Belle Morte – Rot wie Verlangen - Bella Higgin - E-Book

Belle Morte – Rot wie Verlangen E-Book

Bella Higgin

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Beschreibung

Eine drohende Gefahr, ein ungleiches Duo und ein Verlangen, das heller brennt als Feuer

Der Kampf um Belle Morte ist überstanden, doch die Gefahr ist noch nicht gebannt. Die feindlichen Vampire treiben sich noch immer in der Stadt herum und wenn sie nicht bald zur Rechenschaft gezogen werden, droht eine Revolte der Menschen gegen alle Vampire.
Ludovic de Vauban kann sich jetzt nicht mehr länger hinter den Mauern von Belle Morte verstecken. Allein wäre er aufgeschmissen, doch zum Glück steht ihm Roux Hayes zur Seite. Mit ihrer direkten Art und Gerissenheit ist sie das absolute Gegenteil von ihm – nur gemeinsam haben sie eine Chance, die Vampire von Belle Morte zu retten und dabei entflammt zwischen ihnen ein Verlangen, mit dem niemand gerechnet hätte.

Opulent, atemraubend, sexy: Band 3 der unwiderstehlichen Vampir-Romantasy-Reihe und Wattpad-Sensation.

Alle Bände der »Belle Morte«–Reihe:
Belle Morte – Rot wie Blut (Band 1)
Belle Morte – Rot wie Liebe (Band 2)
Belle Morte – Rot wie Verlangen (Band 3)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 583

Veröffentlichungsjahr: 2024

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BELLA HIGGIN

ROT WIE VERLANGEN

Aus dem amerikanischen Englisch

von Doris Attwood

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Dezember 2024

Copyright © 2024 by Bella Higgin

The author is represented by Wattpad.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024

unter dem Titel »Hunted« bei Wattpad, USA.

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood

Lektorat: Catherine Beck

Cover design: © Ysabel Enverga

Bildmotive: iStockphoto (ajuga, Ceri Breeze, retouchman)

Umschlaggestaltung: © Carolin Liepins

skn • Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32753-8V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Katze Sootica.

Als ich das letzte Buch schrieb, warst du an meiner Seite.

Das erste ohne dich veröffentlichte Buch.

Ich vermisse dich.

KAPITEL 1

Roux

Roux Hayes stand in der Tür zum Speisesaal und konnte einfach nicht fassen, wie still es in Belle Morte war. Noch vor wenigen Tagen hatten die dreißig Spenderinnen und Spender des Hauses hier gemeinsam gegessen und den riesigen Raum mit ihrem Lachen und dem Gemurmel ihrer Unterhaltungen erfüllt. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her.

»Glaubst du, irgendwann läuft alles wieder normal?«, fragte Renie hinter ihr und erschreckte Roux.

Renie hatte die geschmeidige, katzenhafte Anmut der älteren Vampirinnen und Vampire zwar noch nicht gemeistert, bewegte sich aber trotzdem deutlich leiser als noch als Mensch. Daran musste Roux sich erst noch gewöhnen.

»Entschuldige«, sagte ihre Freundin.

Roux nahm Renies Hand und drückte sie sanft.

Kaum eine Woche war vergangen, seit sie Belle Morte von Etienne und Jemima zurückerobert hatten, den beiden Vampiren, deren versuchter Coup beinahe das System zerstört hätte, das der Menschen- und Vampirwelt ein friedliches Zusammenleben ermöglichte. Allerdings hatten dabei mehrere Menschen – Sicherheitsleute, Angestellte und Spendende – ihr Leben verloren, und die vampirischen Überlebenden hatten keine Ahnung, welche Zukunft in der Menschenwelt sie nun erwartete.

»Was auch passiert, wir schaffen das«, sagte Roux.

Renie lächelte matt. »Du musst nicht hierbleiben.«

Belle Mortes Spenderinnen und Spender waren zu ihren Familien zurückgebracht worden, und obwohl in den anderen Häusern – Midnight, Lamia, Nox und Fiaigh – keine Spendenden zu Schaden gekommen waren, waren auch sie wieder nach Hause geschickt worden. Es arbeiteten keine Bediensteten mehr in der Villa, und nur eine Handvoll Sicherheitsleute patrouillierten noch in den Hallen und auf dem Gelände.

Die Vampirinnen und Vampire überlebten nur dank gespendeter Blutkonserven.

Roux rollte voller Zuneigung mit den Augen. »Als ob ich dich im Stich lassen würde.«

Eigentlich hätten Roux und Jason die Villa mit allen anderen verlassen sollen, aber sie betrachteten sich beide nicht mehr als gewöhnliche Spendende. Sie waren nun ein Teil von Belle Morte, und keiner von ihnen hatte die Absicht, fortzugehen.

Edmond Dantès schwebte praktisch zu ihnen, sein dunkles Haar über die Schultern wallend, die obersten Hemdknöpfe geöffnet. Etwas Weiches, Warmes blühte in Renies Augen auf, als sie den Vampir anschaute, in den sie sich verliebt hatte.

»Ist sonst noch niemand hier?«, fragte er.

Renie schüttelte den Kopf. »Noch nicht mal Ysanne.«

»Wir sind ein paar Minuten zu früh«, bemerkte Roux, als sie auf ihre Uhr schaute.

Sie trat in den Speisesaal und setzte sich in die Mitte des langen Tischs. Die Stille und Leere waren beinahe greifbar. Belle Morte war nur noch ein Schatten seines alten Selbst, und es tat Roux im Herzen weh.

Sie wollte glauben, dass sich die Villa wieder erholen würde, aber es bestand die reelle Chance, dass das Spendersystem und das Ansehen der Vampirinnen und Vampire in der Menschenwelt irreparabel beschädigt worden waren. Roux wollte gar nicht darüber nachdenken, was das für sie alle bedeuten konnte.

Renie und Edmond setzten sich händchenhaltend neben sie.

Sekunden später kam Jason in den Speisesaal und ließ sich auf den Stuhl auf Roux’ anderer Seite nieder. Sein blondes Haar war zu einer Frisur gestylt, die zufällig lässig aussah, für die er aber todsicher eine halbe Ewigkeit vor dem Spiegel zugebracht hatte.

»Je früher der Tag, desto schöner die Leute, was?«, scherzte er und zuckte zusammen, als seine Worte in dem riesigen Saal widerhallten.

»Hatte sonst nicht viel zu tun«, erwiderte Roux.

Weitere Vampirinnen und Vampire trudelten ein, aber niemand sagte etwas. Die Stille wurde immer schwerer. Jason richtete sich ein wenig auf, als Gideon Hartwright hereinkam, doch der blonde Vampir hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Roux war sich vollkommen sicher, bei der Schlacht um Belle Morte zwischen Jason und Gideon ein paar unverkennbare Funken bemerkt zu haben, doch seitdem wirkte Letzterer schrecklich in sich gekehrt.

Die anderen Vampirinnen und Vampire nahmen ebenfalls Platz, die restlichen Sicherheitsleute von Belle Morte zwischen ihnen. Seamus Kennedy, der Sicherheitschef von Fiaigh, ließ sich in der Nähe des Kopfendes nieder. Ludovic de Vauban setzte sich neben Edmond, und auch wenn seine Miene vollkommen ausdruckslos war – eine Kunst, die ältere Vampire perfekt beherrschten –, war Roux überrascht, einen Anflug echter Nervosität in seinen Augen flackern zu sehen. Sie kannte Ludovic zwar nicht besonders gut, hatte ihn jedoch kämpfen sehen, und wenn er wollte, glich der Mann einer wahren Naturgewalt. Im Moment wirkte er jedoch ungewohnt verletzlich.

Edmond lehnte sich zu seinem Freund und flüsterte ihm etwas zu. Ludovic nickte, aber seine Miene veränderte sich nicht.

Ysanne Moreau rauschte in den Raum, ihre hohen Absätze laut und beinahe schrill auf dem Boden klappernd. Ihr Haar ergoss sich wie ein blasses Tuch über ihren Rücken, nicht eine Strähne fehl am Platz, während sich das Etuikleid eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Sie sah wunderschön aus, majestätisch – die Königin war zurück. Doch Roux kannte nun die wahre Person hinter der eisigen Maske und konnte Ysanne daher nicht mehr als einschüchternd empfinden.

Der Lady von Belle Morte folgte ein Mann, den Roux noch nie zuvor gesehen hatte: groß und kantig, den Anzug zu straff über seinen Schultern gespannt, ließ er den finsteren Blick durch den Raum schweifen.

»Danke, dass ihr alle gekommen seid«, begann Ysanne, und Roux blinzelte überrascht. Normalerweise verteilte Ysanne Befehle und erwartete, dass man ihnen gehorchte, aber es fiel ihr definitiv nicht ein, sich bei irgendjemandem zu bedanken.

»Hinter uns allen liegen schwierige Zeiten, und ich fürchte, der Sturm hat sich noch nicht gelegt«, fuhr sie fort.

Sie setzte an weiterzusprechen, hielt dann jedoch inne und fixierte etwas am anderen Ende des Raumes. Roux blickte über ihre Schulter zurück.

Isabeau Aguillon stand in der Tür. Ihr Blick huschte durch den Saal und blieb kurz an jedem Gesicht hängen, bevor er wieder zu Ysanne zurückkehrte. Roux erkannte den winzigen Riss in Ysannes Marmorfassade, doch er war sofort wieder verschwunden.

»Wir freuen uns, dass du zu uns gefunden hast«, sagte Ysanne.

