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Eine große Familiensaga: SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Riepp spannt in »Belmonte« den erzählerischen Bogen von Krieg zu Liebe, von Müttern zu Töchtern, von Deutschland nach Italien.
Die fast 30-jährige Simona ist überrascht, als sie von ihrer Großmutter Franca ein Haus im verschlafenen Belmonte erbt. Bislang wusste sie nichts von dessen Existenz. Als die Enkelin einer Gastarbeiterin in Italien ihre Wurzeln erkundet, entdeckt sie nach und nach ihre eigene Familiengeschichte – und die Geheimnisse ihrer Großmutter.
Gemeinsam mit ihr lernen Sie vier Generationen kennen; jede mit ihren eigenen Heimlichkeiten, Konflikten und starken Frauen.
Antonia Riepp ist das Pseudonym einer bekannten deutschen Bestsellerautorin. Wer die lebhaften Dorfbewohner von Belmonte kennen- und lieben gelernt hat, darf sich freuen, denn »Belmonte« ist der erste Teil einer Trilogie. Der Fortsetzungen »Villa Fortuna« und »Santo Fiore« ziehen die Leserinnen ebenfalls mit der berührenden wie fesselnden Erzählung in ihren Bann.
Dieses Buch wollen Sie nicht wieder aus der Hand legen.
Gelungen ist Riepp vieles in diesem Roman: Die erzählerische Kraft begeistert, der Spannungsbogen fesselt, die Charaktere sind einnehmend. Herausragend ist jedoch ihr Geschick, Frauenfiguren mit Stärken und Schwächen so zu zeichnen, dass man sie fast bewundern muss. Mit Verständnis und Respekt zeigt die Autorin, mit welchen Herausforderungen Frauen von 1944 bis ins 21. Jahrhundert kämpfen müssen.
»Antonia Riepp schreibt unaufgeregt und fließend leicht. Gleich ab der ersten Seite fühlt man mit den so unterschiedlichen Frauen mit und kann das Buch kaum noch zur Seite legen.« Freundin
Antonia Riepp gelingt mit »Belmonte« ein atemberaubender Generationenroman. Die geschickte Erzählkomposition, die liebenswerten Charaktere und die düsteren Geheimnisse der Familie ziehen die Leserinnen in die Geschichte. Trotz der vielen Konflikte strotzt der Roman vor italienischem Flair und einer südländischen Leichtigkeit. Wer »Bella Germania« von Daniel Speck mochte, wird »Belmonte« lieben.
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Seitenzahl: 626
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover & Impressum
1
Sandkörner
2
Totenvögel
3
Rosalias Kräuter
4
Das Testament
5
übern Brenner
6
Der Bräutigam
7
Die vergessenen Dinge
8
Die Hundertjährige
9
Weißer Staub
10
Der Rüpel
11
Gerüchte und Geschenke
12
Ein Jahrhundert Belmonte
13
Pläne
13
Der Kuhhandel
15
Das Porträt
16
Eine Braut wie ein Schinken
17
Das Staunen der Welt
18
Heimweh
19
Fluchttiere
20
Das Medaillon
21
Bonntschorrno
22
Sintflut
23
Die Strafe
24
Die Schafe
25
Zwei Steine
26
Feuer und Schwert
27
Besuche
28
Der Rausch
29
Die Toten kommen zurück
30
continua a sognare
31
Eine familiäre Angelegenheit
32
mia figlia
33
Expertenrat
34
Terra santa
Erklärung und Danksagung
Kapitel 1
Teresa
Noch war es still. Kein Hund bellte, kein Hahn krähte, sogar die Nachtigallen schwiegen. Ein Schatten löste sich von der Mauer, die den alten Dorfkern umgab, glitt lautlos zwischen Tomatenstauden, Obstbäumen und Weinreben den Hang hinab und folgte schließlich der schmalen Schotterstraße, die im Bogen um den Ort herumführte.
Vor einem Gehöft verharrte der Schatten. Ein leiser Pfiff. Zwei Gestalten verschmolzen in einer flüchtigen Umarmung, Rucksäcke wurden geschultert, ein paar geflüsterte Worte gewechselt, dann marschierten sie los. Nur der Gleichklang ihrer Schritte in den festen Stiefeln durchbrach die Stille vor dem Morgengrauen. Im Westen erhob sich der gezackte Rücken des Apennin gegen den fahlgrauen Himmel und schickte eine frische Brise in die Täler. Es würde wieder ein heißer Tag werden.
In engen Serpentinen wand sich das Sträßchen nach oben. Die Rucksäcke wogen schwer, und die Gurte schnitten in die Schultern, aber die zwei Frauen verbissen sich das Jammern und legten ein strammes Tempo vor. Über ihnen verblasste die fadendünne Mondsichel.
Bevor der Weg in den Wald eintauchte, blieben sie stehen, um zu verschnaufen. Teresa wandte sich um. Ein giftgelber Streifen über der Adria kündigte den Sonnenaufgang an. Gegenüber von ihnen lag Belmonte auf dem Hügel wie eine eingerollte Katze, die Hausdächer eng aneinandergekrallt, die Gassen unsichtbar, nur der Uhrturm ragte in den Himmel, höher und breiter als der Kirchturm. Nirgendwo brannte Licht. Die Glocke am Uhrturm schlug viermal zur vollen Stunde, dann folgten fünf Schläge.
»Wir liegen gut in der Zeit«, flüsterte Marta.
Teresa nickte. Sie spürte Stiche in der Lunge.
»Bist du sicher, dass dich im Dorf niemand gesehen hat?«, fragte sie, als sie wieder Luft bekam.
»Ja. Komm, weiter.«
Der Wald empfing sie mit nachtfrischer Kühle. Sie nahmen die Kopftücher ab und erlaubten sich, etwas langsamer zu gehen, während sich über den Baumkronen der Himmel aufhellte. An einem Felsbrocken stellten sie die Rucksäcke ab. Quellwasser floss aus einem rostigen Rohr über einen Stein, auf dem das Moos leuchtete wie ein Smaragd. Sie fingen das Wasser mit den Händen auf, tranken davon und wuschen sich Gesicht und Arme.
Teresa griff in ihre Rocktasche und zog einen Lippenstift hervor.
»Ich fasse es nicht! Woher hast du den?«, rief Marta und schlug sich sofort erschrocken auf den Mund, als wolle sie die lauten Worte zurücknehmen.
»Von deiner Mutter. Für zwei Stallhasen.« Teresa drehte den Lippenstift aus seiner Hülle. Er war nicht neu, aber es war noch gut die Hälfte vorhanden.
»Was hast du bei dir zu Hause gesagt, wo die Hasen hin sind?«
»Der Fuchs … Kannst du mal? Ich habe keinen Spiegel dabei.«
Marta schüttelte den Kopf.
Teresa las ihre Gedanken: Die Welt zerbricht in Stücke, und sie denkt an Lippenstift!
»Oder meinst du, Cesare gefällt das nicht?«
»Woher soll ich das wissen?«, brummte Marta. »Aber da sind ja auch noch andere junge Kerle …«
»Nur einen Hauch.«
»Halt still.« Martas harte Hände umschlossen Teresas Kinn, während sie die Farbe auftrug. »Steht dir. Bist die Schönste im ganzen Land.«
Nach der Rast kam Teresa ihr Rucksack doppelt so schwer vor. Sie stöhnte.
»Beschwer dich nicht«, sagte Marta.
»Tu ich nicht.«
Um sie herum erwachte der Wald. Es knackte und knisterte, Elstern und Eichelhäher meldeten die Eindringlinge. Einmal kreuzte eine Rotte Wildschweine ihren Weg und ließ sie zusammenzucken.
Sie erreichten den Bergkamm. Goldene Sonnenstrahlen brachen durch das Blattwerk, als wollte Gott persönlich ihnen etwas sagen. Es roch nach Moos und Pilzen. Von jetzt an ging es nur noch ein kleines Stück bergab.
»Diese Hasen …«, begann Marta, »die gab’s am Sonntag. Zäh wie Schuhsohlen, die nonna hat sich ihren vorletzten Zahn daran ausgebissen.«
»Keine Verdächtigungen! Ich hab extra den Kopf drangelassen. – Und ein Zahn ist doch noch besser als keiner.«
Sie sahen sich an und brachen in Kichern aus, aber Marta legte sofort den Finger an die Lippen und wisperte: »Leise! Du weißt, es geht nicht nur um uns.«
Berichte über die Gräueltaten der Deutschen kursierten in der Bar, im Frisiersalon von Martas Mutter, in Ferris Lebensmittelladen und wo immer sonst sich die Wege der Dorfbewohner kreuzten. In der Toskana hatten sie im Zuge der »Bandenbekämpfung« ein ganzes Dorf namens Sant’Anna di Stazzema ausgelöscht. Männer, Frauen, Kinder, Alte, hingerichtet mit Maschinenpistolen und Handgranaten. Fünfhundertsechzig Leichen waren auf dem Kirchplatz aufgehäuft und verbrannt worden. Nur weil die Bewohner im Verdacht standen, Partisanen zu unterstützen. Und nicht bloß dort …
Falls ihr erwischt werdet, dürft ihr unter gar keinen Umständen sagen, woher ihr kommt! Das hatte man ihnen nicht nur einmal eingeschärft.
Teresa fröstelte. Das Angsttier, das in ihr schlummerte, erwachte und streckte seine Klauen aus.
Später dann, als Cesare ihren Namen aussprach, mit einer Stimme, in der die Sehnsucht der vergangenen Tage nachklang, fühlte Teresa sich ihm so nah, wie sie sich noch nie einem Mann nah gefühlt hatte. Sein Blick, voller Verlangen, ließ ihre Haut am ganzen Körper prickeln, und als er seine Hand in ihren Nacken legte, zuckte irgendwo in ihrem Innern ein wohliger Schmerz auf.
