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"QUERGEFUNKT – Zwischen Autismus und ADS" von Svenja Haupt Ein ehrliches, berührendes und zugleich fundiertes Buch über das Leben zwischen zwei Welten, der neurotypischen und der neurodivergenten. Als Mutter die zwischen Autismus und ADS lebt, nimmt Svenja Haupt die Leser mit auf eine intensive Reise durch Diagnosen, Missverständnisse und die ungeschminkte Realität des Alltags. Mit einer einzigartigen Mischung aus persönlicher Erfahrung, wissenschaftlichem Wissen und emotionaler Tiefe erklärt sie, was es bedeutet, wenn Wahrnehmung, Gefühle und Denken anders funktionieren. Das Buch beleuchtet die verschiedenen Formen des Autismus-Spektrums – vom frühkindlichen über den Asperger- bis hin zum hochfunktionalen und atypischen Autismus – und zeigt zugleich, wie sich diese mit ADS überschneiden können. Dabei geht es nicht um Defizite, sondern um ein anderes Sein: sensibel, logisch, tief fühlend und oft überfordert von einer lauten Welt. "QUERGEFUNKT" ist kein Fachbuch im klassischen Sinn, sondern ein empathischer Leitfaden für Eltern, Pädagog:innen, Angehörige und alle, die neurodivergente Menschen besser verstehen möchten. Es schenkt Verständnis statt Belehrung, Nähe statt Mitleid und zeigt, dass Struktur, Akzeptanz und Liebe die wahren Schlüssel zu einem sicheren Leben im Anderssein sind. Ein Buch, das Wissen vermittelt, Herzen öffnet und Vorurteile entlarvt.
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2025
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von
Svenja Haupt
Zwischen Autismus und ADS
eine Reise ins Autismus Spektrum
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Impressum
Titel: QUERGEFUNKT – Eine Reise ins Autismus Spektrum
Autorin: Svenja Haupt
Illustration & Coverdesign: Svenja Haupt Marke: MordsTheater
© 2025 Svenja Haupt
Alle Rechte vorbehalten.
Die Verwendung von Texten, Bildern oder Teilen dieses Buches ist nur mit ausdrücklicher Genehmi-gung der Autorin gestattet.
Satz & Gestaltung: MordsTheater Publishing Herstellung und Verlag: epbuli.de
Druck und Bindung: epubli.de
Kontakt:
Svenja Haupt
E-Mail: [email protected]
Instagram: @mordstheater
Website: www.mords-theater.de
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geboren 1989, schreibt nach ihrer späten ADHS-Di-agnose nicht mehr nur Kriminalromane, sondern widmet sich auch der Aufklärung und kindgerechten Vermittlung von neurodiversen Wissen, um eine größere Reichweite für dieses Thema zu schaffen. Mit ihrem Label MordsTheater hat sie einen neu-rodiversen kreativ Kosmos geschaffen. Sie lebt mit ihrer Familien im malerischen Westerwald.
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Die Gesellschaft ist ein sehr engstirniger Übermittler neurodivergenter Informationen. Seitdem ich mich intensiv mit diesen Themen beschäftige, merke ich das leider ganz stark. Menschen, die sich im Alltag durch Beruf oder eigene Betroffenheit nicht mit dem Thema Neurodivergenz auseinandersetzen müssen, sind eigentlich wenig bis gar nicht darüber aufge-klärt.
Ich muss gestehen, ich fand es ehrlich gesagt er-schreckend, wie wenig wir eigentlich über dieses Thema aufgeklärt sind. Und auch wie wenig ich selbst darüber aufgeklärt war.
Mein Mann meinte irgendwann auch, „Mensch ha-ben wir jetzt alle ADHS hier oder Autismus, dreht sich jetzt alles nur noch im diese Neurodivergenz“
Warum heute immer mehr neurodivergente Men-
schen diagnostiziert werden
(ADS, ADHS, Autismus, Dyskalkulie, LRS, Tourette,
Hochsensibilität, etc.)
Wenn man sich auf Social Media so ein bisschen mit dem Thema befasst und sich ein paar Kanäle an-sieht, könnte man denken „jetzt hat ja wirklich jeder ADHS oder Autismus“.
