begann sie, das ellenlange Passwort erneut einzutippen langsam, Zeigefinger für Zeigefinger, so wie immer.

Das Hauptmenü erschien, und in der rechten unteren Bildschirmecke blinkte eine rote Vier. Das verfluchte E-Mail-Programm wollte ihr damit signalisieren, dass „ihr Typ“ verlangt wurde. Wie erwartet, war eine Nachricht von Anja eingetroffen. Achims Tochter bedauerte, dass Petra, die für sie wie eine Mutter gewesen war, nicht zu ihrer Hochzeit gekommen war. Sie bedauerte ebenso, dass der Kontakt so rapide abgenommen hatte, und betonte mehrfach, dass Petra ihr und ihrer Schwester Verena jederzeit willkommen sei.

Petra schluckte. Natürlich hatte sie die beiden Mädchen irgendwie mit großgezogen, auch wenn sie schon alt genug gewesen waren, als sie Achim kennenlernte. Erzogen hatte sie ihnen nichts mehr – das hatte ihre herrische Mutter längst erledigt.

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Petra hatte Ilona, Achims Exfrau, nur einmal gesehen, als Achim Anja und Verena abholte. Ilona hatte sie nur knapp begrüßt und dabei so gemustert, als würde sie in einer Boutique ein Kleid auf den „Reduziert“-Ständer zurückhängen. Eine Kratzbürste, daran bestand kein Zweifel. Trotzdem hatte Achim nie schlecht von ihr gesprochen, im Grunde sprach er überhaupt nicht über sie, sondern nur über seine Mädchen. Die beiden hatten einfach zu viel von ihrem Vater, und das konnte Petra im Moment nicht ertragen. Sie antwortete knapp, schob Arbeit und einen Anflug von Grippe vor, versprach anzurufen ein Versprechen, das sie oft gab, aber nie einlöste und schloss die E-Mail.

Danach folgten zwei Informationen zum Stadtfest, die sie nur überflog, und ein weiteres Exemplar in der Sammlung peinlicher Ruhestandsbilder von Hauptkommissar Hofstädter und seiner Frau. Erich ermahnte sie, sich nicht unterkriegen zu lassen und sich auch mal wieder zu melden. Sie lächelte schief Erich konnte einen sogar in einer

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Bildunterschrift erziehen, wie ein alter Schulmeister, der den Rotstift nicht aus der Hand legen konnte. Noch während sie ein paar nette, aber völlig belanglose Worte ins Antwortfeld tippte, klopfte es zaghaft an der Tür. Florian Weigel steckte den Kopf durch die Tür. Seine Brille war von Regentropfen übersät, die Haare klebten ihm wirr an der Stirn, und die türkise Regenjacke tropfte noch immer leise auf den Boden. Er blinzelte, als müsse er sich erst an das warme Licht im Büro gewöhnen. »Ja?«, fragte Lohmann scharf, ohne aufzusehen. Erst als sie das geduckte Schuldbewusstsein in seinem Blick bemerkte, hob sie langsam den Kopf. »Frau Hauptkommissarin«, begann er förmlich er sprach sie immer so an, als brauche er den Titel wie eine Krücke.

»Hier ist … ein junger Mann.«

Er trat beiseite, öffnete die Tür weiter. Hinter ihm schob sich eine Gestalt ins Büro, zögernd, mit eingezogenen Schultern. Ein Junge, höchstens siebzehn, vielleicht achtzehn. Die

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Kleidung klebte an ihm wie eine zweite Haut, der schwarze Trainingsanzug triefte vor Nässe. Unter der tief ins Gesicht gezogenen Basecap waren nur ein paar blasse Wangen zu erkennen. Seine Turnschuhe hinterließen nasse Abdrücke auf dem Linoleum, während er unsicher in der Türschwelle stehen blieb.

Petra erhob sich langsam, stützte die Hände auf den Schreibtisch und streckte ihm dann die Rechte entgegen.

Ihre Stimme war ruhig, klar, unaufdringlich. »Guten Morgen.«

Der Junge zögerte, dann schlug er ein. Seine Finger waren eiskalt.

»Morgen« murmelte er kaum hörbar, den Blick auf den Boden geheftet.

Weigel hatte sich hinter ihm aufgebaut, Arme verschränkt, die Brust vorgereckt. Ein Mann, der das Bild von Autorität abgeben wollte wäre da nicht diese alberne, türkisfarbene Regenjacke gewesen, die ihm die Ausstrahlung raubte. Petra unterdrückte das Lächeln, das ihr für

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einen Sekundenbruchteil aufstieg: Er wirkte weniger wie ein Cop, mehr wie ein übermotivierter Pfadfinder, der beim Zeltlager den Zugang zum Speisesaal blockierte.

Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Er tat es langsam, als wäre schon das Hinsetzen ein Zugeständnis. Tropfwasser rann von seiner Hose und bildete eine kleine Pfütze auf dem Boden. Petra lehnte sich zurück, verschränkte die Finger. Ihr Blick glitt prüfend über die schmalen Schultern, die nervös zuckenden Hände. »Also, was kann ich für Sie tun?«

Der Junge räusperte sich, doch kein Ton kam. Nur ein leises Zittern lief durch seinen Körper. Weigel trat einen Schritt näher, als müsse er ihn mit bloßer Präsenz zum Reden bringen. Doch Petra hob nur leicht die Hand eine Geste, die ihm unmissverständlich bedeutete, zurückzutreten. »Ganz in Ruhe«, sagte sie.

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»Niemand wird Ihnen hier etwas tun. Erzählen Sie einfach, warum Sie hergekommen sind.« Der Junge hob kurz den Blick. Zwei dunkle Augen, weit aufgerissen, voller Furcht und irgendetwas anderem, das Petra noch nicht greifen konnte. Dann sackte sein Blick wieder ab. »Es geht um … Sofia«, flüsterte er. Petra spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Ihr Blick wanderte kurz zur Uhr, die Einsatzbesprechung mit Viesmann rückte näher, und jeder, der diesen Mann kannte, wusste, dass er bei Verspätungen Gesichter zog, als hätte man ihm den Parkplatz gestohlen.

Der junge Mann brauchte einige Sekunden, schluckte zweimal schwer, als hätte er Halsschmerzen, und nahm dann die Cappi vom Kopf vermutlich, weil ihm irgendwann einmal jemand beigebracht hatte, dass man in Räumen keine Kopfbedeckung trug. Er räusperte sich erneut.

»Ich möchte eine vermisste Person melden«, sagte er ruhig.

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Es klang wie aus einem ARD-Krimi – vermutlich hatte er sich den Satz genauso gemerkt. »Eine vermisste Person«, wiederholte Petra und zog einen Notizblock heran.

»Ja, genau. Meine Freundin ist verschwunden«, fuhr er fort.

Er wirkte nervös, stotterte leicht vielleicht, weil er fror.

»Wie heißt deine Freundin denn mit vollem Namen?«

»Sofia Vapucci.«

Petra ließ sich den Namen buchstabieren. Der Klang des Namens blieb einen Moment in der Luft hängen weich, fast melodisch im krassen Gegensatz zu der klammen, grauen Kälte, die der Junge mit ins Büro gebracht hatte. »Das klingt italienisch«, bemerkte Petra. Der Junge nickte. »Ja, ihr Vater ist Italiener.« Danach gab er der Hauptkommissarin Geburtsdatum, Wohnort und weitere Personalien des Mädchens an – inklusive eines Fotos.

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»Und warum kommen ihre Eltern nicht selbst her, um sie vermisst zu melden?«, wollte Petra wissen. Es war noch nicht einmal neun Uhr, und die Vorstellung, dass ein Jugendlicher freiwillig so früh am Montagmorgen den Weg ins Revier fand, weckte in ihr sofort den Instinkt, dass mehr dahintersteckte.

Es folgte eine lange Erklärung: Antonio Vapucci lebe zwar schon viele Jahre in Deutschland, spreche aber nur gebrochen Deutsch. Der Name kam Petra bekannt vor, aber sie konnte nicht sagen, woher. Ein leises Ziehen im Hinterkopf, wie das Gefühl, dass man einen Song erkennt, aber den Titel nicht benennen kann.

Der Junge rückte unsicher auf seinem Stuhl hin und her, die Hände ineinander verkrallt, als müsse er sie vor Petras Blick verstecken. Seine Stimme war brüchig, fast so, als hätte er sie irgendwo auf dem Weg hierher verloren und würde sie nun mühsam wieder zusammensetzen. „Meine Freundin … sie ist seit Samstagabend verschwunden.“

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Petra hob scharf den Kopf.

„Samstagabend?“, wiederholte sie und betonte jedes Wort wie einen Hammerschlag. „Wir haben Montag.“

Der Junge zuckte zusammen, als wäre er ertappt worden.

„Ja, aber … die Polizei macht doch erst nach 48 Stunden was“, stammelte er, der Tonfall eine Mischung aus Rechtfertigung und kindlichem Trotz.

Petra schnaubte leise, ein Ausdruck, der mehr Ungeduld verriet, als sie zeigen wollte. Sie dachte an das Geburtsdatum des Mädchens, was sie sich eben notiert hatte.

„Doch nicht, wenn es um eine Minderjährige geht“, erwiderte sie trocken. Ihre Augen verengten sich. Dieses gefährliche Halbwissen dieser alte Mythos aus Fernsehkrimis, der sich festgesetzt hatte wie Schimmel an feuchten Kellerwänden. Kaum auszurotten, selbst mit der schärfsten Bürste.

