Belle Morte - Rot wie Blut - Bella Higgin - E-Book

Belle Morte - Rot wie Blut E-Book

Bella Higgin

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Beschreibung

Ein mächtiges Vampirhaus. Ein Mädchen auf der Suche nach ihrer Schwester. Eine gefährliche Leidenschaft.

In einer Welt, in der Vampire wie Top-Celebritys behandelt werden und jeder um ihre Gunst buhlt, ist Renie eine Außenseiterin. Zu tief sitzt ihr Misstrauen gegenüber Vampiren. Doch ausgerechnet sie verdingt sich als sogenannte Spenderin: für eine begrenzte Zeit und gegen Entlohnung wird sie in eines der fünf Vampir-Häuser als Blut-Spenderin einziehen – in Belle Morte. Dabei verfolgt Renie einen Plan: ihre Schwester ausfindig zu machen, die vor fünf Monaten ebenfalls als Spenderin in Belle Morte eingezogen und seitdem spurlos verschwunden ist. In Belle Morte angekommen, stößt Renie auf eine Mauer des Schweigens und trifft gleichzeitig auf einen gefährlich attraktiven Widersacher: Edmond Dantès. Einer der mächtigsten Vampire und der Einzige, der Renie helfen könnte, ihre Schwester wiederzufinden …

Opulent, faszinierend, sexy: die unwiderstehliche Vampir-Romantasy und Wattpad-Sensation.

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Seitenzahl: 536

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BELLA HIGGIN

ROT WIE BLUT

Aus dem amerikanischen Englisch

von Doris Attwood

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2023

Copyright © 2022 by Bella Higgin

The author is represented by Wattpad.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel »Belle Morte« bei Wattpad, USA.

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood

Lektorat: Catherine Beck

Cover design: © Ysabel Enverga

Bildmotive: Shutterstock.com (Valerii_k; W. Phokin, vata),

iStockphoto (PitakAreekul) und Unsplash (Thomas Dumortier)

Umschlaggestaltung: © Carolin Liepins

he · Herstellung: AW

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30161-3V003

www.cbj-verlag.de

Für alle Träumer:innen, die zu den Sternen hinaufschauen. Träume können wahr werden.

KAPITEL 1

Renie

Den ersten Blick auf Belle Morte erhaschte ich, als die Limousine auf der gemächlich ansteigenden Straße den Gipfel des Hügels erreichte. Die Vampirvilla befand sich am äußersten Stadtrand von Winchester, wo die historischen Fachwerkhäuser durch die grüne Weite des Nationalparks South Downs abgelöst wurden.

Die Sicht auf das Tor und die den Prachtbau umgebende Schutzmauer wurde mir größtenteils von einer Horde Paparazzi versperrt. Sie forderten die inzwischen wohl schillerndsten Stars der Welt lautstark auf, sich der Menge zu zeigen – zusammen mit allen anderen, die zu ihrem Umfeld gehörten. Seit nunmehr zwei Wochen gehörte auch ich diesem erlauchten Kreis an, denn meine Bewerbung als Blutspenderin war erfolgreich gewesen.

Die Limousine rumpelte über ein Schlagloch und mir drehte sich der Magen um. Ich stellte mein Champagnerglas ab. Ich war auch so schon das reinste Nervenbündel und der Alkohol machte es sicher nicht besser.

»Ich kann es gar nicht mehr erwarten!«, rief ein Mädchen links neben mir. »Phillip und Gideon und Etienne – oh, und Edmond.« Sie ratterte die Namen der Vampire von Belle Morte herunter, als seien sie alte Freunde.

Aber sie war mit ihrer Bewunderung nicht allein. Vampire waren dieser Tage der Inbegriff von Glanz und Glamour – geheimnisvolle, wunderschöne Unsterbliche, die vor zehn Jahren aus den Schatten getreten waren und bewiesen hatten, dass sie tatsächlich existierten. Und jetzt konnte die Welt gar nicht genug von ihnen kriegen. Frühere Superstars waren zu Sternchen degradiert worden, alle B-, C- und anderen Promis praktisch von der Bildfläche verschwunden. Regenbogenpresse und Klatschspalten, Fotoshootings und Talkshows – sie alle gehörten nun den Vampiren.

Den meisten Leuten gefiel das.

Mir nicht.

»Ich steh total auf Míriam«, verkündete der Typ mir gegenüber. »Ich kann es gar nicht erwarten, dass sie mich zwischen die Reißzähne kriegt.«

Ein anderer schüttelte den Kopf. »Ja, Míriam ist heiß, aber wenn sich schon jemand ein Stück von mir abbeißt, dann will ich, dass es die Eiskönigin höchstpersönlich ist: Ysanne Moreau.« Ein verträumter Ausdruck huschte über sein Gesicht.

Das Mädchen neben ihm schnaubte verächtlich. »Du kannst dir nicht aussuchen, wer dich beißt.«

»Ja, aber ein Mann wird ja wohl träumen dürfen.«

Ich sank auf meinem Sitz zurück und schüttelte im Geiste den Kopf. Belle Morte war eines von insgesamt fünf Vampirhäusern im Vereinigten Königreich und Irland und alle in dieser Limousine waren als auserwählte Blutspenderinnen und -spender auf dem Weg in dieses Haus. In unserer modernen Welt jagten Vampire ihre Beute nicht mehr aus den Schatten, sondern bezahlten stattdessen Leute wie uns dafür, unser Blut trinken zu dürfen.

Auf dem Papier war es ein ziemlich cooler Deal: sich als Spender bewerben, angenommen werden, für ein paar Monate in eins der Vampirhäuser ziehen und im Luxus leben, die Vampire von dir trinken lassen und am Ende mit sehr dickem Bankkonto wieder gehen. Leute wie ich, die aus ärmeren Verhältnissen stammten und Schwierigkeiten hatten, einen festen Job zu finden, konnten dieses Geld wirklich gut gebrauchen.

Trotzdem konnte ich all die Geschichten von Blut und Leichen, Tod und dem Bösen nicht vergessen, die mir so oft in Filmen und Büchern begegnet waren, bevor Vampire als romantische Helden neu erfunden worden waren und plötzlich nicht mehr als Bösewichte gegolten hatten. Schließlich musste zumindest ein Körnchen Wahrheit in diesen Legenden stecken.

Je weiter wir uns der Villa näherten, desto wilder wurde das Blitzlichtgewitter. Ich ballte die Fäuste, um die Hände still zu halten. Vielleicht war das hier doch ein Fehler. Spendende blieben so lange in einem Haus, bis sie den Vampiren langweilig wurden – Wochen, oder sogar Jahre später. Wenn ich Belle Morte erst betreten hatte, ließ sich unmöglich vorhersagen, wann ich es wieder verlassen würde. Und das wäre auch kein Problem gewesen, wenn ich nur wegen des Gelds oder des Ruhms hier gewesen wäre, wie alle anderen.

Aber das war ich nicht.

Vor fünf Monaten hatte auch meine Schwester dieses Haus betreten – und war nie wieder rausgekommen. Vor einigen Wochen hatte sie den Kontakt zu uns dann völlig abrupt abgebrochen. Ich hatte mich nur als Spenderin beworben, um herauszufinden, warum.

Meine rechte Sitznachbarin stylte mit den Fingern ihr kurz geschnittenes Haar. »Ich muss für die Kameras top aussehen«, erklärte sie mir, als sie sah, dass ich sie beobachtete.

Als kurz darauf die schmiedeeisernen Torflügel aufschwangen, die sonst den Weg nach Belle Morte blockierten, und die Limo langsam hindurchrollte, wurden das Blitzlichtgewitter und das laute Gebrüll schlicht überwältigend. Ich drehte den Kopf, um mein Gesicht hinter einem Vorhang aus rotbraunem Haar zu verstecken. Im Gegensatz zu den anderen Spendern interessierte mich nicht, ob mein Foto auf der Titelseite irgendeines Magazins auftauchte.

Drei Vampire stolzierten durch das Tor, flankiert von menschlichen Sicherheitsleuten in schwarzer Uniform. Vampire waren zwar stark genug, um sich die übereifrige Presse ohne fremde Hilfe vom Leib zu halten, hatten jedoch auch ein Image als elegante, mysteriöse Unsterbliche kultiviert. Und lästige Mediengeier wie wertloses Spielzeug durch die Luft zu schleudern, hätte sich negativ auf dieses öffentliche Image ausgewirkt, weshalb die Vampire menschliche Leibwächter die Drecksarbeit für sie erledigen ließen.

Die Limousine blieb nicht weit vom Tor entfernt stehen und jemand öffnete die Tür, um uns aussteigen zu lassen. Als ich an der Reihe war, blickte ich einem Mann in den Vierzigern entgegen, mit Lachfalten um die Augenwinkel, das Mondlicht glänzend auf seinem runden, glatt rasierten Kopf.

»Dexter Flynn, Sicherheitschef«, stellte er sich vor und half mir aus dem Wagen.

Ich zog den Kopf ein, während die Journalistentraube sich eifrig um uns scharte, Fragen brüllte und meinen Namen schrie.

»Renie Mayfield …«

»… wie fühlen Sie sich dabei …«

»… hoffen Sie, zu erreichen …«

»… Vampire …«

Einer der Vampire schob sich an meine Seite, als die Reporter mich zu sehr bedrängten. »Ganz ruhig. Macht ein bisschen Platz für die junge Dame«, warnte er sie.