Isabeau ließ sich lautlos auf einen Stuhl am Ende des Tisches sinken.

»Der Stand der Dinge ist im Augenblick folgender«, fuhr Ysanne in ernstem Tonfall fort. »Die Gefangenen sind in den Zellen eingesperrt. Ich weiß, viele von euch sind nicht glücklich darüber, mit diesen verräterischen Individuen unter einem Dach leben zu müssen, aber für den Moment ist es das Beste, wenn sie in unserer Nähe sind, damit wir sie im Auge behalten können. Auch die Verräterinnen und Verräter in den anderen Häusern wurden enttarnt und eingesperrt. Darüber hinaus haben mehrere europäische Häuser versprochen, uns Unterstützung zu schicken, während wir hier weiter versuchen, die Scherben aufzusammeln.«

Ysanne schwieg für einen Moment. »Wie ihr alle wisst, hat Premierministerin McGellan die Öffentlichkeit vor zwei Tagen in einer Pressemitteilung über alles informiert, was sich hier ereignet hat, abgesehen von einem Detail. Während der finalen Schlacht um Belle Morte sind fünf der von Etienne verwandelten Vampirinnen und Vampire aus der Villa entkommen. Sie sind noch immer auf freiem Fuß und treiben sich irgendwo in Winchester herum. Die Premierministerin ist jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste ist, darüber Stillschweigen zu bewahren.«

»Warum?«, fragte Renie.

»Schadensbegrenzung. Nach allem, was passiert ist, sind die Menschen ohnehin bereits ziemlich durcheinander. Das Letzte, was wir wollen, ist, weitere Panik auszulösen, indem wir öffentlich machen, dass möglicherweise gefährliche, abtrünnige Vampire in der Stadt ihr Unwesen treiben«, antwortete Ysanne.

Ihre Stimme klang starr, so als würden sich die Worte in ihrem Mund irgendwie nicht richtig anfühlen. Roux vermutete, McGellan hatte Ysanne angewiesen, das zu sagen. Jenny McGellan, die momentan ihre zweite Amtszeit als Premierministerin absolvierte, stand in dem Ruf, stets genau das zu bekommen, was sie wollte. Sich von höherer Stelle etwas befehlen zu lassen, musste Ysanne jedoch ganz schön gegen den Strich gehen.

In Belle Morte war ihr Wort noch immer Gesetz, aber möglicherweise verfügte sie in der Welt dort draußen nicht mehr über dieselbe Macht.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, hakte Renie nach.

»Ganz ehrlich: Ich bin mir nicht sicher. Vor meinem Treffen mit McGellan hast du mir erklärt, wir sollten absolut aufrichtig zu den Menschen sein, und ich war ganz deiner Meinung«, erwiderte Ysanne. »Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Nachwehen dieser Katastrophe sich auf andere Häuser weltweit auswirken könnten. Die Menschen haben einen Blick auf unsere dunkle Seite erhascht, und das werden sie so schnell nicht vergessen. Wir wollen nicht schuld daran sein, dass sie das letzte bisschen Vertrauen, das sie womöglich noch in uns haben, auch noch verlieren, indem wir zugeben, dass wir die Situation nicht völlig unter Kontrolle haben.«

Ysanne schwieg erneut und blickte sich im Raum um. »Ich will ehrlich zu euch sein. Unsere Zukunft ist mehr als ungewiss. Ich weiß noch nicht, wo wir in der Menschenwelt stehen oder ob es dort überhaupt noch einen Platz für uns gibt.«

Der breitschultrige Mann, der ein Stück hinter Ysanne stand, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und gab ein tiefes, kehliges Brummen von sich, so als wollte er etwas sagen. Aber er schwieg.

»McGellan wird sich nicht auf weitere Diskussionen über unsere Zukunft einlassen, bis die fünf Flüchtigen gefasst sind«, fuhr Ysanne fort.

Sie winkte den Mann zu sich, und bevor er sich an ihre Seite stellte, warf er ihr einen finsteren Blick zu, den sie nicht sehen konnte.

»Das ist Detective Chief Inspector Ray Walsh. Dank einer Sondergenehmigung des Chief Constable der Polizei Hampshire werden Walsh und sein Team mit mir zusammenarbeiten, um die Flüchtigen aufzuspüren und einzufangen«, erklärte Ysanne.

Walshs Miene verfinsterte sich noch mehr, aber er sagte noch immer nichts.

»Und wie soll diese Zusammenarbeit aussehen?«, wollte Roux wissen. Der Mann hatte irgendetwas an sich, das ein ungutes Gefühl bei ihr auslöste.

Fast genau im selben Moment bemerkte Ludovic: »Er wird überhaupt niemanden einfangen.«

»Ach, wirklich? Und warum nicht?«, fragte Walsh. Seine Stimme klang ziemlich rau. Vielleicht war er starker Raucher.

»Weil Sie ein Mensch sind. Wir haben es hier jedoch mit einem vampirischen Problem zu tun, das nur auf vampirische Weise gelöst werden kann«, antwortete Ludovic.

Walsh lächelte finster. »Ich hatte nicht vor, ihnen Handschellen anzulegen. Wenn’s nach mir ginge, würde ich ihnen ein bis unter die Zähne bewaffnetes Sondereinsatzkommando auf den Hals schicken.«

»Das würde auch keinen Unterschied machen«, erwiderte Ludovic gelassen. »Jeder Mensch, der diese Vampirinnen und Vampire verfolgt, setzt sich einer unmittelbaren Gefahr aus, Waffen hin oder her. Unseresgleichen erholt sich auch von Schusswunden relativ schnell, aber ein verletzter Vampir ist ein gefährlicher Vampir. Wir haben es schon mit genügend wütenden, trauernden Menschen zu tun, die Gerechtigkeit für ihre ermordeten Freunde und Familienangehörigen fordern – wenn wir noch weitere Leben gefährden, werden wir nur umso mehr wie skrupellose Ungeheuer erscheinen.«

Es lag etwas Hoffnungsloses in der Art, wie Ludovic das letzte Wort aussprach, und Roux krampfte sich das Herz zusammen. Hatte Ludovic Angst, die Welt könnte sie nun als Ungeheuer betrachten? Oder hatte er Angst, dass sie tatsächlich Ungeheuer waren?

»Ludovic hat recht«, stimmte Ysanne ihm zu. »Auch verletzt werden diese Vampire immer noch verängstigt und hungrig sein, und das macht sie zu einer Bedrohung. Am besten nimmt es eine ältere, erfahrenere Vampirin mit ihnen auf.« Ihr frostblauer Blick huschte für einen flüchtigen Moment zu Isabeau. »Darum werde ich persönlich Jagd auf sie machen.«

Gemurmel breitete sich im Raum aus. Ysanne hatte zwar noch nie davor zurückgescheut, sich im Ernstfall die Hände schmutzig zu machen, aber sich direkt ins Getümmel zu stürzen, war normalerweise nicht ihr Stil.

»Das kannst du nicht tun«, sagte Renie.

Ysanne verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, wirkte jedoch eher neugierig als angriffslustig. »Und warum nicht?«

»Du hast so hart dafür gearbeitet, ein positives Verhältnis zwischen der Menschen- und der Vampirwelt zu erschaffen und aufrechtzuerhalten, und nachdem Etienne und Jemima die Sache für uns alle gründlich versaut haben, braucht dich dein Haus hier. An diesem Tisch sitzen genügend Leute, die sich um diese Abtrünnigen kümmern können, aber nur du kannst Belle Morte anführen.«

Ysanne presste die Lippen zusammen. Roux wusste genauso gut wie alle anderen, dass die Lady von Belle Morte gern alles unter Kontrolle hatte, deshalb würde es ihr sicher nicht leichtfallen, sich in dieser Sache im Hintergrund zu halten. Aber Renie hatte nicht ganz unrecht.

Stille breitete sich im Raum aus.

»Ich mache es«, meldete sich Ludovic freiwillig.

Ysanne warf ihm einen bohrenden Blick zu, die Lippen geschürzt. Walsh sagte nichts, sondern blickte nur weiter finster drein. Verfügte der Mann denn über keinen anderen Gesichtsausdruck?

»Bist du dir sicher, dass das klug wäre?«, fragte Edmond, und Ludovic bedachte ihn mit einem Blick, den Roux nicht deuten konnte.

Er nickte langsam, aber Edmond entspannte sich nicht.

»Dir ist schon klar, dass sich diese Vampire dort draußen in der Menschenwelt herumtreiben, weit außerhalb des Einflussgebiets dieses Hauses?«, fragte Ysanne.

»Ist es«, versicherte Ludovic ihr.

»Und du denkst trotzdem, du wärst der beste Mann für diesen Job?«

Ludovic setzte sich ein wenig gerader auf und hob das Kinn. Das Licht des Kronleuchters tanzte über seinen blonden Pferdeschwanz. »Ich hätte mich nicht erbötig gemacht, wenn ich nicht glauben würde, dass ich dazu in der Lage bin.«

Das mochte vielleicht sein, aber Roux hatte sich die Besorgnis in Edmonds Augen nicht nur eingebildet. Sie wusste nicht viel über Ludovic, aber seine Stärke und Geschwindigkeit legten den Verdacht nahe, dass er kein junger Vampir mehr war. Roux hatte immer angenommen, er wäre ungefähr in Edmonds Alter – irgendwas zwischen drei- und vierhundert Jahren –, und damit doch wohl alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Also warum wirkte Edmond so besorgt?