Vom Himbeerrot ihres Lippenstifts war schon längst nichts mehr zu sehen.
Sie saßen eng nebeneinander auf dem Stamm eines umgestürzten Baums, Teresas Hand durchkämmte sein verfilztes Haar, ihr Finger fuhr über seine aristokratische Nase, berührte den Bogen seiner Lippen, strich über die Bartstoppeln, die seine ausgehöhlten Wangen bedeckten. Wie dünn er geworden war. Sogar die Schlüsselbeine zeichneten sich unter dem Hemd ab.
»Wie lange wollt ihr hier noch bleiben?«, fragte sie.
Seine dunklen Augen verengten sich. »Bis wir die verdammten Deutschen und die Faschisten von Salò besiegt haben. Und das werden wir, glaube mir. In Piemont und Reggio Emilia gibt es schon Partisanenrepubliken, wo sich kein Deutscher mehr hinwagt.«
Erneut kroch die Angst in ihr hoch und vertrieb das schmerzhaft schöne Gefühl von eben. In der Höhle hinter ihnen lagerten Sprengstoff, Munition und Waffen. Der Sprengstoff wurde eingesetzt für Sabotageakte an Durchfahrtsstraßen, Eisenbahnverbindungen, Brücken, Telegrafenleitungen, Elektrizitätswerken – für alles, was der Logistik der Wehrmacht diente. Einige Partisanenbrigaden hatten inzwischen Einheiten der Besatzungstruppen direkt angegriffen. Umgekehrt waren auch schon Stützpunkte der Widerstandskämpfer entdeckt und tagelang beschossen worden. Teresa hoffte inständig, dass es für Cesare und seine Jungs nie zu einer direkten Konfrontation mit dem Feind kommen würde.
Der kleine Partisanenverband bestand aus ehemaligen Soldaten, die sich nach Kriegsende vor die Wahl gestellt sahen, sich entweder einer der vier Divisionen von Mussolinis Kollaborationsregime anzuschließen, das weiterhin an der Seite der Deutschen am Krieg teilnahm, oder eben der Resistenza unter Führung des CLN, des Comitato di Liberazione Nazionale – dem geheimen Bündnis der Linksparteien, die sich nach Kriegsende im September 1943 zusammengeschlossen hatten. Viele Soldaten hatten den Widerstand gewählt, was nicht hieß, dass sie alle überzeugte Linke oder Kommunisten gewesen wären. So war die Resistenza seit einem Jahr zu einer Art Massenbewegung geworden.
»Sie sind nicht unbesiegbar«, sagte Cesare. »Denk an Stalingrad.«
»Dann kann man nur hoffen, dass der nächste Winter ein sibirischer wird«, bemerkte Teresa voller Sarkasmus.
»Cara, entschuldige, ich habe nicht daran gedacht. Entschuldige!« Er küsste ihre Hände, und Teresa verzieh es ihm mit einem traurigen Lächeln. Weihnachten 1942 hatte ihr älterer Bruder Claudio beim Rückzugsgefecht des dritten Bersaglieri-Regiments in der Nähe der Stadt Tschertkowo den Tod gefunden. Es verging kein Tag, an dem sie nicht daran dachte.
In der Höhle wurden Rufe laut.
»Ein Wildschweinschinken!«
»Geräucherte Forellen!«
»Eine Salami! Und noch eine!«
Es war immer wieder erstaunlich, welche geheimen Vorräte die Leute aus diversen Verstecken hervorzauberten, trotz der von den Besatzern streng überwachten Ablieferungspflicht. Vor einiger Zeit noch hatten die einheimischen Behörden die Abgaben der Landwirte geregelt, und gegen einen saftigen Schinken oder einen Laib Käse war so manches Auge zugedrückt worden. Aber jetzt musste man extrem vorsichtig sein. In Mergo war ein Bauer wegen zweier versteckter Schweine erschossen worden.
»Seht nur, eine Pulle Grappa! – Marta, lass dich küssen!«
»Pfoten weg, Gianni!«
»Gianni, ich will, dass du der Genossin mit Respekt begegnest. Ihre Arbeit für die Resistenza ist genauso wichtig wie unsere.«
»Ist ja gut. Ich hab mich doch nur so über den Grappa gefreut.«
»Ich denke, wir sollten reingehen«, seufzte Teresa und erhob sich. Widerstrebend folgte ihr Cesare.
In der Höhle roch es nach Zigarettenrauch und ungewaschenen Männerkörpern. Teresa brauchte eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, das von zwei Petroleumfunzeln ausging. Dann bemerkte sie Martas traurigen Blick und ihr wehmütiges Lächeln. Sie kannte ihre Freundin lange und gut genug, um zu wissen, dass sie an ihren Verlobten Salvatore dachte. Er war zuletzt in Ljubljana in Slowenien stationiert gewesen. Im Chaos des Waffenstillstands Italiens mit den Alliierten im September 1943 war er desertiert, zusammen mit vielen anderen Soldaten und Offizieren. Letztere seien die Ersten gewesen, die geflohen waren, hatte er Marta geschrieben. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Jeden Tag ging Marta zu Ferris Lebensmittelladen, um sich mit bangem Herzen nach einer Nachricht von ihm zu erkundigen, und gleich danach in die Dorfkirche, wo sie vor dem Altar der Muttergottes darum flehte, Salvatore möge bald und in einem Stück zurückkehren.
Salvatore Ferri. Schmächtig und dürr wie ein Olivenstrunk, aber stets ein Schelmengrinsen im Gesicht, als freue er sich über etwas, das dem Rest der Welt verborgen blieb. Er war das ideale Gegenstück zu der ernsten, gewissenhaften Marta, die vom Leben nicht mehr beanspruchte, als an Salvatores Seite den alimentari von Belmonte zu betreiben. Den Laden, und eine Kinderschar. Drei Söhne wollte sie haben und eine Tochter, die ihr bei der Hausarbeit helfen sollte. Teresa hatte für derlei reaktionäre Träume stets nur ein mitleidiges Lächeln übrig, aber natürlich wünschte auch sie sich, dass der Verlobte ihrer Freundin heil zurückkäme.
Hoffentlich hatte dieser ganze Irrsinn bald ein Ende!
Marta hob ihren leeren Rucksack hoch und gab Teresa ein Zeichen zum Aufbruch.
»Jetzt schon?«, fragte Cesare enttäuscht. »Wartet lieber, bis es dämmert.«
Teresa warf Marta einen bettelnden Blick zu, aber die sagte: »Wir passen schon auf. Es würde auffallen, wenn wir erst in der Nacht zurückkommen. Du willst doch nicht, dass sie schlecht über deine Liebste reden, Cesare?«
»Wer redet schlecht über sie?«, fragte Cesare mit funkelnden Augen.
»Niemand«, wiegelte Teresa ab.
»Und was ist mit Costanza Rossi?«, erinnerte Marta.
»Die! Die ist doch nicht mehr ganz dicht.«
Vor zwei Wochen waren Marta und sie gegen Mittag von ihrer Tour zurückgekehrt, und die Alte hatte in ihrem Gemüsegarten gestanden und ihnen nachgerufen, sie wisse genau, wo sie herkämen, und dass sie Huren seien, elende Partisanenhuren, ja, das seien sie.
»Sie ist nicht die Einzige im Dorf, der man nicht trauen kann«, erwiderte Marta und sprach damit eine traurige Wahrheit aus. Als wäre die deutsche Besatzung nicht Unheil genug, tobte ein regelrechter Bürgerkrieg unter den Italienern. Faschisten gegen Widerständler und Kommunisten, die sich gegenseitig verfolgten, folterten und töteten.
Die Freundinnen stiegen den Hang hinauf bis zum Kamm, leichtfüßig, jetzt, wo die Rucksäcke leer waren, aber mit schweren Gedanken. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber noch war die Hitze nicht bis unter die Baumkronen durchgedrungen.
»Mach dir wegen Cesare nicht zu viele Hoffnungen«, sagte Marta, nachdem sie den Grat überquert hatten und der schmale Pfad wieder steil bergab führte. »Die Priscos werden für ihn eine Braut wollen, die Geld mitbringt. Oder Land. Ich meine, viel Land, nicht die paar Hektar von deinen Eltern. Eine Frau von einem großen Gutshof. Oder eine aus der Stadt.«
»Cesare wird diese Braut nicht wollen. Er will mich.«
»Hat er das gesagt?«
»Das muss er nicht sagen, das weiß ich.«
Marta schwieg dazu.
»Außerdem ist er nicht der Hoferbe, er ist der Zweitgeborene«, setzte Teresa trotzig hinzu.
»Nur wenn sein Bruder Basilio zurückkommt.«
»Dieser Befreiungskrieg wird bald vorbei sein«, meinte Teresa. »Immerhin haben die US-Truppen vor zwei Monaten Rom besetzt. Wenn erst in ganz Italien die Faschisten besiegt sind, wird ein anderer Wind pfeifen.«
»Auch in Belmonte?«, fragte Marta mit leisem Spott.
»Natürlich, überall«, antwortete Teresa mit der Ernsthaftigkeit einer überzeugten Idealistin. »Klassenunterschiede werden bald nicht mehr zählen. Italien wird eine Volksdemokratie. Gutsbesitzer wie die Priscos werden nicht länger was Besseres sein. Ihr Land wird denen zurückgegeben, von denen sie es vor Generationen geraubt und ergaunert haben.«
»Darauf bin ich gespannt.«
»Außerdem will ich sowieso nicht in Belmonte bleiben.«
»Wohin willst du dann?«, fragte Marta.