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„Wo wurde sie zuletzt gesehen?“, fragte sie knapp und griff gleichzeitig zum Telefon. „Beim Schützenfest“, murmelte er und fuhr sich nervös über die feuchten Hosenbeine. Petra lehnte sich zurück, schob das Telefon beiseite und fixierte ihn. Ihre Stimme bekam den sachlichen, unerbittlichen Klang, den sie sich über Jahre antrainiert hatte.

„Das müsste ich schon etwas genauer wissen. Wann hast du Sie zuletzt gesehen? Weißt du die Uhrzeit noch? Mit wem wart ihr dort? Gibt es Zeugen? Wer könnte bestätigen, dass ihr zusammen wart? Und hast du eine Idee, wo sie ein könnte?“

Der Junge blinzelte hastig, als wolle er die Erinnerung hervorpressen. „Samstagabend … so gegen sieben. Oder halb acht.“

Er kramte hektisch in seiner Hosentasche, zog ein Smartphone hervor, dessen Display zersprungen war wie ein Spinnennetz. „Hier, ich hab meiner Mutter ’ne SMS geschrieben. 19:24 Uhr. Wir sind da angekommen.“

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Er streckte das Handy vor, so dicht, dass Petra den Kopf leicht zurückzog. Sie nahm es ihm ruhig ab, überflog die Nachricht und nickte knapp. „Gut. Und danach?“

Er schluckte. „Wir … haben gefeiert. Getanzt.“ Ein flüchtiges Zucken huschte über seine Lippen, als hätte er die Musik, das Lachen, die Enge des Festzeltes wieder in den Ohren. Aber der Glanz in seinen Augen war schnell verflogen. „Dann … dann haben wir uns gestritten.“

„Worüber?“

„Der DJ … er hat sie angegrinst. So … halt. Und sie hat zurückgelächelt.“

Seine Stimme kippte ins Trotzige, während ein Rest Stolz in den Worten mitschwang dieses bittere Aufglimmen von Besitzanspruch, das Männer in seinem Alter kaum zu verbergen wussten. Petra beobachtete ihn regungslos. Sein Blick irrte zwischen Boden und Tischkante, als wolle er sich in einem Spalt verkriechen.

„Wie ging der Streit aus?“

„Naja …“

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Er fuhr sich über die Stirn, zögerte, als müsste er eine Beichte ablegen.

„Ich bin raus. Hab ein Bier getrunken. Zwei vielleicht. Oder drei.“

Er betonte das letzte Wort leise, fast schamhaft, als wolle er es im Satz verstecken.

Petra hob eine Braue, doch ihr Gesicht blieb unbewegt. Sie hatte es schon tausend Mal gehört: Jugendliche, die Vorgaben, ihre kleine Welt im Griff zu haben, während sie in Wahrheit längst den Überblick verloren hatten.

„Und Sofia?“, fragte sie, die Stimme nun wieder leiser, beinahe sanft.

Der Junge schloss kurz die Augen, und in dieser Sekunde wirkte er jünger, verletzlicher, fast wie ein Kind, das zu spät nach Hause gekommen war. „Als ich zurückkam … war sie weg.“ Er zückte erneut sein Handy und hielt Petra eine weitere Nachricht hin.

„Das war die erste Nachricht, die ich ihr geschrieben habe, nachdem sie abgehauen ist.“

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Sein Daumen zitterte leicht, als er auf den Bildschirm deutete. „0:44 Uhr.“

„Und danach?“, fragte Petra ruhig, aber ihre Augen hefteten sich an den Jungen, als wolle sie jede Nuance seines Gesichts lesen.

„Danach… habe ich sie nicht mehr gesehen. Und niemand hat sie mehr erreicht.“

Seine Stimme klang jetzt matter, beinahe tonlos. Petra schrieb mit. Der Kugelschreiber kratzte über das Papier, und jeder Strich hallte im Büro wie ein Uhrenschlag wider. Doch Timo sprach plötzlich weiter, als müsse er sich die Worte aus der Brust reißen:

„Ich war sauer. Richtig sauer. Der DJ hat sie die ganze Zeit angeflirtet… und sie hat zurückgelächelt.“

Seine Kiefer mahlten, die Finger krampften sich um das Handy. „Ich dachte… vielleicht… vielleicht wollte sie was von ihm. Oder er von ihr. Und dann haben meine Kumpels auch noch Sprüche gemacht, so von wegen: ‚Na, Timo, die

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tanzt lieber mit ihm als mit dir.‘ Die haben Öl ins Feuer gegossen, verstehen Sie?“

Petra hob kurz den Blick, ihr Gesicht blieb unbewegt, aber innerlich notierte sie die Dynamik: Eifersucht. Gruppendruck. Streit. All das war ein Cocktail, der Dinge in Gang setzen konnte, die man hinterher nicht mehr einfangen konnte.

„Also… habe ich mich nicht mehr gemeldet. Ich hab gedacht, sie soll sich erstmal austoben, dann kommt sie schon wieder angerannt.“ Er schluckte schwer, die Worte klangen wie eine späte Rechtfertigung.