Belladonna – Die Berührung des Todes - Adalyn Grace - E-Book

Belladonna – Die Berührung des Todes E-Book

Adalyn Grace

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Beschreibung

Signa ist vom Tod berührt. Seit ihre Eltern gestorben sind, glauben ihre Verwandten, dass sie verflucht ist. Bis Signa eines Tages von ihrem Cousin in das wunderschöne Herrenhaus Thorn Grove eingeladen wird. Die rauschenden Bälle und eleganten Gäste faszinieren Signa, doch der Glanz verbirgt ein düsteres Geheimnis. Die Tochter des Hauses, Blythe, wurde vergiftet und der Täter steht der Familie näher als vermutet. Als der Tod dann höchstpersönlich erscheint, um Signa bei dem Rätsel zu helfen, weckt er in ihr verbotene Gefühle, die sie in einen dunklen Abgrund reißen könnten ...

Der Auftakt einer romantischen Trilogie und einer Enemies-to-Lovers-Geschichte, die fesselt!



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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Vollständige eBook-Ausgabe der Softcoverausgabe München 2023

Text copyright © Adalyn Grace, Inc, 2022

Cover copyright © Hachette Book Group, 2022

Cover art copyright © Elena Masci, 2022

Titel der Originalausgabe: Belladonna

Die Originalausgabe ist 2022 bei Little, Brown and Company (Hachette Book Group), New York, erschienen.

© 2024 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Adalyn Grace Inc

Übersetzung: Petra Knese

Lektorat: Katja Korintenberg

Satz: Fotosatz Amann, Memmingen

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, unter Verwendung der Illustration von Elena Masci

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

ISBN eBook 978-3-8458-5704-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-5691-9

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In einem Haus im Wald

steht ein Tisch wie bei Arthurs Tafelrunde,

der sich unter vielerlei Köstlichkeiten biegt.

Diese Geschichte ist all jenen gewidmet,

die mit mir an diesem Tisch saßen

und mir das Gefühl gaben:

Schreiben ist Magie.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Danksagung

Prolog

Es begann mit dem Geschrei eines Kindes.

In einem Kleid so rot wie Blut war Signa Farrow mit ihren zwei Monaten das wohl bemerkenswerteste Persönchen auf dem Ball, und ihre Mutter wollte, dass jeder es mitbekam.

»Seht alle her«, flötete Rima Farrow und hielt den kleinen Schreihals hoch. »Habt ihr jemals so etwas Schönes gesehen?« Sie wirbelte durch die Menge, funkelnd von Kopf bis Fuß. Die kostbaren Juwelen waren ausnahmslos Geschenke ihres Mannes, eines bekannten Architekten. Kobaltblaue Seide bauschte sich über Rimas imposantem Reifrock, keine andere Frau hätte es gewagt, in ihrer Nähe etwas so Ausladendes zur Schau zu stellen.

Denn die Farrows zählten zu den reichsten Familien Fiores. Jeder Gast auf diesem Fest versuchte, wenigstens einen Funken von ihrem Glanz zu erhaschen. Und deshalb gaben sie Rima, was sie begehrte, setzten ein Grinsen auf und gurrten dem Kind zu, das sie mit so viel Liebe im Arm hielt.

»Sie ist wunderschön«, sagte eine Frau, die mehr Rima als das Kind ansah und mit einem Fächer gegen die Sommerhitze ankämpfte.

»Makellos«, sagte eine andere und sah dabei geflissentlich über Signas kleine, krumme Nase und den faltigen Hals hinweg.

»Ganz die Mutter. Bald wird sie arglosen Verehrern den Kopf verdrehen«, kam es aus dem Mund eines Mannes, der nicht wahrhaben wollte, wie sehr ihn Signas Augen verstörten: eines winterblau, das andere in der Farbe von geschmolzenem Gold. Und beide viel zu wachsam für einen Säugling.

Signa hörte überhaupt nicht mehr auf zu schreien, verschwitzt und hochrot im Gesicht. Niemand dachte sich etwas dabei, denn die Sommer in Fiore waren wie eine feuchte, warme Decke. Ganz egal, wo man sich aufhielt, drinnen oder draußen, stets lag einem ein glänzender Schweißfilm auf der Haut. Und so ahnte keiner, was das Kind längst wusste: Der Tod hielt Einzug in Foxglove. Signa spürte ihn wie eine heransirrende Fliege. Es war ein Kribbeln auf der Haut, ein Hauch, der die Härchen in ihrem Nacken streifte. In der Gegenwart des Todes beruhigte sich das Kind durch die Kälte, die von ihm ausging.

Auf niemanden sonst hatte er diese tröstliche Wirkung, denn der Tod kam nur, wenn er gerufen wurde. Und in jener Nacht war er nach Foxglove gerufen worden, wo der Wein bis auf den letzten Tropfen vergiftet war.

Es begann mit einem Husten, der rasch um sich griff, doch die Gäste entschuldigten sich nur und husteten höflich in ihre hübschen weißen Handschuhe, dachten, es läge am Essen. Rima zeigte als eine der Ersten ernstere Symptome. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie rang nach Atem, als sie dem nächstbesten Dienstmädchen ihr Kind reichte. »Entschuldige mich«, sagte sie, presste eine Hand auf ihre Brust und hielt sich die andere vor den Mund, weil sie ein weiterer Hustenanfall schüttelte. Als sie die Hand vom Mund nahm, war ihr Satinhandschuh blutrot.

Der Tod stand vor ihr, und das Kind beobachtete, wie er seine Hand auf Rimas Schulter legte. Mit einem letzten Atemzug sank sie tot zu Boden.

Der Tod begnügte sich nicht mit Rima. Er fegte durch das herrschaftliche Anwesen und sammelte die armen Seelen derer ein, die gerade noch verzweifelt nach Luft geschnappt hatten. Fiel über Tänzer und Musiker her und stahl ihnen mit einer einzigen eisigen Berührung das Leben.

Manche stürzten zur Tür, weil sie glaubten, es müsste an der Luft liegen. Und wenn sie es nur bis in den Garten schafften, würden sie verschont bleiben. Doch einer nach dem anderen fiel wie vom Blitz getroffen. Nur ein paar wenige Glückspilze, die nicht vom Wein gekostet hatten, kamen davon.

Das Dienstmädchen konnte Signa gerade noch im Kinderzimmer ablegen, bevor der Tod auch ihren Herzschlag verlangsamte und sie mit rubinroten Blutstropfen auf den Lippen niederstreckte.

Obwohl erst ein Säugling, ließ sich Signa vom Geruch des Todes nicht beirren. Statt sich von der Panik ringsherum anstecken zu lassen, konzentrierte sie sich auf das, was sonst keiner sah: das bläuliche Schimmern der Seelen, die der Tod von ihren Körpern trennte. Manche gingen friedlich, nahmen ihren Partner an die Hand und warteten auf sein Geleit ins Jenseits. Andere versuchten, sich zurück in ihren Körper zu kämpfen oder vor dem Schnitter zu fliehen, der ihnen nicht mal nachstellen musste.

Mitten im Chaos stand die tote Rima in Signas Kinderzimmer und beobachtete mit einer tiefen Falte auf der Stirn, wie der Tod über die Schwelle trat. Als er auf das Kind zuging, machten seine Schritte keinen Laut und seine Gestalt war kaum mehr als flüchtige Schatten. Doch es war auch gar nicht notwendig, ihn zu sehen, es genügte, ihn zu spüren. Er war der Druck auf dem Brustkorb oder ein zu enger Kragen. Ein Sturz in tödliche kalte Fluten.

Der Tod schnürte einem die Luft ab. Er war kalt wie Eis.

Doch als er Signa holen wollte, die proppenvoll mit der vergifteten Milch ihrer Mutter war, gähnte die Kleine bloß und kuschelte sich in die Schatten des Todes.