Wie alle Vampire war er klassisch attraktiv, das dunkelrote Haar ein auffälliger Kontrast zu seinen blauen Augen, das Lächeln schmallippig. Seine Reißzähne konnte ich nicht sehen.

Etienne Banville. Bevor ich meine Bewerbung als Spenderin ausgefüllt hatte, hatte ich so umfassende Recherchen wie möglich angestellt, weil ich wissen wollte, was auf mich zukommen würde. Unvermeidlich war ich dabei natürlich in ein Schwarzes Loch aus Fanart und Fanfiction, Meinungsumfragen zu Lieblingsvampiren und -spendern sowie zahllose Foren geraten, in denen endlos darüber spekuliert wurde, wer bei den Vampiren mit wem schlief. Es war mir damals ziemlich lächerlich vorgekommen, aber wenigstens kannte ich nun von allen die Namen.

Etiennes Miene verfinsterte sich ein wenig, während er mich ansah. Ich hatte keine Ahnung, warum.

Ich wollte dem Pressetrubel so schnell wie möglich entkommen und gar nicht erst stehen bleiben, um irgendwelche Fragen zu beantworten, aber einer der Journalisten stürzte sich förmlich auf mich und schlug mir beinahe sein Mikrofon ins Gesicht. Ich wich zurück und prallte gegen den wunderschönsten Vampir, den ich jemals gesehen hatte.

Strähnen aus rabenschwarzem Haar flatterten um die blassen Züge seines Gesichts, die Wangenknochen scharf genug, um Glas daran zu schneiden, seine Augen so dunkel und hart wie Onyx. Edmond Dantès.

»Das reicht jetzt«, sagte er und stieß den Mann weg.

Der Reporter zog sich zurück, aber die Kameras klickten und blitzten weiter. So viel dazu, dass ich mich aus dem Rampenlicht fernhalten wollte. Morgen würden Fotos von mir und Edmond die Schlagzeilen sämtlicher Klatschmagazine und Vampirseiten des Landes dominieren – vielleicht sogar der ganzen Welt. Die Vampirmanie war nicht nur in unserem Vereinigten Königreich ausgebrochen. Häuser gab es rund um den Globus und hingebungsvolle Vampirfans – oder Vladdicts, wie sie sich selbst gern nannten – lechzten stets verzweifelt nach neuen Gerüchten.

Edmond gab Dexter ein Zeichen und er kam zu uns herüber.

»Bring die Sache hier unter Kontrolle. Diese Leute sollten den Spendern nicht so nahe kommen können«, knurrte Edmond ihn an.

»Ja, Sir«, erwiderte Dexter.

Edmond blickte auf mich herab. »Alles in Ordnung?«, fragte er, seine Stimme nun weicher, die Worte von einem verblassten französischen Akzent gefärbt.

Plötzlich war ich völlig außer Atem und ein Schauer jagte durch meinen Körper. Edmond zog eine dunkle Augenbraue hoch.

»Mir geht’s gut«, murmelte ich und kam mir vor wie eine Idiotin. Die ganze Zeit hatte ich darüber gespottet, dass die Leute Vampire wie Götter behandelten – und jetzt, da ich selbst zum ersten Mal mit einem von ihnen sprach, stand ich völlig neben mir. Gut gemacht, Renie.

Edmond rauschte mit einem knappen Nicken davon. Das Mädchen, das in der Limo links von mir gesessen hatte, warf mir einen neidischen, vage mörderischen Blick zu, aber die mit dem Kurzhaarschnitt zwinkerte mir fröhlich zu. Wenigstens amüsierte sie sich, machte Kussmünder und warf mit Luftküssen um sich, als würde sie über den roten Teppich stolzieren, wohl wissend, dass die Fotos von ihr bald überall zu sehen sein würden. Vladdicts und andere Vampirfans wollten stets alles über uns erfahren – über frisch in eine Villa einziehende Spenderinnen und Spender ebenso wie über die verstoßenen, die aus ihren Verträgen entlassen und in ihr altes Leben zurückgeschickt worden waren, wo sie hin und wieder einen Platz in einer Talkshow ergatterten, Bücher veröffentlichten oder in Reality-Shows auftauchten.

»Okay, das reicht jetzt«, bellte Dexter und schob mit dem Unterarm einen weiteren übereifrigen Fotografen beiseite. »Wir bringen die Neuen jetzt rein.«

Das Tor schloss sich scheppernd hinter uns. Niemand durfte die Villa ohne offizielle Erlaubnis von Lady Ysanne Moreau, der Dame des Hauses, betreten. Natürlich war sie keine richtige Lady. Es war nur der Titel, mit dem sich die Herrscherinnen von Vampirhäusern in weiten Teilen Europas und Nordamerikas schmückten.

Ich blickte an der Villa hinauf. Sie wurde von mächtigen Scheinwerfern am Boden angestrahlt und sollte alt aussehen – ein hoch aufragendes gotisches Bauwerk aus grauem Stein, mit über kunstvollen Konsolen angebrachten Erkerfenstern, die Scheiben von innen mit Anti-UV-Rouleaus verdeckt. Über der mit Messing beschlagenen Tür war als steinernes Basrelief der Name des Hauses zu lesen: Belle Morte. Schöner Tod. Wie passend.

Wie hatte June sich gefühlt, als sie hierhergekommen war? Meine Schwester war Vladdict mit Leib und Seele und in den vergangenen zehn Jahren völlig dem Vampirwahn verfallen, deshalb musste das hier das Größte auf der Welt für sie gewesen sein.

Es musste einen vernünftigen Grund geben, warum sie den Kontakt abgebrochen hatte. Mum fand, dass ich überreagierte. Sie hatte mich immer wieder daran erinnert, dass noch nie ein Spender von einem Vampir verletzt worden war und dass Belle Morte, falls wirklich irgendetwas passiert war, sicher nicht ausgerechnet Junes Schwester als Spenderin akzeptiert hätte. Trotzdem konnte ich das Gefühl der Angst einfach nicht abschütteln. Und da Spenderinnen und Spender keinen Besuch bekommen durften, war mein einziger Weg in die Villa, selbst Spenderin zu werden.

Während wir dem gepflasterten Pfad zu der mächtigen Eingangstür folgten, die Dexter aufstieß, schnürte sich mir die Brust zu.

Nun gab es kein Zurück mehr. Hier war ich, und nichts würde mich davon abhalten, herauszufinden, was mit meiner Schwester passiert war.

Dexter führte uns in ein großzügiges Foyer mit Parkettfußboden und Wandvertäfelungen aus Mahagoni, von einem Kristallkronleuchter erhellt. Mit Blumenschalen gekrönte Marmorsäulen umrahmten die Tür und zu beiden Seiten der Fenster ergossen sich burgunderrote Vorhänge bis auf den Boden. Mehrere bogenförmige Durchgänge führten aus dem Vorraum, an dessen Ende eine breite Treppe mit verschnörkeltem Geländer nach oben stieg.

In den einschlägigen Vladdict-Internetforen wurde immer wieder darüber spekuliert, ob sich in den Tiefen der Villa ein Netz aus Geheimgängen verbarg, wahrscheinlich von denselben Leuten, die glaubten, Vampire seien in Wahrheit Engel oder Außerirdische.

Eine Gruppe aus Vampirinnen und Vampiren hatte sich auf der Treppe versammelt und beäugte uns neugierig. Edmond stand ganz vorne, zusammen mit Isabeau Aguillon, einer großen, gertenschlanken Frau, deren kastanienbraune Locken fast bis zur Taille herabfielen. Sie betrachtete uns mit dieser absoluten Gelassenheit, die Vampiren so leicht zu fallen schien. Die Vampirin, die ich eigentlich erwartet hatte – Ysanne höchstpersönlich –, war nirgends zu sehen. Belle Morte war ihr Haus, alle Vampire hier waren ihr untergeordnet. Im Prinzip gehörten wir ihr, solange wir hier wohnten.

Abgesehen vom Sicherheitspersonal war nirgends eine Spur von anderen menschlichen Angestellten zu erkennen. Allerdings war es auch schon kurz vor Mitternacht. Vielleicht waren sie bereits nach Hause gegangen.

»Im Namen der Dame des Hauses möchte ich euch offiziell in Belle Morte willkommen heißen«, begrüßte Isabeau uns. »Das Erdgeschoss ist für Spenderinnen und Spender größtenteils zugänglich. Hier befinden sich der Ballsaal, der Speisesaal, die Bibliothek, die Bar, die Fütterungsräume, die Kunstateliers, das Musikzimmer, der Meditationsraum und das Theater. Der Zutritt zur Küche und zu den Vorratsräumen ist Spenderinnen und Spendern untersagt. Die erste Etage umfasst vier Flügel. Im Nordflügel schlafen wir. Er ist für Spenderinnen und Spender verboten. Im Ostflügel befinden sich hauptsächlich weitere Vorratsräume. Ihr dürft sie betreten, wenn ihr wollt, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass es dort viel Aufregendes für euch zu entdecken gibt. Im Südflügel schlafen die Spenderinnen und Spender. Der Westflügel ist für alle verboten.« Isabeaus Stimme nahm einen warnenden Unterton an. Ohne wirklich einen Muskel zu bewegen, hatte sie sich … verändert. Die unnatürliche Reglosigkeit ihres Körpers, die gelassene Härte ihres Gesichts, der unergründliche Ausdruck in ihren Augen schrien förmlich nicht menschlich. »Wir nehmen die Regeln hier in Belle Morte sehr ernst, vor allem, wenn es um den Westflügel geht.« Sie richtete die Augen reihum auf jeden Neuankömmling, brennend wie Laser. »Jeder Verstoß gegen diese Regel führt zur sofortigen Auflösung eures Vertrags.«

Ich verdrehte die Augen. Was war da oben – eine rote Rose unter einer Glasglocke?