»In die Stadt, zusammen mit Cesare.«
»In welche Stadt? Senigallia? Jesi? Pesaro? Ancona?«
»Bologna, Mailand oder Turin. Es werden massenhaft Arbeiter zum Wiederaufbau der zerstörten Fabriken gebraucht werden. – Was? Was gibt es da zu lachen?«
»Ich stelle mir gerade deinen schönen Cesare am Fließband vor, wie er Marx zitiert.«
»Cesare wird sein Jurastudium beenden. Wer weiß, vielleicht werde ich meinen Schulabschluss nachholen und auch studieren.«
»Studieren? Du?« Marta sah sie an, als hätte sie die Absicht geäußert, zum Mond fliegen zu wollen.
»Die Universitäten werden allen offenstehen, nicht nur den Söhnen der Reichen.«
»Ach, Teresa, du bist eine Träumerin.«
»Wenn du nicht an unsere Sache glaubst …«
»Doch, das tu ich«, unterbrach Marta sie barsch. »Es ist vielleicht nicht besonders glorreich, Salami und Dosensardinen über die Berge zu schleppen, und wir sind nur winzige Rädchen in der Maschinerie, aber was wir tun, hat Bedeutung. Antonio hat es vorhin auch gesagt. Wir alle sind Sandkörner im Getriebe des Faschismus.«
»Also sind wir uns doch einig.«
»Ja, aber ich glaube nicht, dass nach dem Sieg – falls wir siegen – das Paradies auf Erden ausbricht. Manches wird vielleicht ein bisschen besser, aber es wird immer Arme und Reiche geben, daran wird sich nichts ändern.«
Teresa dachte über Martas Worte nach, während sie stumm durch den Wald den Berg hinabstiegen. Ab und zu bückten sie sich nach Steinpilzen und steckten sie in die Rucksäcke.
Was hatte Marta nur gegen Cesare? Neulich hatte sie ihn einen »Salonbolschewisten« genannt, obwohl er doch Seite an Seite mit Bauernsöhnen kämpfte. Was konnte er denn dafür, dass er einer Dynastie von Gutsbesitzern entstammte?
An der Quelle erfrischten sie sich noch einmal am Wasser, und am Waldrand angekommen, verhüllten sie ihr Haar mit den Kopftüchern. Vor ihnen erstreckte sich die sanfte Hügellandschaft der Marken, die zum Meer hin flach ausschwang. Dörfer saßen wie Kronen auf den Anhöhen, die Felder waren abgeerntet, wie ein Mosaik in Brauntönen. Nur die verdorrten Sonnenblumen paradierten noch in Reih und Glied, eine Armee schwarzer Skelette mit hängenden Köpfen. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet.
Belmonte leuchtete golden in der Sonne. Den Dorfkern umschlang eine breite Festungsmauer, die überging in mehrstöckige Häuser, deren Fenster kaum größer waren als Schießscharten. In einem davon lebte, auf drei Etagen, Martas Familie. Hinter den geschlossenen Läden und den meterdicken Mauern war es stets düster und kühl, sofern nicht irgendein Dummkopf tagsüber ein Fenster öffnete und die Hitze hereinließ.
Teresa betrachtete die vertrauten Linien der Gärten und Weinberge, die von der Mauer abwärtsflossen. In den aus Brettern, Teilen alter Möbel und Wellblech zusammengeschusterten Hütten und Ställen lebten Hasen, Hühner, Esel und Schweine, bewacht von trägen Kettenhunden. Am Fuße des Dorfes lag ihr Elternhaus, der Farina-Hof. Das Dach wurde halb verdeckt von dem ausladenden Maulbeerbaum, der ihnen im Sommer Schatten spendete und außerdem Früchte für Saft und Marmelade. Als kleines Mädchen hatte Teresa sich in seinen starken Ästen versteckt, wenn ihr Bruder Claudio sie geärgert hatte. Ihre Mutter hatte so getan, als würde sie sie überall suchen, und dabei gerufen: Wo ist denn die kleine Maulbeerprinzessin? Damals war sogar ihr Vater noch ab und zu fröhlich gewesen, was man daran erkannt hatte, dass er bei der Arbeit Fantasiemelodien vor sich hin pfiff.
Teresa war zwanzig und konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sich Frieden anfühlte. Denn schon in den Jahren vor Kriegsausbruch war das Nahen einer großen Gefahr spürbar gewesen, und dieser vorauseilende Schatten hatte überall Angst, Wut und Misstrauen hervorgebracht. Ein Riss ging durch das Volk, durch jedes Dorf und sogar durch ganze Familien, und jeder hatte sich die Fähigkeit antrainiert, die Welt in Sekundenschnelle in Freund und Feind einzuteilen. Doch selbst wenn die Besatzung enden und der Frieden kommen sollte, so würde er weder ihren Bruder Claudio zurückbringen noch ihrem Vater das Pfeifen oder ihrer Mutter das Lachen.
Sie hielten inne. Im Dorf bellte ein Hund, und man hörte das Dengeln einer Sense, doch nichts Verdächtiges war zu sehen.
Kaum waren sie aus dem Schatten getreten, legte sich die Hitze auf sie wie ein erstickendes Tuch. Sie folgten den Serpentinen bergab. Links von ihnen schimmerten die Mauern des Gutshofs der Priscos blassgelb durch das Laub der Kastanien, die das Anwesen umgaben. Ewas weiter unten klebte das Nonnenkloster Santa Maria delle Stelle wie ein Schwalbennest am Hang. Es war umgeben von einem weitläufigen, terrassierten Klostergarten und dem angrenzenden kleinen Friedhof für die Nonnen. Eine wohlgeordnete grüne Oase im dürren Braun, geschützt von einer hohen Bruchsteinmauer, an deren Außenseite Feigenbäume wucherten. Unterhalb der Klostermauer erstreckte sich ein schmaler, steiler Weinberg bis ins Tal, auf den Teresa jeden Tag vom Fenster ihres Zimmers aus blickte.
»Marta, darf ich dich was fragen?«
»Sicher.«
»Was wirst du tun, falls Salvatore nicht zurückkommt?«
»Sei still!«
»Ich meine ja nur …«
»Pscht! Ich hör was.«
Sie waren stehen geblieben. Ein Stich der Angst durchfuhr Teresa. Sie hielt den Atem an. Ein Motorengeräusch erklang. Panik ergriff sie. Rechts und links von ihnen waren nur leere Felder.
Wie auf ein stummes Kommando kehrten sie um und rannten, so schnell sie konnten, den Berg wieder hinauf, um ein Versteck zu finden. Aber sie hatten den Wald schon ein ganzes Stück hinter sich gelassen.
Das Geräusch kam näher, wurde lauter.
Es war ein offener Geländewagen, Teresa konnte ihn sehen, als er um die letzte Kurve bog. Mit wütend aufheulendem Motor holperte er über Felsbrocken und Regenfurchen auf sie zu.
Sie hasteten weiter. Ein Schuss krachte. Teresa spürte einen scharfen Luftzug nah an ihrem Ohr. Sie schrie erschrocken auf, geriet ins Stolpern, fing sich wieder und drehte sich um. Der Wagen war jetzt direkt vor ihr zum Stehen gekommen.
»Halt! Stehen bleiben!«, rief eine Stimme auf Deutsch.
Kapitel 2
Simona
»Simona, du sollst zum Chef, sofort!«
War ja klar. Die Schnepfe hatte also schon angerufen.
Das schadenfrohe Glitzern in den Augen der Kollegin ignorierend, durchquerte Simona den Verkaufsraum der Gärtnerei, hängte die Autoschlüssel des Lieferwagens ans Schlüsselbrett, zog den Overall aus und ihre Jeans an und verschwand dann erst einmal hinter der Tür mit der Aufschrift Personal-WC. Sie seifte sich die Hände ein und schrubbte aus alter Gewohnheit die Unterseiten ihrer Nägel mit der kleinen Bürste. Dabei waren sie heute überhaupt nicht dreckig geworden. So weit war es gar nicht erst gekommen.
Sie entfernte die Klammer aus ihrem Haar und fuhr sich mit den feuchten Händen durch die Locken, bis sie sich um ihren Kopf bauschten. Jochen gefiel ihr Haar, das wusste sie, und kleine Dinge konnten ja manchmal den Ausschlag geben. Und wo sie schon gerade bei Verzweiflungstaten war, zog sie auch gleich noch ihre Lippen nach und probte ein kirschrotes, aufmunterndes Lächeln im halb blinden Spiegel der Personaltoilette. Auf geht’s! Bringen wir es hinter uns.
Ihr Chef saß hinter seinem Schreibtisch, breitschultrig, die Arme im aufgekrempelten Holzfällerhemd auf dem Tisch verschränkt. Er gab vor, in einen Prospekt vertieft zu sein, wobei er seinen Unterkiefer hin- und herschob. Mit dem sonnengegerbten Gesicht und dem Fünftagebart erinnerte der Inhaber der Gärtnerei Riefling an den jungen Reinhold Messner, was von ihm durchaus beabsichtigt war. Der Strohhut, sein Markenzeichen, das seinen Naturburschen-Look perfekt abrundete und praktischerweise seine beginnende Glatze bedeckte, lag hinter ihm auf dem Drucker. Scheinbar schwer beschäftigt, ließ er zehn Sekunden verstreichen.
Dass er das nötig hat, dachte Simona.
Endlich hob er den Kopf und sah sie an.
»Setz dich, Simona.«
Seine sanfte Stimme war ein ganz schlechtes Zeichen. Hätte er sie angeblafft oder rumgebrüllt, hätte noch eine Chance bestanden. So aber wusste Simona, dass sie den Kampf von vornherein verloren hatte. Sie ließ sich dennoch auf der Stuhlkante nieder wie eine Schülerin, die etwas ausgefressen hatte.