Plötzlich wurde Roux jedoch klar, dass Ludovic – genau wie die meisten Vampirinnen und Vampire – die letzten zehn Jahre abgeschottet in dieser Villa verbracht hatte. Außerdem hatte Renie ihr irgendwann mal erzählt, dass Ludovic moderne Technologien noch stärker mied als die meisten anderen seiner Art. Ganz gleich, wie stark und schnell und mutig er war, er verfügte über wenig bis keinerlei Erfahrung in der modernen Menschenwelt.

Und obwohl er um einiges stärker war als die frisch Verwandelten, wäre er dort draußen – im Gegensatz zu ihnen – definitiv nicht in seinem Element und damit in Gefahr.

»Du brauchst jemanden, der dich begleitet«, platzte Roux heraus.

Ysanne zog eine Augenbraue hoch. Ludovics Gesicht glich einer unlesbaren Maske.

»Wovon redest du denn da?«, fragte Jason und warf Roux einen eindeutig besorgten Blick zu.

»Ludovic kann das nicht allein tun«, beharrte Roux.

»Er ist ein großer Junge, ich bin mir sicher, er kommt schon klar.«

»Bestimmt«, versicherte Ludovic.

Roux drehte sich zu ihm um. »Wie gut kennst du dich in Winchester aus? Wie vertraut bist du mit der modernen Welt oder damit, wie sie sich verändert hat, seit Belle Morte gegründet wurde? Hast du irgendeine Ahnung, wie du dich Menschen gegenüber verhalten musst, ohne dass sie dahinterkommen, dass du ein Vampir bist?«

Ludovic erwiderte nichts.

»Weißt du überhaupt, wie man ein Handy benutzt?«, fuhr Roux fort.

Ein paar der anderen Vampirinnen und Vampire wechselten unbehagliche Blicke.

»Seht ihr, das ist das Problem dabei, dass ihr euch alle in diesen Häusern verschanzt: Um euch herum verändert sich alles, aber ihr bleibt immer gleich.« Roux starrte Ludovic an, der ihren Blick jedoch nur widerwillig zu erwidern schien. »Wenn du einfach so ins kalte Wasser springst, ertrinkst du. Es sei denn, du hast einen Rettungsanker.«

»Einen Rettungsanker«, wiederholte Ysanne, als würde sie über das Wort nachdenken.

»Ja. Jemanden, der die Welt da draußen kennt und dafür sorgen kann, dass Ludovic nicht in Schwierigkeiten gerät.«

»Du meinst: einen Menschen«, erwiderte Ludovic tonlos.

Roux nickte.

»Und wen schlägst du dafür vor?«, wollte Ysanne wissen, aber der ironische Unterton in ihrer Stimme ließ erahnen, dass sie die Antwort bereits kannte.

Roux leckte sich über die Lippen und nahm all ihren Mut zusammen. »Mich.«

KAPITEL 2

Roux

Renie und Jason protestierten gleichzeitig.

»O nein, verdammt.«

»Auf gar keinen Fall.«

»Ich gehe«, erklärte Edmond.

»Aber sicher nicht ohne mich«, erwiderte Renie.

Roux hob beide Hände.

»Keiner von euch geht. Renie, ein paar Dinge lassen sich vielleicht nur tagsüber erledigen, und damit bist du raus. Und du«, sie zeigte auf Edmond, »brichst ganz sicher nicht Hals über Kopf zu irgendeiner Mission auf und lässt Renie allein. Du hast schon mehr als genug getan – du kannst dich für eine Weile zurücklehnen.«

»Ist das nicht eigentlich unsere Entscheidung?«, fragte Edmond.

»Du musst nicht immer der Held sein. Es geht völlig in Ordnung, wenn du diese Sache von jemand anders regeln lässt«, entgegnete Roux.

»Aber Ludovic hat bereits einen Menschen, der ihm hilft«, bemerkte Jason und deutete auf Walsh. »Den Typen da.«

»Ich bin kein verfluchter Babysitter«, knurrte Walsh. »Ich bin hier, um die Vampire aufzuspüren, die ihr auf die Stadt losgelassen habt. Und der einzige Grund, warum ich überhaupt mit einem von euch zusammenarbeite, ist, dass ich nicht dumm genug bin, zu versuchen, ganz allein einen Vampir außer Gefecht zu setzen.«

»Können Sie Ludovic denn nicht ein bisschen helfen, falls er die Villa verlassen muss?«, fragte Jason.

»Nicht, wenn er sich so lange dort draußen aufhalten muss, wie es dauert, diese verdammten Biester einzufangen.«

Jason runzelte die Stirn. »Warum sollte er das tun?«

»Vielleicht habe ich mich vorhin nicht klar genug ausgedrückt, aber wer immer unsere Flüchtigen auch jagt, wird Belle Morte bis auf Weiteres verlassen müssen«, erklärte Ysanne. »Um diese ganze Sache unter Verschluss zu halten, dürfen wir möglichst wenig Aufmerksamkeit auf uns lenken. Neben den Demonstrierenden vor dem Tor und der ständigen Beobachtung durch die Medien können wir uns nicht auch noch die Fragen leisten, die zweifellos aufkommen werden, wenn Ludovic – oder irgendjemand anders – dabei beobachtet wird, wie er ständig in Belle Morte ein- und ausgeht.«

»Und wie sah dein Plan aus?«, wollte Roux wissen.

»Ich hatte vor, vorübergehend in ein Hotel zu ziehen.«

»Dann können Ludovic und ich das auch tun.«

»Oder ich kann allein dort absteigen«, erwiderte er.

Roux bedachte ihn mit einem leicht gereizten Blick, aber Ludovic sah ihr noch immer nicht in die Augen.

»Was willst du tun, wenn du Hunger kriegst? Du kannst deine Beißerchen nicht einfach irgendwelchen Fremden in den Hals bohren«, gab Roux zu bedenken.

»Ich bin durchaus in der Lage, Tiere zu jagen«, erwiderte Ludovic. Ein Schatten, den Roux nicht deuten konnte, huschte über sein Gesicht.

»Sicher, weil du damit ja keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen würdest«, grummelte sie.

Ludovic warf ihr einen kühlen Blick zu. »Ich habe mehrere Hundert Jahre Erfahrung damit, in den Schatten zu jagen.«

»Früher gab es aber noch keine Handys. Alles, was heute nötig ist, ist ein kreischendes Groupie mit einer Kamera, und du bist geliefert.«

»Da hat sie nicht ganz unrecht«, stimmte Renie ihr zu.

»Aber du kannst nicht Ludovics einzige Spenderin sein, vor allem nicht, wenn du keine Ahnung hast, wie lange es dauern wird«, warf Jason ein.

»Ich muss ihn ja nicht jeden Tag füttern. Wir können auch ein paar Blutkonserven mitnehmen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Ich begleite ihn nicht nur als Spenderin.« Roux blickte sich am Tisch um. »Wir sehen uns hier einer Situation gegenüber, die weder die Vampirwelt noch die Polizei je zuvor erlebt hat – ich nehme an, die üblichen Regeln gelten nicht mehr?« Ihr Blick fiel auf Walsh. Er neigte leicht den Kopf, was Roux als Bestätigung verstand. »Ludovic und ich werden nicht einfach nur in einem Hotelzimmer hocken und darauf warten, dass man uns zu Hilfe ruft, richtig? Sie sind die ganze Zeit auf unsere tatkräftige Unterstützung angewiesen, hab ich recht?«

Walsh nickte, eine kurze, scharfe Bewegung.

»Wenn wir unter dem Radar bleiben wollen, dann müssen wir in der Lage sein, nicht aufzufallen – und darin bin ich sehr gut.«

»Aber die Sache ist gefährlich«, entgegnete Jason, ein frustrierter Unterton in seiner Stimme.

»Sobald es gewalttätig wird, halte ich mich im Hintergrund. Ich bin da, um Ludovic zu füttern, wann immer es nötig ist, ihn durch die moderne Welt zu lotsen, DCI Walshs Leute zu unterstützen, wenn sie mich brauchen, und um dafür zu sorgen, dass wir in stetem Kontakt mit der Villa bleiben, damit ihr hier auch wisst, was los ist. Ich vermute, in diesem Punkt können wir uns nicht auf Walsh verlassen«, endete Roux.

»Richtig geschätzt«, blaffte der sie an.

Roux’ Blick wanderte zu Ysanne, deren Porzellangesicht so unlesbar war wie eh und je. »Ich schaffe das«, beharrte sie.

Ein oder zwei Herzschläge lang sagte niemand ein Wort. Ysanne starrte Roux an, durchbohrte sie förmlich mit ihrem Blick, doch Roux starrte ebenso unerschütterlich zurück. Sie musste das hier tun. Sie und Jason hatten sich dem Kampf um Belle Morte vor ein paar Tagen angeschlossen, aber gegen einen Haufen wutentbrannter Vampirinnen und Vampire hatten sie nicht viel auszurichten vermocht. Diesmal hatte Roux hingegen das Gefühl, eine Schlüsselrolle spielen zu können.

»Roux, Ludovic, würdet ihr bitte mit in mein Büro kommen?«, bat Ysanne sie schließlich. »Ich würde mich gern unter sechs Augen mit euch unterhalten.«

#

Roux saß in Ysannes Büro und betrachtete die überraschend moderne Einrichtung: die Möbel aus Leder und Chrom und den weißen Teppich, der unter dem schwarzen Schreibtisch noch greller wirkte. Das Zimmer passte überhaupt nicht zum Rest der Villa.