Isabeau ließ ihre Worte einen Moment lang sinken, bevor sie fortfuhr: »Die anderen Hausregeln wurden euch bereits in eurem Vertrag mitgeteilt, außerdem liegen in sämtlichen Zimmern Kopien aus. Dennoch möchte ich das Grundlegende noch einmal kurz umreißen. Es wird von Spenderinnen und Spendern erwartet, dass sie sich bestens in Form halten. Sämtliche Mahlzeiten werden für euch bereitgestellt. Ihr esst ausschließlich das, was euch serviert wird. Eine ausgewogene Ernährung ist entscheidend für gesundes Blut. Rauchen und Drogen jeglicher Art sind strengstens verboten. Alkohol ist erlaubt, aber übertreibt es nicht. Sämtliche Kleidung wird euch zur Verfügung gestellt, ebenso wie alle benötigten Kosmetikartikel, die ihr jeweils in eurem Zimmer findet. Falls ihr sonst noch etwas braucht, könnt ihr ein Antragsformular ausfüllen. In Belle Morte gibt es keine Computer, auch Smartphones oder andere internetfähige Geräte sind nicht erlaubt.«

Die letzten Worte klangen seltsam aus ihrem Mund, so als gehörte die moderne Technologie zu den Dingen, mit denen sie noch immer Schwierigkeiten hatte.

»Ihr dürft euren Lieben schreiben, so oft ihr wollt. Es werden jedoch alle Briefe überprüft, bevor sie abgeschickt werden.«

Der Typ neben mir wirkte vollkommen verdutzt, so als hätte er völlig vergessen, dass Papier und Bleistift überhaupt existierten.

»Bis euer Vertrag ausläuft, dürft ihr als Spender keinen Vampir abweisen, der von euch zu trinken wünscht«, fuhr Isabeau fort. »Romantische Beziehungen zwischen Menschen und Vampirinnen und Vampiren sind strengstens verboten.«

Mein Blick wanderte von Isabeau zu Edmond, der schweigend an ihrer Seite stand, ganz Ebenholzhaar und Mondlichthaut. Okay, ich konnte nachvollziehen, warum die Leute von diesen wunderschönen Kreaturen fasziniert waren, aber ich vertraute ihnen trotzdem nicht. Was würde passieren, wenn sie der Welt langweilig wurden und sich keine Spender mehr freiwillig meldeten? Würden die Vampire dann anfangen, durch die Straßen zu ziehen und ihre Beute in die Schatten zu zerren, wie ihre Artgenossen in den Legenden?

Isabeaus Blick blieb für einen Moment an mir hängen und irgendetwas huschte über ihr Gesicht, zu flüchtig, um es richtig einzuordnen. Trotzdem wurde mir unbehaglich dabei.

Das kurzhaarige Mädchen aus der Limo lugte über meine Schulter. Ich war durchschnittlich groß, aber sie überragte mich um einige Zentimeter und ich musste den Kopf zur Seite neigen, um zu ihr hinaufblicken zu können. »Hey, Mitbewohnerin!«, sagte sie.

»Hä?«

»Hast du nicht zugehört? Wir teilen uns ein Zimmer.«

»Oh. Großartig.« Es war mir herzlich egal. Ich war hier, um June zu finden, keine neuen Freundinnen.

»Ich bin Roux.« Sie streckte mir ihre Hand hin. Ich schätzte sie auf ungefähr achtzehn, genau wie ich – angeblich schmeckte junges Blut besser –, und mit ihrem eckigen Gesicht und den kilometerlangen Beinen sah sie aus wie ein Laufstegmodel.

»Renie«, erwiderte ich und schüttelte ihr die Hand. Ihre Finger waren lang und dünn, die Nägel hochglanzpoliert.

Roux grinste und mir fiel ein winziges rubinrotes Piercing in ihrer Nase auf, das wie ein Blutstropfen glänzte. Standen Vampire wirklich auf so was? Ich nahm an, sie würde es schon bald herausfinden.

Die neuen und altgedienten Spender begegneten einander am Abend des Einzugs nie, vermutlich, um den Neuankömmlingen die Möglichkeit zu geben, sich erst ein wenig an alles zu gewöhnen. Ich würde June daher nicht vor morgen früh sehen. Während uns ein blonder Vampir namens Gideon zu den uns zugeteilten Schlafzimmern führte, betrachtete ich trotzdem jede Tür, an der wir vorbeikamen, und fragte mich, welche wohl Junes sein mochte.

Gideon redete nicht viel, aber wahrscheinlich waren wir für diese Kreaturen ohnehin nichts anderes als eine Mahlzeit. Es bestand kein Grund für sie, uns näher kennenzulernen.

»Ich hatte eigentlich gehofft, wir dürften die Vampire heute Nacht direkt füttern«, flüsterte der Typ, der neben mir ging. Er war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich und sah genauso modelmäßig aus wie Roux, mit perfekt gestyltem Haar, makelloser Haut und engelsgleichen Zügen. »Ich heiße übrigens Jason.«

Dann erst fiel mir auf, was er gesagt hatte: füttern. Das Wort schnitt sich förmlich durch mich hindurch und ich musste einen Schauder unterdrücken. Als ich meine Bewerbung eingereicht hatte, war mir klar gewesen, dass ich den Vampiren meine Adern zur Verfügung stellen musste, damit sie mir das Blut aussaugen konnten, aber ich konnte mir trotzdem nicht vorstellen, dass es wirklich passieren würde.

Jason ließ den Blick über Gideons breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine wandern. »Ich drücke mir jedenfalls alle Daumen und Zehen, dass dieses wahre Prachtexemplar mich auswählt.«

Gideon bliebt abrupt stehen. Jason war so damit beschäftigt, ihn zu bewundern, dass er beinahe gegen den Rücken des Vampirs prallte. Zum Glück schien Gideon es nicht zu bemerken.

»Roux und Irene, das ist euer Zimmer«, sagte er.

Als ich meinen vollen Namen hörte, zuckte ich zusammen. Alle nannten mich Renie, seit ich auf der Welt war, weil June damals noch zu klein gewesen war, um Irene richtig auszusprechen.

»Cool, danke«, sagte Roux. »Bis morgen, Jason.«

Jason eilte Gideon hinterher, während Roux unsere Tür aufstieß und ich ihr nach drinnen folgte.

»Wow«, hauchte sie.

Ich stimmte ihr schweigend zu.

Das Zimmer war großzügig, die Wände zierte eine beflockte Samttapete in hellstem Gold und der cremeweiße Teppich war so dick, dass er sich anfühlte, als würde man auf Wolken gehen. Vorhänge in dunklerem Gold säumten die Fenster, obwohl sie mit Rouleaus verschlossen waren, die wir nicht öffnen konnten. Wenigstens durften wir tagsüber nach draußen.

Die beiden Betten standen einander fast gegenüber, beide mit kunstvoll geschnitzten Mahagonikopfteilen und prächtigen Satinüberwürfen. Ein riesiger Kleiderschrank dominierte eine der Wände, eine lange Frisierkommode die andere. Neben einem der Betten posierte eine bronzene Statue der Venus von Milo auf einem Nachttisch, neben dem anderen bot eine offene Tür einen ersten Blick auf das cremefarben geflieste Bad. Auch hier hing ein Kristallkronleuchter von der Decke. Außerdem roch es im ganzen Raum vage nach Rosen.

Es war meilenweit von dem winzigen Zimmer entfernt, das June und ich uns unser Leben lang geteilt hatten.

Roux quiekte begeistert, sprang auf das Bett neben dem Badezimmer und warf dabei die Kissen auf den Boden. »Das ist unglaublich!«

Ich konnte ihr da nicht widersprechen, auch wenn es mir nicht gefiel. Meine Familie besaß nicht viel Geld und es war genau diese Dekadenz, die June in ihren Bann gezogen und sie in eine Welt gelockt hatte, die so unendlich weit von der entfernt war, die sie ihr Leben lang gekannt hatte.

Roux rollte sich vom Bett, hüpfte zum Kleiderschrank, zog die Doppeltür auf und stierte durch die Klamotten.

»Wer immer diese Sachen ausgesucht hat, hat ’nen echt sexy Style.« Sie hielt mir ein Teil unter die Nase, das wie ein Korsett aussah.

Spender durften nichts ins Haus mitbringen. Stattdessen hatten wir auf dem Bewerbungsformular unsere Maße und Schuhgröße angeben müssen, damit uns Kleider zur Verfügung gestellt werden konnten, wobei unser bevorzugter Stil nie abgefragt worden war. Alles, was zählte, war, was die Vampire wollten, und sie standen nicht besonders auf lässig-bequem – keine Überraschung, wenn man bedachte, dass die meisten von ihnen aus der Zeit der Korsetts und Reifröcke stammten.

»So viele hübsche Sachen«, trällerte Roux und zog ein elfenbeinfarbenes Spitzenkleid heraus.