Die Schäbigkeit des Büros hatte etwas Deprimierendes. Der Verkaufsraum war kürzlich aufgemöbelt worden: Vollholzregale, Lehmputz, Cotto-Fliesen. Für das Büro und die Personalräume hatte es nicht mehr gereicht, der ganze Krempel, einschließlich des rissigen Linoleums auf dem Fußboden, stammte noch aus den Sechzigern.
»Die Frau Ostermeier hat gerade angerufen.«
»Aha.«
»Willst du mir sagen, was los war?«
Wozu, da er bereits im Bilde zu sein schien? Also zuckte Simona nur mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
Dabei hatte es sich so gut angelassen mit der Altusrieder Zahnarztgattin. Endlich mal eine mit Ambitionen, eine, die mehr will als Rasen, Kirschlorbeeren und eine Kräuterschnecke, und das nötige Kleingeld scheint auch vorhanden zu sein, hatte Simona vor drei Wochen noch gedacht und vor lauter Begeisterung die latent vorhandene Launenhaftigkeit der Kundin offenbar übersehen. Die zwölfhundert Quadratmeter, die es komplett neu zu gestalten galt, sollten ihr Meisterstück werden. Doch kaum hatte Simona mit der Kundin ein Konzept erarbeitet und darauf basierend einen detaillierten Plan samt Kostenvoranschlag erstellt – was jedes Mal zwei, drei Tage in Anspruch nahm –, hatte Frau Ostermeier in der Zwischenzeit schon wieder ein paar Gartenbücher oder die Landlust gelesen und ihre Meinung geändert. Immerhin, den englischen Landschaftsgarten samt Teehaus hatte Simona ihr mangels Fläche noch gleich ausreden können. Der Zengarten mit Wasserlandschaft wurde wieder verworfen, als das Thema Mücken und Frösche aufkam. Der traditionelle Bauerngarten mit modernen Stilelementen passte der Kundin nach drei Tagen Bedenkzeit auch nicht mehr. Schließlich sollte es ein mediterraner Zier- und Nutzgarten werden.
Vorsichtshalber hatte Simona sich im Voraus erkundigt, ob Frau Ostermeier klar sei, dass Oleander, Oliven- und Feigenbäume hierzulande schlechte Überlebenschancen hatten. Klimawandel hin oder her, das Allgäu sei nun einmal nicht die Toskana.
Das sei ihr bewusst, hatte Frau Ostermeier versichert. Aber man könnte doch mit Lavendel, Salbei, Rosen und Natursteinmäuerchen arbeiten. Die Mäuerchen lagen Frau Ostermeier ganz besonders am Herzen. Nun gut, damit wusste Simona, woran sie war. – Dachte sie.
Gestern hatte Simona noch mit ihr telefoniert. Ja, es bleibe bei der mediterranen Variante. Also war Simona heute früh mit dem Lieferwagen voller Pflanzen und dem Minibagger auf dem Hänger vorgefahren.
Nachdem die letzte Containerpflanze abgeladen war, hatte sich Frau Ostermeier im Slalom um die Maulwurfshaufen herumstöckelnd genähert, ein um Verständnis heischendes, selbstironisches Lächeln auf den Lippen: Eine winzige Sache nur … Ob man nicht vielleicht noch eine Rhododendrenhecke und ein Hortensienbeet integrieren könnte? Und eventuell noch einen kleinen Koiteich?
Im Grunde hätte es Simona egal sein können. Sinn und Zweck der Arbeit einer studierten Landschaftsgärtnerin ist schließlich das Planen, und wenn Frau Ostermeier noch fünf weitere Pläne haben wollte, war es Jochens Geld, das dabei draufging. Sie hätte den erneuten Sinneswandel als Übung in Sachen Kreativität betrachten sollen. Positiv denken!
Aber an diesem Morgen hatte sie sich so richtig auf die Arbeit gefreut. Denn eine Tätigkeit, bei der man hinterher ein Ergebnis sah, gab ihr mehr als alles andere das Gefühl, ihr Leben im Griff zu haben. Zudem hatte sie auf einmal ganz deutlich den Eindruck gehabt, dass es dieser UV-gerösteten Barbie gar nicht um ihren Garten ging, sondern darum, sie zu schikanieren.
Die nonna wird enttäuscht sein, dachte Simona. Sie wusste, dass sich ihre Großmutter stets Sorgen um ihre Zukunft machte. Aber vielleicht musste Franca vorerst gar nichts von ihrem Rauswurf erfahren. Es war Anfang April, die Gartensaison hatte gerade erst angefangen, mit etwas Glück fand sich rasch etwas anderes, und Simona könnte behaupten, sie habe selbst gekündigt.
Leider aber gab es in Kempten nur eine überschaubare Anzahl an Gärtnereien, und deren Inhaber kannten sich untereinander. Simona sah es kommen: Am Ende würde sie bei Dehner an der Kasse oder in der Gartenabteilung von Hornbach landen.
Besorgt beobachtete sie die an- und abschwellende Ader an Jochens Schläfe, während dieser mit der nasalen Stimme einer verstopften Trompete die Firmengeschichte herunterbetete. Männer Ende vierzig mit Neigung zum Bluthochdruck sollten ihren Frust vielleicht besser rauslassen, anstatt den Coolen zu geben, während sie in Wirklichkeit gerade innerlich kochten. Das konnte nicht gesund sein. Er war jetzt beim guten Ruf der Firma, den es mit allen Mitteln zu bewahren gelte, insbesondere durch höflichen Umgang mit Kunden, auch schwierigen und wankelmütigen.
Sie hörte erst wieder richtig hin, als Jochen auf ihre »italienische Affinität zu Temperamentsausbrüchen« zu sprechen kam.
Was, zum Teufel, hatte die Ostermeier ihm eigentlich erzählt? Von einem Ausbruch konnte überhaupt keine Rede sein.
Simona hatte die Ostermeier lediglich mit einem kalten Lächeln gefragt, ob diese ihr Leben in der Vorstadtidylle womöglich nur ertrug, indem sie andere Leute piesackte und herumscheuchte.
Daraufhin hatte Frau Ostermeier für etliche Sekunden tiefe Einblicke in ihr vorbildlich saniertes Zahnarztgattinnengebiss gewährt, ehe sie ihrer Entrüstung lautstark Luft gemacht hatte.
Simona war versucht, die Sache richtigzustellen, aber sie ließ es sein, wohl wissend, dass ihr Verhalten auch nicht ganz korrekt gewesen war.
Der Vortrag ihres Noch-Chefs gipfelte in der Feststellung, dass er ihren befristeten Vertrag, der im nächsten Monat ohnehin auslief, wirklich gerne in einen unbefristeten umgewandelt hätte, denn Simona sei fleißig, talentiert und ein findiger Kopf, aber unter diesen Umständen …
Der findige Kopf stand mitten im Satz auf und verließ grußlos, aber ohne mit der Tür zu knallen, das Büro.
Vaffanculo, Jochen! Es gab seit über zwei Jahren Umstände, die eine Festanstellung verhinderten, und wahrscheinlich kam ihm diese blöde Sache gerade recht, denn irgendwie hatte die Chemie zwischen ihnen nie so ganz gestimmt. Wann immer sie ihn in den letzten Monaten auf eine Festanstellung angesprochen hatte, war er ihr ausgewichen. Vielleicht hätten verstärkte Schöntuerei und Bauchpinselei ihrerseits die Angelegenheit beschleunigt, aber das war halt so gar nicht Simonas Art. Gerade fragte sie sich, ob sie die Situation nicht sogar absichtlich herbeigeführt hatte.
Unbewusst natürlich. Absichtlich-unbewusst.
Komm schon, Simona, lass den alten Freud in der Tasche! Du hast einem niederen, kindischen Impuls nachgegeben, und das kostet dich jetzt deinen Job. So sieht’s aus, da gibt es nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen.
Weil es erst elf Uhr und Mittwoch war, entschloss sich Simona zu einem Bummel über den Wochenmarkt. Schauen, ob es anständige Tomaten gibt, und danach könnte sie sich zwei Weißwürste gönnen. Noch vor dem Zwölfuhrläuten, wie es das ungeschriebene Weißwurstgesetz verlangte. Etwas im Magen zu haben beruhigte ja auch meistens die Nerven.
ItalienischeAffinität zu Temperamentsausbrüchen … Wo er doch angeblich so sehr für die italienische Lebensart – oder das, was er dafür hielt – schwärmte.
Sie ärgerte sich während der kurzen Fahrt ins Stadtzentrum noch immer über diese Bemerkung, aber noch mehr verstimmte es sie, dass sie sich überhaupt darüber ärgerte.
Es war nicht nur unangebracht, es war geradezu lächerlich.
Schon Simonas Mutter war in Kempten geboren worden und sie selbst ebenfalls. Ihr Nachname war Mälzer, und ihr Allgäuer Dialekt ließ auf nichts anderes schließen. Okay, sie sprach auch Italienisch, denn so hatte die nonna von klein auf mit ihr gesprochen, und dann waren da noch ihre dunklen Augen und das dunkle Haar, die Jochen wohl veranlasst hatten, sie einem Kulturkreis zuzuordnen, dem man Temperamentsausbrüche nachsagte.
Aber wusste sie selbst denn, welche ihre Kultur war?
Was ist man, wenn man zu keiner Kultur wirklich gehört? Ein Niemand? Eine Schimäre?
Reiß dich zusammen, befahl sich Simona, der Selbstmitleid zuwider war. In der globalisierten Welt war es nichts Besonderes mehr, seine Wurzeln in verschiedenen Ländern zu haben, und Italien–Deutschland war ja nun wirklich keine exotische Kombination.
Nein, es war keine Frage der Kulturen, es war dieser große blinde Fleck in ihrer Biografie. Ihre Mutter Marina hatte sich bis heute nicht dazu geäußert, wer als Erzeuger ihrer Tochter infrage kam. Jahrelang hatte Simona sich erfolgreich eingeredet, dass ihr das nichts ausmachte.