Ludovic hatte auf dem Stuhl neben ihr Platz genommen, mit geradem Rücken und furchtbar steif, und weigerte sich weiter, Roux anzusehen. Er hatte die Hände fest in seinem Schoß gefaltet. Ysanne saß hinter ihrem Schreibtisch, eine Hand auf einer dünnen Aktenmappe ruhend, während Walsh, der darauf bestanden hatte, mitzukommen, mit verschränkten Armen und grimmig zusammengekniffenen Augenbrauen ganz in ihrer Nähe stand.

Die Anspannung hing drückend über dem kleinen Raum.

Ysanne nahm mehrere glänzende Fotos aus der Mappe und schob sie über ihren Schreibtisch zu Roux und Ludovic.

Die beiden lehnten sich vor.

»Das sind die fünf Vampirinnen und Vampire, die nach der letzten Schlacht aus Belle Morte entkommen sind«, sagte Ysanne. »Stephen Johnson, Delia Sanders, Neal Morris, Jeffrey Smith und Kashvi Patel.« Bei jedem Namen tippte sie auf eines der Fotos. »Wie es scheint, waren Stephen und Delia ein Paar, bevor sie verwandelt wurden.«

Roux entging nicht, dass Ysannes Nägel nicht lackiert und teilweise abgebrochen waren. Es war eine lächerliche Kleinigkeit, aber Ysanne war die Verkörperung purer Eleganz und hätte normalerweise eher ihre Unsterblichkeit aufgegeben, als sich nicht absolut perfekt gestylt in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es sprach Bände für den Druck, dem sie im Moment ausgesetzt sein musste.

»Walshs Team arbeitet seit jener Nacht an diesem Fall. Er ist sich ziemlich sicher, dass sich alle Geflohenen noch immer in Winchester befinden«, fuhr Ysanne fort.

Sie zog vier weitere Fotos aus der Mappe und legte sie auf dem Tisch aus. »Das hier sind die vier Vampirinnen und Vampire, die es nie zu der letzten Schlacht geschafft haben.«

Roux runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

Ein flüchtiger Blick in Ludovics Richtung verriet ihr, dass es ihm genauso ging.

»Ich auch nicht«, gestand Ysanne. »Susan Harcourt hat Etienne dabei geholfen, Menschen zu finden, die bereit waren, für das Versprechen, verwandelt zu werden, praktisch alles zu tun. Inzwischen hat sie uns die Namen all derjenigen verraten, die Etienne verwandelt hat. Diese vier gehörten auch zu ihnen. In der vergangenen Woche haben Caoimhe und ich herausgefunden, wer bei der letzten Schlacht getötet wurde, wer momentan in einer Zelle sitzt und wer entkommen konnte.« Ysanne tippte erneut auf die Fotos. »Diese vier sind nicht darunter.«

»Moment mal, dann hat Etienne sie also verwandelt – und danach sind sie einfach verschwunden?«, fragte Roux.

Ysanne antwortete nicht.

»Könnten sie ihm entkommen sein, nachdem er sie verwandelt hat?«, fragte Walsh. Ausnahmsweise schien er nicht auf Konfrontationskurs zu sein.

Ysanne drehte sich mit ihrem Stuhl herum, um ihn anzusehen. »All diese Menschen haben zugestimmt, die Drecksarbeit für Etienne zu erledigen, unter der Bedingung, dass er ihnen ihren größten Wunsch erfüllt: sie in Vampire zu verwandeln. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie geflohen sind, sobald er ihnen diesen Wunsch erfüllt hat.«

»Aber selbst, wenn sie es getan hätten, wäre es ein Leichtes für Etienne gewesen, sie wieder einzufangen. Frisch verwandelte sind bei Weitem nicht so schnell oder so stark wie ältere Vampirinnen und Vampire«, fügte Ludovic hinzu.

Walshs Miene verfinsterte sich wieder. »Und was zur Hölle hat dieser Mistkerl ihnen dann angetan?«

»Das ist die große Frage«, antwortete Ysanne.

Roux gefiel ganz und gar nicht, worauf das hinauslief. Etienne und Jemima waren tot und konnten niemandem mehr wehtun, aber das machte den Schaden nicht wieder gut, den sie angerichtet hatten – und allmählich beschlich Roux das Gefühl, das dieser Schaden deutlich weiter reichte, als es irgendjemandem zunächst klar gewesen war.

»Es steckte noch mehr hinter Etiennes Plan, als uns bewusst war, hab ich recht?«, fragte sie.

»Durchaus möglich«, räumte Ysanne ein.

»Also selbst wenn wir die Fünf fangen, ist die Sache noch nicht vorbei.«

»Die Fünf?«

»Es ist einfacher, ihnen einen Gruppennamen zu geben.«

»Die fünf Geflohenen zu finden hat für uns oberste Priorität. Dass sie nicht davor zurückschreckten, Belle Morte anzugreifen, bedeutet, dass wir sie als die größte Bedrohung betrachten müssen.«

Walsh sah aus, als wollte er darauf unbedingt etwas erwidern, aber er presste die Lippen fest zusammen.

»Sobald die Fünf gefangen und sicher eingesperrt sind, können wir unsere Aufmerksamkeit auf die vier anderen vermissten Vampirinnen und Vampire richten«, fügte Ysanne hinzu.

»Warum höre ich erst jetzt von ihnen?«, wollte Walsh wissen.

Diesmal sah Ysanne ihn nicht an. »Weil ich selbst eben erst von ihnen erfahren habe. Etienne hat mehrere Dutzend Menschen verwandelt, und erst nachdem wir die einzelnen Namen einer oder einem Toten, Gefangenen oder Entflohenen zuordnen konnten, wurde uns bewusst, dass ein paar fehlen.«

»Weiß die Premierministerin Bescheid?«

»Ich werde sie heute Nachmittag informieren«, erwiderte Ysanne knapp.

»Nur, damit ich das richtig verstehe: Es ist Walshs Aufgabe, die Fünf aufzuspüren, während Ludovic dafür zuständig ist, sie einzufangen – und nachdem das erledigt ist, geht mit diesen anderen vier alles noch mal von vorne los?«, fragte Roux.

Ysanne nickte.

»Kein Druck, also. Alles klar.«

Ludovic schaute Roux an, Überraschung in seinen Augen. Vielleicht verhielt sie sich der Lady des Hauses gegenüber ein wenig zu schnippisch, aber Roux Hayes würde sich ganz sicher für niemanden ändern.

Nicht noch einmal.

»Haben wir schon irgendeine Spur?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Walsh, bevor Ysanne es tun konnte. »Darum bin ich hier. Mich hat heute Morgen Stephen Johnsons Mutter angerufen. Angeblich verfügt sie über Informationen, die uns helfen könnten, wollte jedoch nicht am Telefon darüber sprechen.«

»Warum nicht?«

»Woher zur Hölle soll ich das wissen?«

Roux verdrehte die Augen.

»Walsh wird der Familie noch heute einen Besuch abstatten, und ich hatte vor, ihn zu begleiten. Ludovic, wenn es dir wirklich ernst damit ist, die Sache zu übernehmen, dann wirst du stattdessen mit ihm gehen«, sagte Ysanne.

»Für eine Befragung brauche ich nun wirklich keine Verstärkung«, widersprach Walsh ihr.

»Was, wenn Stephen zu Hause ist und sich freiwillig stellen will?«, fragte Roux.

»Dann wird er auch keine Bedrohung sein, richtig?«

»Es sei denn, er überlegt es sich anders und haut noch mal ab.«

Walshs Miene hellte sich ein wenig auf. »Richtig, weil man Vampiren nicht trauen kann.«

»Das hab ich nicht gemeint«, erwiderte Roux und warf ihm einen scharfen Blick zu, den er ignorierte.

»Vampire sind besser als Menschen dazu in der Lage, Lügen zu enttarnen. Falls die Johnsons nicht die Wahrheit sagen, kann ich es hören«, meldete sich Ludovic zu Wort.

»Es hören?«, wiederholte Walsh.

»An ihren Herzschlägen.«

Walsh verzerrte die Lippen.

»Es gibt einen weiteren Punkt, den wir noch nicht diskutiert haben«, warf Roux ein. »Ludovic ist ein berühmter Vampir, und selbst ich bin nach allem, was passiert ist, inzwischen ziemlich bekannt. Ich verstehe ja, dass wir in ein Hotel ziehen müssen, um die Aufmerksamkeit von Belle Morte und der Vampirwelt im Allgemeinen abzulenken, aber es wird nicht lange dauern, bis Ludovic von irgendeinem kreischenden Vladdict entdeckt wird. Was machen wir dann?«

»Wir müssen eben einfach vorsichtig sein«, antwortete Ysanne.

Roux schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das genügt nicht.«

Ysanne kniff die Augen zusammen.

»Okay, ich weiß wirklich nicht, wie oft ich euch das noch sagen muss, aber ihr seid definitiv nicht auf die moderne Welt vorbereitet – oder darauf, wie aufdringlich sie sein kann. Viel zu viele Leute sind wie besessen von irgendwelchen Celebrities, vor allem, wenn sie auch noch untot sind. Und wenn irgendjemand Wind davon bekommt, dass ein berühmter Vampir durch die Straßen schlendert, wird jede Person in ganz England, die ein Smartphone besitzt, versuchen, ihn auf Fotos und Videos zu bannen.«

»Was schlägst du also vor?«, fragte Ysanne.

