Villa Fortuna - Antonia Riepp - E-Book
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Villa Fortuna E-Book

Antonia Riepp

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Beschreibung

In »Villa Fortuna« erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Riepp (»Belmonte«) eine ebenso dramatische wie bewegende Familiengeschichte zwischen Deutschland und Italien. Der malerische Ort »Belmonte« wird erneut zum Schauplatz einer emotionalen Saga um Mütter und ihre Kinder, Zusammengehörigkeit und Trennung, Geheimnis und Versöhnung.  

Johanna Burger lebt allein mit ihren fünf Hunden in der Nähe des Dorfes Belmonte in einem einsam gelegenen Haus, der Villa Fortuna. Eines Tages taucht ein junger Amerikaner, Michael, bei ihr auf. Er behauptet, Johannas Sohn zu sein – und besitzt sogar eine Geburtsurkunde, die das beweist. Als sie es dennoch abstreitet, nistet sich Michael bei ihr ein. Lange Verdrängtes steigt wieder hoch, auch die schrecklichen Geschehnisse im Entbindungsheim für »gefallene Mädchen« im Allgäu. Sie führten Johanna bis nach Belmonte, zu Gabriella Moretti, die ein ähnliches Schicksal teilt. Zwei Frauenleben zwischen dem Allgäu und den italienischen Marken, zwischen Anpassung und der Suche nach Freiheit, bestimmt von Familie, Liebe und Verrat.  

»Antonia Riepp schreibt unaufgeregt und fließend leicht. Gleich ab der ersten Seite fühlt man mit den so unterschiedlichen Frauen mit und kann das Buch kaum noch zur Seite legen.« Freundin über »Belmonte«  

»Ein perfekter Schmöker für den Sommer« WDR 4 über »Belmonte«  

»Ein überaus bewegender Roman, der Zeitgeschichte widerspiegelt. Längst nicht nur Fans von Titeln wie ›Bella Germania‹ werden dieses Buch lieben.« Südhessen Wochenblatt über »Belmonte«

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: ullstein bild - Alinari Archives; Getty Images (I just try to tell my emotions and take you around the world; Angelgild; Jim Smithson)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Oktober 2020

Johanna

Oktober 2020

Michael

November 1975

Johanna

Oktober 2020

Michael

November 1975 bis Januar 1976

Johanna

November 2020

Michael

Oktober 2020

Johanna

Oktober 2020

Michael

Februar 1976

Johanna

Oktober 2020 – Vergangenheit

Michael

Februar bis März 1976

Johanna

Oktober 2020

Michael

April 1976

Johanna

September 2020

Johanna

Mai 1976

Johanna

Juni 2006

Johanna

1976

Johanna

Juni 2006

Johanna

Oktober 2020

Johanna

Juni 2006

Johanna

Mai 1976

Johanna

Mai bis August 1976

Johanna

Juni 2006

Johanna

Juli 2006

Johanna

September 1974

Gabriella

Juli 2006

Johanna

September 1974

Gabriella

Oktober 2020

Michael

September 1974

Antonella Moretti

Juli 2006

Johanna

März bis Mai 1975

Gabriella

Oktober 2020

Michael

Mai 1976

Gabriella

September 2006

Johanna

Mai bis Juni 1976

Gabriella

Oktober 2020

Michael

Juni 1976

Gabriella

Juli 1976

Antonella

September 2006

Johanna

Juli bis September 1976

Gabriella

September 2006

Johanna

Februar 2007

Johanna

Oktober 2020

Johanna

November 2020

Michael

November 2020

Johanna

November 2020

Johanna

Mai 1975 bis Februar 1976

Gabriella

November 2020

Johanna

Herbst 1975

Gabriella

November 2020

Michael

Februar 2021

Johanna

Erklärung und Danksagung

Oktober 2020

Johanna

Die Hunde merkten es immer lange vor Johanna, wenn sich Besuch ankündigte. Lani und Bella, die beiden Segugio-Damen, begannen nervöse Kreise im Hof zu ziehen, Mauri, ein graubrauner Zottel, und der nicht ganz reinrassige Schäferhund Otto setzten sich aufrecht und witternd vor die Treppe, und Ursula fing voller Vorfreude zu sabbern an. Die weiße Maremmano-Hündin war inzwischen dreizehn Jahre alt. Gabriella vom Moretti-Hof hatte Johanna den vier Monate alten Welpen zum Einzug geschenkt oder, besser gesagt, aufgedrängt. Wenn Johanna schon unbedingt in einem abgelegenen Bauernhaus im Apennin leben wolle, brauche sie wenigstens einen Hund, und diese großen Hütehunde seien für ihre Schärfe und Wachsamkeit bekannt.

Der Welpe hatte ausgesehen wie ein kleiner Eisbär, ein orso bianco, also hatte Johanna ihr den Namen Ursula gegeben. Was den scharfen Wachhund betraf, schien Ursula ein wenig aus der Art zu schlagen. Bestimmt würde sie einen Wolf verjagen, daran glaubte Johanna ganz fest, nur hatte sich in all den Jahren keiner blicken lassen, obwohl es in den Bergen durchaus welche gab. Menschen gegenüber zeigte sich Ursula dagegen hoffnungslos bestechlich. Was soll’s?, fragte sich Johanna. Die anderen Hunde hatten schließlich ebenfalls ihre Defizite.

Viele Menschen kamen ohnehin nicht hinauf zu ihrem kleinen Gehöft, denn für die steilen Serpentinen brauchte man ein geländegängiges Fahrzeug, oder man musste den Anstieg zu Fuß bewältigen, was nicht jedermanns Sache war. In der Saison durfte Schäferhund Otto bisweilen Touristen vertreiben. Sein fehlendes rechtes Hinterbein hinderte ihn nicht daran, mit Überzeugung den Besucherschreck zu geben, und Wanderer, meistens Deutsche, die das Schild mit der Aufschrift privato an der Abzweigung ignoriert hatten, machten denn auch stets recht eilig wieder kehrt.

In diesem Jahr jedoch waren sowohl ungebetene als auch gern gesehene Besuche ausgeblieben. Das Corona-Virus hatte die Touristen ferngehalten und die Einheimischen in die Häuser verbannt. Als wäre das nicht genug, riss ein früher Herbststurm weiter unten am Berg zwei Pappeln um. Die Bäume lagen seit Wochen quer über der Schotterstraße, die als einzige nach Belmonte führte.

Jetzt war Anfang Oktober, und noch machte ihr die blockierte Straße nicht allzu viel aus. Zweimal pro Woche schlüpfte sie in ihre Wanderschuhe und schulterte den Rucksack, um Essen für sich und die Hunde zu besorgen. Es gefiel ihr, sich selbst zu beweisen, dass sie nicht auf das Auto angewiesen war. Dabei war sie sich durchaus bewusst, dass sie das Schicksal herausforderte. Was, wenn einer der Hunde zum Tierarzt musste oder wenn ihr selbst etwas zustieß? Außerdem konnte sie unmöglich den gesamten Wintervorrat für sich und die Tiere im Rucksack heranschaffen. Hier oben tat man gut daran, sich beizeiten mit Vorräten einzudecken, denn die strada bianca nach Belmonte wurde nicht geräumt, und das Stück von der Abzweigung bis zu Johannas Haus war bei Schnee selbst zu Fuß riskant. In einigen Kurven ging es direkt neben dem Weg steil hinunter. Ein Ausrutscher, ein falscher Tritt auf ein trügerisches Schneebrett, und man endete am Grund der Schlucht.