Neue Kleidung war ein Luxus, den June und ich nie gekannt hatten. Wir hatten uns stets mit den abgelegten Klamotten von Freunden und Nachbarn zufriedengeben müssen – und ich fühlte mich gegen meinen Willen sehr zu dem Kleiderschrank hingezogen. Ich griff nach dem Ärmel einer weichen Lederjacke, die vermutlich ein kleines Vermögen kostete. Wenn wir die Klamotten bei unserem Auszug doch nur hätten mitnehmen dürfen … Sie zu verkaufen hätte mir mehr Geld eingebracht, als ich mit Babysitten oder beim Hunde-Spazierenführen jemals verdienen konnte.

June war hauptsächlich wegen der Vampire hierhergekommen, aber sie hatte auch gehofft, das Geld, das sie als Spenderin erhielt, würde ihr dabei helfen, für ihr Universitätsstudium zu bezahlen. Ich hingegen wusste, dass ich niemals studieren wollte. Selbst wenn Geld keine Rolle gespielt hätte: Was sollte ich schon studieren? Ich hatte nicht dieselben Träume wie June.

Roux wühlte noch ein wenig länger durch die Garderobe und hüpfte dann wieder auf ihr Bett.

»Also«, fragte sie und stützte das Kinn auf die Hände, »hast du jemand Bestimmtes im Auge, der oder die sich bei dir die Ehre geben soll?« Sie fletschte die Zähne und tat, als würde sie zubeißen.

»Nein.«

»Vielleicht kriegst du ja Edmond.«

»Warum sagst du das?«

»Er ist sofort zu dir geeilt, um dich vor den Kameras zu retten, obwohl der Sicherheitstyp das genauso hätte regeln können.«

»Etienne hat auch geholfen.«

»Stimmt.« Roux rollte sich auf den Rücken und blickte zur Decke empor. »Glaubst du, er ist der Edmond Dantès?«

Ich setzte mich auf mein eigenes Bett und widerstand dem Drang, mit den Händen über das weiche Satin und die dicken Daunenkissen zu streichen. Es war nur ein Bett, nichts weiter. Mit ein bisschen Glück würde ich noch nicht mal besonders lange darin schlafen müssen. Sobald ich wusste, dass es June gut ging, würde ich wieder von hier verschwinden.

»Was meinst du denn damit?«, fragte ich.

»Du weißt schon, Der Graf von Monte Cristo.« Roux lachte, als ich sie nur leer anstarrte, und setzte sich auf. »Das Buch von Alexandre Dumas, derselbe Typ, der Die drei Musketiere geschrieben hat? Klingelt da irgendwas bei dir?«

»Von den Musketieren hab ich schon mal gehört.«

»Es geht darin um einen Mann namens Edmond Dantès, der wegen falscher Anschuldigungen im Gefängnis landet, ausbricht und plant, sich an den Leuten zu rächen, die ihn reingebracht haben. Es ist kein besonders gängiger Name und als das Buch geschrieben wurde, gab es haufenweise Vampire. Die Frage ist also: Basiert es tatsächlich auf wahren Ereignissen oder hat Edmond sich nach der Romanfigur benannt?«

»Woher weißt du denn das alles?«

»Ich bin mehr als nur ein hübsches Gesicht. Wenn er dich beißt, kannst du ihn ja vielleicht mal fragen, ob es da eine Verbindung gibt.«

»Er wird wahrscheinlich nicht mich auswählen.« Es wäre mir jedenfalls lieber gewesen. Die Erinnerung an seine Augen reichte schon aus, um ganz seltsame Dinge mit meinem Herzschlag anzustellen.

»Ich hoffe, dieser heiße blonde Typ wählt mich aus.« Roux ließ sich wieder auf dem Bett zurückfallen.

»Wer? Gideon?«

»Nein, der mit dem Pferdeschwanz. Ludovic.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann setzte Roux sich erneut auf. »Glaubst du, gebissen zu werden fühlt sich wirklich so gut an, wie alle behaupten?«

»Ich weiß es nicht. Sie bohren einem im Prinzip schließlich zwei dicke fette Nadeln in die Venen.«

»Bloß gut, dass ich keine Angst vor Spritzen hab.«

»Ich auch nicht. Aber ich werde trotzdem nervös, wenn ich mir vorstelle, dass mich jemand beißt und mein Blut trinkt.«

Roux entgleisten die Gesichtszüge und ich bereute sofort, was ich gesagt hatte. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass ich Belle Morte nicht mochte.

»Es würden sich nicht immer wieder Leute als Spender melden, wenn es wehtun würde«, versicherte ich ihr.

»Glaubst du, es stimmt, dass man nach den Bissen süchtig werden kann?«

»Vielleicht, aber das passiert wahrscheinlich nur unter extremen Bedingungen.« Ich wollte sie beruhigen, ehrlich, aber alles, woran ich denken konnte, war, dass die Leute offenbar nicht begreifen wollten, wie gefährlich Vampire sein konnten.

Ich wollte jedenfalls nicht vergessen, wozu sie womöglich tatsächlich fähig waren.

Während Roux weiter munter darüber plapperte, wie das Leben hier aussehen würde, legte ich mich auf mein Bett und dachte an June.

KAPITEL 2

Edmond

Edmond schritt den Korridor im Nordflügel hinunter, Ludovic an seiner Seite. Die Spenderinnen und Spender hatten sich schlafen gelegt, in Belle Morte war alles still.

»Ein paar der neuen Spenderinnen und Spender waren, nun, interessant«, bemerkte Ludovic. »Manchmal vergesse ich schlicht, dass es heutzutage durchaus üblich ist, dass Frauen ihr Haar so kurz tragen.«

»Du bist zu altmodisch, mein Freund«, erwiderte Edmond.

Ludovic warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Hast du dich nicht erst kürzlich gegen die Installation von Überwachungskameras ausgesprochen, weil du nicht verstehst, wie sie funktionieren?«

»Touché.«

Edmond blickte zu den Kronleuchtern über ihnen hinauf. Auch jetzt noch, obwohl Elektrizität schon so lange ein Teil ihres Lebens war, staunte er hin und wieder noch immer darüber und erwartete beinahe, er würde jeden Moment aufwachen und feststellen, dass nur noch eine Flamme die Schatten fernhielt. So viele Dinge in der modernen Welt gingen schlicht über seinen Verstand.

»Das Mädchen mit dem rotbraunen Haar – das ist Irene Mayfield, nicht wahr?«, fragte Ludovic.

»In ihrer Bewerbung hat sie darauf hingewiesen, dass sie Renie bevorzugt.«

»Aber sie ist es, richtig?«

Edmond nickte.

»Ist Ysanne sich wirklich sicher, dass es eine gute Idee war, sie hierherzuholen?«

»Ysanne weiß, was sie tut.«

»Weiß sie das?«

Edmond zögerte. Ysanne war nicht nur die Dame des Hauses, sie war auch seine älteste Freundin. Das Band zwischen ihnen war über viele hundert Jahre geschmiedet worden – und June Mayfield war ein Geheimnis, das Ysanne nur ihm anvertraut hatte. Deshalb sollte er ihr genauso vertrauen. Aber er liebte Ludovic wie einen Bruder und sie hatten gemeinsam zu viel durchgemacht. Edmond konnte ihn nicht einfach so abspeisen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich die beste Vorgehensweise ist, die Wahrheit vor Renie zu verbergen«, räumte er ein. »Aber Ysanne hat sich nun einmal so entschieden und das müssen wir respektieren.«

Renie hatte etwas an sich, das Edmond faszinierte, und es war nicht nur ihre Schönheit – auch wenn sie wunderschön war, mit geschmeidigen Kurven und dichtem, herbstfarbenem Haar. Vielleicht lag es an ihrem Verhalten, als sie aus der Limousine gestiegen war. Die meisten Spender und Spenderinnen posierten bereitwillig für die Kameras und beantworteten Fragen, aber Renie hatte weder das eine noch das andere getan. Er nahm an, dass sie hier war, um die Wahrheit herauszufinden, aber war ihr der Ruhm wirklich so egal? Falls ja, dann war sie die erste Spenderin, der Edmond begegnet war, die so empfand.

Ludovic strich eine Haarsträhne zurück, die seinem tief im Nacken sitzenden Pferdeschwanz entkommen war. »Bist du sicher, dass du mir nicht verraten kannst, was wirklich los ist? Wir wissen alle, dass Ysanne irgendetwas vor uns verheimlicht und dass es etwas mit den Mayfield-Mädchen zu tun hat.«

»Du weißt, dass ich dir nichts sagen kann.«

»Die Wahrheit wird ans Licht kommen.«

»Da bin ich mir ganz sicher.«

Ysanne hatte Edmond erzählt, was tatsächlich vor sich ging, weil sie wusste, dass sie ihm ihr Leben anvertrauen konnte. Er hatte jedoch nicht erwartet, dass er das Geheimnis als so schwere Last empfinden würde. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was für ein Gefühl es sein würde, fast alle im Haus anlügen zu müssen, vor allem Ludovic. Sie waren stets ehrlich zueinander gewesen. Und nun würde er außerdem Renie anlügen müssen. Es sollte keine Rolle spielen – er kannte sie schließlich überhaupt nicht –, aber er konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken, wie verletzlich sie gewirkt hatte, als sie all diesen Kameras gegenübergestanden hatte.

Edmond schüttelte den Kopf.

Es spielte keine Rolle, wie bezaubernd oder faszinierend Renie war. Sie war aus einem bestimmten Grund hier und wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, würde sie Belle Morte wieder verlassen und er würde sie nie wiedersehen. Er hatte sehr viel Zeit damit verbracht, eine Mauer um sein Herz zu errichten, und niemand würde daran vorbeikommen, auch nicht Renie Mayfield.