Der Tod zog sich zurück. Versuchte es erneut, aber als er Signa berührte, sah er nicht ihr noch sehr kurzes Leben an sich vorbeiziehen, sondern etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte: ihre Zukunft.

Eine großartige, völlig unmögliche Zukunft.

Seine Berührung konnte dem Kind nichts anhaben und er war gleichermaßen irritiert wie fasziniert von dieser Erkenntnis.

Obgleich Rima gerne noch geblieben wäre – auch, um ihr Kind mitzunehmen –, trat der Tod einen Schritt zurück und reichte ihr die Hand. Zu Rimas eigener Überraschung ergriff sie diese. »Die Zeit der Kleinen ist noch nicht gekommen«, sagte er, »aber Ihre, Madame. Begleiten Sie mich.« Bei all den Seelen, die einen Fährmann brauchten, konnte er nicht länger bleiben, doch er würde zurückkommen. Würde dieses Kind wiederfinden.

Hand in Hand mit dem Tod warf Rima noch einen letzten Blick auf ihre Tochter, die sie in einem Haus voller Toten zurücklassen musste. Sie betete, dass bald jemand Signa finden und beschützen würde.

So wie die Nacht mit dem Geschrei eines Kindes begonnen hatte, ging sie auch zu Ende. Nur dass es diesmal niemanden mehr gab, der es hören konnte.

Kapitel1

Es heißt, fünf Belladonna-Beeren reichen aus, um einen Menschen zu töten.

Bloß fünf dieser dunklen Beeren, direkt vom Strauch gegessen. Oder zerdrückt und mit Wasser überbrüht, so war es Signa Farrow lieber.

Ihre dunklen Brauen glänzten vor Schweiß, als sie sich über den dampfenden Kupferbecher beugte und die Dünste einatmete. Sicher wäre es einfacher gewesen, die Beeren direkt zu essen, aber Signa hatte noch nicht genug Erfahrung mit der Wirkung des Giftes und wollte auf keinen Fall von Tante Magda bewusstlos und mit dunkelroter Zunge im Garten gefunden werden.

Nicht schon wieder.

Es war Wochen her, seit Signa den Schnitter gesehen hatte. Nur ein letzter Atemzug konnte ihn aus seinem Versteck locken und er ging nie mit leeren Händen. Jedenfalls sollte es so sein. Doch Signa Farrow war das Mädchen, das nicht sterben konnte.

Bewusst hatte sie ihn das erste Mal mit fünf gesehen, als sie im Haus ihrer Großmutter die Treppe hinuntergestürzt war. Sie hatte sich das Genick gebrochen und lag verrenkt auf dem kalten Boden, als er erschien. Obwohl sie noch so jung war, wusste sie, dass ihr Körper nicht für derlei gemacht war, und fragte sich, ob er gekommen war, um sie mitzunehmen. Doch der Tod schaute nur stumm zu, wie sich die Wirbel wieder einrenkten, und verschwand, nachdem sie sich von einem Sturz erholt hatte, der eigentlich hätte tödlich sein sollen.

Es sollte fünf weitere Jahre dauern, bis sie den Tod wiedersah. Da saß sie am Bett ihrer Großmutter, als er die Hand der alten Dame nahm und ihre Seele vom Körper löste. Ihre Großmutter, die monatelang krank gewesen war, küsste Signas Stirn und ließ sich lächelnd vom Tod ins friedliche Jenseits führen.

Signa bettelte den Tod an, doch zurückzukommen. Ihr ihre Großmutter zurückzubringen, während sie weiter die Hand der Toten hielt und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Weil außer ihr niemand den Tod oder die Seelen sehen konnte, fragte sie sich, ob es ihretwegen geschah. Ob sie am Tod anderer schuld war.

Wie lange sie in dem Haus geblieben war, bevor jemand den Leichengeruch wahrgenommen hatte, wusste sie nicht mehr. Mit verfilztem Haar und ungewaschenen Kleidern fand man sie zusammengerollt am Bett ihrer Großmutter. Eiligst wurde sie fortgeschafft, zum nächsten Vormund, dem noch viele weitere folgten.

In den kommenden Jahren probierte Signa ihre sonderbaren Fähigkeiten aus. Es fing damit an, dass sie sich aus Versehen mit einem Dorn in den Finger gestochen hatte. Sie konnte zusehen, wie das Blut erst heraussprudelte, dann verschwand und ihre Haut anschließend makellos verheilte. Danach experimentierte sie wild drauflos. Sie sprang von Klippen, so hoch, dass man sich alle Knochen brechen musste. Doch Signa verspürte nur ein stechendes Knacken und konnte kurz darauf wieder unversehrt über die Klippen spazieren.

Die Belladonna-Beeren hingegen sollten ursprünglich gar kein Experiment sein. Signa hatte sie nach ihrer Ankunft vor ein paar Monaten einfach so im verkrauteten Garten ihrer Tante gepflückt, in der Annahme, es seien wilde Blaubeeren. Sie hatte keine Ahnung, dass sie giftig waren, bis ihr schwarz vor Augen wurde und sie umfiel. Da hatte sich der Tod sehen lassen, hatte hinter einer Astgabel der Eiche gelauert. Selbst wenn sie sich nicht viel zu schnell wieder erholt hätte, um mit ihm ein Wort zu wechseln, wäre sie in dem Moment von ihrer Tante Magda zu abgelenkt gewesen, die sie im Garten mit den tödlichen Nachtschattengewächsen in der Hand und blauvioletten Lippen fand. Die gute Magda hätte fast einen Herzinfarkt erlitten, als sich Signa, bei der das Gift nur Minuten wirkte, schlagartig wieder aufrichtete.

An dem Tag hatte Signa gelernt, wie man den Tod aus den Schatten lockt. Und mit diesem Wissen erlaubte sie es ihm nicht länger, sich vor ihr zu verstecken.

Signa setzte den Becher an die Lippen, doch kaum nahm sie den Dampf auf der Zunge wahr, wurde ihr der Becher aus der Hand geschlagen. Scheppernd ging er zu Boden und der violette Tee ergoss sich über die abgetretenen grauen Steinfliesen der Küche. Von der Wucht des Schlages fiel Signa von der klapprigen Holzbank, auf der sie gehockt hatte.

Hinter ihr stand Tante Magda mit finsterer Miene. Diesen Ausdruck kannte sie nur zu gut, doch wer genauer hinsah, bemerkte, dass Magdas Unterlippe bebte und ihre ledrigen Hände zitterten. Sah die geweiteten Pupillen und die Schweißtropfen auf der faltigen Stirn.

»Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was du im Schilde führst, du kleiner Teufel?« Tante Magda hob den Becher auf, roch daran und sah hinein. »Widerliche Kreatur, Handlangerin des Satans!«

Tante Magda schleuderte ihr den Becher entgegen. Signa sprang auf, wurde aber an der Schulter getroffen. Im Becher war noch genügend heißer Sud, um Signa zu verbrennen und einen blauvioletten Fleck auf ihrem grauen Lieblingsmantel zu hinterlassen. »Ich habe dich gewarnt. Du wusstest, was dir blüht, wenn du deine Hexenkunst in mein Haus bringst.«

Signa ignorierte den brennenden Schmerz auf der Haut und sah ihrer Tante geradewegs in die Augen. »Das war Tee.« Ihre Stimme klang so überzeugend, dass ihr jeder, der es nicht besser wusste, glauben würde. Doch leider wusste Magda es besser. Sie wähnte sich selbst für viel zu klug und gottesfürchtig, um sich von einer Hexe an der Nase herumführen zu lassen.

Nicht dass Signa sich für eine Hexe hielt. Auch wenn sie sich sehr für Pflanzen interessierte und sich oft wünschte, ein paar Zaubersprüche zu kennen. Wie schön wäre es, diese Bruchbude mit einem Zauberspruch vom Staub zu befreien oder etwas anderes zu essen als altes Brot oder die kargen Mahlzeiten, die sie sich aus den dürftigen Zutaten, die Magda ihr überließ, zusammenkochte.