Um zu Fuß nach Belmonte zu kommen, brauchte man etwa eine Stunde, doch bei Johanna dauerte es meist länger, denn auf dem Hinweg trödelte sie gern herum: hielt Ausschau nach Pilzen, Beeren und Kräutern, beobachtete Vögel oder genoss einfach nur die Aussicht auf die Landschaft der italienischen Marken: das Mosaik der Felder mit den grünen Einsprengseln kleiner Wälder, die einzelnen Gehöfte, die silbrigen Bänder der Straßen. Mittelalterliche castelli, umgeben von trotzigen Festungsmauern, besetzten die Hügel, und an klaren Tagen konnte man im Hintergrund den kobaltblauen Strich der Adria sehen, die nur eine halbe Autostunde entfernt war. War Johanna dann endlich in Belmonte angekommen, gönnte sie sich als Erstes einen Cappuccino in der Bar, holte dort ihre Post ab und ließ sich von Giovanna den neuesten Dorfklatsch erzählen. Danach besuchte sie entweder den Dorfladen von Giovannas Tochter Flavia, er lag gleich nebenan, oder sie traf sich mit ihrer Freundin Gabriella, und sie fuhren zusammen nach Serra de’ Conti, zum Supermarkt und der Tierfutterhandlung.

Der Rückweg mit dem schweren Rucksack war deutlich beschwerlicher und dauerte jedes Mal fast zwei Stunden.

»Du wirst dir noch den Rücken ruinieren«, hatte Gabriella letzte Woche prophezeit, als sie auf der Terrasse vor Giovannas Bar saßen. Gabriella bestellte zwei frizzante, diesen leicht süßlichen Perlwein, den Johanna nicht besonders mochte und den sie später, als ihre Freundin nicht hinsah, in den Kübel der Bougainvillea goss.

»Soll ich nicht meine Jungs bitten, die Bäume wegzumachen? Wir haben keine Gäste, sie hätten genug Zeit.«

»Das sehe ich nicht ein«, beharrte Johanna. »Die Straße frei zu machen ist Aufgabe der Gemeinde. Wozu zahlen wir schließlich Steuern?«

»Das kann noch Wochen dauern, bis die ihre Ärsche hochkriegen.«

»Ich werde unserem Bürgermeister schöne Augen machen, das hilft bestimmt«, verkündete Johanna, und daraufhin kicherten sie wie die Teenager.

»Keine Sorge, ich bin zäh«, hatte Johanna noch hinzugefügt.

Johanna Burger war dünn und drahtig und viel kräftiger, als sie aussah. Vor allen Dingen verfügte sie über Ausdauer. Mit zweiundsechzig, so sagte sie sich, durfte man sich nicht gehen lassen. Darum hoffte sie, dass die Einkaufstouren zu Fuß sie wenigstens fit halten würden.

Möglicherweise kam ihr zugute, dass sie in Oberstdorf aufgewachsen und daher von klein auf an Bergtouren in den Allgäuer Alpen gewöhnt war. Kaum ein Gipfel im Umkreis, den sie nicht zusammen mit ihrem Vater und den Brüdern erklommen hätte. Ihre Mutter war nie dabei gewesen. Vielleicht erschlossen sich ihr die Freuden der Gipfelstürmerei wegen ihrer pommerschen Gene nicht, vielleicht hatte sie aber auch einfach genug zu tun – mit einem Mann, der im Haushalt kaum einen Finger rührte, drei Kindern, der Buchhaltung für die Schreinerei und einer Schwiegermutter, der man nichts recht machen konnte.

Jetzt bemerkte auch Johanna das Nahen eines Menschen: Ein morscher Zweig knackte, Eichelhäher flogen auf und stießen heisere Warnrufe aus, und nach einer Weile konnte sie sogar Schritte hören. Schwere, kräftige Schritte, die den Waldweg hinaufstapften, der von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr zuwuchs. Ihn freizuschneiden und instand zu halten war eine Aufgabe, vor der Johanna sich nur allzu gerne drückte.

Es konnte niemand aus dem Dorf sein. Um halb drei am Nachmittag pflegten die Einheimischen grundsätzlich ein ausgedehntes Mittagsschläfchen zu halten und wären keinesfalls so verrückt, eine Wanderung zu unternehmen. Erst recht nicht bei diesen Temperaturen. Johanna hatte sich im Lauf der Jahre diesen Sitten angepasst. Ehe die Hunde unruhig geworden waren, hatte auch sie im Schatten des Walnussbaums auf einer Liege gelegen, gelesen, gedöst und die Freuden des Altweibersommers genossen.

Es musste ein Fremder im Anmarsch sein, das signalisierten ihr schon die Hunde. Ursula hörte auf zu sabbern und schaute Johanna fragend an. Ottos Nackenfell sträubte sich, und er fletschte sein nicht mehr ganz vollständiges Gebiss. Mauri stand auf, schüttelte den Staub aus seinen Zotteln und stellte sich hinter Otto; der General und sein Adjutant. Lani und Bella, die Segugio-Hündinnen, hefteten sich an Johannas Fersen und folgten ihr ins Haus. Sie stieg die steile Holztreppe hinauf und ging in ihr Schlafzimmer.

Die Hälfte des Raums wurde von dem breiten Bett eingenommen, einem matrimoniale aus dunklem Holz und mit einer wuchtigen Bettlade, die mit ornamentalen Schnitzereien verziert war. Es stammte von einem der diversen Vorbesitzer, genau wie die meisten Möbel in ihrem Haus. Sie waren alt und etwas ramponiert, aber sie erfüllten ihren Zweck und strahlten mit ihren Schrammen und abgestoßenen Kanten einen gewissen Shabby-chic-Charme aus. Ursprünglich hatte Johanna vorgehabt, das eine oder andere Stück weiß anzumalen, damit es weniger düster wirkte, aber sie hatte stets Besseres zu tun gehabt und sich inzwischen daran gewöhnt.