Roux betrachtete Ludovics Gesicht, um einzuschätzen, wie ein paar Schatten und Konturen die Form seiner Augen und seiner Nase verändern könnten. »Wir brauchen eine Tarnung«, sagte sie dann.

Walsh gab einen gereizten Laut von sich. »Dafür haben wir keine Zeit.«

»Dann nehmen Sie sich die Zeit«, beharrte Roux. »Hier geht es nicht nur darum, die Sache geheim zu halten. Eine Menge Leute sind im Augenblick ziemlich wütend auf die Vampire. Haben Sie je darüber nachgedacht, dass es für Ludovic vielleicht gefährlich sein könnte, erkannt zu werden?«

Der Blick, mit dem Walsh sie bedachte, ließ darauf schließen, dass es ihm herzlich egal war. Roux war der Mann langsam wirklich unsympathisch.

»Roux hat recht«, sprang Ysanne ihr bei. »Stell eine Liste mit allem zusammen, was du brauchst, dann sorge ich dafür, dass du es noch heute erhältst.«

Walsh wollte protestieren, aber Ysannes Blick war eiskalt. »Zwingen Sie mich nicht, einen der meinen in Gefahr zu bringen, Chief Inspector.«

»Es wäre überhaupt niemand in Gefahr, wenn ihr Reißzahnfreaks das alles gar nicht erst zugelassen hättet«, knurrte Walsh.

Ysanne ballte die Fäuste auf der Schreibtischplatte und Roux hielt den Atem an. Eine quälend lange Pause verstrich.

»Roux, wie schnell kannst du diese Liste zusammenstellen?«, fragte Ysanne dann.

»Zehn Minuten?«, erwiderte sie.

Ludovic wirkte sichtlich unbehaglich. »Was für eine Tarnung schwebt dir denn vor?«

Roux grinste nur.

#

»Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?«, fragte Ludovic und betrachtete misstrauisch das auf Roux’ Frisierkommode ausgelegte Make-up.

»Zweifelst du an mir?«

Er antwortete nicht – eine weise Entscheidung.

»Ich verspreche, ich werde dein hübsches Gesicht nicht versauen. Ich sorge nur dafür, dass du nicht mehr so leicht zu erkennen bist«, versicherte Roux ihm.

Sie platzierte ihn auf dem Stuhl, schob einen Finger unter sein Kinn und drehte seinen Kopf hin und her. Ein winziges Feuer flammte in ihrem Bauch auf. Sie hatte sich von dem Moment, als sie in Belle Morte eingetroffen war, zu Ludovic hingezogen gefühlt – und wer könnte es ihr verübeln? Ludovic war schließlich gut ein Meter achtzig aus straffen Muskeln, blondem Haar und gemeißeltem Kinn. Seine Augen waren so tief und blau wie der Ozean, und während Etiennes und Jemimas Coup war er mehr als nur einmal zu Roux’ Rettung geeilt. Ein bisschen altmodische Ritterlichkeit genügte eben, um jedem Mädchen den Kopf zu verdrehen.

Aber dies war nicht der Zeitpunkt für Schwärmereien.

»Können Vampire sich einen Bart wachsen lassen?«, fragte Roux und betrachtete Ludovics kantigen Kiefer.

»Können wir, aber es dauert ewig.«

»Ich hätte nie gedacht, dass Vampire sich rasieren müssen.«

»Das müssen wir auch nur sehr selten. Warum fragst du?«

»Reine Neugier. Ein Bart würde die Form deines Gesichts verändern, aber dafür hätten wir sowieso keine Zeit, noch nicht mal, wenn du ein Mensch wärst.« Sie tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Ich kann dir zwar keinen echten Bart verpassen, aber ich könnte dir ein paar ziemlich überzeugende Stoppeln aufmalen. Wär das okay?«

Ludovic nickte.

»Großartig«, freute sich Roux.

Gegen Ludovics elfenbeinblasse Haut musste sie als Erstes etwas unternehmen. Hätten sie mehr Zeit gehabt, hätte Roux ihn ins Solarium geschickt, aber genau wie im Fall des Barts war dies keine Option. Make-up war daher die einzige Lösung. Und davon abgesehen: Funktionierten Sonnenbänke bei Vampirinnen und Vampiren überhaupt?

Roux trug Foundation auf Ludovics Gesicht und Hals auf, betonte seine Wangen- und Kieferknochen etwas weniger und veränderte die Form seiner Augen mit dezentem Lidschatten, bevor sie sorgfältig Bartstoppeln auftupfte. Es war zwar nicht perfekt, aber es würde alle täuschen, die nicht allzu genau hinschauten.

Seamus hatte in beeindruckendem Tempo alles auf Roux’ Liste besorgt, einschließlich einer Clark-Kent-mäßigen Brille, die sie Ludovic nun auf die Nase setzte.

»Fast fertig«, verkündete sie dann.

Sie löste Ludovics typischen, tief in seinem Nacken sitzenden Pferdeschwanz. Er versteifte sich bei der Berührung.

»Ich werde dir die Haare nicht abschneiden, falls du dir darüber Sorgen machst«, beruhigte sie ihn.

Ludovic erwiderte nichts, und Roux machte sich mit Wachs und Haarspray an die Arbeit und zauberte leichte Wellen in sein von Natur aus glattes Haar, was ihm eine Art nerdigen Surfer-Look verlieh. Dann schnappte sie sich die Beanie, die Seamus zusammen mit den anderen Klamotten für Ludovic besorgt hatte, und setzte dem Vampir die Mütze auf den Kopf. Im Grunde sah er zwar immer noch aus wie er selbst, aber eher wie ein Mensch, der vage an einen berühmten Vampir erinnerte.

»Du siehst ganz entzückend aus«, bemerkte Roux, und Ludovic zog eine finstere Miene.

Er drehte sich auf seinem Stuhl herum, betrachtete zum ersten Mal, seit Roux sich an ihm zu schaffen gemacht hatte, sein Spiegelbild – und krallte sich an der Kante der Frisierkommode fest.

Mit sanfter Stimme fügte Roux hinzu: »Ich weiß, dass das seltsam sein muss, aber es ist ja nur vorübergehend.«

»Ich sehe menschlich aus«, erwiderte Ludovic, und es schwang eine ganze Fülle von Emotionen in den vier Worten mit: Überraschung, Ungläubigkeit, sogar Bedauern.

»Alles okay?«, fragte Roux. Er nickte.

Schließlich zwang er sich, die Augen vom Spiegel abzuwenden, und schaute sie an. »Warum hilfst du mir? Das hier ist nicht dein Kampf.«

Roux lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch. »Doch, ich gehöre jetzt schließlich auch dazu.«

Selbst hinter dem dicken Brillengestell war Ludovics Blick unglaublich intensiv. »Aber warum ist dir das so wichtig?«

»Weil niemand in Belle Morte diesen ganzen Scheiß verdient hat, der wegen Etienne und Jemima womöglich noch auf euch zukommt. Außerdem hast du mir auch schon mal das Leben gerettet. Also lass mich diesen Gefallen doch einfach erwidern.«

»Danke, dass dir das so viel bedeutet«, erwiderte er leise und wandte den Blick ab.

»Du klingst, als würde dich das überraschen.«

»Es besteht die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit, dass wir Vampirinnen und Vampire uns von unserer Zeit im Rampenlicht verabschieden müssen. Nicht alle wird interessieren, wie es uns damit geht.«

»Geh nicht gleich vom Schlimmsten aus. Wir wissen schließlich noch gar nicht, was passieren wird.«

Trotz ihrer Worte konnte Roux die Besorgnis nicht ignorieren, die sich in ihren Magen krallte. Es war durchaus möglich, dass Etienne und Jemima den Ruf aller Vampirinnen und Vampire irreparabel zerstört hatten, und Roux hatte keine Ahnung, wie die Vampirwelt dies überleben sollte.

KAPITEL 3

Roux

Roux hatte Seamus gebeten, ihnen Kleidung in dunklen, gedeckten Farben zu besorgen, ohne auffällige Muster, hauptsächlich billige Jeans und Langarmshirts – das krasse Gegenteil der maßgeschneiderten Stücke und Luxusstoffe, die in den Garderoben in Belle Morte zu finden waren. Sie und Ludovic mussten in der Masse untergehen, nicht daraus hervorstechen.

Doch als sie nach der langen braunen Perücke griff, die ganz oben auf dem Stapel lag, spürte sie ein scharfes Stechen der Selbstzweifel. Während sie sich mit starrem Blick in dem Wandspiegel betrachtete, blitzte die Erinnerung an verächtliches Gelächter in ihrem Kopf auf. Selbst jetzt zuckte sie dabei noch zusammen.

Roux wusste, dass sie wunderschön war.

Aber sie wusste auch, dass sie es nicht immer gewesen war.

Und die Kinder in der Schule hatten es ebenfalls gewusst und es sie nie vergessen lassen.

Es war noch gar nicht so lange her, dass sie sich von einem hässlichen Entlein in einen anmutigen, wunderhübschen Schwan verwandelt hatte, und Roux hatte plötzlich das Gefühl, die Person zu verdecken, zu der sie sich dabei entwickelt hatte.

Sie wollte nicht mehr die sein, die sie einst gewesen war.

Sie schluckte schwer, setzte die Perücke auf und zupfte den Pony auf ihrer Stirn zurecht.