»Pack deine Sachen«, keifte Tante Magda. Und als der Herbstwind durch einen Spalt im Küchenfenster pfiff, schlang sie den Mantel enger um ihren gebrechlichen Körper. Ihre Haut war aschfahl, und wenn sie hustete, rasselte es in ihrer Brust und sie spuckte Schleim. Fragend spähte Signa in die Schatten. Ob der Tod ihre Tante wohl holen käme, wie diese seit einer Woche befürchtete, als es mit dem Husten losgegangen war? »Du schläfst heute Nacht im Schuppen.« Magda stieß die Worte so kalt hervor, dass es Signa gruselte, und sie wünschte, sie wäre nie bei dieser schrecklichen Person gelandet. Was für ein Pech, dass sie so wenig andere Möglichkeiten hatte.

Wegen ihres Erbes, das ihr mit dem zwanzigsten Geburtstag zustehen würde, und der finanziellen Unterstützung, die bis zu diesem Zeitpunkt dem Vormund zufiel, hatten potenzielle Kandidaten um sie gerungen. Die erste Runde war an ihre Großmutter gegangen, doch sie hatte sich nicht aus Raffgier, sondern aus Liebe um sie gekümmert. Nachdem sie gestorben war, hatte man Signa zum Bruder ihrer Mutter geschickt, einem jungen und gesunden Bankier mit einem schönen Anwesen und einem regen Liebesleben. Obwohl ihr Onkel sie oft sich selbst überließ, war es ihr bei ihm nicht schlecht ergangen. Sie hatte sogar eine Freundin gehabt, Charlotte Killinger, mit der sie durch den Wald getollt war und die Nachbarn ausspioniert hatte.

Das Liebesleben ihres Onkels hatte sich am Ende als zu rege entpuppt, jedenfalls starb er mit Ende dreißig an einer ansteckenden Krankheit. Danach hatte Signa gehofft, von Charlottes Familie aufgenommen zu werden, doch leider war Charlottes Mutter etwa zur gleichen Zeit an derselben Krankheit verstorben. Mit diesem Skandal endete dann auch die Freundschaft der beiden Mädchen und Signa hatte seither nichts mehr von Charlotte gehört.

Um Signas zwölften Geburtstag herum begann das Getuschel. Und als dann auch noch ihr dritter Vormund bei einem tragischen Kutschenunfall ums Leben kam und Nummer vier mit Beruhigungsmitteln und reichlich Alkohol im Blut in der Badewanne ertrank, wollte es gar nicht mehr verstummen. Das Kind ist verflucht, hieß es. Gottlose Hexe. Teufelsbrut. Der Tod folgt ihr überall hin. Signa versuchte nie, es ihnen auszureden, denn vielleicht hatten sie ja recht.

In der Hoffnung, sie würden eines Tages verschwinden, ignorierte sie geflissentlich die Geister, die ihr auf der Straße begegneten oder mit denen sie sich ein Zuhause teilen musste. Doch so leicht machten es ihr die Geister nicht. Manchmal kam es Signa vor, als ahnten sie, dass sie sich vor ihnen verbarg, und benahmen sich mit Absicht schlecht, erschreckten sie, indem sie durchs Haus heulten oder in Spiegeln spukten.

Zum Glück gab es bei Magda keine Geister, wobei das Signas Lage nicht entscheidend verbesserte. Tante Magda war eine Frau, die tagelang beim Glücksspiel zubrachte und immer mit leeren Taschen heimkehrte. Ob es in der Küche etwas zu essen gab oder ob Signa in der verstaubten Bude, die sie ein Zuhause nannte, Luft bekam, war ihr egal. Mit solchen Kleinigkeiten schlug sie sich nicht herum. Ihr war bloß am Geld gelegen, das sie durch die Vormundschaft bekam.

Signa verstand, dass sich ihre Tante vor ihr fürchtete, erwartete es sogar, aber es war ein elendes Leben. In wenigen Monaten würde sie zwanzig werden, dann könnte sie ihr Erbe antreten und ein eigenes Zuhause gründen. Eines voller Licht und Wärme − und vor allem Menschen. Sie würde in einem wunderschönen Kleid durch die Räume schreiten und die Blicke aller gut aussehenden Männer auf sich ziehen, die ihr sogleich ihre Liebe gestehen würden. Und Signa wäre nie wieder allein.

Doch zuvor musste sie den Tod zur Rede stellen. Am besten noch heute Nacht, bevor er sich einen weiteren Vormund krallte und sie vollends in Verruf brachte.

»Los, pack schon!« Tante Magdas knochige Hände zitterten. »Ich will dich nicht länger hier im Haus haben.«

Signa hob nur schnell ihren Becher auf und inspizierte die neue Delle, bevor sie aus der Küche huschte. Die alte Holztreppe ächzte unter ihren Schritten. Als wäre sie beleidigt, dachte Signa. Und dann dachte sie an all den Schmutz im Haus, vom Keller bis zum windschiefen Dach. An die Kreuzspinne, die ihr Netz in ihrer Zimmerecke errichtet hatte, gut sichtbar, aber außer Reichweite. Sie dachte an alles Mögliche, um den einen, den finstersten Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, nämlich den, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Dass sie ein Monster war. Dass es allen besser ginge, wenn sie normal wäre.

Ihre Tante war überzeugt, dass Signa den Teufel im Leib trug, was vielleicht sogar stimmte. Vielleicht hatte es sich der Teufel bei ihr gemütlich gemacht und sie konnte deshalb nicht sterben. Trotz allem wusste Signa, was sie zu tun hatte.

Tante Magda hustete, dass das Haus bebte. Signa beeilte sich. In ihrem winzigen Zimmer unterm Dach schob sie ihren Schrankkoffer vor die Tür und versperrte so den Eingang. Auf Zehenspitzen schlich sie zurück in die Zimmermitte und setzte sich mit gerafften Röcken auf den Boden. Sie schlüpfte aus dem Mantel, nahm die Belladonna-Beeren aus der Manteltasche und legte sie vor sich hin. Aus einer zweiten Tasche zog sie ein rostiges Küchenmesser und packte es griffbereit zwischen die Falten ihres Rocks. Signa nahm sich fünf Beeren, doch bevor sie sie auf ihrer Zunge zerdrückte, strich sie sich noch die dunklen Locken glatt und rückte den Kragen zurecht. Warum, wusste sie selbst nicht, vielleicht wollte sie vorzeigbar aussehen.

Die Wirkung des Giftes entfaltete sich in ihrer Brust. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand mit einem heißen Eisen den Brustkorb aufstemmen und die Lungen zusammendrücken. Ihre Haut leckte wie ein undichter Hahn, aus dem dicke Schweißtropfen rannen. Ihr kam die Galle hoch, und sie schloss die Augen, als seltsame Zerrbilder vor ihr tanzten.

Kurz darauf flauten die Symptome ab – eigentlich hätte die Dosis gereicht, um jemanden umzubringen, Signa hingegen konnte sich binnen Minuten davon erholen. Doch sie wollte so lange wie möglich in diesem Zwischenstadium verharren, denn nur so konnte sie den Schnitter zu fassen bekommen und ihm ein für alle Mal Einhalt gebieten.

Endlich breitete sich in ihren Adern eisige Kälte aus. Ein vertrauter Schmerz, der ihr bis ins Mark drang und ihre Aufmerksamkeit forderte. Als Signa die Augen öffnete, stand der Tod vor ihr.

Sah sie an.

Wartete.