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Aber woran liegt das eigentlich, dass heute bei viel mehr Menschen eine Neurodiverse Störung festge-stellt wird, als dass vielleicht vor 20 Jahren noch der Fall war?
Die wissenschaftliche Hauptursache: Bessere Diag-nostik und geänderte Definitionen
Früher waren die Diagnosekriterien für Störungen wie Autismus oder ADHS sehr eng gefasst.
Man suchte nach „klassischen“ Fällen – zum Bei-spiel:
•beim Autismus: kaum Sprache, kein Blick-
kontakt, stereotype Bewegungen.
•beim ADHS: hyperaktive, laute Jungen, die
im Unterricht auffallen.
Heute weiß man:
Das Spektrum ist viel breiter.
Autismus umfasst auch hochfunktionale, sprachge-wandte, sensible Kinder.
ADHS umfasst auch ADS-Typen (ruhige, verträumte Kinder). Das nennt man Paradigmenwechsel, ein Wandel im Denken der Wissenschaft.
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Seit den 1990er-Jahren (und besonders mit dem DSM-5 von 2013) wurden die diagnostischen Krite-rien vereinheitlicht und erweitert.
Dadurch werden heute mehr Menschen erkannt, die früher schlicht nicht in das alte Raster passten.
Erhöhte gesellschaftliche Aufmerksamkeit und
Entstigmatisierung
Früher galt vieles als „Charaktersache“, „Faulheit“ oder „Eigenart“.
Kinder wurden bestraft oder umerzogen, Erwach-sene lernten, sich anzupassen oder zu verstecken.
Ich denke dabei häufig an Erwachsene die so Sätze sagten wie „dieses Verhalten muss man jetzt einfan-gen“ „es brechen“ „es korrigieren“ damit das Kind wieder in Spur läuft.
Erst seit etwa 15 Jahren wird Neurodivergenz als Vielfalt und nicht nur als „Defizit“ gesehen.
Social Media, Elterninitiativen, und neurodivergente Erwachsene (z. B. Autist:innen oder ADHSler:innen auf TikTok, Instagram, YouTube) haben das Bewusst-sein stark verändert.
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Viele Menschen erkennen sich heute in Beschreibun-gen wieder, die es früher schlicht nicht öffentlich gab.
Wissenschaftlicher Fortschritt in der Neurobiolo-
gie und Genetik
Durch bildgebende Verfahren (fMRT, EEG, PET) ver-steht man heute viel besser, wie unterschiedlich Gehirne Reize, Emotionen und Sprache verarbeiten.
Neurowissenschaftlich gilt inzwischen als gesichert:
•Autismus, ADHS, Dyslexie usw. beruhen auf
neurobiologischen Unterschieden in der Gehirnstruktur, Konnektivität und Neuro-transmission.
•Diese Unterschiede sind nicht pathologisch
im klassischen Sinn, sondern Teil der menschlichen Vielfalt.
Das nennt man neurodiverses Paradigma: Das Gehirn ist nicht „gestört“, sondern anders orga-nisiert.
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Unsere moderne Umwelt verstärkt die Symptome
Unsere Welt ist heute:
•lauter,
•schneller,
•reizüberfluteter,
•sozial komplexer,
•und digital ununterbrochen präsent.
Menschen, die Reize langsamer oder intensiver ver-arbeiten, geraten viel schneller an ihre Grenzen als früher.
Ein Kind mit leicht autistischen oder ADHS-Zügen konnte früher auf einem Bauernhof oder in einer kleinen Dorfschule gut funktionieren. Heute sitzt es in großen Klassen mit Dauergeräusch-pegel, wechselnden Bezugspersonen und ständiger sozialer Bewertung.
Das führt dazu, dass neurodivergente Strukturen sichtbarer und belastender werden, nicht, weil sie „zunehmen“, sondern weil die Umwelt sie weniger kompensiert.
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Mehr Sensibilität im Bildungssystem und in
der Medizin
Früher wurde nur diagnostiziert, wenn ein Kind „nicht beschulbar“ war.
Heute erkennt man: frühe Förderung verhindert spä-tere Krisen.