Renie

Satinbettwäsche gehörte allem Anschein nach ebenfalls zu der glamourösen Welt der Vampire, aber ich konnte darin nicht schlafen. Ich vermisste meine kuschlige Bettdecke und die Kopfkissen, die ich schon als Kind gehabt hatte, mit dem gelben Blumenmuster, das inzwischen zu gräulichen Flecken ausgebleicht war. Dieses neue Bett war zu groß und zu kalt, die Laken zu glatt. In meinem schwarzen Seidenpyjama glitschte ich darin herum wie ein eingefetteter Seehund. Ich hätte mich stattdessen für eins der Spitzennachthemden entscheiden sollen, aber sie waren mir so übertrieben vorgekommen.

June hätte sie geliebt.

Würde sie sich freuen, mich zu sehen, oder stattdessen glauben, ich wollte ein Stück von ihrem Traum an mich reißen? Aber selbst wenn sie wütend wurde, würde sie sich wieder abregen, sobald sie erkannte, dass ich nicht bleiben würde. Wahrscheinlich würde sie mich sogar auslachen, dass ich mir solche Sorgen gemacht hatte, nur weil sie keine Briefe mehr geschickt hatte. Richtig?

Mum hatte mir einreden wollen, June würde sich hier nur zu gut amüsieren, um an zu Hause zu denken, aber ich war mir da nicht so sicher.

June war nur achtzehn Monate älter als ich und hatte mich stets wie eine Freundin behandelt, nicht wie ihre kleine Schwester. Das Einzige, was jemals zwischen uns gestanden hatte, war ihre Vampirbesessenheit. Sie hatte irgendwann aufgehört, mir wirklich alles anzuvertrauen, und als ihre Bewerbung in Belle Morte angenommen worden war, hatte ich sie gewarnt, dass sie einen Fehler machte. Ironischerweise hatte Mum genau dasselbe zu mir gesagt, als meine Bewerbung vor zwei Wochen akzeptiert worden war.

Doch in all den Briefen, die June uns geschickt hatte, hatte sie deutlich gemacht, dass sie sämtliche Unstimmigkeiten zwischen uns vergessen wollte. Deshalb war es mir schwergefallen, weiter wütend auf sie zu sein, wenn sie in ihrem Lieblingsvampirhaus so glücklich war.

Und darum konnte ich auch nicht akzeptieren, dass sie den Kontakt einfach so abgebrochen hatte.

War ihr irgendetwas passiert?

Oder war ich paranoid?

Ich setzte mich auf. Roux schlief tief und fest, ein Fuß über der Bettkante baumelnd. Der Teppich verschluckte meine Füße beinahe, während ich aus dem Bett stieg und mich aus dem Zimmer schlich.

Belle Morte lag in tiefe Dunkelheit getaucht. Schatten verdüsterten die Ränder der Wände und ließen den Teppichboden beinahe komplett schwarz erscheinen. Die Porträts historischer Persönlichkeiten schienen mich missbilligend zu beäugen, während ich den Flur hinunterhuschte. Hatten einige der Vampirinnen und Vampire in Belle Morte diese Menschen im echten Leben gekannt?

Als ich mich der Haupttreppe näherte, tauchte eine dunkle Gestalt aus dem Nordflügel auf. Ich spannte mich an. Vielleicht sollten wir Spender uns so spät nachts eigentlich nicht mehr durch die Villa schleichen?

Die Gestalt kam näher und als ich das tintenschwarze Haar und die gemeißelten Wangenknochen erkannte, blieb mir die Luft im Halse stecken.

Edmond starrte zu mir herab. »Was tust du denn hier draußen?«

»Ich konnte nicht schlafen.«

Plötzlich war ich doch sehr froh, dass ich mich für den Pyjama und kein Nachthemd entschieden hatte – der Schlafanzug verbarg die Schamesröte, die an meinem Hals hinaufkroch.

Im Dunkeln sah Edmond beinahe unirdisch aus, sein Gesicht ein widersprüchliches Kunstwerk aus Schatten und Elfenbein, seine Augen hart wie Diamanten. Ich empfand ihn nicht direkt als einschüchternd, spürte aber dennoch ein unbehagliches Stechen, so als würde ich im Urwald einem Panther gegenüberstehen: völlig erstarrt, während das wunderschöne, unberechenbare Raubtier darüber nachdachte, ob es mich fressen sollte.

Doch meine Gereiztheit war stärker als das Unbehagen. Obwohl ich Vampire bisher nur aus Film und Fernsehen kannte, wusste ich, dass sie auf eine Weise reglos verharren konnten, zu der die Menschen nicht fähig waren, ohne die geringsten Tics oder einen anderen Hinweis auf ihrem Gesicht, die verraten hätten, was in ihrem Kopf vorging. Edmond konnte an alles Mögliche denken oder an gar nichts.

»Darf ich mich hier draußen nicht aufhalten oder so?«, fragte ich. »Weil ich mich nämlich nicht daran erinnern kann, dass es uns jemand verboten hätte.«

Das leichte Aufwärtswandern seiner Augenbraue war die einzige Reaktion auf meinen scharfen Ton. Vielleicht war es nicht besonders klug, ihn zu verärgern, aber die Art, wie er dastand und mich anstarrte, bescherte mir eine kribbelnde Gänsehaut. Vampire waren nicht menschlich und verhielten sich auch nicht wie wir. Ich wusste nicht, wie ich auf sie reagieren sollte, und Wut war nun mal meine beste Verteidigung.

»Die meisten Spender ziehen es vor, tagsüber auf Erkundungstour zu gehen«, sagte Edmond. »Vielleicht warst du nur zu aufgeregt, um noch zu warten?«

»Wohl eher zu nervös.«

»Weswegen solltest du nervös sein?«

Die Weichheit in seiner Stimme ließ die Röte an meinem Hals wieder aufblühen. Sie hatte etwas beinahe Intimes an sich, ein einlullendes Schnurren, das mich an Geflüster im Dunkeln erinnerte, an raunende Stimmen unter zerwühlten Laken.

»Ich werde morgen meiner Schwester wiederbegegnen und ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

»Deiner Schwester?«

»June Mayfield. Du musst sie doch kennen?«

Mir vorzustellen, wie er seine Reißzähne in der Haut meiner Schwester versenkte, genügte, um die Schmetterlinge aus meinem Bauch zu vertreiben.

Edmond starrte so lange schweigend vor sich hin, dass er beinahe aussah, als hätte er sich in Stein verwandelt. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm einen Finger ins Auge zu pieken, nur um ihm eine Reaktion zu entlocken. Aber dann sagte er doch etwas.

»Geh wieder ins Bett, Renie.«

Durch seinen französischen Singsang klang mein Name weich und exotisch, so als hätte er ihn ganz sanft über seine Zunge rollen lassen. Meine Haut begann zu glühen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte ich.

Er erwiderte nichts und auch sein leerer Ausdruck blieb starr. Dennoch hätte ich schwören können, dass ich spürte, wie sich die Luft um uns veränderte, so als sei er überrascht, dass ich seinen Befehl nicht sofort befolgte.

Er legte eine blasse Hand auf meine Schulter. »Geh wieder ins Bett«, wiederholte er.

Es hatte wenig Sinn, auf stur zu schalten. Edmond hätte mich zwischen zwei Fingern zerquetschen können – als Spenderin war ich ersetzbar. Hunderte blauäugige Möchtegerngroupies hätten dafür getötet, meinen Platz in Belle Morte einzunehmen.

Also ließ ich mich von ihm auf mein Zimmer zurückbringen. Meine Füße machten flüsternde Geräusche auf dem Teppichboden, aber Edmond war lautlos wie ein Geist. Wenn ich den Druck seiner Hand auf meiner Schulter nicht gespürt hätte, hätte ich geglaubt, ich wäre allein. Es war ein beunruhigendes Gefühl, zu wissen, dass jemand hinter mir ging und ich ihn nicht atmen hören konnte.

Als wir mein Zimmer erreichten, drehte ich mich zu Edmond um – keine Ahnung, was ich ihm sagen wollte –, aber er war bereits verschwunden. Der Abdruck seiner Hand kribbelte auf meiner Haut.

KAPITEL 3

Renie

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, weil ich erst wieder wahrnahm, wie Roux mich wach rüttelte.

»Komm, du Schlafmütze. Willst du den ganzen Tag verschlafen?«, trällerte sie.

Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Das Zimmer nahm um mich herum Gestalt an, aber seine Schönheit ließ mich kalt.

»Wie spät ist es?«, grummelte ich.

Roux sah auf ihre neue silberne Uhr – ein Willkommenspräsent von Belle Morte. »Viertel vor zehn.«

»Ernsthaft?« Es wirkte eher wie fünf Uhr morgens.

Roux zuckte mit den Schultern. »So ist das eben in Belle Morte: lange Nächte und morgens spät aus den Federn.«

Abgesehen von der Uhr trug Roux nur ein flauschiges rotes Handtuch, das zu unseren Bettbezügen passte. »Die Dusche ist der Hammer, kann ich nur empfehlen, aber wenn du sie testen willst, musst du dich beeilen, sonst verpasst du das Frühstück«, sagte sie.

Alle Spender und Spenderinnen nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein, deshalb musste ich auch nicht nach June suchen – sie würde mit am Frühstückstisch sitzen. Der Gedanke katapultierte mich förmlich aus dem Bett.