Seine Anwesenheit war berauschend vertraut, und doch überraschte sie sein Anblick jedes Mal aufs Neue – Schatten, die einen menschlichen Schemen verbargen. So dunkel und lichtlos, dass es fast wehtat, ihn anzusehen. Und doch konnte sie den Blick nicht abwenden. Nie. Sie wurde von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht. Und offenbar ging es ihm genauso.

Der Tod gab das Warten auf und beugte sich über sie wie ein Aasgeier. Um ihn herum tanzten die Schatten. Signa blickte in einen dunklen Abgrund, aber sosehr ihre Augen auch brannten, sie sah nicht weg.

»Mir wäre es lieber, du würdest mich nicht nach Lust und Laune rufen.« Die Stimme klang gar nicht so, wie sie es vermutet hatte. War weder kalt noch rau, sondern eher wie ein Auenbach, der sanft über die Haut plätscherte und sie zu einem mitternächtlichen Bad einlud. »Ich bin nämlich ein viel beschäftigter Mann.«

Signa hielt den Atem an. Über neunzehn Jahre lang hatte sie darauf gewartet, seine Stimme zu hören. Und das waren nun die ersten Worte? Sie schloss die Finger um den Messergriff und funkelte ihn böse an. »Wenn du vorhast, mein Leben zu ruinieren, dann sag mir endlich, warum.«

Der Tod zog sich zurück. Sofort schoss ihr die Wärme wie ein stechender Schmerz in die Finger. »Glaubst du wirklich, dass ich das will, Signa?«, fragte er ungläubig. »Dein Leben ruinieren?«

Seine Worte hatten etwas Beunruhigendes. Ihr liefen Schauer über den Rücken. »Nenn mich nicht beim Namen. Aus deinem Mund klingt er wie ein Fluch.«

Er lachte. Es war ein tiefes, melodisches Lachen, das seine Schatten in Bewegung versetzte. »Dein Name ist doch kein Fluch, Vögelchen. Ich mag seinen Klang einfach.«

Was dieses Lachen in ihr auslöste, war schon verwunderlich. Obwohl Signa sich seit Jahren die Worte für diesen Moment zurechtgelegt hatte, fehlten sie ihr nun. Aber was sollte sie mit dem Tod auch besprechen? Von ihm wollte sie sich nun bestimmt nicht mehr umstimmen lassen, nachdem er ihr Leben ruiniert hatte, ihr jeden Freund, Vormund und jedes Zuhause genommen hatte. Und so überlegte sie nicht länger. Die Gelegenheit war günstig, um die Schwachstelle des Todes zu finden.

Mit zitternden Händen hielt sie das Messer umklammert, kämpfte gegen die bleierne Schwere ihrer Glieder an und sammelte ihre Kräfte. Und stach ihm das Messer in die Brust.

Kapitel2

Signa fluchte, als die Klinge ins Leere glitt.

Der Tod schaute an sich herunter, und dann verschoben sich die Schatten, als würde er den Kopf schief legen. »Du bist wohl eine von der neugierigen Sorte! Hast du im Ernst geglaubt, dass mir ein simples Messer etwas anhaben könnte?«

Dass er sich über sie lustig machte, gefiel Signa gar nicht. Verdrossen zog sie das Messer zurück. Sie hatte gehofft, dass es zumindest irgendetwas bewirken würde. Ihn abschrecken oder ihm deutlich machte, dass es ihr ernst war und er sich künftig von ihr fernhalten sollte. Der Tod sollte in ihr eine Gefahr sehen. Jemanden, mit dem nicht zu spaßen war. Stattdessen verhöhnte er sie.

Und weil er so lachte, nahm sie das Hämmern an der Tür kaum wahr. Erst als der Koffer über den Holzboden schrammte und Tante Magda keifend ins Zimmer platzte, kalkweiß und mit Angst im Blick, da erst reagierte Signa. Ihre Tante verlor keine Zeit, packte Signa bei den Haaren und riss sie hoch. Ihre Augen wanderten zum Fenster, als wollte sie Signa hinauswerfen.

Neben ihrer Tante stand schnaubend der Tod. Signa spürte, wie die Luft knapp wurde. Eiseskälte breitete sich aus. Schließlich gelang es ihr, sich von ihrer Tante loszureißen. Sie hätte den Tod bitten sollen, sich zurückzuziehen, doch sie tat es nicht. Magda sah sie hasserfüllt an und langte nach ihrer Kehle. Signa biss die Zähne zusammen und stieß ihre Tante von sich.

In dem Moment, in dem sie Magda berührte, war ihr, als würde Feuer durch ihre Adern strömen. Benommen taumelte die Tante rückwärts, ihr Atem dünn und schwach. Und als hätte Signa ihr alle Farbe geraubt, war sie noch bleicher als zuvor. Dann stolperte sie über den Koffer und schlug auf dem Boden auf.

Sämtliche Luft entwich ihren Lungen und wohl zum ersten Mal in ihrem Leben verstummte sie.

Als Signa begriff, was passiert war, kam jede Hilfe zu spät. Tante Magda starrte mit glasigem Blick an die Decke. Der Tod beugte sich über sie.

»So kann man jemanden auch zum Schweigen bringen«, sagte der Tod leichthin, als wäre alles nur ein Scherz.

Signa schnappte im Schock nach Luft. »Was hast du getan?«

Da erst begriff der Tod, dass sie Angst hatte, und richtete sich auf. »Was ich getan habe? Da täuschst du dich leider, Vögelchen.« Er sprach langsam und überdeutlich wie mit einem Kind. »Atme einmal tief durch und hör mir gut zu. Wir haben nicht viel Zeit –«

Signa hörte nicht hin, schaute bloß auf ihre Hände, die so blassblau und durchscheinend waren wie die eines Geistes. Mit einem tiefen Seufzer verbarg sie die Hände hinter ihrem Rücken. »Halt dich fern von mir!«, flehte sie ihn an. »Bitte, halt dich einfach fern.«

Als der Tod ihr antwortete, lag eine Schärfe in seiner Stimme. Am Auenbach zog ein Gewitter auf. »Als wenn ich das nicht versuchen würde.« Er wandte sich von ihr ab, griff nach der Leiche ihrer Tante und löste ihre Seele vom Körper.

Magda warf erst einen Blick auf Signa und dann auf den Tod. Ihre Augen wurden riesengroß, als sie erkannte, was geschehen war. »Du elende Hexe!«

Signa hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie war wie gelähmt und konnte nur noch auf ihre zitternden Hände stieren. Hände, die sie verraten hatten. Hände, die ein Leben ausgelöscht hatten.

»Was habe ich nur getan?«, flüsterte sie und krümmte sich. Was habe ich getan, was habe ich getan, was habe ich getan? Schließlich schwante ihr, was das für sie bedeutete. »Was mache ich jetzt bloß?«

»Erst einmal atmest du tief durch.« Der Tod hatte eine wesentlich beruhigendere Wirkung auf sie als Magda, die fassungslos ihren durchscheinenden Körper betrachtete. »Ich versichere dir, dass ich damit nicht gerechnet habe.«

»Das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Das ist alles deine Schuld!« Signa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, und so stieß sie einen Laut aus, der eine Mischung aus beidem war.

Als sich die Dunkelheit im Zimmer ausbreitete, wurden die Schatten des Todes gleich dreimal so groß. »Du hast mich gerufen. Ich habe nichts getan, außer dem Ruf zu folgen. Ich bin doch nicht dein Feind.«

An dieser Stelle musste Signa nun doch lachen. »Nicht mein Feind? Du überschattest mein Leben wie eine dunkle Wolke. Deinetwegen muss ich meine Tage an Orten wie diesem mit Menschen wie Magda verbringen. Umgeben von Geistern! Du bist der Grund, warum es mir schlecht geht. Und sieh an, was du jetzt schon wieder angerichtet hast.« Ihr Blick fiel auf die Tote vor ihr. Signa vergrub den Kopf in ihren durchscheinenden Händen und weinte. »Du hast mich verflucht. Jetzt will mich keiner mehr heiraten!«

»Heiraten?« Der Tod starrte sie ungläubig an. »Deshalb weinst du?«

Daraufhin vergrub sie den Kopf in ihren Händen und weinte umso bitterlicher.