Kitas, Schulen und Ärzt:innen sind verpflichtet, auf Entwicklungsabweichungen zu achten.
Das führt zu mehr Testungen und damit natürlich zu mehr Diagnosen, aber auch zu früherer Hilfe.
Veränderte Rollenbilder und Sichtbarkeit bei
Mädchen und Frauen
Ein großer Teil des „Diagnoseanstiegs“ betrifft Mäd-chen und Frauen.
Lange Zeit galten sie als unauffällig, weil ihr Verhal-ten weniger störte.
Erst seit den 2010ern versteht man, dass sie oft mas-kieren, also ihre Symptome verbergen, um sozial da-zuzugehören.
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Heute werden dadurch viele Frauen erst im Erwach-senenalter diagnostiziert, was die Zahlen weiter stei-gen lässt.
Selbstreflexion und generationenübergreifen-
des Erkennen
Viele Eltern, die ihre Kinder testen lassen, erkennen sich selbstin den Merkmalen wieder. Dadurch entsteht das Gefühl einer „Flut“, aber tat-sächlich war sie schon immer da, nur unsichtbar.
Neurodivergente Familienlinien sind häufig: ADHS, Autismus, LRS, Ängstlichkeit oder Hochsensi-bilität treten oft gemeinsamauf, weil genetische und epigenetische Faktoren eine Rolle spielen.
Dieser Faktor war der Grund, warum ich mich über-haupt testen ließ. Mein Leben war schon immer auf-fällig aus den Fugen geraten, aber eine echte Erklä-rung dafür gab es nicht. Ich wollte auch nicht glau-ben, dass ich einfach Lebensunfähig oder komplett durchgeknallt sein sollte.
Letztendlich war ich, dass auch nicht. Ich hatte mein Leben lang ein neurodiverses Gehirn und niemand hat es gesehen.
Betrachtet man die genetische Komponente in die-sem Fall dann ist es klar.
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Mein Vater ist neurodivers, mein Bruder ist es auch. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es ebenfalls bin, lag also statistisch extrem hoch.
Meine eigene Tochter auch erster Ehe wurde mit ca. 9 Jahren mit ADS diagnostiziert. Später wurde be-kannt, dass sowohl ihr leiblicher Vater als auch ich als Mutter neurodivers sind.
Und als man nun meinem ältesten Sohn ebenfalls eine ADS diagnostizierte mit Verdacht auf Autismus Spektrum, war für mich klar, hier muss mehr Auf-merksamkeit hin.
Der psychologische Aspekt der „Flut“
Dass es sich wie eine Welle anfühlt, hat viel mit un-serer Wahrnehmung zu tun:
Je mehr über ein Thema gesprochen wird, desto häufiger nehmen wir es auch wahr. Das nennt sich Verfügbarkeitsheuristik, ein psycho-logischer Effekt.
Es ist also nicht nur, dass mehr Menschen betroffen wären, sondern dass unser Bewusstsein endlich ge-schärft ist. Wir sehen, was schon lange da war.
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Fazit:
In einfachen Worten:
Es gibt nicht plötzlich mehr neurodivergente Men-schen.
Es gibt mehr Verständnis, bessere Diagnosen und eine Welt, die diese Unterschiede sichtbar macht.
Was früher als „sonderbar“, „träumerisch“ oder „schwierig“ galt,
wird heute, als das erkannt, was es ist: eine andere Art, Mensch zu sein.
In diesem Buch soll es aber nicht wieder um ADHS gehen, sondern ich möchte mich intensiv mit dem Thema „Autismus“ befassen.
Leider muss ich zu meiner eigenen Schande geste-hen, dass auch ich wenig über dieses Thema infor-miert war. Und das, obwohl ich früher mit autisti-schen Kindern gearbeitete habe.
Klar, die gängigen Dinge waren mir auch bekannt.
Frühkindliche Autisten, Asperger Autisten, aber dass auch dieses Spektrum so viel tiefer geht, genauso wie es bei ADHS der Fall ist, war mir bei weitem nicht bewusst.
Warum setzte ich mich also mal wieder im Hyperfo-kus hin und begann dieses Buch zu schreiben?
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Es ist im Grunde sehr einfach…
… ich wollte lernen und verstehen.