»Hmm«, murmelte sie und begutachtete ihr Spiegelbild. Es war ein völlig anderer Stil als ihr Kurzhaarschnitt, aber sie sah auch mit langen Haaren verdammt gut aus. Sie beschloss, einfach überhaupt kein Make-up aufzutragen, anstatt einen völlig neuen Look für sich zu erschaffen. Sie würde sich abschminken – sobald Ludovic aus dem Bad kam. Sie und Renie kannten einander inzwischen gut genug, um ins Badezimmer zu platzen, selbst wenn die andere darin splitterfasernackt war, aber Ludovic wäre davon vermutlich nicht allzu begeistert gewesen.

Was wirklich ein Jammer war, weil Roux nicht das Geringste dagegen gehabt hätte, ihn ohne seine Klamotten zu sehen.

Plötzlich steckte Jason den Kopf durch die Tür – und seine Augen weiteten sich. »Oh, wow.«

»Wow gut oder wow schlecht?« Roux tastete nach ihrer Perücke. Sie fand, sie sah gut damit aus, aber sie war schließlich nicht ganz unvoreingenommen.

»Roux, Süße, du könntest dir auch den Kopf rasieren, die Männer würden dir trotzdem noch zu Füßen liegen.«

Roux konnte ihr Lächeln nicht zurückhalten.

»Wo ist Ludovic?«, fragte Jason.

»Zieht sich im Bad um.«

»Können wir kurz mit dir reden?«

»Wir?«

Auch Renies Kopf tauchte in der Tür auf, direkt unter Jasons.

»Lasst uns in den Flur rausgehen«, sagte Roux. Sie schob ihre Freunde rückwärts aus der Tür, folgte ihnen und schloss die Tür dann hinter sich. »Ist alles in Ordnung?«

Jason lächelte, aber es wirkte angespannt. »Wir machen uns Sorgen um dich.«

»Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?«, fragte Renie.

Roux vermutete, dass die beiden diesen kleinen Überfall geprobt hatten. »Ich weiß schon, was ich tue, Leute«, versicherte sie ihnen.

»Tust du das?«, bohrte Jason nach.

»Ja. Ich bin nicht blöd.«

»Aber die Sache ist gefährlich. Diese Vampire werden sich nicht kampflos geschlagen geben«, beharrte Renie.

»Das ist Ludovics Problem. Mir passiert schon nichts, versprochen.«

»Das kannst du nicht versprechen, wenn du gar nicht weißt, was auf euch zukommt«, entgegnete Renie.

»Dann verspreche ich eben, von der Sekunde an, in der ich die Villa verlasse, außergewöhnlich übermäßig vorsichtig zu sein.«

Renies Mund verzog sich zu einer unglücklichen Linie. »Das hier ist kein Spaß.«

»Ich meine es auch vollkommen ernst.« Roux nahm ihre Freundin in den Arm. »Alles wird gut«, flüsterte sie in Renies Haar. »Die ganze Sache ist schneller vorbei, als du gucken kannst.«

Sie löste sich von Renie und fand sich im nächsten Moment in Jasons Armen wieder, fest an seine Brust gequetscht. »Sorg bloß dafür, dass Ludovic gut auf dich aufpasst«, sagte er.

Roux lachte. »Jenseits der Villa wartet meine Welt, nicht seine. Wenn überhaupt, dann muss ich auf ihn aufpassen.«

»Auf einen heißen Vampir aufpassen …« Jason klang plötzlich ganz sehnsüchtig. »Hört sich nach meinem absoluten Traumjob an.«

Roux schlug ihm auf die Brust.

Vor nicht einmal einem Monat hatte sie Renie und Jason noch überhaupt nicht gekannt, aber die beiden waren komplett auf ihrer Wellenlänge und hatten den direkten Weg in ihr Herz gefunden, und nun konnte Roux sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen.

»Ganz gleich, was passiert, ich werde zu euch beiden zurückkommen«, versprach sie.

Ludovic

Roux war verschwunden, als Ludovic aus dem Badezimmer kam, aber er konnte ihre Stimme auf der anderen Seite der Tür hören, wo sie sich mit Renie und Jason unterhielt, und als er seinen eigenen Namen aufschnappte, hielt er inne und lauschte.

Die Fünf zur Strecke zu bringen, konnte – und würde höchstwahrscheinlich – eine blutige Angelegenheit werden. Ludovic kam damit klar, aber er machte Roux’ Freunden keinen Vorwurf, weil sie sich Sorgen um sie machten.

Er öffnete die Tür, und die drei starrten ihn an, unverhohlene Überraschung in Renies und Jasons Gesichtern. Ein wenig verlegen strich Ludovic mit einer Hand über die Wollmütze und sein zerzaustes Haar. Auch als er noch ein Mensch gewesen war, hatte er nie so ausgesehen – er kam sich wie ein Fremder in seiner eigenen Haut vor.

»Ist Edmond auf eurem Zimmer?«, fragte er Renie.

Sie nickte.

Ludovic spürte die Blicke der drei auf sich, während er den Flur hinunterging, aber er schaute sich nicht noch einmal um.

Im Nordflügel stand Edmonds Tür offen, doch Ludovic blieb zögernd auf der Schwelle stehen, plötzlich unsicher. In den zehn Jahren, die Edmond und er nun schon hier wohnten, hatte er das Zimmer seines Freunds stets einfach betreten, ohne darüber nachzudenken. Aber dieses Zimmer gehörte nun auch Renie.

Ludovic klopfte an den Türrahmen.

Edmond, der gerade das Bettlaken glatt strich, hob den Blick, und für einen Moment blitzte Verwirrung in seinem Gesicht auf.

»Geht es dir gut?«, fragte er und betrachtete seinen Freund von oben bis unten. Er kannte Ludovic nur als Vampir – diese menschliche Fassade war für ihn ebenso neu wie für Ludovic selbst.

Ludovic war sich nicht sicher, was er darauf antworten sollte. Schon bald würde er den Ort verlassen, der nun schon so lange Zeit sein Zuhause und seine Zuflucht gewesen war, und sich wieder in die Welt hinauswagen. Die Reise nach Irland vor ein paar Tagen zählte nicht – damals waren er und die anderen geflohen, um ihr Leben zu retten. Diese kommenden Tage – oder vielleicht auch Wochen – würden jedoch etwas völlig anderes sein.

»Ludovic?«

»Tue ich das Richtige, wenn ich es Roux erlaube, mich zu begleiten?«

»Bei dir klingt es, als hättest du eine Wahl«, erwiderte Edmond trocken.

Ludovic betrat das Zimmer, während Edmond sich auf dem Bett niederließ und seinen Freund beobachtete. Ludovic konnte sich nicht setzen. Er fühlte sich aufgekratzt, voller nervöser Energie.

»Ich könnte mich weigern«, sagte er.

»Könntest du, aber du kannst sie trotzdem nicht zwingen, hierzubleiben. Außerdem hat sie ein paar ziemlich gute Argumente vorgebracht.«

»Du glaubst, ich brauche sie.«

»Ich glaube, das würde jeder von uns.«

»Aber ich werde für sie verantwortlich sein.«

»Roux ist nicht aus Porzellan. Sie wird nicht einfach zerbrechen.«

»Ich bin nicht daran gewöhnt, für jemanden verantwortlich zu sein«, murmelte Ludovic.

Edmond war sein engster Freund auf der ganzen Welt und in praktisch jeder Hinsicht sein Bruder, abgesehen davon, dass sie nicht blutsverwandt waren. Aber wenn einer von ihnen für den anderen verantwortlich war, dann Edmond für ihn.

»Machst du dir Sorgen, Roux könnte zu sehr auf dich angewiesen sein – oder du könntest zu sehr auf sie angewiesen sein?«, fragte Edmond.

Das brachte Ludovic ins Grübeln. »Wie meinst du das?«

»Du magst es nicht, von anderen Leuten abhängig zu sein, schon gar nicht von einem Menschen, den du kaum kennst.«

Ludovic setzte sich auf die Bettkante.

»Ich kann dich immer noch begleiten, wenn du willst«, bot Edmond ihm an.

»Renie braucht dich hier.«

»Vielleicht wird diese Erfahrung ja sogar gut für dich sein«, sagte Edmond.

»Vielleicht.«

Und vielleicht war dies auch genau der Grund, warum er sich überhaupt freiwillig gemeldet hatte.

Edmonds Lippen zuckten. »Obwohl Roux es geschafft hat, dass du so … anders aussiehst.«

Ludovic betrachtete seine Hände. »Sie hat es geschafft, dass ich menschlich aussehe.«

»Wirklich beeindruckend.«

Was Ludovic nicht aussprach – auch wenn Edmond es wahrscheinlich ohnehin erraten konnte –, war, dass er Angst hatte, menschlich auszusehen, könnte ihn daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, menschlich zu sein. Und das wollte er nicht. In seinem sicheren Kokon in Belle Morte musste er nicht an all die Dinge denken, die er gesehen und getan hatte – an all die Dinge, die ihn noch immer verfolgten.

»Ganz gleich, was passiert, ich bin hier, wenn du wieder zurückkommst«, versprach Edmond ihm.

Ludovic nahm seine Kostümbrille ab. Für den Großteil seines Lebens als Vampir war er allein gewesen, aber als er Edmond kennengelernt hatte – in den grauenvollen Schützengräben des Ersten Weltkriegs –, waren sie Freunde geworden, unzertrennbar.

Ganz gleich, wie schlimm es wurde, Edmond war der Anker, der Ludovic half, jeden Sturm zu überstehen – und nun musste er diesen Anker zurücklassen und sich mit einer jungen Begleiterin, die er kaum kannte, dort draußen in der Welt durchschlagen.