Aber in letzter Zeit …
Eine Gärtnerin, die ihre eigenen Wurzeln nicht kennt.
Wie kann man existieren, wenn man nicht weiß, wer man ist?
Sie parkte den Twingo auf dem Königsplatz und durchquerte den Stadtpark. Die Bäume trugen erste zarte Blätter, Tulpen und Osterglocken spitzelten aus dem Boden, und die Luft war erfüllt von den rostigen Schreien zahlloser Krähen.
Seit Jahren wurde man der Krähenkolonie im Stadtpark nicht Herr. Die Viecher schienen genau zu wissen, dass sie unter Naturschutz standen, und vermehrten sich hemmungslos. Eigens herangekarrte Wanderfalken hatten vor der schieren Anzahl ihrer Beutetiere kapituliert, und das Ausräumen der Nester hatte auch nicht viel gebracht. Die Krähen bauten einfach neue und brüteten frisch drauflos.
Totenvögel nannte sie die nonna, deren Katholizismus durchaus Einsprengsel eines pittoresken Aberglaubens zuließ. Auf jeden Fall machte Franca Mälzer, ihre Großmutter, seit Jahren einen Bogen um den Park.
Vielleicht sollte ich Sebastian heiraten, dachte Simona in einem Anflug von Existenzangst, als sie den Park heil – will sagen ohne Krähenschiss auf Haar oder Kleidung – hinter sich gelassen hatte. Vor dem Residenzcafé blieb sie kurz stehen und betrachtete die bunten Marktstände vor der Lorenzkirche, was jedes Mal ein herzerhebender Anblick war.
Seit Wochen lag die Frage aller Fragen in der Luft. Allein im letzten Jahr waren sie und ihr Freund Sebastian auf vier Hochzeiten gewesen, seit einem Dreivierteljahr wohnte sie bei ihm – es schien alles unweigerlich darauf zuzulaufen.
Er würde für seinen Antrag einen romantischen Ort auswählen … Nein, falsch, er würde einen Ort auswählen, der seinem Sinn für Romantik entsprechen würde, und da er eine allgäuische Affinität zu Bergen hatte, wäre das sicher irgendein Zweitausender. Sie würden unterm Gipfelkreuz auf einem Felsbrocken kauern, den scharfen Föhnwind im Genick und belauert von verfressenen Bergdohlen, dann würde er die Schatulle mit dem Ring aus dem Rucksack hervorkramen und sagen: »Simona, lass uns Nägel mit Köpfen machen.« Oder etwas ähnlich Hochromantisches, denn von einem angehenden Professor für Maschinenbau war keine blumige Lyrik zu erwarten.
Aber Sebastian besaß andererseits genug Feingefühl, um zu wissen, dass gerade jetzt kein guter Zeitpunkt für einen Antrag war. Er würde sicher sein wollen, dass sie aus freien Stücken und aus Liebe Ja sagte, und nicht, weil sie gerade ihren Job verloren hatte. Das wäre ja auch wirklich armselig. Schon dem bloßen Verdacht, aus Berechnung zu handeln, würde er sie nicht aussetzen wollen, und darum würde er abwarten, bis sie wieder eine Arbeit finden und unabhängig sein würde.
Was Simona jedoch wirklich wunderte, war, wie sehr sie dieser Aufschub erleichterte – sogar trotz der Enttäuschung über den Verlust ihrer Stelle.
War das nicht arg kurzsichtig? Fahrlässig geradezu? Noch in diesem Monat wurde sie dreißig, ein Alter, in dem sich bei manch anderer im Freundinnenkreis Torschlusspanik breitmachte. Nicht so bei ihr. Da war nur dieses eigenartige Bauchgrimmen beim Gedanken an eine Heirat und die Folgen. Kinder, zum Beispiel.
Warum konnte nicht alles so bleiben, wie es war?
Weil Sebastian geordnete Verhältnisse schätzte.
Die Zukunft entworfen wie ein Gartenplan.
Anderseits – was wollte sie eigentlich?
Am Stand mit der Bioware kaufte sie ein Kilo Aromatomaten, wobei sie darüber nachdachte, was dieser Begriff über die anderen Tomatensorten aussagte und ob sie sich solchen Luxus in Zukunft noch würde leisten können.
»Heute mal Mittwoch, ja?« Der bärtige, tätowierte Typ kannte seine Stammkundschaft.
»Ausnahmsweise«, antwortete die Samstagskundin. »Habt ihr nur Basilikum im Topf?«
»Ja, leider.«
»Dann gib mir lieber ein Bund Rucola. War die Oma heut schon da?«
Franca Mälzer war eine Mittwochskundin, sie kam immer zwischen neun und zehn.
»Nein, heut noch nicht.«
Dann würde sie wohl auch nicht mehr kommen.
Simona ließ sich eine Tüte geben und fragte sich, was ihre nonna wohl von ihrem geliebten Gang zum Markt abgehalten hatte. Irgendein Handwerker, auf den sie warten musste? Das Reihenhäuschen am Stadtrand war in die Jahre gekommen, in letzter Zeit gab es häufiger etwas zu reparieren.
Ihr Handy klingelte. Franca, stand auf dem Display. Wenn man vom Teufel spricht …
»Pronto?«
»Hallo? … Bist du das? Die Simona?«
Es war nicht Francas Stimme, sondern die einer aufgeregten älteren Frau.
»Äh … mit wem spreche ich bitte?«
»Ich bin’s. Die Grimm Ida. Die Nachbarin.«
Die Grimm am Handy ihrer Großmutter? Ein ungutes Gefühl überkam Simona, und als Frau Grimm stockend weitersprach, zog es Simona den Boden unter den Füßen weg.
* * *
»Nachdem die Rollläden im Wohnzimmer um neun immer noch unten waren, habe ich gedacht, da muss was passiert sein. Die Zeitung war um halb zehn auch noch im Briefkasten, das habe ich gesehen, nachdem ich mit dem Alois vom Gassigehen zurückgekommen bin. Ich hab bei Franca angerufen und geklingelt, aber nichts hat sich gerührt, und dann bin ich mit dem Ersatzschlüssel ins Haus, und da lag sie, im Bad. Sie war noch im Schlafanzug und im Bademantel, es muss wohl heute früh passiert sein.«
Bereits zum dritten Mal schilderte Frau Grimm Simona die Abläufe des Vormittags, was sicherlich der Aufregung geschuldet war. Jetzt stützte sie die Ellbogen auf dem Küchentisch auf und schüttelte dabei ihren Kopf. »Es ist so furchtbar …«, flüsterte sie.
Simona nickte. Das alles gehörte irgendwie zu diesem Albtraum, der von einer Sekunde auf die andere über sie hereingebrochen war, genau wie die zwei Kriminalbeamten, die das Haus ihrer Großmutter durchsucht und Simona Fragen nach Francas Gesundheitszustand gestellt hatten.
»Gut«, hatte sie geantwortet, und der Beamte hatte verwundert eine Augenbraue hochgezogen.
»Vermutlich ein Herzinfarkt«, hatte der Notarzt gesagt, und der Hausarzt, der urplötzlich auch noch aufgetaucht war, hatte diese Diagnose bestätigt und dabei etwas von einer Herzinsuffizienz gemurmelt. Simona war viel zu verstört gewesen, um sich genauer danach zu erkundigen. Nun, wo der Arzt längst weg war, wünschte sie, sie hätte es getan. Wenigstens waren die Kripobeamten danach ebenfalls ziemlich rasch verschwunden.
Simona und Frau Grimm saßen sich am Küchentisch gegenüber, der, wie immer, bereits am Vorabend für das Frühstück gedeckt worden war. Sogar der Teebeutel hing schon in der Kanne. Man hätte meinen können, die Bewohnerin müsse morgens so eilig frühstücken, dass jede Sekunde zählte, aber es war nur eine Angewohnheit. Franca Mälzer war immer gerne auf alles vorbereitet.
Jetzt war sie fort.
Ida Grimm deutete aus dem Küchenfenster in Richtung der blühenden Forsythien im Vorgarten, hinter denen gerade noch der Leichenwagen Faller – Bestattungen gestanden hatte.
»Ich habe gedacht, ich ruf die besser schon mal an, bis du kommst. Man weiß ja nie, wie lange die brauchen, je nachdem, wie viel gerade los ist.«
Frau Grimm war nicht herzlos, sie war einfach nur pragmatisch. Wohl ahnend, dass Simona mit der Situation heillos überfordert sein würde, hatte sie die Dinge selbst in die Hand genommen. Weinen konnte man später.
Sie und Franca waren seit vierzig Jahren Nachbarinnen, hatten sich gegenseitig die Blumen in Haus und Garten gegossen und später die auf den Gräbern ihrer Männer. Beschämt dachte Simona daran, wie sie Frau Grimm heimlich oft den alten Pottwal genannt hatte.
»Sie hat mir neulich gezeigt, wo der Ordner steht. Der mit den Vollmachten und Adressen und so weiter, du weißt schon …«
Simona nickte erneut. Sie wusste von gar nichts.
Auch Simona hatte bis jetzt noch keine Träne vergossen, aber bei ihr war es eher der Schock. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran, wie sie vom Wochenmarkt hierhergekommen war, aber irgendwie musste sie es geschafft haben, denn ihr Auto parkte schief, aber unversehrt am Straßenrand.
Vorhin, als es im Haus noch zugegangen war wie in einem Taubenschlag, hatte die Bestatterin Frau Faller Simona nach dem Lieblingskleidungsstück ihrer Großmutter gefragt. Eines, von dem sie annahm, das sie es gerne im Sarg tragen wollte.
»Ja, das ist eine gute Idee«, hatte Simona gesagt, erleichtert darüber, eine Aufgabe zu haben, eine sinnvolle noch dazu.