Mein ADHS – Gehirn funktioniert anders als die an-derer Menschen. Mittlerweile glaube ich, dass das meine Persönlichkeit um viele Momente bereichert hat. Wenn ich etwas verstehen will, dann muss ich darüberschreiben. Positiver Nebeneffekt – dadurch entstehen Bücher, die sogar von Fachpersonen ge-lobt werden und ich kann meine erlerntes Wissen später gebündelt an andere weitergeben.
Ein bisschen schwierig sind dabei leider die Auswir-kungen des Schreibens auf mein Leben.
Man muss sich das in etwas wie folgt vorstellen:
Wenn ich schreibe, dann verschwimmen Zeit und Raum, dann kickt meine Timeblindness komplett und ich vergesse zu essen, zu trinken und auch Pipi zu machen. Als Mutter von vier Kinder führt das zu Weilen zu enormen Konflikten.
Hyperfokus ist leider keine Wunderwaffe, die ich rausholen kann, wenn es mir gerade gut passt und solange wegstecke, bis es gerade ok wäre. Hyperfo-kus kommt, hüllt mich ein und schluckt mich runter. Und er spuckt mich leider oft erst dann wieder aus, wenn ich fertig bin.
ADHS ist verwunden mit einer Start und Stopp Prob-lematik.
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Wenn ich einmal gestartet habe, dass ist der Grund, warum 15 Manuskripte in meiner Schublade liegen, die ich bewusst ignoriere, weil es mich vermutlich tö-ten würde, wenn ich damit anfange, dann kann ich nicht mehr aufhören.
Ein vernunftbegabter Mensch würde sagen, ok, du hast jetzt 6 Stunden am Stück geschrieben, geh mal schlafen… ja… mein Gehirn macht das leider nicht. Mein Gehirn sagt so Sachen wie… noch 5 Minuten, du MUSST diesen Absatz noch ausführen, dieses Thema noch beenden, diesen Text umschreiben. Und zack entsteht in einer Woche ein komplettes Buch über 270 Seiten.
Ja, das mag beeindruckend klicken, ist aber emotio-nal und mental eine echt anstrengende Nummer. Es saugt mich komplett leer. Und wenn dann so ein Buch beendet ist, dann kommen Tage, manchmal Wochen in denen ich einfach nur leer, wie eine Hülle dasitze und nichts mehr machen kann. Ich weine, ich liege herum, ich bin dann einfach leer. Erschöpfungs-depression nennt sich das.
Warum also tue ich mir, dass SCHON wieder an. Die Fertigstellung des letzten Buches ist gerade einmal eine Woche her.
Nun ja, hier ging es einfach um mein Kind. Und da verschiebt sich die Wahrnehmung einer Mutter enorm. Also bitte kommt herein und wir entdecken gemeinsam „Autismus“.
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Kapitel 1
Was Autismus eigentlich ist
Wenn man als Elternteil das erste Mal hört „Ihr Kind könnte Autismus haben“ dann denkt man, ich je-denfalls, was bedeutet das eigentlich? Und was weiß ich darüber? Im Fall meines Kindes wurde die Verdachtsdiagnose geäußert und ganz klar definiert, dass er ADS hat.
Aber wollen wir uns doch erst mal genau ansehen, was ist eigentlich Autismus?
Autismus ist keine Krankheit und auch keine „Stö-rung“ im klassischen Sinn.
Es ist eine neurobiologische Entwicklungsvariante, das Gehirn arbeitet anders, von Geburt an. Das betrifft:
•Wahrnehmung (Geräusche, Licht, Berüh-
rung, Emotionen)
• Kommunikation
• soziales Verständnis
• Interessen und Routinen
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Diese Unterschiede führen nicht automatisch zu Leid, sondern werden erst dann zum Problem, wenn die Umwelt sie nicht versteht oder falsch bewertet („er ist seltsam“, „sie hört nicht zu“).
Deshalb spricht man heute lieber von einer Autis-mus-Spektrum-Störung (ASS) – das Wort Spektrum zeigt:
Es gibt viele Ausprägungen, nicht nur „leicht“ oder „schwer“.