Johanna zog die löcherige Schlabberhose aus und schlüpfte in die Jeans, die am Türhaken hing. Dann kniete sie sich ächzend auf die Cottofliesen, angelte die Schrotflinte unter dem Bett hervor und befreite sie von einigen Staubmäusen. Da unten müsste sie mal wieder nass wischen, erkannte Johanna bei dieser Gelegenheit und stand auf. Im Hinausgehen warf sie einen Blick auf ihr Gesicht in dem leicht angelaufenen Spiegel, der auf der Kommode stand. Auch schon ziemlich shabby, realisierte sie, und von chic konnte erst recht keine Rede sein. Das Haar, das sie mit einer Klammer zu einem nachlässigen Knoten zusammengefasst hatte, hätte eine Wäsche vertragen können, aber immerhin hatte sie es neulich erst frisch färben lassen: haselnussbraun, ihre Naturfarbe, ehe sie immer grauer geworden war. Ihr schmales, etwas längliches Gesicht war von der Sonne gebräunt. Wahrscheinlich hätte sie ein paar Falten weniger, wenn sie stets Hut und Sonnenbrille aufsetzen würde, wie die Italienerinnen es konsequent taten, aber sie vergaß es einfach viel zu oft. In letzter Zeit fand sie, dass ihr Gesicht dem ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Ein Gedanke, der gemischte Gefühle bei ihr auslöste. Charlotte Burger war eine anmutige Frau mit feinen Zügen gewesen, das schon, aber die wenigsten Frauen fanden es erstrebenswert, auszusehen wie ihre Mutter, und Johanna, die mit der längst Verstorbenen noch die eine oder andere Rechnung offen hatte, schon gar nicht.

Die Flinte auf den Knien saß sie wenig später auf der obersten der vier Eingangsstufen, kraulte dabei die langen, samtweichen Ohren der Segugi und spürte Ursulas heißen Atem im Nacken. Mauri und Otto verharrten noch in derselben Position wie vorher im Hof. So fixierten alle sechs während der nächsten Minuten die Stelle am Waldrand, an der der Weg endete und sich der Besucher jeden Moment zeigen musste.

Es war ein Fremder. Ein jüngerer Mann mit einem riesigen Rucksack, er hatte dichtes, braunes Haar, das etwas verschwitzt war und ihm in die breite Stirn fiel. Schon zogen die Hunde ihre Schau ab: Otto bleckte knurrend sein Gebiss, Mauri kläffte, die Segugi ließen ihren typischen Heulton hören, der an das Bellen eines Seehundes erinnerte, und Ursula wackelte hüftsteif die Stufen hinab, um dann erstaunlich flink ihre Masse in Bewegung zu versetzen und auf den Gast zuzutraben.

Normalerweise blieben ungebetene Gäste spätestens jetzt wie angewurzelt stehen oder machten eiligst kehrt, denn auch wenn Ursula schon sehr alt war, so war sie doch immer noch sehr groß und Respekt einflößend. Und dann waren da ja noch die anderen Hunde, und nicht zu vergessen: die Schrotflinte. Doch bei diesem Menschen schien keine dieser Abschreckungsmaßnahmen zu fruchten. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, überquerte er die Obstwiese, griff mit einer beiläufigen Geste in die Tasche seiner kakifarbenen Hose, die aussah, als stammte sie aus Armee-Beständen, und hielt Ursula, die sich ihm in den Weg gestellt hatte, irgendetwas hin, das diese sofort gierig verschlang. Otto, düpiert von der Ignoranz des Ankömmlings, erhob sich und ließ ein wütendes Bellen hören. Auch Johanna war aufgestanden und die Eingangsstufen hinabgegangen und sorgte nun mit einem scharfen Befehl für Ruhe. Die Flinte im Anschlag ging sie auf den Besucher zu, um ihn zur Umkehr aufzufordern.

Doch ehe sie etwas sagen konnte, rief er: »Excuse me, Ma’am, are you Johanna Burger?«

Johanna blieb stehen. Woher kannte dieser Mann ihren Namen, auch wenn er ihn aussprach wie den Fleischklops zwischen den labbrigen Brötchen? Sie bemerkte, dass er doch ein wenig älter war, als sie auf die Entfernung zunächst geschätzt hatte. Anfang, Mitte vierzig durfte er sein. Er betrachtete sie mit einem neugierigen und leicht amüsierten Blick.

»Johanna Burger«, sagte sie mit streng betontem U und rollendem R.

Er lächelte, wobei er blendend weiße, ebenmäßige Zähne sehen ließ. Lächelte mitten in die auf ihn gerichteten Läufe der Schrotflinte, als wäre diese nur ein Spielzeug. Nun deutete er auf die Waffe und fragte in einem breiten Kaugummi-Englisch: »Erwarten Sie noch jemand anderen, Ma’am?«

Der Ma’am verschlug es glatt die Sprache. Okay, die Flinte war ein ziemlich alter Prügel, und geladen war sie auch nicht. Was er aber schließlich nicht wissen konnte. Andererseits, sagte sich Johanna, stammte dieser Kerl offensichtlich aus jenem Land, in dem Waffen zum Alltag gehörten wie anderswo Kartoffelschäler. Um einem wie ihm Mores zu lehren, müsste man wahrscheinlich mindestens mit einem Maschinengewehr vors Haus treten. Insgeheim musste sie aber auch zugeben, dass ihr seine Coolness und besonders der Umgang mit den Hunden imponierten.

»Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?« Sie hatte die Läufe gesenkt und Englisch gesprochen, richtiges Englisch, wie sie es gelernt und jahrelang praktiziert hatte.

»I’m Michael Doyle from San Antonio, Texas.« Er streckte ihr seine Hand entgegen.

Maikl Doyle. Michael. Ein kleiner Schauder überrieselte Johanna, wie immer, wenn sie diesen Vornamen hörte. Das passierte einfach, ob sie es wollte oder nicht.

»Michael«, wiederholte Johanna, wobei sie den Namen bewusst genauso amerikanisch aussprach wie er, denn der andere, der deutsche Michael, kam ihr nur schwer über die Lippen. Sie nahm die Schrotflinte in die linke Hand und ergriff seine rechte. Sein Händedruck war vorsichtig. Bestimmt hielt er sie für eine zerbrechliche ältere Frau.

Die Hunde hatten sich inzwischen einigermaßen beruhigt. Ursula beschnüffelte hemmungslos die Hosentaschen des Besuchers, in der sie noch mehr Leckerlis vermutete, und hinterließ dabei Schleimspuren. Mauri und Otto waren verstummt und vorsichtig näher gekommen, nur die Segugio-Damen Bella und Lani liefen nach wie vor nervös im Hof auf und ab, hatten aber immerhin mit ihrem Geheul aufgehört.

Der Besucher fasste erneut in seine Tasche und holte daraus etliche flache Trockenfleischstreifen hervor, die sich Mauri und Ursula gierig einverleibten. Otto zögerte, blickte Johanna fragend an und schnappte auf ihr Nicken hin nach dem Bestechungshappen.

»Was wollen Sie hier, Mr Doyle aus San Antonio, Texas?«, fragte Johanna. Es sollte etwas belustigt klingen, keineswegs verunsichert, aber zu ihrer Verärgerung registrierte sie ein kleines Tremolo in ihrer Stimme.

Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf.