Hätte Signa hingesehen, wäre ihr aufgefallen, dass seine Schatten verblassten. Dass der Tod sich nach ihr ausstreckte, sich aber schnell wieder zurückzog, bevor sie ihn abweisen konnte. Und dass sich seine Schatten auf Magdas Mund legten, damit sie keine Grausamkeiten mehr von sich geben konnte.

»Ich wollte das nicht.« Er klang aufrichtig. »Uns bleibt nicht viel Zeit, und egal, was ich jetzt sage, du hörst ja doch nicht zu. Aber ich bin nicht dein Feind. In zwei Tagen werde ich es dir beweisen. Versprich mir, dass du solange hier wartest.«

Signa versprach nichts dergleichen. Aber wohin sollte sie auch gehen? Jedenfalls schaute sie erst auf, als der Tod verschwunden war und die Wärme Einzug in den Dachboden gehalten hatte. Endlich spürte sie Finger und Zehen wieder und ihre Haut hatte eine normale Farbe angenommen. Auch die Wirkung des Giftes war verflogen, sodass nur noch ein pochender Kopfschmerz und Magdas wutschäumender Geist an den Besuch des Todes erinnerten.

Mit verheulten Augen sah sie ihre Tante an, die finster dreinblickte. »Ich habe ja immer gewusst, dass du den Teufel im Leib hast.«

Widerspruchslos sank Signa zu Boden und gab sich ihrem Elend hin.

Später stand Signa vor der schiefen Haustür und schlang die Arme um sich, während sie wartete, bis der Gerichtsmediziner die Leiche ihrer Tante untersucht hatte. Dieser beeilte sich, nicht weil er sich vor der Leiche gruselte, sondern vor Signa mit ihren rabenschwarzen Haaren und den seltsam verschiedenfarbigen Augen. Dazu noch die Nachbarn, die sich versammelt hatten und das Geschehen mit vielsagenden Blicken aus der Ferne beobachteten.

»Du hast es nicht gewollt«, sagte sich Signa immer wieder, während sie sich gegen die Blicke der Schaulustigen abschirmte. »Vielleicht hast du mal daran gedacht, aber den Gedanken nicht in die Tat umgesetzt. Du bist ein guter Mensch. Und wenn die anderen dich erst kennen würden, würden sie dich auch mögen. Das ist nicht deine Schuld.«

Seine Schuld. Seine Schuld. Seine Schuld. Das war ihr neues Mantra.

Signa hasste den Tod noch mehr als zuvor. Hasste, was er aus ihr gemacht hatte. Wobei … sie es nicht unbedingt bedauerte, dass ihre Tante von ihr gegangen war. Oder zumindest fast gegangen war.

»Siehst du etwa tatenlos zu, wie sie mich hier mitnehmen?« Selbst noch im Tod war Tante Magda unausstehlich. »Mich einfach in einen Sack stopfen? Du bist mir was schuldig. Tu doch was, du kleine Hexe, ich weiß, dass du mich sehen kannst!«

»Leider kann ich dich auch hören«, knurrte Signa. Ihr wurde erst klar, dass sie es laut gesagt hatte, als die Männer, die ihre Tante im Leichensack hinten in die schwarze Kutsche hievten, überrascht aufschauten. Was sollte sie tun? Verunsichert sah sie zwischen ihnen und dem Geist ihrer Tante hin und her, bis es den Männern unbehaglich wurde. Der Arzt stammelte noch sein Beileid und dass er sich in Kürze melden würde.

Derweil hielten die Nachbarn ihr Kreuz am Hals fest umklammert. Hatten sie doch schon immer gewusst, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte. Jedem, der es hören wollte, erzählten sie, dass Signa ein fauler Apfel sei und Magda es hätte besser wissen müssen, als sich den Teufel ins Haus zu holen. Unter die Nachbarn hatte sich sogar ein Geist in einem weißen Gewand gemischt, der sich unablässig bekreuzigte und Signa hohläugig anstarrte.

Signa tat ungerührt, auch wenn ihr das Gerede zusetzte und sie alles dafür gegeben hätte, wenigstens einen Menschen zu haben, dem sie sich anvertrauen konnte. Aber die Leute fürchteten sie zu Recht. Sie hatte sich die Kräfte des Teufels zu eigen gemacht.

Nun musste sie bloß noch herausfinden, wie es geschehen war.

Ihre Haut begann zu kribbeln, als sie sich zurückzog. Hoffentlich bemerkten weder die Nachbarn noch ihre Tante, deren Geist ein großes Gezeter anstimmte, als der Gerichtsmediziner mit ihrer Leiche davonfuhr, dass sie sich in den Garten stahl.

Garten war in diesem Fall eine großzügige Auslegung. Im Laufe der Jahre hatten sich hinter dem Haus Unkraut und Wildblumen breitgemacht, über die Magda ständig geschimpft hatte. Signa hingegen hatte Stunden hier verbracht und sich, so gut es ihr ohne Gerätschaften wie Schere und Schaufel möglich war, um alles gekümmert. Wenn sie etwas aus ihrer Zeit bei Magda vermissen würde, dann den Garten.

Sie bahnte sich einen Weg zur Weide, schob die überhängenden Äste beiseite und lehnte sich gegen den Stamm. Doch sie war nicht allein.

Im Klee lag ein Nestling. Er war frisch geschlüpft, sodass die Augen noch geschlossen waren und die Haut rosig und nackt.

Sie beugte sich zu dem armen Wesen hinunter, das verdreckt und von Ameisen bedeckt war, die es bei lebendigem Leib verzehren wollten. Die Insekten waren eine richtige Heimsuchung, verfolgten unbarmherzig ihr Ziel. Signa hatte Mitleid mit dem Vögelchen, das ihr Schicksal teilte: aus dem Nest gestoßen und nun sollte es sich allein durchschlagen. Allerdings war es nicht so widerstandsfähig wie sie, es konnte dem Tod nicht entfliehen. Für das Tier wäre es ein Segen, wenn es schnell stürbe und ihm ein langes Leid erspart bliebe.

Tante Magdas Tod war ein Unfall gewesen. Doch wenn sie jetzt ein Leben mit Absicht beendete, was wäre sie dann?

Dieser Frage würde sie sich stellen müssen, bevor sie wieder Gefahr lief, jemanden zu verletzten. Fürs Erste schob sie den Gedanken beiseite.

Zögerlich zog sie sich die Handschuhe aus und strich dem Nestling über den Rücken, streifte Ameisen und Dreck ab. Signa hielt den Atem an, als sie auf seinen Tod wartete. Überraschenderweise schlug sein Herz weiter und der kleine Vogel wand sich auf der Erde.

Wieder presste sie einen Finger auf seinen Körper, diesmal länger. Als sie die Hand wegnahm, atmete er noch immer.

Erleichtert lehnte sie sich gegen die Weide, ihr standen die Tränen in den Augen. Ihre Berührung war nicht todbringend. Es sei denn … es sei denn, es war komplizierter.

Ihr fielen die Belladonna-Beeren in ihrer Tasche ein. Mit zitternder Hand nahm sie fünf heraus und vergewisserte sich, dass sie im Schutz der Weide vor neugierigen Blicken gut verborgen war. Dann nahm sie die Beeren in den Mund und ließ sie auf der Zunge zergehen. Die Wirkung trat rasch ein: Übelkeit, verschwommene Sicht – und der Tod. Obwohl sie wusste, dass er kommen würde, schenkte sie ihm keine Aufmerksamkeit, war froh, dass er Abstand hielt. Nochmals strich sie dem Vogel mit dem Finger über den Rücken, diesmal blieb sein Herzchen stehen und er tat einen letzten Atemzug.