Die fünf zentralen Spektren (Kernberei-
che)
Soziale Kommunikation & Interaktion
Hier geht es darum, wie jemand:
•soziale Signale erkennt (Gestik, Mimik, Ton-
fall)
• Blickkontakt einsetzt
• Gespräche beginnt und aufrechterhält
• Empathie ausdrückt
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Autistische Merkmale:
•wörtliches Verständnis („Ironie“ oder „Sar-
kasmus“ verwirrt)
• wenig oder untypischer Blickkontakt
• Schwierigkeiten, Emotionen anderer zu
deuten
•braucht oft mehr Zeit, um auf Fragen zu re-
agieren
• wirkt manchmal „im eigenen Film“
Bei meinem Kind:
Er könnte soziale Situationen anstrengend finden, vor allem in Gruppen oder lauten Umgebungen. Er möchte dazugehören, weiß aber manchmal nicht genau, wie.
Was ich jedoch sagen konnte, war, mein Sohn, war sozial schon immer ein sehr starkes Kind. Er hatte schon früh einen hohen Sinn für Gerechtigkeit. Sein Bedürfnis, dass alle fair und freundlich zueinander sind, ist enorm. Und das kann er auch verbal extrem gut kommunizieren.
Er sieht, wenn es jemanden schlecht geht, wenn je-mand traurig ist oder jemand wütend ist.
Allerdings musste man bei ihm schon immer die Ge-räuschkulisse gut im Blick behalten. Eine laute Um-gebung, das typische „Kämpfen“ spielen von
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Kindern oder Große Gruppen waren für ihn schon immer problematisch.
Sprache & Kommunikation
Autistische Menschen haben oft besondere Sprach-muster:
•später Spracherwerb oder ungewöhnliche
Satzstrukturen
•monotone oder sehr deutliche Sprachme-
lodie
•echolalisches Sprechen (Wiederholen von
Sätzen)
•außergewöhnlicher Wortschatz in Spezial-
gebieten
Bei meinem Kind:
Späteres Sprechen passt hier hinein. Er verarbeitet Sprache langsamer, weil Geräusche ihn überfluten. Er könnte sehr bildhaft oder „erwachsen“ spre-chen, wenn er sich sicher fühlt.
In diesem Fall musste ich mir all meine Kinder ein-mal genau ansehen, denn da fielen mir sehr viele Dinge auf.
Unser Sohn hat erst sehr spät gesprochen (3,5), aber dann sprach er gefühlt von heute auf morgen ganze Sätze und sehr bildhaft. Im Gegensatz zu anderen
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Kindern haben unsere Kinder nie „kindliche“ Spra-che verwendet, sondern sehr emotionale und er-wachsene Sprache. Wenn ich mir manchmal den Vo-kabular meiner 4-Jährigen ansehe, dann bin ich schon enorm erstaunt. Das alles macht für mich noch kein Autismus aus.
Aber seine Sprache war schon immer sehr auffällig.
Auch wie er Gefühle, seine und die von anderen sehr genau benennen und ausdrücken konnte, fand ich immer sehr beeindruckend.
Repetitives Verhalten & Routinen
Ein starker Wunsch nach Vorhersehbarkeit ist ty-pisch:
• feste Abläufe, Rituale, feste Wege
•intensive Spezialinteressen (z. B. Dinosau-
rier, Züge, Zahlen)
•starke Reaktion auf Veränderungen („Aber
das war doch immer so!“)
Das hilft dem Gehirn, Chaos zu vermeiden.
Bei unserem Sohn:
Wenn er Struktur hat, funktioniert er besser. Plötz-liche Änderungen oder Lärm erzeugen Panik, weil er Kontrolle verliert.
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Da musste ich leider sehr stark zustimmen. Er suchte schon immer feste Rituale und Abläufe. Wenn man Strukturen plötzlich änderte, war das für ihn ein enormes Problem.
Besonders betroffen sind die Strukturen, die er sich in seinem Kopf selbst zurechtgelegt hat. „Das hat so zu sein, weil ich das so brauche“ – wenn etwas da-von abweicht, dann raste ich aus.