Sie standen am Rand der Obstwiese unter einem Apfelbaum, umschwirrt von Insekten, und seine netten braunen Augen musterten sie mit dem ungenierten Blick eines neugierigen Kindes. Schließlich sagte er, und es klang, als müsste er dafür seinen ganzen Mut zusammennehmen: »Ich wollte dich kennenlernen, Johanna Burger. Ich bin Michael, dein Sohn.«

Es gab Zeiten, in denen sich Johanna in ihren Tagträumen, vor allem aber in den Nächten, in denen sie schlecht schlief, eine solche Szene immer wieder vorgestellt hatte. Viele Jahre lang malte sie sich aus und wünschte sich sogar sehnlichst, dass ihr Sohn sie eines Tages wie durch ein Wunder finden, vor ihrer Tür stehen und genau diese Worte sagen würde: Ich bin Michael, dein Sohn. Oder er hätte einen anderen Namen genannt, einen, den ihm die Fremden gegeben hätten.

Natürlich diente in dem Traum von einst kein altes Ge-mäuer in den Apenninen als Kulisse, denn dass sie einmal hier landen und jahrelang bleiben würde, mit keiner anderen Gesellschaft als einer Handvoll Hunden, hatte Johanna sich als junge Frau nun wirklich nicht vorstellen können.

Doch da stand er jetzt, Michael. Das Problem dabei war, dass es den Traum inzwischen nicht mehr gab. Er hatte sich aufgelöst in ein Nichts. Schon seine Entstehung beruhte auf einem fatalen Irrtum, auf Täuschung und Betrug.

»Es tut mir leid, Michael«, sagte Johanna deshalb zu diesem sympathischen, nicht mehr ganz jungen Mann. »Ich bin nicht Ihre Mutter.«

Sein Gesicht war breit, nahezu kindlich offen, mit gleichmäßigen Zügen, die so aussahen, als wäre ihm sein Leben lang nichts Bitteres zugestoßen. Jetzt spiegelte sich eine Mischung aus Enttäuschung und Zweifel darin wider. Damit hatte er sicherlich nicht gerechnet, der arme Kerl, der den weiten Weg von Texas bis in die italienischen Marken gekommen war, um seine leibliche Mutter zu sehen. Aber was sollte sie ihm denn anderes sagen? Ihn in dem Glauben lassen, seine Mutter vor sich zu haben, so wie sie jahrelang in dem Glauben gelebt hatte, einen Sohn zu haben? Das wäre nicht richtig.

Bemerkenswert schnell gewann er seine Fassung zurück und sagte: »Verzeihung, ich verstehe, dass das für dich sehr überraschend kommt. Ich hätte vielleicht nicht so reinplatzen sollen.«

»Es ist eine Tatsache. Ich bin nicht Ihre Mutter«, entgegnete Johanna auf Englisch, wobei sie ihn im Geist aber noch immer siezte.

»Ich kann es beweisen.« Er setzte seinen Rucksack ab und nestelte an den Schnüren herum.

»Augenblick«, wehrte Johanna ab. »Wollen Sie sich vielleicht kurz hinsetzen und etwas trinken?« Sie wies auf den Holztisch hinter sich, um den sich unterschiedlich angemalte Stühle gruppierten.

»Gern«, antwortete der Besucher. Er nahm seinen Rucksack wieder auf, folgte Johanna zu der kleinen, schattigen Terrasse vor dem Haus und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den grünen Stuhl. Es roch nach den Rosen und den Kräutern, die entlang der Hauswand und in verschiedenen Gefäßen wuchsen. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Birnen, die Johanna heute Morgen geerntet hatte und die sie ihm nun mit einer Handbewegung anbot.

»Ich habe aber nur Leitungswasser. Die Straße ist blockiert, wie Sie sicher bemerkt haben, und Wasserflaschen rauftragen ist mir dann doch zu viel.«

»Das ist okay.«

»Eiswürfel gibt’s leider auch keine.«

»Das macht nichts, an lauwarme Drinks habe ich mich inzwischen schon gewöhnt.«

»Ich mache mir einen Espresso, möchten Sie auch einen?«

Er nickte.

Gefolgt von den Segugi, die sich noch immer ein klein wenig vor dem Besucher fürchteten, ging Johanna in die Küche und lehnte die Schrotflinte in eine Ecke. Sie füllte einen Steinkrug mit Wasser und brachte den Krug und ein Glas zu ihm nach draußen. Ursula hatte sich in voller Größe hechelnd unter dem Tisch ausgebreitet, Otto und Mauri lagen auf ihrem für diese Tageszeit üblichen Platz, der alten Matratze im Holzschuppen, dessen Tür offen stand und von wo aus sie Haus und Hof beobachten konnten. Offenbar waren diese drei bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass von dem Fremden keine Gefahr ausging.

Ein Dokument in einer Klarsichthülle lag jetzt neben der Schale mit den Birnen. Johanna konnte nicht anders, sie musste hinsehen. Es war seine Geburtsurkunde. Michael Burger, geboren am 12. Mai 1976 in Kempten im Allgäu. Mutter: Johanna Clara Burger. Vater: keine Angabe.

»Papier ist geduldig«, sagte Johanna auf Deutsch, besann sich dann und erklärte auf Englisch: »Das sagt gar nichts. Es ist nur Papier.«

»Das ick habe verstanden«, sagte Michael in holprigem Deutsch. »Mein Mutter hat vieles Deutsch gesprocken, als ick war klein. My adoptive mother, of course«, schickte er rasch hinterher. Sein Lächeln geriet ein bisschen aus der Spur, und Johanna verspürte den Impuls, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Eine solche Geste hätte ihn jedoch erst recht in dem Glauben bestärkt, seine Mutter vor sich zu haben. Darum und weil sie sich schließlich erst seit zwei Minuten kannten, ließ sie es sein und ging wieder in die Küche. Sie nahm die angebrochene Flasche Pflaumenschnaps vom Regal, goss einen Schluck in ein Wasserglas und kippte ihn auf einmal hinunter, in der vagen Hoffnung, dass der Schnaps ihren inneren Aufruhr besänftigen und ihr helfen würde, diese absurde Situation besser zu meistern. Noch während sich der Alkohol wie eine glühende Schnur ihre Kehle hinabbrannte, geisterte eine Sequenz von Bildern durch ihren Kopf.

Ein Mann und eine Frau gehen auf einem Gartenweg nebeneinander her. Der Himmel ist bedeckt, die Frau trägt einen hellen Sommermantel, ein blaues Seidentuch schaut aus dem Kragen hervor. Ihr Gang in den eleganten schwarzen Pumps ist so leicht, als würden ihre Füße das Pflaster kaum berühren. Zwischen dem Mann und der Frau schwebt eine Tragetasche aus Stoff, in der Tasche liegt ein Baby, zugedeckt mit einer blauen Steppdecke, es liegt auf der Seite und trägt ein Mützchen, man erkennt nur wenig von seinem Gesicht. Das Paar verlässt den Garten und geht auf einen großen, beigefarbenen Wagen mit vier Türen zu. Der Mann stellt die Tasche vorsichtig auf die Rückbank, die Frau setzt sich daneben. Das Letzte, was man von ihr sieht, ist eine grazile Bewegung ihrer Beine, ehe der Mann hinter ihr die Tür schließt. Er geht um den Wagen herum, setzt sich ans Steuer, lässt den Motor an, und dann fahren sie davon …

Johanna schüttelte den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. Sie knotete ihr Haar neu, dann füllte sie die Espressokanne mit Wasser und Kaffeepulver, schaltete den Gasherd ein und setzte den Kaffee auf.