»Das hat Ihre Großmutter so veranlasst.«
Dass eine Frau, die schon abends den Frühstückstisch deckte, den Tod nicht einfach nur auf sich zukommen ließ, war im Grunde nicht verwunderlich.
Aber warum hatte sie keinen Ton zu Simona gesagt?
Frau Faller lächelte, ein herzliches, warmes Lächeln. »Sie hat alles geregelt, Sie müssen sich um nichts sorgen«, fügte sie hinzu, und dass Simona in den nächsten Tagen noch Gelegenheit haben werde, ihre Großmutter zu sehen. Das müsse sie sich jetzt also nicht unbedingt antun.
Dies zu hören erleichterte Simona, die sich noch nicht ins Bad getraut hatte. Sie hatte regelrecht Angst davor. Die nonna, sagte sie sich, hätte bestimmt am allerwenigsten gewollt, dass Simona sie als letzten Eindruck in einer womöglich würdelosen Haltung zu sehen bekäme. Sie war doch immer ein bisschen eitel gewesen. Ida Grimm, zwei Notärzte, der Hausarzt, zwei Polizisten und drei Bestatter wären ihr sicher mehr als genug Publikum gewesen. Noch dazu, wo sie nicht ordentlich angezogen war.
Die gelassene Liebenswürdigkeit der Bestatterin tat Simona gut, und sie kämpfte gegen den Wunsch an, der Frau weinend an die Brust zu sinken. Aber sie hielt sich an das Protokoll, das Umarmungen zwischen Kunden und Bestattern sicherlich nicht vorsah.
Stattdessen hatte sie eine Viertelstunde vor Francas Kleiderschrank zugebracht, während es im Bad rumpelte und die schweren Schritte der zwei Sargträger die Treppe erzittern ließen. Sie suchte einen dunkelblauen Rock und eine cremefarbene Bluse aus und legte vorsichtshalber Unterwäsche und eine verpackte, schwarze Strumpfhose dazu. Schuhe? Trug man Schuhe im Sarg? Sie wollte Frau Faller danach fragen, aber dann vergaß sie es wieder.
Das eigentliche Lieblingskleidungsstück der nonna war ihre hellgraue Strickjacke gewesen, aber die war schon ziemlich abgetragen, und Simona wollte sie für sich behalten.
»Kann ich dich allein lassen? Ich müsste mal nach dem Alois schauen.« Frau Grimm sah jetzt doch ein wenig mitgenommen aus. Wie ein müder, alter Wal.
Simona nickte.
Die Nachbarin tätschelte Simona zum Abschied die Hände. »Weißt du, Simona, es ist jetzt zwar ein schlimmer Schock für dich, aber für sie war es doch ein schöner Tod. Kurz und schmerzlos, kein Leiden, kein Pflegeheim … So was wünscht man sich für sich selbst.«
»Ja, schon«, presste Simona hervor.
Dann hörte sie die Haustür zufallen.
Schöner Tod, am Arsch! Heutzutage stirbt man doch nicht mit dreiundsiebzig, Herrgott noch mal!
Wie ruhig es plötzlich im Haus ihrer nonna war, jetzt, wo alle fort waren. Wie nach einem Tornado, wenn nur noch Trümmer herumlagen. Simona war allein. Allein in diesen vier Wänden, in denen sie aufgewachsen war und die ihr jetzt schon fremd zu werden begannen.
Sie räumte die unbenutzte Tasse wieder in den Schrank, nahm den Beutel aus der Teekanne, stellte sie zurück auf das Bord über der Arbeitsfläche und schaltete den Geschirrspüler ein. Er war erst halb voll, aber wer sollte ihn noch füllen? Das Rauschen und Rumpeln unterstrich die Stille erst recht.
Im Wohnzimmer musste sie das Licht anmachen, denn die Rollläden waren immer noch unten, als hätte jemand dem Haus Trauer verordnet. Sie schauderte unter dem milden, silbergerahmten Blick ihres Großvaters Tobias Mälzer, der von der Schrankwand auf sie herablächelte. Wie gern würde sie glauben, dass Franca jetzt auf dem Weg zu ihm war.
Über der Armlehne des Fernsehsessels, den man auf hunderterlei Arten verstellen konnte, hing die hellgraue Strickjacke. Simona schnappte sie sich, vergrub das Gesicht darin, und dann verließ sie das Haus so rasch, als stünde es in Flammen.
* * *
Die Berge waren noch immer weiß vom Schnee. Dahinter liegt Italien, hatte die nonna stets gesagt, wenn sie und Simona auf dieser Bank saßen, die unterhalb des Gipfels des Mariaberges stand. Aus dem Mund ihrer Großmutter hatte das weder sehnsüchtig noch sentimental geklungen, eher wie eine Information in Sachen Geografie, die sie aber jedes Mal wiederholte.
Simona hatte lieber auf die Stadt hinuntergeschaut und einzelne Gebäude identifiziert. Von zu Hause bis zum Mariaberg war es ein flotter Spaziergang von einer bis anderthalb Stunden, je nachdem, welchen Weg man wählte. Mindestens einmal in der Woche hatte Franca vorgeschlagen, auf den Mariaberg zu gehen. Den Kopf frei kriegen. Und tatsächlich: Nach dem Aufstieg und einer ausgedehnten Rast auf der Bank war es, als hätte man Lungen und Gehirn gründlich ausgelüftet. Kleine Alltagsprobleme kamen einem danach nicht mehr gar so wichtig vor, und größere Kümmernisse waren ein bisschen geschrumpft.
Heute war Simona mit dem Auto bis zum Ausflugslokal gefahren und nur das kurze, steile Stück durch den Wald bis zum Gipfel hinaufgegangen. Sie saß auf ihrer Bank, die Stadt lag im Dunst zu ihren Füßen, im Süden zog sich die weiß-graue Bergkette der Alpen in die Länge. Schnee und Fels. Kälte.
Dahinter liegt Italien.
Franca hatte selten über die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens gesprochen, die sie in einem Dorf im Hinterland der Provinz Ancona verbracht hatte. Sie hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen und sich, so gut sie konnte, angepasst: hatte geheiratet, sprach fast fehlerfrei Deutsch, las deutsche Bücher und die Allgäuer Zeitung, richtete das Haus »gemütlich« ein und trennte ihren Müll. Aber das alles konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Herzen immer Italienerin geblieben war. Sie hatte sich lediglich umetikettiert. Sobald sie mit Simona allein war, wechselte sie die Sprache. Sie kochte sehr oft italienisch, sie mied die pralle Sonne und ging jeden Sonntag in die Kirche.
Vor gut einer Woche hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Und worüber hatten sie gesprochen? Trivialitäten. Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft und dass sie den Vorgarten pflegeleichter gestalten wollte.
Herzschwäche.
Hätte sie doch nur ein Wort gesagt!
Hätte das etwas geändert?
Nie mehr würde die nonna »dahinter liegt Italien« sagen. Sie war für immer weg. Simona begann zu verstehen, was die Worte nie mehr bedeuteten.
Jetzt, da der Schock nachließ, kam der Schmerz herangetobt, brach über sie herein, breitete sich malmend im ganzen Körper aus und schnürte ihr die Luft ab. Nie zuvor hätte sie gedacht, dass es so wehtun würde.
Als Nächstes tat Simona etwas, das sie seit Jahren nicht getan hatte: Sie rief ihre Mutter an.
Kapitel 3
Teresa
Rosalia wohnte außerhalb von Belmonte in einer halb verfallenen Mühle, die seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb war. Hinter vorgehaltener Hand nannte man Rosalia auch la strega – die Hexe. Die einen meinten es abfällig, die anderen anerkennend, aber so oder so gingen zahlreiche Bewohner aus Belmonte und den benachbarten Dörfern mit ihren Gebrechen als Erstes zu Rosalia, denn nur wenige vertrauten den Ärzten. Jetzt, in Kriegszeiten, praktizierten in der Gegend ohnehin nur noch ein paar alte Quacksalber, und das bescherte Rosalia eine wahre Hochkonjunktur. Sie konnte nachweislich Warzen besprechen und Gürtelrosen heilen, und auch sonst schrieb man ihr so manche wunderbare Genesung zu. Daneben hatte sie schon einigen der jüngeren Bürger von Belmonte auf die Welt geholfen.
Als Teresa sie an einem Novembernachmittag aufsuchte, kam Rosalia gerade mit einem geköpften Huhn, dem das Blut aus dem Halsstumpf tropfte, in der einen und einem Beil in der anderen Hand aus dem Schuppen. Es regnete seit zwei Wochen fast ununterbrochen, und der Platz vor der Mühle versank im Morast. Auch auf dem Farina-Hof war alles aufgeweicht, die Bäume trieften, die Wege waren schlammige Sturzbäche.
Rosalia wies mit einer Kopfbewegung zur Tür. Teresa stapfte durch den Dreck und wischte sich die Schuhe notdürftig an dem Lumpen ab, der vor der Tür lag. Sie setzte sich auf den Schemel neben dem Tisch in Rosalias Küche, nahm das klatschnasse Kopftuch ab und lauschte dem endzeitlichen Regen, der auf das Dach trommelte. Ein Feuer kokelte im Herd, Kräutersträuße hingen an Schnüren, die die Küche durchzogen wie ein Spinnennetz. Im Regal drückten sich süße Früchte an die Wände der Einmachgläser, in anderen schwamm Undefinierbares, jedoch weder Kröten noch Schlangen oder sonstige Tierleichen, wie es in Belmonte immer wieder herumerzählt wurde. Höchstens vielleicht ein paar Blutegel.
Eine Katze strich Teresa um die Beine, sie war weiß mit einer schwarzen Piratenklappe über dem linken Auge.