Sensorische Wahrnehmung (Reizverarbeitung)
Das ist eines der wichtigsten Spektren und bei mei-nem Sohn offenbar stark betroffen. Das Nervensystem filtert Reize nicht wie bei neuro-typischen Kindern.
Er hört, fühlt, riecht, sieht oder schmeckt intensiver oder abgeschwächter.
Mögliche Reaktionen:
•Angst oder Schmerz bei lauten Geräuschen
•Abneigung gegen bestimmte Stoffe, Klei-
dung, Gerüche
•Schwierigkeiten mit Körpergefühl, Koordi-
nation
• Erschöpfung nach vollen, lauten Tagen
Bei unserem Sohn:
Seine Angst vor Lärm und die motorischen Schwie-rigkeiten deuten klar auf eine sensorische
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Überempfindlichkeit hin. Man nennt das auch sen-sorische Integrationsstörung.
Unser Sohn konnte schon früh nur sehr schlecht mit Lärm umgehen. Die Toilettenspühlung war immer schon zu laut. Wenn Papa mal laut Musik hören wollte, fing er an zu weinen.
Wir konnten mit ihm nicht auf den Sankt Martins Zug gehen, denn wenn er auch nur ansatzweise in der Nähe der Kapelle laufen musste, dann hat er ge-weint, weil ihm die Lautstärke Angst machte.
Mein Mann konnte ihn nur mit viel Ruhe und Halt dazu überreden hinzugehen und dann auch nur mit Ohrschützern und weit weg von der Kapelle.
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Kognitive & emotionale Verarbeitung
Das Gehirn autistischer Menschen verarbeitet Infor-mationen linear, detailorientiert, logisch, oft ohne emotionale Filter. Gefühle werden stark erlebt, aber schwer eingeordnet.
Typisch:
•starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und
Ehrlichkeit
•intensive Gefühlsausbrüche bei Überforde-
rung
•Schwierigkeiten, zwischen kleinen und gro-
ßen Problemen zu unterscheiden
• schnelle emotionale Erschöpfung
Bei unserem Sohn:
Seine Trennungsängste und Sorgen passen hier: Er nimmt Gefühle sehr ernst, kann sie aber nicht „sor-tieren“. Obwohl unser Sohn wohl das Kind war, dass am meisten im Nest aufgewachsen ist, hat er starke Trennungsängste gehabt. Und das hielt sich sehr lange.
Wenn er fühlt, dann auf eine sehr intensive und ungefilterte Weise.
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Wie man heute zwischen den Ausprä-
gungen unterscheidet
Früher gab es Untertypen:
•Frühkindlicher Autismus (klassisch, mit
Sprachverzögerung)
•Asperger-Syndrom (ohne Sprachverzöge-
rung, hohe Intelligenz)
•Atypischer Autismus
Heute fasst man alles unter Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammen. Man schaut stattdessen auf die Schweregrade:
GradBeschreibungAlltagsauswirkung
braucht etwas Unter-
1 –
stützung, kann sich z. B. Asperger-Profil
leicht
meist anpassen
2 – braucht regelmäßige Sprache, Alltag, Emotionen be-mittel Unterstützung einträchtigt
3 – braucht intensive Be-stark eingeschränkte Kommuni-stark gleitung und Struktur kation
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Mein Sohn wäre – falls sich der Verdacht bestätigt – vermutlich im leichten bis mittleren Bereich: Er spricht, versteht, denkt klar, aber seine Sensorik, Emotionen und Ängste überfordern ihn oft.
Fazit: Was das für uns bedeutet
Er nimmt die Welt ohne Filter wahr. Was für andere nur „laut“ ist, kann für ihn schmerzhaft sein.
Was andere übersehen, fällt ihm sofort auf. Und was andere „abwarten“, empfindet er sofort tief.
Autismus bedeutet also nicht „weniger“, sondern „mehr“ – mehr Wahrnehmung, mehr Emotion, mehr Denken. Nur braucht er Schutzräume, um da-mit klarzukommen.
Woher kommt Autismus und
ADHS?
Mein Sohn und ich haben irgendwann mal sehr lange darüber gesprochen, warum sein Klassenka-merad Autist ist und er wollte gerne wissen ob er wohl etwas falsches gegessen hat.
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