Normalerweise trank Johanna um diese Tageszeit weder Schnaps noch Kaffee. Kaffee schon gar nicht, weil sie davon schlecht einschlief. Aber sie würde heute Nacht ohnehin kein Auge zumachen, das stand jetzt schon fest. Sie hatte ihm den Kaffee auch nur angeboten, weil sie Zeit brauchte, um sich zu sammeln und darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Ihr war klar, dass er sich nicht so leicht abwimmeln lassen würde. Er würde Fragen stellen, viele Fragen, berechtigte Fragen, und er war von sehr weit her gekommen, um Antworten zu erhalten. Genau wie sie damals, 2006, dem Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war.

Johanna musste sich überlegen, wie viel von der Wahrheit sie ihm fürs Erste sagen konnte und was darüber hinaus zu tun war. Fraglich war nur, ob die Zeit, die die Zubereitung eines Kaffees in Anspruch nahm, ausreichte, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Oktober 2020

Michael

Wäre man boshaft oder pingelig, hätte man Johannas Gästezimmer auch als Rumpelkammer mit einer Schlafgelegenheit darin bezeichnen können. Vorhin, beim Zubettgehen, hatte Michael unter dem Bettvorleger einen streichholzlangen Skorpion entdeckt, und hinter dem Nachtschränkchen war ein Tausendfüßler hervorgekrochen, als er die Lampe, die darauf stand, einschaltete. Unzählige graue Spinnweben spannten sich zwischen der Zimmerdecke und den Holzbalken, die das Dachgeschoss trugen. Das Haus schien Brutstätte und Herberge für allerlei Ungeziefer zu sein. Womöglich würden diese Kreaturen ihm nachts, wenn er schlief, übers Gesicht laufen?

Allerdings war an Schlaf ohnehin nicht zu denken.

Jetzt, in der Nacht, schien das alte Haus erst richtig zum Leben zu erwachen. Es knackte, pochte, knisterte. Mäuse? Ratten? Als wäre das alles nicht genug, strich ein von Wind bewegter Ast in unregelmäßigen Abständen mit einem schabenden Geräusch über das Dach, was einen schon unter normalen Umständen in den Wahnsinn treiben konnte.

Immerhin musste man der Gastgeberin zugutehalten, dass sie von seinem Besuch regelrecht überrumpelt worden war. Sonst hätte sie hier bestimmt mal durchgefegt und ein paar Dinge beiseitegeräumt.

Nach dem Abendessen hatten sie über Texas gesprochen, hauptsächlich über die dortige Cowboykultur und die Todesstrafe, dann über L. A., Michaels zweite Heimat, und über seinen Beruf. Dass er Drehbuchautor war, schien ihr zu imponieren, aber wahrscheinlich hegte sie, wie die meisten Leute, eine falsche Vorstellung davon. In einem zwölfköpfigen Autorenkollektiv Dialoge für den Charakter einer Dauerserie zu schreiben – denn für die Handlung waren wiederum andere Autoren zuständig –, erforderte weit weniger Kreativität, als der Begriff Drehbuchautor implizieren mochte. Das verschwieg er ihr jedoch, denn insgeheim gefiel ihm die Vorstellung, dass sie ihn für einen inspirierten Freigeist, einen Künstler hielt.

Michaels Aufgabe war es, die Dialoge für die Figur Arthur zu schreiben. Arthur, einer der Sympathieträger der Serie, war der älteste Bruder der fünfköpfigen Kernfamilie der crazy family. Leider musste Arthur vor ein paar Wochen relativ kurzfristig aus der Serie ausscheiden, denn sein Darsteller wurde wegen sexueller Nötigung verklagt und erwies sich damit als untragbar für die beliebte Vorabend-Familienserie. Michael traute dem Kerl, nebenbei bemerkt, die Nötigung und noch manches andere ohne Weiteres zu, denn er war ein arrogantes Arschloch und als Aufreißer verschrien. Aber ein guter Schauspieler. Arthurs Abgang verhieß für die Serie bestimmt nichts Gutes. Vielleicht würde man Michael eine andere Figur zuteilen, vielleicht würde er einen ähnlichen Job in einer anderen Serie bekommen. Er wusste selbst nicht, welche dieser Wendungen er bevorzugte. Oder ob gar keine davon.

Einerseits hatte ihn crazy family in den letzten Jahren sehr gut ernährt, andererseits hing ihm die Serie mit den eingespielten Lachern eines imaginären Publikums inzwischen gründlich zum Hals heraus. Er war nicht allzu unglücklich gewesen, als man ihm sagte, dass Arthur bei einem selbst verschuldeten Verkehrsunfall sterben würde. Mit grimmiger Inbrunst schrieb er an dieser für Arthur letzten Folge, und dessen letzter Dialog – ein zu Herzen gehendes Beziehungsgespräch mit seiner Frau – war sicherlich einer der besten, die Michael je für Arthur verfasst hatte.

Danach ließ er die Dinge laufen, was erst einmal gar nicht auffiel, denn die sich ausbreitende Corona-Pandemie legte die Filmproduktion ohnehin lahm. Seine deutsche Mutter hatte Michael stets zum Sparen angehalten, er würde es sich leisten können, ein paar Monate nicht zu arbeiten, vielleicht sogar länger.

Dennoch katapultierte Arthurs Serientod seinen Autor Michael aus dessen Komfortzone. Ihm wurde klar, dass es ihn nach etwas Neuem verlangte, etwas wirklich Neuem, nicht nur einer anderen Figur in crazy family oder einer ähnlichen Serie, nein, er wollte etwas ganz anderes.

Um sich selbst darüber klar zu werden, worin dieses Neue und andere bestehen sollte, musste er Abstand gewinnen. Abstand zu seinem Job, der ohnehin fürs Erste auf Eis lag, Abstand zu seiner Ehe, für die wahrscheinlich dasselbe galt, und auch Abstand zu seinem Land, das – hoffentlich nicht mehr lange – von einem entfesselten Irren regiert wurde, der besonders im Bundesstaat Texas über zahlreiche glühende Anhänger verfügte. Michael hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Demokraten wählte, aber während ihm das früher lediglich ein Stirnrunzeln einbrachte, gab es inzwischen Nachbarn, die ihn und Helen schnitten, und Freunde, die keine mehr waren. In dieser Stimmung, einer Mischung aus Euphorie, Resignation und Fatalismus, war Michael die Suche nach seiner Mutter und die damit verbundene Reise nach Europa geradezu unausweichlich erschienen. Als hätte das Leben ihm ein Drehbuch auf den Tisch gelegt.