Er setzte die Brille wieder auf und erhob sich. »Wir brechen bald auf.«

»Ich weiß, wie schwer das für dich ist, aber mach es Roux nicht genauso schwer«, ermahnte Edmond ihn. »Sie versucht nur, zu helfen.«

»Ich weiß.«

Bevor er zur Tür ging, hielt Ludovic noch einmal inne. »Ich liebe dich, Edmond. Das weißt du, oder?«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte sein Freund.

Ludovic hörte Kleidung rascheln, als Edmond sich ebenfalls erhob, und drehte sich um, um seinen Freund zu umarmen.

»Ich hoffe, das Ganze ist schnell vorbei und alles läuft wieder normal«, sagte Edmond und hielt Ludovic auf Armeslänge fest. »Du siehst nämlich wirklich unfassbar seltsam aus.«

Roux

Während Ludovic mit Edmond sprach, packte Roux ihre Sachen. Renie half ihr, das Gepäck ins Foyer zu tragen, wo Ysanne auf sie wartete. Walsh war nirgends zu sehen, und Roux war froh darüber. Das Atmen fiel ihr leichter, wenn er nicht wie eine Schlechtwetterwolke im Hintergrund lauerte.

Ysanne taxierte Roux’ neuen Look, schaute dann zur Haupttreppe – und ihre Augen weiteten sich sichtlich.

Roux und Renie drehten sich um.

Ludovic und Edmond kamen die Stufen herunter, und Ludovics neuer menschlicher Aufzug wirkte neben Edmonds klassischer Ebenholz-und-Elfenbein-Schönheit nur umso mehr fehl am Platz. Außerdem sah er unfassbar unbeholfen aus.

Roux nahm sich vor, ihm beizubringen, sich ein bisschen lässiger zu geben. Sein äußeres Erscheinungsbild war zwar menschlich, aber er bewegte sich immer noch mit der geschmeidigen Anmut eines Vampirs.

»Wie ich sehe, hat Roux bereits bewiesen, was sie wert ist. Ich hätte dich kaum wiedererkannt«, bemerkte Ysanne.

Ludovic zupfte an seiner Beanie und vermied es, irgendjemandem in die Augen zu schauen.

»Draußen wartet ein Wagen auf euch.« Ysanne verzog die Lippen zu einer schmalen Linie. »Ich hatte gehofft, ihr könntet zusammen mit Walsh zum Haus der Johnsons fahren, aber er hat darauf bestanden, sich dort mit euch zu treffen. Ihr seid im Old Royal in der Romsey Road untergebracht. Seamus hat mir versichert, dass der Wagen mit der notwendigen Technologie ausgestattet ist, um das Hotel auch ohne Stadtplan zu finden. Im Kofferraum befinden sich genügend Blutkonserven für zwei Wochen, außerdem liegt im Handschuhfach ein Umschlag mit Bargeld. Ich vertraue darauf, dass ihr klug damit haushalten werdet.«

Sie sah zuerst Roux mit festem Blick an, dann Ludovic, und ein Hauch von Rot kroch in ihre Augen.

»Ludovic, du ergreifst die Entflohenen wenn möglich lebendig – trotzdem hat dein eigenes Leben natürlich Vorrang. Wenn dir keine andere Wahl bleibt, töte sie«, wies Ysanne ihn an.

»Verstanden«, erwiderte er.

Roux betrachtete Ludovic unter ihrem neuen langen Pony und versuchte abzuschätzen, wie er sich damit fühlte. Doch seine Miene glich einer leeren Maske.

»Ich habe mir erlaubt, dein Gepäck durch Silberhandschellen zu ergänzen. Ich will nicht, dass du irgendein Risiko eingehst«, fügte Ysanne hinzu.

»Aber das Silber wird Ludovic auch verbrennen«, erwiderte Roux.

»Ich habe auch Handschuhe eingepackt.«

Roux blickte erneut zu Ludovic, aber sein Ausdruck verriet noch immer nichts.

»Dann wäre da nur noch eine Sache«, ergriff Ysanne erneut das Wort, hielt ein schmales schwarzes Handy hoch und ließ es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. »Das hier ist für dich. Ich nehme an, du weißt, wie man es benutzt?«

Roux unterdrückte ein Grinsen. »Ich glaube, ich komm damit klar.«

»Seamus hat auch eins dieser Geräte für die Villa besorgt und die Nummer in eures eingespeichert. Ihr müsst regelmäßig anrufen, um uns auf dem Laufenden zu halten.«

Roux blickte wieder zu Ludovic, der das Handy mit einer Art Faszination des Grauens betrachtete. Er würde Ysanne also keine Berichte zu ihren Fortschritten liefern.

»Ich will ja nicht herablassend klingen, aber weißt du, wie man es benutzt?«, fragte Roux die Lady von Belle Morte.

Ysanne hob das Kinn, stolz wie eh und je, gab jedoch nicht vor, die moderne Technologie zu verstehen.

»Renie wird uns bei diesem Teil der Mission helfen. Tatsächlich möchte ich, dass sie alle im Haus lehrt, sich besser in der modernen Welt zurechtzufinden.« Ysannes Tonfall klang, als sollte Renie den älteren Vampirinnen und Vampiren beibringen, durch Abwasser zu schwimmen.

Roux steckte das Handy in ihre Hosentasche. »Ich schätze, das war’s dann wohl«, sagte sie, und plötzlich krampfte sich vor Nervosität ihr Magen zusammen.

Renie umarmte sie ein letztes Mal. »Halt dich von Schwierigkeiten fern«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Ich werde mein Bestes tun.«

#

Vor der Haustür parkte ein glänzender schwarzer Wagen – eines der Belle-Morte-Fahrzeuge, die für gewöhnlich in der Garage rechts neben der Villa untergebracht waren. Die Schlüssel baumelten im Schloss der Fahrertür.

In der Sicherheit von Belle Morte hatte Roux die vor dem Tor versammelten Demonstrierenden beinahe vergessen, aber hier draußen dröhnte ihre Wut ungeheuer laut. Seit sie nach Belle Morte gekommen war, hatte Roux eine Menge Scheiße durchgemacht, die ihr ziemliche Angst gemacht hatte, aber als sie den Chor all der brüllenden, wutentbrannten Stimmen hörte, zuckte sie unwillkürlich zusammen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ludovic.

Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und Roux fragte sich, wie lange Ludovic sich wohl draußen aufhalten konnte. Die vampirische Sonnenlichttoleranz stieg mit zunehmendem Alter.

»Mir geht’s gut«, murmelte sie. »Dir?«

»Warum sollte es mir nicht gut gehen?« Seine Stimme klang emotionslos und monoton.

»Tu nicht so, als könntest du sie nicht hören.«

»Das habe ich nie behauptet.«

Roux betrachtete ihn neugierig und suchte sein Gesicht nach irgendeiner Gefühlsregung ab. Verdammt, wenn das hier für sie schon so hart war, dann war es für ihn noch tausendmal härter – er war schließlich derjenige, gegen den all diese Menschen demonstrierten.

»Das ist also der Wagen?«, fragte er und betrachtete das Auto mit schlecht versteckter Besorgnis.

»Sieht ganz so aus.«

Ludovic schaute Roux in erwartungsvollem Schweigen an, und nach einem Moment machte es bei ihr Klick.

»Du kannst nicht fahren, hab ich recht?«, fragte Roux.

»Doch, theoretisch schon, aber ich bin 1905 zum letzten Mal Auto gefahren. Ich vermute, seit damals hat sich einiges verändert.«

Roux’ Lippen zuckten amüsiert. »Ein bisschen vielleicht. Autos haben jetzt ein richtiges Dach und Fenster.«

Sie entriegelte die Tür, warf ihre Tasche auf den Rücksitz und bedeutete Ludovic, dasselbe zu tun. Die ganze Sache hatte etwas unglaublich Bizarres an sich. Sie war damals in einer Limousine in Belle Morte angekommen, mit einem Glas Champagner in der Hand, umgeben vom Blitzlichtgewitter der Kameras. Nun fragte sie sich, ob Spendende jemals wieder auf diese Weise hier eintreffen würden.

Ludovic setzte sich auf den Beifahrersitz, steif und offensichtlich unbehaglich.

Roux hielt noch einen Moment inne, bevor sie in den Wagen stieg, und betrachtete die Villa. Als sie vor all den Monaten die Bewerbung als Spenderin ausgefüllt hatte, hätte sie niemals geglaubt, dass Belle Morte irgendwann wie ihr Zuhause sein würde. Hier war so vieles passiert, Gutes wie Böses, und Roux war zu einem Teil dieses Hauses geworden, auf eine Weise, wie es für Spendende eigentlich nicht vorgesehen war.

»Kommst du?«, rief Ludovic.

»Ja.«

Roux wandte Belle Morte den Rücken zu und glitt hinters Steuer.

KAPITEL 4

Roux

Das Old Royal war ein bescheidenes Hotel, das wie zwischen zwei höheren Gebäuden eingeklemmt wirkte. Mit seiner roten Backsteinfassade stach es unter den anderen in der Straße nicht hervor, und das Schild über der schwarzen Eingangstür war so klein, dass Roux es beinahe übersah.

»Versuch, dich ein bisschen locker zu machen«, riet sie Ludovic, als er aus dem Wagen stieg.