Das Bad war genauso schick wie das Schlafzimmer, der Boden und die Wände mit glatten cremeweißen Kacheln gefliest. Eine Krallenfußbadewanne aus Porzellan stand zwischen der Dusche, die groß genug für zwei war, und einem beheizbaren Handtuchständer. An der hinteren Wand hing ein bodentiefer Spiegel mit kunstvoll geschmiedetem Silberrahmen, während sich in der gegenüberliegenden Ecke eine Toilette und ein Waschbecken befanden. Genau wie im Schlafzimmer lag auch im Bad der schwache Duft von Rosen in der Luft.

Roux hatte recht: Die Dusche war der Hammer. Der heiße Wasserstrahl schoss mit solcher Kraft heraus, dass es sich wie eine Ganzkörpermassage anfühlte, aber ich blieb nur lange genug darunter, um mich zu waschen.

Ich wickelte mir ein Handtuch um und ging zurück ins Schlafzimmer. Roux war inzwischen angezogen und trug eine enge Jeans, ein schwarzes Spitzen-T-Shirt und Stiefeletten, die sie noch mal gut sieben Zentimeter größer machten. Sie ragte förmlich über mir auf.

»Cooles Outfit«, bemerkte ich.

»Ich weiß.« Sie drehte sich im Kreis und blies mir eine Kusshand zu.

Ich durchsuchte den Kleiderschrank und schnappte mir die erstbeste Hose und das erstbeste Top in meiner Größe. Die Hose war aus weichem grauen Leder, das Top so dünn wie Seidenpapier. Ich hatte noch nie etwas so Schönes besessen und einen flüchtigen Moment lang vergaß ich, dass uns die Sachen von Vampiren zur Verfügung gestellt worden waren.

In meinem Vertrag stand, dass ich präsentabel aussehen musste, also trug ich Wimperntusche und Lipgloss auf, fuhr ein paarmal mit einer Bürste durchs Haar und begutachtete mein Spiegelbild. Nicht übel.

»Fertig?«, fragte Roux.

»Fertig. Dann lass uns mal sehen, wie die anderen Spender so sind.«

Wir gingen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und bogen nach rechts in Richtung Speisesaal ab. Direkt hinter dem Foyer befand sich eine Art Salon. Die dick gepolsterten Samtsessel und -sofas ließen die Ecken des Raums weicher erscheinen und in einer der Wände befand sich eine Tür, die in ein kleines Nebenzimmer führte.

Roux stockte und ich blieb mit ihr stehen.

In dem Zimmer saß ein Junge, ungefähr in unserem Alter, in einem Ohrensessel, den Kopf zur Seite geneigt. Über ihm stand eine Vampirin, ihr Mund auf seinen Hals gepresst, während sich ihr langes Haar mit seinem vermischte. Die Augen des Jungen waren geschlossen, sein Mund genüsslich geöffnet. Die Vampirin hob kurz den Kopf und sah uns an. Ihre Augen leuchteten rot, wie bei allen Vampiren, wenn sie hungrig waren.

Hitze kroch meine Wangen hinauf. Ich hatte noch nie einen Vampir fressen gesehen. Ich hatte das Gefühl, etwas sehr Privates zu beobachten.

»Keine Sorge, daran gewöhnt ihr euch schon noch«, sagte eine Stimme hinter uns und wir drehten uns beide um. Vor uns stand ein Mädchen, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. »Ich bin Melissa.«

Ich kannte den Namen von jeder Spenderin und jedem Spender in diesem Haus, genau wie die Namen sämtlicher Vampirinnen und Vampire, aber Melissas Gesicht kam mir besonders vertraut vor. Zwei Tage, bevor June aufgehört hatte, uns zu schreiben, hatte Belle Morte eine Kunstausstellung veranstaltet, an der sämtliche Bewohner des Hauses sowie ein paar ausgewählte Gäste von draußen teilgenommen hatten. Eins der Fotos von diesem Abend zeigte June und Melissa, wie sie gemeinsam lachend vor einer riesigen Metallskulptur posierten.

In den Wochen nach Junes möglichem Verschwinden hatte ich Stunden damit zugebracht, dieses Foto genau zu inspizieren, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte.

»Ich bin Roux und das ist Renie«, stellte Roux uns vor, während sie von der offenen Tür zurückwich, um Vampirin und Spender nicht zu stören.

»Renie?«, wiederholte Melissa und ihr Lächeln zitterte.

»Genau«, bestätigte ich. »June hat mich wahrscheinlich erwähnt?«

»June?«, fragte Roux stirnrunzelnd.

»Meine ältere Schwester. Sie ist eine der Spenderinnen hier.«

»Ich dachte, Familienmitglieder könnten nicht gleichzeitig Spender sein.«

Von dieser Regel hatte ich noch nie etwas gehört und mir schnürte sich vor Unbehagen die Brust zusammen.

»Du kennst June doch?«, drängte ich Melissa und beobachtete ihre angestrengt im Zaum gehaltene Miene.

Sie wandte den Blick ab. »Wir sollten jetzt zum Frühstück.«

Ich musste mich vorsichtig vorwagen. Melissa wusste irgendetwas und ich wollte sie auf keinen Fall verschrecken.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte ich sie.

»Fast sieben Monate.«

Roux stieß einen bewundernden Pfiff aus. Theoretisch konnten Spender jahrelang in einem Haus wohnen, falls die Vampire sie so lange wollten, aber die meisten blieben höchstens ein paar Monate. Ich schätze, es gab einfach zu viele Hälse dort draußen, von denen die Vampire kosten wollten.

Allerdings war nicht schwer zu erkennen, warum sie Melissa noch länger behalten wollten. Mit ihrem Afro, der wie ein pusteblumiger Heiligenschein um ihre makellose tiefbraune Haut, die großen Augen und die fedrigen Wimpern erstrahlte, gehörte sie zu den schönsten Menschen, die ich jemals gesehen hatte. Man hätte sie glatt selbst für eine Vampirin halten können, wenn sie nicht geblinzelt und geatmet und auf diese subtile, natürliche Weise mit den Händen gestikuliert hätte, die für Menschen typisch, Vampiren jedoch vollkommen unvertraut war.

»Gewöhnt man sich daran wirklich?«, fragte ich und blickte mich noch einmal zu dem Zimmer um.

Melissa zuckte mit den Schultern. »Es bleibt einem gar nichts anderes übrig. Du bist hier, um die Vampire zu füttern, also gewöhnst du dich entweder daran oder dein Aufenthalt hier wird richtig beschissen. Aber keine Sorge: Wir kommen alle als blutige Anfänger hierher.«

»Vorsicht, Wortspiel«, murmelte Roux.

»Amit ist einer von Catherines Lieblingen«, erklärte Melissa uns.

Obwohl ich wusste, dass auch die Geschmäcker von Vampiren verschieden waren, hatte ich nie darüber nachgedacht, ob sie vielleicht eine besondere Bindung zu bestimmten Spendern entwickelten. Eigentlich hätte ich mich bei dem Wissen, dass Vampire uns nicht nur als wandelnde Blutkonserven betrachteten, besser fühlen sollen, aber das tat ich nicht.

Melissa senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Man wird die beiden schon bald trennen. Alle Spender werden genau überwacht, um sicherzugehen, dass niemand zu viel Blut spendet. Außerdem sollte kein Vampir über längere Zeit einen bestimmten Spender bevorzugen.«

Widerwillig musste ich zugeben, dass die Vampire tatsächlich alles daranzusetzen schienen, dafür zu sorgen, dass die Spenderinnen und Spender gesund und glücklich waren. Aber warum hatte Melissa so seltsam auf Junes Namen reagiert?

Wir betraten den Speisesaal: einen großen, rechteckigen Raum mit demselben Parkettboden wie im Foyer, die Wände mit poliertem Eichenholz verkleidet. Die riesigen Fenster waren mit hölzernen Fensterläden verriegelt, die Schnitzereien von Früchten und anderem Essbarem zierten. Für die einzige Beleuchtung sorgten zwei Kronleuchter aus gehämmertem Eisen und mit kleinen Glaskugeln. Ein langer, mit einem weißen Tischtuch bedeckter Tisch stand mitten im Raum. Um ihn saßen die Spenderinnen und Spender und plauderten, lachten und aßen.

Ich ließ den Blick hastig über sie hinwegschweifen. June war nirgends zu sehen. Ein paar der Plätze am Tisch waren noch leer. Wahrscheinlich war sie nur noch nicht nach unten gekommen. Dennoch beschleunigte mein Herzschlag.

Bleib ruhig.

Ich verdrängte meine Angst und gesellte mich zu Roux, die an einem kleineren, mit Essen überladenen Tisch auf mich wartete. Mit glänzenden Beeren gefüllte Glasschüsseln standen neben Töpfen mit Biojoghurt und Porzellanständern mit Vollkorntoast. Platten mit Lachs, gespickt mit frischen Zitronenspalten, kämpften mit Bergen von cremigem Porridge um Aufmerksamkeit. An den Enden des Tisches stand je ein Glaskrug, einer gefüllt mit Orangensaft, der andere mit einem dickflüssigen rosa Smoothie.

Mir tat der Magen weh. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte.