Obwohl sie den ganzen Abend geredet hatten, war es Michael kaum gelungen, etwas von Johanna zu erfahren. Das wurde ihm jetzt, da er schlaflos auf einem ziemlich schmalen, kurzen Bett lag und grübelte, erst richtig bewusst. Johanna sprach über ihre Hunde und über das Dorf Belmonte, über Italien und die Unterschiede ihrer Wahlheimat zu Deutschland, aber kaum ein Wort über sich. Es war oberflächlich dahinplätschernder Small Talk gewesen, eine Unterhaltung, wie sie eine Pensionswirtin und ihr Feriengast führen würden.

Er versuchte sich zu erinnern, wann sie ihm ihr Gästezimmer angeboten hatte, und nach einer Weile fiel es ihm ein: draußen auf der kleinen Terrasse, nach dem Kaffee, einem Gebräu so stark und schwarz wie die Hölle. Plötzlich spürte er dieses unglaublich weiche, unglaublich lange Hundeohr an seiner Hand. Es gehörte Lani, und man konnte gar nicht anders, als es zu kraulen. Fast gleichzeitig kam auch das andere Schlappohr, Bella, näher und legte ihre warme Schnauze auf seinen Schenkel, sehr zum Erstaunen von Johanna. Lani und Bella, so erklärte sie, hielten sich normalerweise von Männern ängstlich fern.

Okay, wenn der Weg zu ihrem Herzen über die Hunde führte, dann sollte es ihm recht sein. Mit Hunden konnte er ganz gut.

Über der Eingangstür hatte er bei seiner Ankunft ein Holzschild mit dem Namen Villa Fortuna bemerkt. Villa Glück also. Nun, man würde sehen, dachte Michael, während ihm langsam die Augen zufielen, ob dieser Besuch glücklich endete.

Er erwachte gegen zehn Uhr, stand auf und öffnete das Fenster. Im Tal lag blütenweißer Nebel, die umliegenden Hügel ragten daraus hervor wie Inseln. Die Festungsmauern von Belmonte strahlten golden in der Morgensonne. Was für ein Bild, was für eine Landschaft! Wie die Kulisse zu einem Fantasy-Epos. Er machte ein paar Aufnahmen mit seinem Handy.

Die Vögel schienen heute Morgen noch lauter zu zwitschern als gestern. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor ein solch vielstimmiges Vogelkonzert gehört zu haben. Er hatte aber auch noch nie in einem Haus mitten im Wald übernachtet, fiel ihm ein. Es musste geregnet haben, das Pflaster der Terrasse und die Blätter der Bäume waren nass, die Luft prickelte, und er roch den feuchten Duft des Waldes. Er fühlte sich ausgeruht und voller Tatendrang. Als Erstes würde er auf das Dach steigen und diesen verfluchten Ast absägen.

November 1975

Johanna

Nie würde Johanna den Blick vergessen, mit dem ihre Mutter sie ansah, nachdem sie ihr gestanden hatte, dass sie schwanger war.

Sie sagte, sie glaube, sie sei schwanger, um noch einen Funken Hoffnung durchschimmern zu lassen, was die Reaktion ihrer Mutter vielleicht abmildern würde – eine naive Illusion, wie sich sogleich herausstellen sollte.

Johanna war sich ihrer Schwangerschaft längst sicher. Die Chemie log nicht und ihr Körper ebenfalls nicht. Letzte Woche hatte sie vorgegeben, am Nachmittag ihre Klassenkameradin Viola zu besuchen, radelte aber stattdessen zum Bahnhof und fuhr mit dem Zug nach Immenstadt. In einer Apotheke, in der man sie ganz bestimmt nicht kannte, bat sie flüsternd um einen Schwangerschaftstest, bezahlte ihn hastig und mit hochrotem Kopf und flüchtete danach aus der Apotheke wie eine Diebin.

Den Test führte sie mitten in der Nacht durch, als sie sicher sein konnte, dass alle schliefen. Nach einer Weile erschien in dem Sichtfenster ein blauer Streifen. Er war nur einen knappen Zentimeter lang, doch er teilte ihr Leben für immer in ein Davor und ein Danach.

Trotz Johannas Vorahnungen war es dennoch, als stürzte sie in einen Abgrund.

Anfangs, als sie Emilio mit dem Italienischwörterbuch neben dem blauen Briefpapier Liebesbriefe schrieb, war die Furcht noch ziemlich abstrakt gewesen, fast so, wie man sich bei Gewitter vor Blitzen fürchtete, die ja dann doch nie im eigenen Dach einschlugen. Mit jedem Tag, den sich ihre Periode verzögerte, wurde die Furcht konkreter, aber eine Schwangerschaft war immer noch etwas, das eventuell sein konnte, aber eigentlich nicht wirklich vorstellbar war.

Es dauerte einige Tage, bis Johanna den Mut aufbrachte, es ihrer Mutter zu sagen, und so brach es schließlich an diesem Samstagvormittag unvermittelt aus ihr heraus. Sie schnitten gemeinsam die Sträucher im Garten zurück und banden sie mit Stricken zusammen, damit der Schnee die Äste nicht herunterdrückte. Jetzt, Anfang November, konnte es praktisch jeden Tag anfangen zu schneien.

Charlotte Burger, die gerade die langen, dünnen Zweige einer Felsenbirne zurechtstutzen wollte, ließ nach der Mitteilung ihrer Tochter die Arme sinken, als hätte sie auf einen Schlag jegliche Muskelkraft verloren. Die Gartenschere noch in der Hand stand sie zunächst einfach nur da, reglos, mit geschlossenen Augen und hängenden Schultern unter der abgewetzten karierten Jacke, die sie an kühlen Tagen zur Gartenarbeit trug. Ihre Haltung spiegelte schiere Resignation, als wäre ein Unheil geschehen, dessen Eintreffen sie schon seit Langem befürchtet hatte. Schicksalsergeben. Dieses Wort kam Johanna dabei in den Sinn, und es jagte ihr eine Heidenangst ein. Denn noch nie hatte sie ihre Mutter, diese kämpferische, aufrechte Person, so niedergeschmettert gesehen.

»Mama?«, begann Johanna zögernd, und der Angstkloß, der seit Wochen in ihrem Inneren saß, schwoll an und drohte sie zu ersticken.

Endlich löste sich die Mutter aus ihrer Starre, öffnete die Lider, und Johanna erschrak vor der stählernen Härte ihres Blicks.

»Wer ist der Vater?«

»Emilio.«

»Emilio«, wiederholte die Mutter, und Johanna war nicht sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.

»Der vom Bootsverleih … Der mit der Vespa, mit dem ich ab und zu in der Disco war«, presste Johanna hervor.

Johanna konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie zurückrechnete, wie weit sie schon war. Mitte August hatten sie Ferien am Lago Maggiore gemacht: ihre Eltern, sie selbst und ihr Bruder Roland. Max, Johannas älterer Bruder, war zu Hause geblieben, um für sein Theologiestudium zu lernen.

»Du dummes Ding! Warum hast du so lange nichts ge-sagt?«

Johanna wusste keine Antwort.