Signa zog die Hand zurück und griff sich an die Brust. Nun konnte sie es nicht länger leugnen: Ihre Berührung konnte den Tod bringen. Doch trat er offenbar nur ein, wenn der Schnitter bei ihr war. Nur wenn sie sich in diesem seltsamen Raum zwischen Leben und Tod befand.

Obwohl sie tausend Fragen hatte, würdigte sie den Tod keines Blickes, als sie sich aufrappelte und zum Haus stolperte. Den toten Nestling überließ sie den Ameisen.

Signa war froh, dass er nicht länger leiden musste. Froh, dass, wenn sie schon ein Monster war, sie dem Vögelchen wenigstens Barmherzigkeit hatte erweisen können.

Kapitel3

Zwei Tage später traf eine glänzende elfenbeinfarbene Kutsche ein.

Das Bellen der Nachbarhunde kündigte ihre Ankunft an, und als Signa aus dem Küchenfenster blickte, um zu sehen, was los war, schnürte sich ihr die Brust zusammen. Seit dem Tod ihrer Tante hatte sie praktisch im Garten gelebt, hatte sich von allen Pflanzen verabschiedet, hatte gewartet und den tobenden Geist im Haus ignoriert. Tante Magda war selbst über den Tod hinaus noch grässlich. Wenn sie nicht gerade Signa beschimpfte oder die Nachbarn bespitzelte, zerrte sie an den Gardinen oder heulte ihre Wut hinaus.

Am Vortag hatte Signa einen Brief mit einem roten Siegel erhalten, unterschrieben von einem gewissen Mr. Elijah Hawthorne, der sie zu sich nach Thorn Grove einlud. Sie staunte nicht schlecht, denn Mr. Hawthorne war der Mann von Magdas Nichte Lillian. Tante Magda hatte sich immer über die stolze Frau beschwert, die zur feinen Gesellschaft gehörte und ihr die finanzielle Unterstützung von einem Tag auf den anderen gestrichen hatte.

Bis zum Sonnenaufgang hatte Signa auf den Brief gestarrt und sich gefragt, ob sie sich vielleicht alles nur einbildete. Sicher hatte der Tod seine Hände im Spiel, und sie überlegte, das Angebot auszuschlagen, doch so dumm war sie dann doch nicht. Thorn Grove war noch die beste Alternative. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als ihre Teetasse wegzustellen und mit dem Brief in der Hand nach draußen zu eilen.

Die Kutsche rumpelte tapfer über das feuchte Moos und die dicken Efeuwurzeln, die zwischen den Pflastersteinen hervorquollen. Die beiden Rappen, die die Kutsche zogen, hatten vor Schweiß glänzendes Fell und aus den Nüstern der gesunden, kräftigen Tiere dampfte es. Wenn Signa an ihre eigenen dürren Beine und knochigen Gelenke dachte, beschlich sie der Neid auf die Pferde, die sicher mehr zu futtern bekamen als sie. Schnaubend kamen die massigen Hengste vor ihr zum Stehen und ein älterer Kutscher rutschte vom Bock. Ein blasser, hochgewachsener und spindeldünner Mann.

»Morgen, Miss.« Er tippte sich an den Hut und öffnete die Kutschtür. »Sind Sie das Mädchen, das ich abholen soll?«

»Das bin ich wohl.« Signa zitterte wie ein Kolibri. Es war tatsächlich jemand gekommen, um sie zu holen. Um sie der besseren Gesellschaft zuzuführen. Endlich würde sie schöne Kleider tragen und sich mit anderen Damen zum Tee treffen. Wie hatte sie sich danach gesehnt! Es war zu schön, um wahr zu sein. Nervös blickte sie sich zu den Schatten im Garten um, als würde der Tod jeden Moment auftauchen und ihr lachend verkünden, dass alles bloß ein Scherz sei.

»Ich habe Anweisung, Sie unverzüglich nach Thorn Grove zu bringen«, sagte der Kutscher. »Wir haben eine ziemliche Reise vor uns. Haben Sie noch irgendwelche Habseligkeiten?«

»Ja, einen großen Koffer. Er ist im Haus. Ich hole ihn.«

Der Kutscher winkte mit einem breiten Grinsen ab. Signa wusste nicht, wann sie zuletzt in ein solch ehrliches Gesicht geschaut hatte. »Unsinn, Miss. Is’ mir ’ne Freude.« Derartige Höflichkeiten war sie überhaupt nicht gewohnt, deshalb nickte sie bloß. Als der Mann zum Haus lief, überlegte sie, ob sie bereits in die Kutsche einsteigen sollte.

Die Antwort wurde ihr abgenommen, als auf einmal ein Husten ertönte. Offenbar war der Kutscher nicht allein gekommen. Ein junger Mann, Anfang zwanzig, tauchte aus der Kutsche auf. Er war gut gekleidet, trug einen tiefschwarzen Gehrock und dazu passende schwarze Lederstiefel. Hochgewachsen wie eine Weide und breit wie eine Eiche, mit rußschwarzem Haar, das sich hinter den Ohren kräuselte. Die Haut war sonnengebräunt mit ein paar zarten Sommersprossen, seine Augen erinnerten an Rauch: ein blasses Grau mit einem Ring aus Kohle um die Iris. Schräg durch die linke Augenbraue verlief eine kleine Narbe.

»Jetzt sieh sich doch nur einer die Goldverzierungen an! Natürlich muss meine Nichte mit ihrem Reichtum protzen. Nicht dass das verdammte Gör mir je geholfen hätte. Sie ist ein einfältiges, dummes Ding wie du!« Magdas Worte trieften nur so vor Bitterkeit, während sie den jungen Mann umkreiste, doch zum ersten Mal kümmerte es Signa nicht.

Zwei Dinge wusste sie über Geister: Erstens konnte Magda nur den Ort heimsuchen, an dem sie gestorben war, und zweitens würde sie diese Welt zwangsweise verlassen müssen, wenn ihr Leichnam eingeäschert werden würde.

So entspannte Signa sich, denn Regel Nummer eins bedeutete, dass sie ihre verhasste Tante niemals wiedersehen müsste.

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Signa räusperte sich und gab sich Mühe, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie versuchte sogar einen tiefen Knicks in ihrem schweren schwarzen Kleid aus Bombasin und dem mit Federn besetzten Schleier, der schrecklich kratzte und dennoch der einzige Schmuck war, den sie in letzter Zeit trug.

Der junge Mann erwiderte ihre Höflichkeiten nicht. Abschätzig schaute er zu der maroden Veranda und dem verwilderten Garten, wo das Unkraut so wucherte, dass man kaum hindurchkam. »Ich bin Sylas Thorly und soll im Auftrag von Mr. Elijah Hawthorne eine gewisse Miss Farrow nach Thorn Grove begleiten.« Seine Stimme klang, als würde ein Gewitter aufziehen, tief und grollend. »Ich nehme an, das sind Sie.«

»Ja, bin ich.« Da Signa mit einem Hawthorne gerechnet hatte, weckte sein Name ihr Interesse.

»Wunderbar«, sagte er gedehnt und schien sich mehr für seine dunklen Lederhandschuhe zu interessieren, die ihm wie eine zweite Haut passten und die er immer wieder glatt strich, als für Signa. »Dann lassen Sie uns einsteigen. Wie Albert schon gesagt hat, wir haben eine lange Reise vor uns.«

»Wenn Sie sich ausruhen wollen, könnte ich einen Tee machen –«

Geistesabwesend rückte Sylas sich sein Halstuch zurecht. »Mir wäre es lieb, wenn wir uns nicht länger als nötig an dieser Hütte aufhielten.«

Signa biss die Zähne zusammen, ließ sich aber nicht beirren. »Was ist mit den Pferden? Brauchen die vielleicht Wasser?«

Sylas legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den Himmel. Als er tief durchatmete, hatte Signa das Gefühl, er suche in den Wolken nach seiner ihm abhandengekommenen Geduld. »Das ist zu gütig, aber die Pferde haben mir anvertraut, dass sie sich auch lieber sofort auf den Weg machen wollen, bevor sie sich hier noch irgendwelche Bazillen einfangen. Kommen Sie, Miss Farrow.« Sylas streckte die Hand aus, um ihr beim Einsteigen zu helfen.