Ich füllte eine Schale mit Porridge und schenkte mir ein Glas Saft ein, bevor ich Roux zu der langen Tafel folgte. Die anderen Spenderinnen und Spender begrüßten uns, indem sie uns laut ihre Namen zuriefen, aber die Einzigen, die ich noch nicht kannte, waren die, die gestern Nacht mit uns angekommen waren: Ranesh, Craig und Tamara, wie ich nun erfuhr. Es war alles ein bisschen viel auf einmal. Ich brachte ein schwaches Lächeln für Jason zustande, aber die Gesichter der anderen verschwammen komplett miteinander, also beugte ich mich über mein Frühstück und hoffte, dass mich niemand ansprechen würde.

Zum Glück redete Roux genug für uns beide, plauderte über unser luxuriöses Schlafzimmer, die fantastische Dusche und die unglaublichen Klamotten. Ich hielt den Blick auf die Tür des Speisesaals gerichtet und bemerkte jedes neue Gesicht, während nach und nach weitere Spender eintrafen, auf der Suche nach dem, was ich meisten liebte.

Roux knuffte mich in die Seite. »Sieh dir mal seinen Hals an«, flüsterte sie mir zu und nickte subtil in Amits Richtung, der ein Stück weiter unten am Tisch saß.

Ich sah hin. Amit unterhielt sich mit Tamara. Er lachte und warf den Kopf zurück, und dabei rutschte der Kragen seines Blazers ein wenig zur Seite und enthüllte seinen Hals.

Rote Einstiche und winzige silberne Narben sprenkelten seine Haut. Es sah aus, als wäre er mit einem Dutzend Nadeln gestochen worden. Reißzahnspuren.

Drei der Mädchen am Tisch hatten langes Haar, das ihren Hals verdeckte, und einer der Jungs trug einen Seidenschal, aber sonst konnte ich bei niemandem Bisswunden erkennen.

»Ich dachte, Vampire hinterlassen keine Spuren«, flüsterte ich zurück.

Roux legte eine Hand an ihre Kehle. »Ich hoffe, wir sehen am Ende nicht auch so aus.«

Warum manche Spender Bissspuren aufwiesen, andere hingegen nicht, war ein Rätsel, für das ich keine Zeit hatte. Roux würde es selbst lösen müssen.

Ich aß einen weiteren Löffel Porridge und spülte den milchigen Haferbrei mit kaltem, frischem Orangensaft hinunter. Das Essen schmeckte köstlich, aber ich hätte es noch mehr genossen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es vor allem dazu diente, den Geschmack unseres Bluts zu verbessern. Wir waren selbst nur eine Mahlzeit, die für den Verzehr vorbereitet wurde. Mit einem Mal war mir der Appetit vergangen und ich legte meinen Löffel beiseite.

»Also, welche ist deine Schwester?«, fragte Roux.

Ich blickte mich erneut am Tisch um und eine eiskalte Woge der Angst rauschte durch meinen Körper.

June war nicht hier.

In Belle Morte gab es nie mehr als dreißig Spenderinnen und Spender gleichzeitig, genug für die zwanzig hier lebenden Vampire. Wir sechs waren gestern eingetroffen, um andere Spender zu ersetzen, deren Vertrag ausgelaufen war – und alle dreißig von uns saßen nun an diesem Tisch. Ich zählte durch, dann noch einmal, und suchte dabei vergebens nach Junes lachenden Augen und ihrem Haar, einen Farbton dunkler als meines.

Aber sie war nicht hier.

Etwas Düsteres, Hohles dehnte sich in mir aus. Seit Wochen hatte ich mir selbst eingeredet, dass June nur zu beschäftigt war, um mir zu schreiben, dass ihre Briefe in der Post verloren gegangen waren, dass sie irgendeine Vampirregel gebrochen und sie ihr deshalb verboten hatten, uns zu schreiben, dass ich, wenn ich erst einmal hier war, schon sehen würde, dass es ihr gut ging.

Doch nun waren meine schlimmsten Ängste wahr geworden.

Eins der Mädchen an diesem Tisch hatte meine Schwester ersetzt, aber June hatte Belle Morte nie verlassen. Also was zur Hölle war mit ihr passiert?

KAPITEL 4

Renie

Ich krallte mich an der Tischkante fest, bis mir die Finger wehtaten. In Panik zu verfallen würde mir auch nicht helfen. Es konnte immer noch eine völlig vernünftige Erklärung für Junes Abwesenheit geben – das musste es.

Hackenschuhe klapperten und eine Frau rauschte in den Speisesaal. Selbst wenn ich ihr wunderschönes, eiskaltes Gesicht nicht erkannt hätte, die plötzliche Stille im Raum hätte deutlich gemacht, wie bedeutend sie war.

Vor zehn Jahren hatte eine Livereportage vom Schauplatz einer entsetzlichen Massenkarambolage auf irgendeinem Highway weltweite Berühmtheit erlangt, nachdem eine Frau vollkommen ruhig vor den Kameras aufgetaucht war und die Tür eines der Autos abgerissen hatte, um den darin eingeschlossenen jungen Vater und sein Baby zu befreien. Anschließend hatte sie ein weiteres Wrack aus dem Weg befördert, um ein älteres Pärchen aus dessen Wagen zu retten, bevor sie einem verletzten Biker unter seinem Motorrad hervorgeholfen hatte, indem sie das komplette Ding über ihren Kopf hob, als würde es nichts wiegen. Nachdem sie alle in Sicherheit gebracht hatte und Krankenwagen und Feuerwehr schließlich eingetroffen waren, hatte sich die Frau zu den Kameras umgedreht und erklärt, es sei an der Zeit, der Welt die Wahrheit zu verkünden: Sie war eine Vampirin.

Nun stand diese Frau vor mir.

Ysanne Moreau, die Lady von Belle Morte.

Sie hatte ihre elfenbeinweiße Bluse in einen kamelfarbenen Bleistiftrock gesteckt und war wahrscheinlich ungefähr so groß wie ich, obwohl sie in ihren Absätzen größer aussah. Ein Diamantanhänger schmiegte sich in die Mulde an ihrer Kehle und ihr blondes Haar hing in einem kerzengeraden Schwall über ihren Rücken, glänzend, als hätte sie es geölt. Sie ließ den Blick über uns schweifen wie eine Königin, die den örtlichen Pöbel mit ihrer Anwesenheit beehrt.

»Willkommen in Belle Morte«, sagte sie.

Wie bei Edmond und Isabeau färbte ein subtiler französischer Singsang ihre Worte.

»Isabeau hat euch bereits über die in meinem Haus geltenden Regeln informiert und ich gehe davon aus, dass alle sie verstanden haben. Ich bin nicht gut auf Missetäter zu sprechen.« Ysannes Lächeln war kalt wie der Winter. »Ich bin mir sicher, ihr werdet euch während eures Aufenthalts hier alle sehr wohlfühlen.«

Ihre blassen Augen wanderten über uns hinweg und ihr Blick blieb an mir hängen. Ihre Miene verriet nichts – sie hatte diesen leeren Ausdruck noch weiter perfektioniert als Edmond –, aber es lag eine durchbohrende Intensität in ihrem Blick, die mich förmlich an meinen Stuhl zu fesseln schien und mir das Gefühl gab, sie würde mein Innerstes nach außen stülpen.

Ysanne kannte jede Spenderin und jeden Spender, die jemals durch die Tür dieser Villa getreten waren und sie wieder verlassen hatten – wenn jemand wusste, was mit June passiert war, dann sie.

Sie erklärte uns, welches Glück wir neuen Spender hatten, in dieses vielleicht prestigeträchtigste aller Vampirhäuser aufgenommen worden zu sein, bevor sie mit laut klappernden Absätzen wieder aus dem Zimmer verschwand.

Ich wusste nicht, wie alt Ysanne war – manche Vampire waren überraschend verschwiegen, was ihr Alter betraf –, aber ich war mir sicher, dass sie zu den ältesten Vampiren weltweit gehörte. Ich verschwendete mehrere wertvolle Minuten damit, mir zu überlegen, wie ich mich ihr am besten nähern sollte, bevor mir bewusst wurde, dass es keine Rolle spielte. Meine Schwester war verschwunden und mich interessierte nicht, wie ich Ysannes Aufmerksamkeit erregte, sondern nur, dass ich es tat.

Ich schob meinen Stuhl zurück und sprang auf.

»Wo gehst du denn hin?«, fragte Roux.

»Ich hab was zu erledigen.«

»Ganz allein?«

»Ja.«

»Oh.« Roux sah mich mit großen Augen an und wirkte verletzt.

»Tut mir leid«, murmelte ich.

Wahrscheinlich wünschte sie sich, man hätte ihr eine andere Zimmergenossin zugeteilt.

Vielleicht konnte ich ihr alles erklären, wenn ich erst die Wahrheit herausgefunden hatte.

»Ich leiste dir solange Gesellschaft«, sagte Jason zu ihr und Roux’ Miene hellte sich auf.

Ich überließ die beiden sich selbst.

Belle Morte war ein sehr weitläufiges Gebäude und für eine Frau in wolkenkratzerhohen Hacken war Ysanne verflixt schnell. Ich hatte keinen Schimmer, wohin sie verschwunden war, und nachdem ich mehrere mir völlig unbekannte Flure hinauf- und hinuntergerannt war, hatte ich auch keinen Schimmer mehr, wo ich war.

Ich blieb stehen und versuchte, mich zu orientieren. Der Gang war waldgrün tapeziert, der Teppichboden aschgrau. Auch hier zierten Porträts die Wände und ich wandte mich von ihren starrenden Augen ab.