»Dass du mir das antust.« Die Hände ihrer Mutter krampften sich jetzt um die Gartenschere, und ihre Stimme bebte, als würde sie am liebsten losbrüllen, wenn sie, erstens, nicht anders erzogen worden wäre und sie sich, zweitens, nicht draußen im Garten befunden hätten. Zwar hatten sie keine unmittelbaren Nachbarn, die Schreinerei Burger mit dem daran angeschlossenen Wohnhaus lag etwas abseits am Ortsrand, aber es gab Familienmitglieder, die gerne lauschten.

»Geh auf dein Zimmer!«

Johanna rührte sich nicht gleich. Worauf wartete sie? Auf Trost, auf eine Lösung? Auf die Versicherung, dass alles wieder gut werden würde?

»Geh mir aus den Augen!«

Johanna begriff, dass es am besten war zu gehorchen. Schließlich war es ja auch für ihre Mutter ein Schock, den diese erst einmal verdauen musste. Sie rannte ins Haus, die Treppe hinauf in ihr Zimmer und drehte den Schlüssel herum. Dann warf sie sich auf ihr Bett und ließ endlich den Tränen freien Lauf, die sie während des Gesprächs mit ihrer Mutter krampfhaft unterdrückt hatte, weil sie wusste, dass Charlotte Burger Gefühlsausbrüche nicht mochte.

So schlimm ist es doch gar nicht gewesen, versuchte sie sich einzureden. Ihre Mutter war zumindest ruhig geblieben. Aber tat sie das nicht immer, ruhig und beherrscht bleiben? Contenance nannte sie das. Doch beim Gedanken an diese unheimliche Kälte in ihrem Blick und in ihrem Tonfall wurde Johanna ganz flau im Magen. Dieses Eis würde nie wieder auftauen, das ahnte sie in diesem Moment.

Charlotte Burger, geborene Stoewer, war nicht wie die Mütter ihrer Schulfreundinnen und Nachbarskinder und auch vollkommen anders als Johannas Großmutter väterlicherseits, Friedel Burger, die ebenfalls im Haushalt lebte. Ihre Kinder anzubrüllen oder gar Ohrfeigen zu verteilen gehörte nicht zu Charlotte Burgers Erziehungsmethoden. Sie behandelte weder Johanna noch deren Brüder jemals von oben herab, und seit Johanna älter geworden war, begegnete ihre Mutter ihr manchmal sogar fast wie einer Vertrauten. Natürlich hatte Charlotte Burger auch einige Marotten. Sie nannte sie Prinzipien. Sie konnte überaus pingelig und streng sein, wenn es um Manieren, insbesondere Tischmanieren, ging, sie achtete mit eiserner Strenge darauf, dass sie sich alle drei in der Schule anstrengten, und kannte bei Nachlässigkeit oder Faulheit kein Pardon. Sie bestand darauf, dass jedes ihrer Kinder ein Musikinstrument lernte. Max und Johanna übten regelmäßig am Klavier, dem Instrument, das auch Charlotte Burger selbst spielte. Es stand unten, im eigentlichen Esszimmer, das jedoch selten zum Essen benutzt wurde. Um dessen Anschaffung hatte es einst einen harten Kampf gegeben. Es sei überflüssig wie ein Kropf, fand Friedel Burger und brachte diese Ansicht regelmäßig und auch in deutlich derberen Worten zum Ausdruck.

Roland, der Jüngste der drei Burger-Kinder, versuchte es zuerst mit Flöte, dann mit Akkordeon, gab aber zur Erleichterung aller Familienmitglieder beides irgendwann auf. Ihm fehlte es an Willen, Ausdauer und Talent für ein Instrument. Er lungerte lieber in der Werkstatt herum, und seine Mutter fand sich irgendwann damit ab. Ohnehin sollte Roland eines Tages die Schreinerei übernehmen. Denn Max, der älteste Sohn, hatte ganz andere Pläne.

Niemals nahm Charlotte Burger den Allgäuer Dialekt an, der in Oberstdorf in einer besonders ausgeprägten Variante gesprochen wurde, und sie legte großen Wert darauf, dass ihre Kinder neben dem heimischen Dialekt auch ordentliches Hochdeutsch sprechen lernten.

»Glaubt’s wohl, ihr seid’s was Besser’s, wenn d’r so g’schwolle daherschwätzet«, pflegte Friedel Burger dann zu meckern, denn etwas Besseres sein zu wollen, war in ihren Augen sündhaft und verpönt.

Charlotte Burger konnte außer Hochdeutsch auch noch Französisch und sogar ein wenig Russisch, aber letzteres hatte Johanna eher durch Zufall herausgefunden.

Allmählich versiegten Johannas Tränen. Sie schlich ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht kalt ab und huschte wieder in ihr Zimmer. Sie flocht ihr Haar zu einem ordentlichen Zopf, wie die Erwachsenen es gerne sahen. Die nächsten Tage würden kein Zuckerschlecken werden, gewiss nicht, aber wenn sich erst alle wieder beruhigt hätten …

Der rosa Wecker mit den Disney-Figuren auf dem Nachttischchen zeigte drei Uhr. Bald würde ihr Vater vorbeikommen, seinen Kaffee trinken und ein Stück Hefegebäck essen, so wie immer, wenn er nebenan in der Schreinerei arbeitete und nicht bei einem Kunden. Ob sie es ihm da wohl sagen würde? Wie würde er reagieren? Ziemlich wütend, da konnte man sicher sein. Sie machte sich am besten schon mal darauf gefasst, dass ihm die Hand ausrutschte.

Johanna blieb in ihrem Zimmer, horchte und rechnete jeden Moment damit, dass ihr Vater gleich zur Tür hereinstürmen und sie zur Rede stellen würde. Aber nichts geschah, im Gegenteil, es war geradezu unheimlich still, als hielte das gesamte Haus den Atem an.

Johanna versuchte sich abzulenken. Dachte an Emilio, an seine dunklen Samtaugen, das dichte, lockige Haar, seine weichen Lippen. Es war Liebe auf den ersten Blick. So schilderte sie es jedenfalls Viola nach dem Urlaub, als die Schule wieder anfing. Je öfter sie vor ihrer besten Freundin und den anderen Mädchen aus ihrer Clique von Emilio schwärmte, desto mehr glaubte sie selbst an diese Liebe auf den ersten Blick. Ob es sich wirklich genauso verhielt wie in den einschlägigen Büchern und Filmen oder in der Bravo, blieb dahingestellt, aber endlich konnte Johanna auch einmal mitreden beim Dauerthema Jungs und verliebt sein, und wenn es darum ging, wer es schon getan hatte. Mit siebzehn keinen Freund zu haben und noch immer Jungfrau zu sein stellte in den Augen der Mädchen, die in der Klasse den Ton angaben, nämlich einen Makel dar. Nicht zuletzt deshalb hatte Johanna am letzten Abend in einem Fischerboot, das am Strand lag, Emilios Drängen nachgegeben, es vielleicht sogar provoziert.