Die Kutsche war klein und Signa presste sich in eine Ecke, um nicht versehentlich gegen Sylas’ Knie zu stoßen, die er viel zu entspannt spreizte. Kurz nachdem ihr Koffer eingeladen worden war und Albert wieder auf dem Kutschbock Platz genommen hatte, knallten die Zügel und die Pferde trabten an.

Für einen Moment schaute Sylas ihr in die Augen, bevor er eine Zeitung hervorholte und sich darin vertiefte. Unsicher, was nun von ihr erwartet wurde, sah sie sich ebenfalls nach etwas zu lesen um, fand aber nichts. »Sie gehören also nicht zur Familie?«, fragte Signa, die das Gefühl hatte, in der Gesellschaft eines Herrn doch etwas sagen zu müssen. Im Leitfaden für junge Damen, den ihr ihre Mutter hinterlassen hatte, hieß es, der Anstand würde verletzt, wenn eine unverheiratete Frau mit einem Mann allein war. Andererseits bestand wohl angesichts einer solch prächtigen Kutsche und auch nach allem, was sie gehört hatte, kein Zweifel, dass die Hawthornes reich waren und zur besseren Gesellschaft gehörten, so gesehen also eine durchaus ehrenwerte Familie waren. Vielleicht war der Leitfaden aus der Mode gekommen? »Konnte Mr. Hawthorne nicht selbst kommen? Oder Lillian?«

Sylas stöhnte leise und streckte seine langen Beine aus, so gut es eben ging. Er war überhaupt viel zu groß für die Kutsche und musste gekrümmt sitzen, wie eine Krähe auf einem Ast. »Lillian ist tot und Mr. Hawthornes Tochter Blythe ist krank. Nein, von denen konnte keiner kommen.«

Signa erstarrte. Auch auf Thorn Grove war ihr der Tod zuvorgekommen.

»Tut mir leid, dass niemand da war, um Sie zu verabschieden«, murmelte Sylas, dem die leichte Konversation wohl ebenso wenig lag wie ihr.

»Das macht mir nichts, ich bin es gewohnt, alleine für mich zu sorgen.« Außerdem wäre es ja bloß Tante Magda gewesen, und auf die konnte Signa gut und gerne verzichten. Jede Seele, die weiter auf der Erde wandelte, war durch intensive Gefühle ans Diesseits gebunden, meist Wut oder Trauer. Sie hatte weinende Frauen an Fenstern gesehen und Geister, die in einem erzürnten Zwiegespräch mit sich selbst gefangen waren. So kannte Signa ihre Gewohnheiten und wusste, wie man sie mied.

In ihrem Leben hatte sie bislang nur zwei Geister gekannt, die sich schließlich doch verabschiedet hatten. Die meisten würden noch Jahre auf der Erde verweilen wie ihre tobende Tante, die noch gegen die Kutschentür geschlagen und gebrüllt hatte: »Wage es ja nicht, mich zu verlassen, du Hexe! Wehe, ich warne dich!«

Doch sie verließen sie, über Straßen mit Kopfsteinpflaster, in denen es nach Zimt und reifen Herbstäpfeln duftete. Sobald sie aus Magdas Reichweite waren, seufzte Signa zufrieden und lauschte nur dem gelegentlichen Rascheln der Zeitung, wenn Sylas umblätterte.

»Sie scheinen ja froh zu sein, da wegzukommen«, bemerkte Sylas, weiter in die Zeitung vertieft.

Ohne zu überlegen, brummte sie zustimmend. »Überall ist es besser als bei meiner Tante.« Entspannt lehnte sie den Kopf an die Scheibe.

Ihr entging, dass Sylas’ Finger nun still auf der Zeitung ruhten. Dass ein Schatten über sein Gesicht huschte und er entschlossen das Kinn vorschob, bevor er sich wieder seiner Lektüre widmete.

Hätte Signa es bemerkt, hätte sie vielleicht ein wenig länger über Thorn Grove nachgedacht und über das, was sie dort wohl erwartete.

Kapitel4

Signa hatte nicht damit gerechnet, dass sie nach Thorn Grove den Zug nehmen mussten. Vor dem Rauch der Lokomotiven hatte sie die Fenster der Kutsche geschlossen, in der Annahme, sie würden den Bahnhof bald hinter sich lassen. Doch die Kutsche hielt an und Sylas drückte ihr ein gelbes Billett in die Hand. Signa war noch nie mit dem Zug gefahren, hatte bloß in der Zeitung darüber gelesen: eine ganz neue Art des Reisens, schnell und luxuriös. Erst nachdem Sylas sich mehrfach geräuspert hatte, erwachte sie aus ihrer Starre und stieg aus. Kaum hatten ihre Stiefeletten den Boden berührt, tauchte sie in eine fremde Welt ein.

Der Bahnhof war ein massiger, schiefergrauer Bau, über dessen Eingang eine beeindruckend große Uhr prangte. Als sie zur vollen Stunde schlug, hallte es im gesamten Bahnhof wider.

Der Boden der Halle war abgenutzt und fleckig. Fliegen umkreisten übervolle Abfallbehälter und in der Luft hing der durchdringende Geruch der eilenden Menschenmassen. Einen Geist gab es auch. Ein Mann in einem zerschlissenen schwarzen Mantel saß auf einer Bank und warf den Vorübergehenden düstere Blicke zu. Signa machte einen weiten Bogen um ihn.

Trotz des Schmutzes entbehrte der Bahnhof nicht einer gewissen Pracht. Elegant gekleidete Herren mit luxuriösen Gehstöcken und Damen in Sommerkleidern mit Häubchen hasteten umher, alle schienen ein Ziel zu haben. Ein paar Reisende ließen sich auf den Bänken nieder, die sich auf den Bahnsteigen befanden, blätterten durch Zeitungen oder pafften Zigarren. Andere eilten mit ihrem Gepäck durch den Bahnhof und warfen Blicke hoch zur Bahnhofsuhr, die über allem zu herrschen schien.

Ein älterer Herr ging mit geschwellter Brust in Begleitung einer strahlenden Dame, die unablässig auf den Ring an ihrem Finger schaute. In ihrer Einsamkeit hatte Signa sich angewöhnt, sich Geschichten über Fremde auszudenken. In diesem Fall stellte sie sich vor, dass das Paar frisch verheiratet war und seine Hochzeitsreise antrat. Sie malte sich all die schönen Kleider in der Reisetruhe der Braut aus, aus leichtem Stoff, sodass sie die Salzluft auf der Haut spüren würde, denn sie und ihr Angetrauter würden an die See reisen. In Signa erwachte eine Sehnsucht, die so brannte, dass sie sich von dem Paar abwenden musste. Wie wäre es wohl, solch eine Frau zu sein und mit einem gut aussehenden Mann und einem glücklichen Dauerlächeln auf den Lippen durch die Lande zu reisen?

Neben ihr murmelte Sylas irgendetwas. Signa gab vor zuzuhören und nickte, war aber in ihre Tagträume versunken. Noch nie hatte sie ein Meer aus so vielen Menschen gesehen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich einen Weg an ihnen vorbei zu bahnen, während sie hinter Sylas und einem hilfsbereiten jungen Stationsbeamten herlief, der einen Blick auf ihren Fahrschein geworfen und ihr sofort den Koffer abgenommen hatte. Ihr Schrankkoffer war groß und schwer, dennoch bot Sylas dem Jungen keine Hilfe an. Fast schien es ihr, als würde er ihn mit Absicht ignorieren.