»Es scheint langsam zur Gewohnheit zu werden, dass wir einander begegnen.«

Edmonds Stimme glitt seidig über mich hinweg und mir krampfte sich der Magen zusammen. Ich drehte mich um und sah ihn vor mir stehen, schön wie die Sünde. Die schwarze Hose schmiegte sich eng um seine Beine und sein weißes Hemd war am Hals aufgeknöpft und enthüllte ein Dreieck seiner Brust. Das dunkle Haar fiel über seine Schultern.

Ich leckte mir die Lippen und redete mir selbst ein, dass die plötzliche Trockenheit in meinem Mund nicht das Geringste mit Edmond zu tun hatte, sondern nur darauf zurückzuführen war, dass ich nervös war, weil ich mich in einem Haus voller Vampire verlaufen hatte.

»Ich suche Ysanne«, sagte ich.

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Meine Schwester ist nicht hier und ich will wissen, warum. Was habt ihr Vampire mit ihr gemacht?«

Seine Miene verriet nichts. Mussten Vampire erst üben, so statuenhaft leer zu gucken, oder kam das irgendwann ganz von allein, wenn man so lange lebte?

»Weißt du, wo Ysanne ist, oder nicht?« Sein Schweigen ging mir langsam auf die Nerven.

»Ich fürchte, sie ist zu beschäftigt, um sich mit Spenderinnen zu unterhalten.«

»Ja, ich bin mir sicher, dass sie sogar sehr beschäftigt ist und mal wieder für ein Fotoshooting posieren muss oder so, aber das hier ist wichtig«, blaffte ich ihn an.

»Du solltest gut aufpassen, was du sagst. Ysanne reagiert sehr bestimmt auf jede Form von Impertinenz.«

»Ich zittere schon.«

Edmond türmte sich förmlich vor mir auf und mein Wagemut verpuffte. Die Nervosität kribbelte auf meiner Haut. Er war kein Mensch, und auch wenn Vampire inzwischen seit einem Jahrzehnt in der Öffentlichkeit standen – wie viel wussten wir tatsächlich über sie, wenn sie uns nur das zeigten, was wir sehen sollten?

Ich wollte Edmond nicht zeigen, wie nervös er mich machte, konnte jedoch nicht anders, als mich ein Stück zurückzulehnen, weg von der schieren Macht seiner bloßen Anwesenheit. Zu meiner Überraschung wich auch Edmond zurück und es strömte wieder Luft in meine Lunge.

»Ich werde meine Schwester finden«, sagte ich leise. »Und da mein einziger Weg zu ihr über Ysanne führt, werde ich notfalls jede einzelne Tür in Belle Morte öffnen, bis ich sie gefunden habe.«

Edmond betrachtete mich für einen langen Moment, ein Hauch von Neugier in seinen Augen. Ich kam mir vor wie ein dressiertes Tier, das gerade etwas Unerwartetes getan hatte.

»Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich bringe dich zu ihr.«

Edmond sprach nicht, während er mich zu Ysannes Arbeitszimmer führte. Er wirkte nicht verärgert, aber ich konnte ein Gefühl des Unbehagens nicht abschütteln. Was hatte er gedacht, als ich ihn so angefaucht hatte? Er war stark genug, um mir mit einer Hand das Genick zu brechen, und viele Vampire hatten genau das – oder noch Schlimmeres – im Laufe ihres Lebens bestimmt schon einmal getan.

Mein verräterisches kleines Herz versicherte mir, dass Edmond diese unfassbar eleganten Hände nur für gute Taten benutzen konnte, aber mein Verstand war lauter und beharrlicher und tadelte mein Herz, nicht so dumm zu sein. Ich kannte Edmond nicht und wusste nicht, wozu er fähig war – und das durfte ich nie vergessen, ganz gleich, wie heiß er vielleicht sein mochte.

Wir blieben vor einer Tür stehen, halb aus Eichenholz, halb aus Milchglas, und Edmond klopfte an.

»Ich bin beschäftigt.« Ysannes Stimme klang scharf und kalt, selbst durch die Tür.

»Renie Mayfield wünscht mit dir zu sprechen«, teilte Edmond ihr mit.

Eine Pause folgte und ich war mir sicher, Ysanne würde meine Bitte ablehnen. Dann sagte sie: »Lass sie rein.«

Für den flüchtigsten Moment blitzte Überraschung auf Edmonds Gesicht auf, dann öffnete er die Tür und schob mich ins Zimmer. Ich hatte nicht erwartet, dass er mir folgen würde, aber das tat er.

Ysannes Büro war moderner als vermutet, ein krasser Gegenentwurf zum klassischen Prunk, der den Rest der Villa dominierte. Der Teppichboden war weiß und bildete einen starken Kontrast zu der dunklen Tapete. Zwei Sessel aus Chrom und Leder standen vor einem schwarzen Schreibtisch, hinter dem Ysanne eher wie eine hypererfolgreiche Geschäftsfrau aussah als wie eine uralte Vampirherrscherin. Sie beäugte mich wie ein Insekt, das es gewagt hatte, in ihren Dunstkreis zu kriechen.

»Renie ist hier, weil sie mit dir über ihre Schwester sprechen möchte«, erklärte Edmond ihr.

Ysanne zuckte nicht mal mit der Wimper. Ihre Haut war marmorn, ihre Augen hatten die Farbe von Frost.

»June Mayfield. Sie ist vor fünf Monaten hier eingezogen«, sagte ich. »Im November hat sie aufgehört, uns zu schreiben. Ich bin hergekommen, um sie zu suchen … aber hier ist nirgendwo eine Spur von ihr. Was ist passiert?«

Ysannes Blick huschte zu Edmond. »Dafür hast du mich unterbrochen?«

Wut kochte in mir hoch. Wir sprachen hier von meiner Schwester.

»Sie glaubt, dass ihrer Schwester etwas passiert ist«, sagte Edmond.

Ysannes Gesicht wurde einen Hauch weicher, als sie ihn ansah, und ich fragte mich, welche Verbindung zwischen den beiden bestand. In der Regenbogenpresse, den Magazinen und Klatschspalten wurde sehr lebhaft darüber diskutiert, wer bei den Vampiren mit wem schlief – und es hätte kaum jemanden überrascht, wenn Ysanne und Edmond sich hin und wieder zusammen unter der Decke vergnügt hätten.

Sie waren so elegant und so wunderschön – sie hätten das sexyeste Paar der Welt abgegeben. Trotzdem konnte ich mir bei keinem von ihnen wirklich vorstellen, dass sie sich irgendwann mal genug entspannten, um sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen und miteinander ins Bett zu hüpfen.

Ysanne blickte wieder zu mir, kalt und teilnahmslos wie eh und je. »June Mayfield ist nicht hier.«

»Das ist mir bewusst. Wo ist sie?«

»Sie wurde in ein anderes Haus verlegt.«

Mein Herz begann zu rasen. »Das glaube ich nicht. Spender werden nicht verlegt.«

Ysanne lächelte aalglatt. »Es ist ein neues Programm.«

»So neu, dass noch nie jemand was davon gehört hat? Und ihr euch nicht die Mühe gemacht habt, es groß anzukündigen? Das ist doch Bullshit.«

»Deine Meinung ist hiermit zur Kenntnis genommen.«

»Okay, dann will ich auch verlegt werden. In welchem Haus ist sie?«, fragte ich.

»Das geht dich nichts an.«

»Von wegen, verdammt.«

Ysannes Stimme wurde schärfer. »Es wird keine weiteren Verlegungen geben.«

Das Blut pulsierte in meinen Ohren und meine Brust war so zugeschnürt, dass mir das Atmen schwerfiel. »Sag mir die Wahrheit.«

»Das habe ich bereits.«

Ich lehnte mich vor und zeigte ihr meinen besten eiskalten, tödlichen Vampirblick. »Du lügst.«

Gegen Ysannes Starren war mein Versuch vollkommen lächerlich. »Muss ich mich wirklich wiederholen?«, fragte sie.

Meine Hände zitterten, Angst und Wut rauschten wie elektrisch durch meine Adern. Wie konnte sie einfach hier sitzen und mir ins Gesicht lügen?

»Du kannst jetzt gehen.« Ysanne winkte mit einer Hand.

»Ich gehe nirgendwohin, solange du mir nicht gesagt hast, was mit June passiert ist.«

Die Vampirin rührte sich nicht, aber plötzlich war ich mir des Zorns sehr bewusst, der sich in beinahe spürbaren Wellen aus ihrem Körper ergoss, über meine Haut schwappte und mich erzittern ließ. Ysanne war uralt und mächtig und ich wollte sie ganz sicher nicht zur Feindin. Aber ich konnte ihre Lüge auch nicht einfach schlucken und wieder verschwinden.

»Muss ich dich gewaltsam entfernen lassen?« Ihre Worte klirrten frostig.

Edmond legte mir eine Hand auf die Schulter. Eben hatte ich mich in seinem Beisein noch unwohl gefühlt. Jetzt wollte ich mich am liebsten an ihn lehnen. Wenn Ysanne die Beherrschung verlor und mich angriff, war er vielleicht das Einzige, was noch zwischen ihr und mir stand. Aber vielleicht würde er auch einfach zusehen, wie sie mir die Kehle rausriss.

Mach dich nicht lächerlich. Belle Morte hätte sich niemals als berühmtestes Vampirhaus in ganz England etabliert, wenn die Vampire hier die Angewohnheit gehabt hätten, jeden umzubringen, der ihnen auf die Nerven ging.