Rosalia kam herein, stellte scheppernd einen Blecheimer samt totem Huhn darin ab und rieb sich die klammen Hände über dem Herdfeuer. Ihre listigen Knopfaugen schielten dabei zu Teresa, der das Herz bis zum Hals schlug. Rosalias Haar war grau und wand sich in einem langen, dicken Zopf den Rücken hinab. Sie hatte braune Schatten und Faltenkränze um die Augen, die tief in den Höhlen lagen, aber ihre Wangen waren rosig und glatt wie bei einem jungen Mädchen. Unmöglich zu sagen, wie alt sie war.
La strega setzte sich vor Teresa auf einen Schemel und ergriff deren Hände. Die waren eiskalt und feucht vor Aufregung.
»Ich komme, weil …«
»Warte!«
Sie hielt Teresas Hände fest und musterte sie von oben bis unten. Teresa schluckte.
»Du kommst nicht, weil dir etwas fehlt, sondern weil etwas zu viel ist.«
Teresa senkte den Kopf.
»Wie weit?«
»Dritter Monat.«
»Da kann ich nicht viel machen.«
»Aber ich habe gehört …«
»Die Leute reden einen Haufen Schwachsinn. Ich mache so was nicht, basta. Habe ich noch nie getan.«
Teresa merkte, wie ihr die Augen überquollen. »Mein Vater bringt mich um«, flüsterte sie.
Rosalia seufzte.
Sie kramte lange in einer Schublade herum und reichte Teresa schließlich ein graues Leinensäckchen. »Zwei Löffel auf einen halben Liter heißes Wasser. Heiß, nicht kochend. Trink es am Abend. Aber nicht mehr, hörst du?«
Teresa steckte das Säckchen ein. »Wie viel schulde ich dir?«
»Nichts. Nicht für so was«, zischte sie.
»Danke«, sagte Teresa.
»Es gibt keine Garantie!«, rief Rosalia ihr nach.
Am Abend füllte Teresa vor dem Schlafengehen aus dem Schiffchen, das immer auf dem Herd stand, heißes Wasser in einen Krug und nahm ihn mit in ihre Kammer. Der Aufguss roch wie nasses Heu. Sie ließ die Kräuter lange ziehen, schüttete den Tee durch ein Sieb und trank alles auf einmal. Er schmeckte gallenbitter. Was so scheußlich schmeckte, musste auch wirken, dachte sie voller Zuversicht.
Mitten in der Nacht wurde sie wach. Sie hatte Krämpfe im Unterleib, und sie fror, obwohl ihr der Schweiß über die Stirn und den Rücken lief. Das Bedürfnis, sich zu übergeben, war übermächtig, aber sie kämpfte dagegen an. Die Kräuter wirkten sonst vielleicht nicht.
Die Krämpfe wurden schlimmer, es war, als würde eine Faust ihr Inneres zerquetschen, und Teresa fing an, zur Heiligen Jungfrau zu beten. Aber dann machte sie sich klar, dass diese ihr Tun ganz und gar nicht gutheißen würde, ebenso wenig wie Gottvater, Gottsohn und sämtliche Heiligen. Irgendwann war es nicht mehr zu ertragen. Sie schleppte sich hinab in den Hof, zum Klohäuschen, und spie sich die Seele aus dem Leib. Danach war ihr nicht mehr gar so übel, aber sie hatte immer noch Krämpfe. Müsste man nicht irgendetwas sehen? Eine Blutung? Aber da war nichts. Vielleicht kam sie später.
Völlig erschöpft erreichte sie wieder ihr Zimmer. Ihre Mutter saß auf dem Bett, aufrecht wie eine Altarkerze. Sie hielt den Stoffbeutel mit den restlichen Kräutern in der Hand, und in ihrem mahnenden Blick spiegelten sich Kummer und Müdigkeit, als wollte sie sagen: Nicht auch das noch.
»Leg dich hin«, sagte sie mit ruhiger Stimme und schlug die Bettdecke für sie zurück.
Teresa gehorchte, und nach einer Weile glitt sie in einen unruhigen Schlaf mit wirren, schrecklichen Träumen, aus denen sie keuchend hochfuhr. Zwischendurch spürte sie, wie ihre Mutter ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn wischte. Irgendwann umgab sie nur noch eine tiefe, dunkle Schwärze, die ihr jedoch keine Angst machte. Wenn das der Tod war, dann war er sanft, dann sollte er ruhig kommen und sie hinübertragen, auf seinen schwarzen Schwingen.
Als sie aufwachte, war es hell, und es hatte aufgehört zu regnen. Sie zitterte vor Schwäche, und das Nachthemd, klamm vor kaltem Schweiß, klebte an ihrem Körper.
Von unten herauf, aus der Küche, drangen Stimmen, die sich anbrüllten. Dann näherten sich stampfende Schritte, und Teresas Tür wurde so heftig aufgestoßen, dass die Klinke gegen die Wand schlug und der Putz herabrieselte.
»Wer war das?«
Teresa schwieg.
Seine Augen wurden schmale Schlitze, und ein hässliches Grinsen entstellte sein Gesicht. »Du musst nichts sagen, ich weiß es auch so. Das ganze Dorf weiß um deine Hurerei!«
»Warte!« Was ein Schrei hätte werden sollen, verendete als heiseres Krächzen. Doch ihr Vater beachtete sie nicht. Sie hörte, wie ihre Mutter ihm draußen vor der Tür nachrief, er solle hierbleiben.
Aber Muzio Farina hörte nicht auf seine Frau und tat, was er glaubte, tun zu müssen.
Teresa brauchte sehr lange, um sich zu waschen und anzuziehen. Jede Bewegung kostete sie die allergrößte Anstrengung, und das Schlimmste war: Es sah ganz danach aus, als wäre alles umsonst gewesen. Da war keine Blutung, nichts. Sie starrte aus dem Fenster, auf die kahlen Weinreben und die regenschwarzen, vom Pflügen zerfurchten Äcker und versuchte, sich mit der Hoffnung zu trösten, dass die Wirkung womöglich erst in ein paar Stunden oder Tagen eintreten würde. Manche Mittel brauchten eben ihre Zeit.
Und wenn es tot war? Wenn die Kräuter es abgetötet hatten und es nur nicht rauskam? Wenn dieses Ding in ihr drin verfaulte und verweste und sie langsam vergiftete?
Dann sollte es so sein.
Sie saß in der Küche. Ihre Mutter hatte ihr einen Kamillentee gemacht, und Teresa versuchte gerade, ein Stück trockenes Brot hinunterzuwürgen, als ihr Vater zurückkam.
Klatschnass, denn der Novemberregen hatte wieder eingesetzt, stürmte er herein. Vergeblich versuchte Alfonsina, sich zwischen ihre Tochter und ihren Mann zu stellen. Er stieß seine Frau grob zur Seite.
»Du Dreckstück!«, zischte er gefährlich leise. »Mit wem hast du es noch getrieben? Sag’s mir!«
Teresa schwieg.
Sie schwieg auch noch, als er sie an den Haaren von der Bank zerrte und ohrfeigte, sie schwieg, als er sie kreuz und quer durch die Küche prügelte und sie eine Hure, eine läufige Hündin und Ähnliches nannte, sie schwieg, als er sie gegen die Anrichte stieß, sie wieder aufhob wie eine Puppe und quer durchs Zimmer in die Ecke schleuderte, wobei er den Herrgott anschrie, dass ihm ein toter Sohn wohl nicht reiche, es müsse auch noch eine entehrte Tochter sein.
Teresa wehrte sich nicht. Sie dachte nur, dass es doch die beste Lösung wäre, wenn er sie jetzt gleich auf der Stelle umbringen würde. Sie hoffte nur, dass es schnell gehen würde. Als er begann, mit dem Gürtel auf sie einzudreschen, zog ihm Alfonsina das Nudelholz über den Schädel.
Er hielt mitten in der Bewegung des Ausholens inne und drehte sich um. Die Augen glasig und blutunterlaufen, starrte er seine Frau an.
Jetzt bringt er uns beide um, dachte Teresa.
Er ließ den Gürtel fallen. »Du also auch, du Schlange«, sagte er, und im Hinausgehen griff er sich einen Lappen, den er gegen seinen Hinterkopf presste.
* * *
Von Vilma Bruni, der Haushälterin der Priscos, erfuhr Alfonsina Farina tags darauf, was sich beim Besuch ihres Mannes auf dem Gut der Priscos abgespielt hatte. Donato Prisco hatte seinen Sohn Cesare ins Zimmer gerufen, nachdem Muzio Farina lautstark und vehement verlangt hatte, dieser solle gefälligst die Frau heiraten, die er entehrt und geschwängert habe. Doch Cesare hatte bei allen Heiligen geschworen, dass er Teresa niemals angerührt habe, woraufhin sein Vater zu dem ungebetenen Besucher gesagt hatte, dass er seinem Sohn glaube.
»Du musst schon einen anderen zur Verantwortung ziehen, Muzio«, hatte Donato Prisco ihm mit auf den Weg gegeben, ehe er ihn nach Art der besseren Leute höflich, aber bestimmt hinauskomplimentiert hatte.
Diese Demütigung hatte Muzio zu einem rasenden Berserker werden lassen.
Alfonsina hatte gerade ihrer Tochter davon erzählt, die seit drei Tagen mit gebrochenen Rippen und lilafarbenen Prellungen am ganzen Körper in ihrem Bett lag.
»Also ist Cesare zu Hause, in Sicherheit!«, rief Teresa kurzatmig und hielt sich den Brustkorb, als sie husten musste.
»Hast du keine anderen Sorgen?«, entgegnete ihre Mutter unwirsch. Aber auf Teresas Drängen hin rückte Alfonsina damit heraus, was sie sonst noch in Erfahrung gebracht hatte: Cesare war vor drei Wochen während eines Scharmützels mit einer Faschistenbande aus Fabriano am Schlüsselbein verletzt worden, und weil ein angeschossener Partisan nutzlos und nur eine Last für die anderen war, verbrachte er die Zeit bis zu seiner Genesung auf dem elterlichen Gutshof.