»Sie haben ein Abteil für sich allein, Miss«, keuchte der Junge, der vom Kampf mit dem Koffer schon ganz atemlos war. »Das schönste im gesamten Zug.«

Signa war ein dermaßen geschäftiges Treiben nicht gewohnt, das ihr unüberschaubar vorkam. Einmal in die falsche Richtung gelaufen, und schon wäre sie verloren. Obwohl Sylas die ganze Zeit über ein Gesicht machte, als hätte er in eine ranzige Torte gebissen, war sie froh, ihn dabeizuhaben. »Sind Sie schon oft gereist?«

Die Antwort kam von dem jungen Stationsbeamten neben ihr. »Nicht sehr oft, Miss. Würd ich gerne, wenn ich’s mit den Schichten vereinbaren könnte. Aber ’s gibt immer was zu tun.«

Als sie sich zu Sylas umdrehte, war er nicht mehr da. Vor Schreck hielt sie die Luft an und blickte sich um, bis sie ihn in der Menge entdeckte. Weiter vorne am Gleis stieg er gerade in den Zug ein.

Panisch wandte sie sich dem Jungen zu und streckte die Hände nach ihrem Koffer aus. »Geben Sie her. Ich trage ihn das restliche Stück.«

Der Stationsbeamte zuckte und umklammerte den Koffer noch fester. »Nicht nötig. Der ist viel zu schwer für eine Dame –«

Für lange Erklärungen blieb keine Zeit, deshalb entriss sie ihm den Koffer kurz entschlossen. Er war aus Mahagoniholz mit Schlössern aus Eisen und wirklich furchtbar schwer. Bestimmt nicht dafür gemacht, von einer jungen Frau in hohen Absätzen und Trauerkleidung getragen zu werden, aber irgendwie schaffte sie es. Die Angst, von der einzigen Person getrennt zu werden, die wusste, wohin die Reise führte, und die ihr helfen konnte, wenn sie verloren ging, schnürte ihr die Luft ab, was viel schlimmer war als das Gewicht des Koffers.

»Vielen Dank für Ihre Mühe, aber jetzt komme ich alleine zurecht«, sagte sie noch zu dem jungen Mann, bevor sie Sylas mit langen Schritten und zitternden Armen hinterhereilte. Einige Leute boten ihre Hilfe an, doch der Schaffner drängte schon zum Einsteigen, deshalb setzte Signa lediglich alles daran, sich und ihre Habseligkeiten in den richtigen Zug zu bugsieren und nicht von diesem teuflischen Sylas Thorly getrennt zu werden. Als sie es endlich in den Waggon geschafft hatte, war sie schweißgebadet und schnaufte so schwer, dass keiner sie anzusehen wagte.

Doch trotz aller Strapazen kam Signa nicht umhin, die Ausstattung des Zuges zu bewundern. Alles war viel edler, als sie es sich vorgestellt hatte: gusseiserne Handläufe und massive Holztische mit roten Lederbänken zu beiden Seiten. Ihr Billett war allerdings für ein Privatabteil ausgestellt, in dem Sylas bereits auf einem mit edlem kastanienbraunem Samt bezogenen Sitz lümmelte und die Stiefel auf das gegenüberliegende Polster gelegt hatte. Bei ihrem Anblick rümpfte er die Nase.

»Mein Gott. Ich hatte ja keine Ahnung, dass eine Frau so stark schwitzen kann.«

Wenn Signa wirklich eine Hexe gewesen wäre, hätte sie ihn in diesem Moment wohl gevierteilt. »Ich würde nicht so schwitzen, wenn Sie nicht einfach ohne mich davongerannt wären, Sir.«

Daraufhin gab er ein verächtliches Grunzen von sich. »War ja klar, dass Sie mir nicht zugehört haben. Hätten Sie sich nicht so leicht ablenken lassen, hätten Sie gehört, dass ich sagte, ich würde vorgehen, um sicherzustellen, dass das Abteil in Ordnung ist.«

Signa biss sich auf die Zunge. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass er tatsächlich etwas zu ihr gesagt hatte, was sie nicht verstanden und woraufhin sie bloß genickt hatte. Aber er hätte auch wirklich lauter sprechen sollen.

Wortlos machte sie sich daran, ihren Koffer im Gepäckfach über den Sitzen zu verstauen. Ihre Arme zitterten, als sie den schweren Koffer über den Kopf zu stemmen versuchte. So froh sie auch war, einen Vorwand zu haben, Sylas den Rücken zudrehen zu können, entpuppte es sich als hoffnungsloses Unterfangen. Ihre Arme brannten, doch sie gab nicht auf, probierte es immer wieder, bis ihr die Muskeln den Dienst versagten.

Signa taumelte zurück. Wahrscheinlich würde gleich wieder der Tod auf der Matte stehen, wenn sie der Koffer erschlug. Doch da war Sylas schon auf den Beinen und stützte sie von hinten. Als er sich mit der Brust gegen ihren Rücken presste, wurde sie flammend rot. Noch nie war ein Mann ihr so nah gekommen.

Sylas schien ihre Bestürzung nicht zu teilen. Und während sie in Gedanken noch bei seiner muskulösen Brust verweilte, hatte er sich längst ihren Koffer geschnappt und ihn ins Gepäckfach verfrachtet. »Warum mühen Sie sich nur damit ab?«, fragte er. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte er Ihnen auf den Kopf fallen können. Was hätten Sie dann getan?«

»Dann wäre ich jetzt wohl kopflos«, erwiderte sie ungehalten. »Und ich hätte ihn ja auch nicht tragen müssen, wenn ich Ihnen nicht hätte hinterherhetzen müssen. Ich dachte, Sie lassen mich im Stich.«

Sylas ließ sich mit einem Schnauben zurück auf seinen Sitz fallen und nahm dabei mal wieder ungebührlich viel Platz in Anspruch. »Sie hätten mich vor Ihrem Schneckentempo warnen sollen, dann hätte ich sie vielleicht getragen.«

Signa nahm ihm gegenüber Platz. Mit seiner unausstehlichen Art stellte er ihre Geduld auf eine harte Probe. Sie presste die Knie zusammen, damit sie nicht versehentlich seine berührte, und warf ihm ein schmallippiges Lächeln zu. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich richtig hinzusetzen, Mr. Thorly?«

Sylas sah an sich herunter. »Sitze ich irgendwie falsch?«

Oh Gott, dieser Mann verlangte ihr einiges ab. Mit der Spitze ihres grauen Stiefels tippte sie ihm nacheinander gegen die viel zu weit gespreizten Knie. »Sie sitzen, als wären Sie allein im Abteil.«

Seinem Gesichtsausdruck zufolge wusste er ganz genau, was sie meinte, doch weder entschuldigte er sich, noch setzte er sich aufrechter hin. Sylas lachte bloß und schloss die Augen, als wollte er ein Schläfchen halten. »Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund.«

Sie hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, höflich zu sein, doch dieser Mann brachte sie an ihre Grenzen. Seine Arroganz und die verächtlichen Blicke, mit denen er sie bedachte, als wäre sie eine Landplage, ließen ihre guten Vorsätze ins Wanken geraten und sie harsche Worte wählen. Kurz entschlossen zog sie sich ihr Kleid bis zu den Knien hoch, damit sie so breitbeinig wie Sylas sitzen konnte. »Offenbar stehen meine Manieren Ihren in nichts nach. Von einem Mann in Ihrer Position hätte ich allerdings ein wenig mehr Höflichkeit erwartet.«

»Und welche Position soll das bitte sein, Miss Farrow?«

»Die Position eines Mannes, der eine Dame begleitet.«