»Wie bitte?«

Roux ging um das Auto herum und stellte sich vor ihn. »Etwa so.« Sie legte die Hände auf Ludovics Schultern und drückte sie nach unten, aber es kam ihr vor, als würde sie versuchen, Beton zu formen. Sie rollte mit den Augen. »Du musst schon ein bisschen mithelfen.«

Er entspannte die Schultern minimal. »Was hat das denn für einen Sinn?«

»Ich helfe dir nur, menschlicher zu wirken. Vertrau mir.«

Eine winzige Falte tauchte zwischen Ludovics Augenbrauen auf, und Roux wurde plötzlich bewusst, wie nah sie einander waren. Sie war groß, trotz ihrer flachen Schuhe, reichte Ludovic aber dennoch nur bis zum Kinn. Die Art, wie sie seine Schultern festhielt, wirkte beinahe, als wollte sie ihn zu sich herunterziehen, um ihn zu küssen.

Sie räusperte sich und machte einen Schritt rückwärts. »Wir sollten jetzt reingehen«, sagte sie.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie eingecheckt hatten und Roux Ludovic zu ihrem Zimmer vorausgehen konnte. Während sie die Treppe in den zweiten Stock hinaufstiegen, wirkte er mit jedem Schritt unbehaglicher. Roux fragte sich, ob dies das erste Mal in zehn Jahren war, dass er nicht in einem Vampirhaus wohnte.

Ihr Zimmer war klein, drei Wände cremeweiß gestrichen, die vierte offenes Mauerwerk, geziert von einem großen Gemälde der Stadt Winchester. Es gab nur ein Fenster, die Vorhänge dunkel und dick, genau, wie Ludovic es brauchte. Die Wand gegenüber war von einer Tür unterbrochen, von der Roux hoffte, dass sie ins Bad führte.

Es gab nur ein Bett.

Ludovic erstarrte, als er es sah, und die entspanntere Haltung, die Roux ihm entlockt hatte, wurde wieder durch einen geraden Rücken und steife Schultern ersetzt.

»Was ist das?«, fragte er.

»Sieht mir nach einem Bett aus.«

Er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. »Warum gibt es nur eins?«

»Weil Ysanne ursprünglich allein in diesem Zimmer absteigen wollte und keine zwei Betten gebraucht hätte.«

»Das geht nicht.« Ludovic schreckte tatsächlich zurück.

»Es ist nur ein Bett, Ludovic. Es wird dich schon nicht beißen.« Roux grinste schelmisch. »Und ich verspreche dir, ich werde es auch nicht tun.«

Seine leichte Stirnfalte kehrte zurück.

Roux warf ihre Tasche auf die rechte Seite des Betts. Normalerweise zog sie es vor, auf der linken Seite zu schlafen, aber trotz der Vorhänge war sie der Ansicht, es wäre das Beste für Ludovic, so weit entfernt wie möglich vom Fenster zu liegen. Vampire rückten nicht gern damit heraus, wie viel Sonnenlicht sie tatsächlich aushalten konnten, und Roux wollte es lieber nicht auf unschöne Weise herausfinden.

Ludovic stand noch immer vor der Tür und starrte auf das Bett, als wäre es der innere Kreis der Hölle.

Roux seufzte. »Ich weiß, dass das nicht ideal ist, aber es wird dich nicht umbringen. Ich bin mir sicher, du hast dir schon öfter das Bett mit einem Mädchen geteilt.«

»Das ist nicht der Punkt«, erwiderte er in recht barschem Ton.

»Okay, ich sehe die Sache so: Wir haben nur ein Bett, und ich werde es dir sicher nicht abtreten. Du kannst es dir also mit mir teilen oder auf dem Boden schlafen. Deine Entscheidung.« Sie setzte sich auf die Matratze und hüpfte ein bisschen auf und ab, um zu testen, wie hart sie war. »Aber das Bett ist viel bequemer, garantiert.«

Ludovic erwiderte noch immer nichts, aber es war nicht zu übersetzen, wie die Rädchen in seinem Kopf ratterten, so schnell, dass ihm der Rauch wahrscheinlich gleich aus den Ohren kommen würde.

Roux empfand ein wenig Mitleid für ihn. Vielleicht hatte sie unterschätzt, wie altmodisch er wirklich war, und wie verwirrend das alles für ihn sein musste.

»Na schön, ich schlafe auf dem Boden, wenn das so eine Riesensache für dich ist«, bot sie an.

»Nein«, antwortete er sofort.

Sie wartete ab.

»Das würde ich niemals von dir erwarten«, murmelte Ludovic und schaute überall hin, nur nicht Roux an.

»Das ist schön zu wissen, aber wirst du dann auf dem Boden schlafen?«

Er überlegte einen Moment und schüttelte schließlich den Kopf.

»Gut. Dann lass uns auspacken.«

Ludovic

Als Roux sich freiwillig gemeldet hatte, um ihm zu helfen, hatte Ludovic sie als Bürde betrachtet. Oh, er wusste, wie tapfer sie war – er hatte gesehen, wie sie einen Vampir mit einer Vorhangstange getötet hatte, um Renie zu beschützen –, aber sie war trotzdem ein Mensch, trotzdem verletzbar, und er wollte nicht die ganze Mission in Gefahr bringen, weil er sie beschützen musste. Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, war die letzte Person, mit der er zusammenarbeiten wollte, dieses Mädchen. Er hatte Roux in seinen Armen gehalten, als sie aus einem Fenster gesprungen waren, um Etiennes Lakaien zu entkommen, und er konnte immer noch spüren, wie sich ihr schlanker Körper dabei an seinen gepresst hatte, noch immer den süßen Zitrusduft ihres Haars riechen und ihre beschleunigte Atmung hören. Seit jenem Tag schlich sie sich hin und wieder in Ludovics Gedanken, ungebeten und unerwünscht, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Ohne ihre Hilfe hätte er nun allerdings keine so überzeugende Tarnung, und auch wenn er es niemals zugeben würde, war er froh, dass er die ganze Sache nicht allein bewältigen musste.

Er beobachtete Roux beim Auspacken. Sie sah so anders aus in dieser Alltagskleidung, ihr kurzes Haar unter der Perücke versteckt. Der winzige Rubin, den sie für gewöhnlich in der Nase trug, war verschwunden, und sie hatte nicht einen Hauch von Make-up im Gesicht, schien sich in dieser Verkleidung jedoch nicht im Geringsten unbehaglich zu fühlen.

Ludovic beneidete sie darum.

Er hatte sich lange Zeit nicht wohl damit gefühlt, wer er war.

Roux richtete sich auf, und Ludovic wandte hastig den Blick ab.

»Willst du nicht auspacken?«, fragte sie.

Er näherte sich schweigend dem Bett. Seine Brust fühlte sich an, als hätte er einen Stein verschluckt. Es lag nicht nur daran, dass er zum ersten Mal seit sehr langer Zeit das Bett mit jemandem teilen würde. Es lag daran, wie häuslich sich plötzlich alles anfühlte. Er hatte das seltsame Gefühl, seine ganze Welt wäre aus dem Gleichgewicht geraten, so als hätte er nicht länger die Kontrolle darüber, was passierte – und der Gedanke, jemals wieder die Kontrolle zu verlieren, jagte ihm eine Heidenangst ein.

»Was glaubst du, wann Walsh sich melden wird?«, fragte Roux.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er.

»Ist echt bescheuert, dass wir hier rumsitzen und auf ihn warten müssen. Wenn er uns einfach die Adresse gegeben hätte, könnten wir längst auf dem Weg zu den Johnsons sein.«

Ludovic hob den Blick und sah, dass Roux ihn mit erwartungsvollem Ausdruck betrachtete. Sollte er etwas darauf erwidern? Erneut wandte er ohne ein Wort den Blick ab.

Roux setzte sich aufs Bett und holte das flache schwarze Telefon hervor, das Ysanne ihnen mitgegeben hatte. Das Gerät verblüffte Ludovic. Es hatte keine Knöpfe, nur einen Glasbildschirm, auf dem Roux mit klappernden Nägeln herumtippte.

»Ich ruf nur kurz in der Villa an und sage ihnen, dass wir gut angekommen sind«, erklärte sie ihm.

Ludovic griff nach der tragbaren Kühlbox, die mit gespendetem Blut gefüllt war, und steckte sie in die Steckdose an der Wand ein – so viel wusste sogar er. Dann beschäftigte er sich mit Auspacken und hoffte inständig, Walsh würde sie nicht allzu lange warten lassen, weil er keine Ahnung hatte, worüber er mit diesem Mädchen reden sollte.

#

Als Walsh eine Stunde später anrief, ging die Sonne bereits unter. Roux öffnete die Vorhänge. Draußen ergoss sich der winterliche Sonnenuntergang wie Blut über die Wolken.

»Na, das ist ja wirklich kein bisschen unheilverheißend«, murmelte sie. Sie drehte sich zu Ludovic um und zeigte auf seine Schultern. »Vergiss nicht, dich ein bisschen lockerer zu machen. Die meisten Menschen interessiert es nicht wirklich, ob jemand eine perfekte Haltung hat.«

»Du stehst auch nie krumm da«, konterte er.

Roux rückte ihre Perücke zurecht und lächelte. »Tja, ich gehöre eben zu den Menschen, die es interessiert.«

Die Familie Johnson lebte ein paar Kilometer entfernt in einer ruhigen Straße mit Reihenhäusern und kleinen quadratischen Vorgärten. Vor einigen Häusern stand ein Zu Verkaufen-Schild und eins von ihnen sah aus, als würde es gleich in sich zusammenfallen. Es hätte jede x-beliebige Straße in jeder x-beliebigen Stadt im Vereinigten Königreich sein können.