So nah war Cesare! Teresa müsste nur der Straße den Berg hinauf folgen … Wenn sie bloß könnte!
Zum ersten Mal seit Wochen lächelte Teresa wieder. Es war ungewohnt, als hätten ihre Muskeln vergessen, wie das ging.
Sie hörte aber damit auf, als sie sah, wie der besorgte Blick ihrer Mutter auf ihr ruhte.
»Ich kann es dir nicht sagen«, sagte Teresa.
»Ich weiß«, sagte Alfonsina.
Dass Teresa an jenem Augusttag vor drei Monaten eine Böschung hinabgestürzt und deshalb mit blutenden Schrammen, blauen Flecken und zerrissenen Kleidern nach Hause gekommen war, hatte Alfonsina ebenso wenig geglaubt wie Martas Mutter Caterina Cesaretti.
Sie habe sich einen Plan überlegt, begann Alfonsina.
Sobald Teresas Zustand nicht mehr zu übersehen sein würde, sollte sie hinauf zum Kloster Santa Maria delle Stelle gehen. Sie, Alfonsina, habe dort bereits mit Schwester Moriosa, der Oberin, gesprochen. Verborgen hinter den klösterlichen Mauern könnte Teresa niederkommen, und die Schwestern würden dafür sorgen, dass das Kind zu guten, christlichen Eltern käme.
Danach sollte Teresa für eine Weile zu Tante Ricarda nach Urbino ziehen. Sie war Alfonsinas Cousine und seit einem Jahr Witwe. »Du kannst dich in ihrem Kurzwarenladen nützlich machen. Sie wird einverstanden sein, sie schuldet mir noch einen Gefallen. In Urbino kennt dich niemand, und vielleicht findest du dort doch noch einen anständigen Mann.«
»Und die Nonnen machen das, weil …?«, fragte Teresa lauernd.
Alfonsina druckste ein wenig herum. Es gebe wohlhabende Menschen, die sich nichts so sehr wünschten wie ein Kind, aber dennoch keines bekommen könnten. Diesen Menschen sei die Erfüllung ihres Wunsches eine großzügige Spende an die Mutter Kirche wert. Gleichzeitig wäre dadurch aber auch garantiert, dass das Kind nicht in Armut aufwachsen würde.
»Die Nonnen verkaufen es also.«
Sie sah, wie ihre Mutter ein wenig zusammenzuckte und wahrscheinlich im Geist an einer netteren Formulierung feilte, aber schließlich sagte sie »Ja«.
»Gut«, sagte Teresa.
Ob am Ende vielleicht sogar die winzige Hoffnung bestand, dass Cesare sie doch noch wollte? Nein, das wohl nicht, erkannte Teresa resigniert. Ihr Ruf war dahin, und wer weiß, was Cesare inzwischen über sie dachte? Wahrscheinlich dasselbe wie ihr Vater.
Doch der Plan ihrer Mutter war ein Hoffnungsschimmer, eine Aussicht auf ein neues, unbelastetes Leben, wenn erst das Ding, das sich in ihren Körper gestohlen hatte, weg sein würde. Urbino war zwar nicht der Nabel der Welt, aber es war eine richtige Stadt, kein Kaff wie Belmonte. Und wenn erst das Kind geboren und der Faschismus besiegt wäre, könnte sie von Urbino aus immer noch weiterziehen, in den Norden, nach Bologna, oder sogar nach Mailand. Nur sah es im Moment leider gar nicht nach einem baldigen Sieg aus. Die Nachricht vom Abbruch der alliierten Offensive hatte dem Optimismus der Befreiungskämpfer und der Bevölkerung einen schweren Dämpfer versetzt.
Und bis es so weit war, ins Kloster umzuziehen, musste Teresa sich erst einmal mit dem Feind im eigenen Haus arrangieren.
* * *
Nachdem es Teresa wieder ein wenig besser ging und sie ihr Bett verlassen konnte, weigerte sich ihr Vater, seine Mahlzeiten einzunehmen, wenn Teresa mit am Tisch saß. Begegnete sie ihm im Hof oder im Stall, spuckte er auf den Boden. Im Haus begnügte er sich mit hasserfüllten Blicken. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, dass dieser verbitterte Mann derselbe war, der sie als Kind auf seinen Knien geschaukelt und ihr kleine Holztiere geschnitzt hatte. Wenn sie ihn jetzt ansah, spürte sie nur noch Verachtung für ihn. Sie wünschte sich, er wäre im Krieg gefallen oder interniert worden. Lieber er und nicht ihr Bruder Claudio.
Als ihr Vater sie einmal, es war im Stall, eine Partisanenhure nannte, fuhr sie ihn an: »Und du bist ein erbärmlicher Feigling! Warum bist du nicht in den Bergen und kämpfst für unsere Freiheit?«
»Freiheit, dass ich nicht lache!«, brüllte er. »Wegen Idioten wie euch werden sie noch das ganze Dorf hinrichten!«
»Hoffentlich dich zuerst!«
Er griff nach der Mistgabel, und Teresa hatte bereits die Zinken an der Kehle, doch das plötzliche Auftauchen Alfonsinas verhinderte Schlimmeres.
Von da an hielt Muzio sich noch öfter als sonst in der Bar auf.
* * *
Teresa und Marta hatten sich seit jenem Tag im August nur selten gesehen, eigentlich nur dann, wenn sie sich zufällig im Dorf begegnet waren. Teresa schämte sich, Marta unter die Augen zu treten, obwohl sie sich sagte, dass es blödsinnig war, so zu empfinden. Aber dennoch war es so, und Marta schien es ähnlich zu gehen. Sie waren Zeuginnen ihrer gegenseitigen Schande. Als Marta Teresa dann doch einmal besuchen kommen wollte, lief sie Muzio direkt in die Arme, und der jagte sie fort.
Den Lebensmitteltransport zum Partisanenstützpunkt hatten inzwischen längst andere übernommen. Wer genau, wusste Teresa nicht. Es war besser, man wusste möglichst wenig.
Es hätte Teresa zu denken geben müssen, dass ihr Vater sich bis auf die bösen Blicke und das Spucken verhältnismäßig ruhig verhielt.
Am Tag des Heiligen St. Nikolaus blieb Muzio den Nachmittag über fort. Mit dem Dunkelwerden kam er zurück, angetrunken und ausnahmsweise einmal guter Laune. Mit einem grimmigen Lächeln wandte er sich an seine Frau und sagte: »Ich habe das Problem gelöst.«
»Welches Problem?«
Er deutete auf Teresa, die am Tisch saß, Kartoffeln schälte und versuchte, unsichtbar zu sein.
»Das Problem. Sie wird heiraten.«
Kapitel 4
Simona
Der Holzstuhl knarrte bei jeder Bewegung und nötigte Simona dazu, regungslos und aufrecht vor dem wuchtigen Schreibtisch zu sitzen, den Blick auf den Schädel des Notars gerichtet, der Franca Mälzers Letzten Willen verlas. Zwei exakt abgezirkelte graue Haargruppen standen sich gegenüber wie gegnerische Mannschaften, dazwischen ein kahles Niemandsland.
Laut Francas Testament erbte ihre Enkelin Simona Mälzer die Wertpapiere und das Barvermögen – damit seien die Ersparnisse auf den Bankkonten gemeint, schob der Notar ein –, an ihre Tochter Marina Mälzer gehe das lastenfreie Haus in der …
An dieser Stelle knackte das Stuhlgebälk unter der Genannten, und ihre Schultern strafften sich und vollführten dann eine kleine, rollende Bewegung, als würde sie etwas abstreifen.
Ihre verkrachte Existenz vermutlich, dachte Simona.
Verdammt, jetzt hatte sie dem Notar nicht richtig zugehört. Was hatte er da gebrabbelt, von einer Liegenschaft in den italienischen Marken? Abartig, dieses Juristendeutsch.
»… geht erneut an meine Enkelin Simona Mälzer. Auflagen dazu werden ihr gesondert mitgeteilt.«
»Lieber Himmel, die alte Bruchbude! Dass die noch existiert«, bemerkte Marina.
Der Notar sah sie beide über die randlose Brille hinweg an. »Das war alles. Nehmen die Parteien die Erbschaft an?«
»Ja«, sagte die eine Partei mit der Geschwindigkeit einer Braut, die es kaum erwarten konnte, unter die Haube zu kommen.
Der Notar schob ihnen etliche Papiere zur Unterschrift zu, und Marinas lackierte Krallen griffen gierig nach dem Füller.
»Was für Auflagen sind das denn?«, fragte Simona.
Der Notar hob die Hand und bedeutete ihr mit einem kurzen Nicken, sie möge sich einen Augenblick gedulden.
»Frau Mälzer, wir beide wären dann fertig, eine beglaubigte Kopie des Nachlasses Ihrer Mutter geht Ihnen auf dem Postweg zu.«
Marina schaute erst den Notar und dann Simona an, bis sie begriff, dass dies ein höflicher Rausschmiss war.
»Gut. Wiedersehen«, sagte sie. Stand auf, zog das schwarze Fähnchen über ihrem mageren Hintern glatt, klemmte sich das Glitzertäschchen unter den Arm und stakste auf nietenbesetzten Stiefeletten aus dem Zimmer. Zurück blieb die pappige Wolke eines süßlichen Parfums.
Der Stuhl ächzte erneut wie unter Qual, als Simona sich über den Schreibtisch beugte. Ein Lockenstrang war dem Knoten, den sie zu diesem ernsten Anlass trug, entkommen und baumelte über den Papieren wie eine Telefonschnur.
»Was ist das für eine Liegenschaft?«