In dem Boot war es sehr unbequem gewesen. Die Fischernetze, die als Unterlage dienten, stempelten ihr ein Muster in den Hintern, und den Akt an sich hatte sie sich auch schöner und beglückender vorgestellt, jedenfalls anders als dieses verkrampfte Gestöpsel, auf das es letztendlich hinauslief. Wenigstens tat es nicht allzu weh und dauerte auch nicht sehr lange. Hinterher, auf dem Weg zurück ins Hotel, fühlte sie sich einerseits schuldig, weil sie genau wusste, dass ihre Eltern ihr Tun ganz und gar nicht gutheißen würden, gleichzeitig aber auch sehr erwachsen und auf eine gewisse Weise euphorisch. Ein junger Mann, denn das war Emilio mit seinen einundzwanzig Jahren, ein Mann, hundertmal attraktiver als die pickligen Freunde ihrer Freundinnen, umgarnte und begehrte sie. Dass sie sich schon so bald wieder trennen mussten, erschien Johanna furchtbar traurig, aber auch furchtbar romantisch, und sie liebte ihn auch jetzt noch, obwohl ihr allmählich Zweifel an seiner Liebe zu ihr kamen …

Vor zwei Wochen hatte sie zum letzten Mal mit Emilio telefoniert, von der Telefonzelle am Bahnhof aus, denn Telefonate vom heimischen Apparat nach Italien hätten ihre Eltern sofort an der hohen Telefonrechnung bemerkt. Sie durften nichts von ihrer Liebe wissen, und auch das fand Johanna irgendwie romantisch, fast so wie bei Romeo und Julia. Die Burgers fuhren zwar jedes Jahr in den Süden in den Urlaub – Italien, Jugoslawien, Spanien, Griechenland –, aber einen Ausländer, gar einen Südländer, als Freund ihrer Tochter würde vor allen Dingen ihr Vater niemals akzeptieren, das wusste Johanna, ohne dass jemals explizit darüber gesprochen worden wäre. Um das zu erkennen, musste man sich nur seine gelegentlichen Tiraden über die faulen Itaker und Jugos anhören.

Johanna hatte Emilio am Telefon mitgeteilt, dass da möglicherweise etwas passiert sei, und dabei gehofft, er würde ihr sagen, dass er sich im Fall des Falles um sie kümmern, sie nach Italien holen und heiraten werde. Sie sah sich schon mit einem schlichten Spitzenschleier auf dem Kopf neben ihm vor dem Altar knien, in einer kleinen, kargen, italienischen Kirche. Doch man hörte nur das Rauschen der Leitung und dann ein leises Klicken, dem das Freizeichen folgte. Einen Tag später versuchte sie es noch einmal und am nächsten und am übernächsten auch, aber es ging niemand mehr ans Telefon.

Aus dem Herrgottswinkel schaute der Gekreuzigte Jesus mit seinen toten Holzaugen und einem beseelten Lächeln auf den hölzernen Lippen gütig auf die Familie Burger herab, die sich um Punkt sechs Uhr zum Abendbrot versammelte. Johannas Großvater hatte die Schnitzerei in den Dreißigerjahren von einer Wallfahrt nach Altötting mitgebracht, und seither hing der Heiland in der Küche über der massiven Eckbank. Diesen Großvater hatte Johanna nie kennengelernt, er war lange vor ihrer Geburt im Krieg gefallen, wie sie immer sagten, genau wie Hinrich Stoewer, der Vater ihrer Mutter. Johanna fand, dass das Wort gefallen die Tatsachen verharmloste. Warum sagten sie nicht getötet, erschossen, umgekommen? Alles, was sie über den Krieg und die Nazizeit wusste, hatte sie in der Schule gelernt, denn zu Hause wurde das Thema nie erwähnt. Ihre Großmutter mütterlicherseits war ebenfalls tot, sie war 1948 gestorben, zehn Jahre vor Johannas Geburt. Sie sei herzkrank gewesen und habe sich auf der Flucht zu sehr verausgabt, hieß es. Es gab also aus der Großelterngeneration nur noch Friedel, die Mutter von Korbinian Burger, und Johanna dachte öfter einmal, dass ihr die beiden Großväter und die andere Großmutter bestimmt lieber gewesen wären.

Bis auf Johannas Mutter saßen alle schon auf ihren angestammten Plätzen. Aus dem Backrohr duftete es nach warmem Schinken und überbackenem Käse. Es gab Toast Hawaii, ein Gericht, das alle liebten, bis auf Friedel natürlich, die an allem, was ihre Schwiegertochter Charlotte auf den Tisch brachte, etwas auszusetzen hatte – ehe sie es dann gierig verschlang. Die Alte konnte essen wie ein Scheunendrescher, war dabei aber dürr wie ein Stecken. Das sei der Teufel in ihr, hatte Johanna ihre Mutter dazu sagen hören.

Die Gespräche verstummten abrupt, als Johanna hereinkam. Alle starrten sie an. Sie wussten es also.

Friedel Burger sprang so behände von ihrem Stuhl auf, wie man es ihr gar nicht mehr zugetraut hätte, wo sie doch immer über ihr schlimmes Kreuz jammerte. »Naus mit dir!«, kreischte sie. »Naus, du Luader, du Saumensch, du verkommen’s, mit dir hock i mi nüt an oin Disch!«

Johanna wich erschrocken zurück, blieb dann aber abwartend stehen, denn ähnlich wie ihre Mutter hatte sie es sich schon lange abgewöhnt, von Friedel Befehle entgegenzunehmen. Gleich würde ihre Mutter, die Meisterin der Contenance, die Großmutter in ihrer ruhigen, bestimmten Art in die Schranken weisen, wie sie es auch sonst tat, wenn sich bei Friedel wieder einmal die Bosheit und ihre ordinäre Art Bahn brachen. Danach hing zwar regelmäßig der Haussegen ein paar Tage lang schief, doch es gehörte zu Charlotte Burgers Prinzipien, sich von ihrer Schwiegermutter nichts gefallen zu lassen. Das habe sie nicht mehr nötig, bemerkte sie neulich einmal, und Johanna schloss daraus, dass es Zeiten gegeben hatte, wo sie es nötig gehabt hatte.

Doch anscheinend verlangte es nun die ganze Konzentration der Hausfrau, eine Flasche Weizenbier zu öffnen, den Inhalt langsam in ein kalt ausgespültes Weizenglas rinnen zu lassen und dem Vater das Glas hinzustellen.

Was war eigentlich mit ihrem Vater?

Der fuhr Großmutter Friedel zuweilen schon übers Maul, vor allem, wenn sie es gegenüber seiner Frau an Respekt fehlen ließ. Müsste er seine Tochter nicht ebenso verteidigen? Doch Korbinian Burger, der noch seinen staubigen Arbeitsanzug trug und den Geruch von Sägemehl und Holzleim verströmte, schaute Johanna lediglich stumm an, und in seinem Blick lag eine glitzernde, schwelende Wut, die jeden Moment zum Ausbruch kommen konnte.

Max! Max würde sie doch verteidigen, oder? Ihr großer Bruder, seit jeher ihr Beschützer, der Vorkämpfer für ihre Rechte. Seit er in Kempten das Priesterseminar besuchte, war Max nicht nur der ganze Stolz, sondern auch die moralische Instanz der Familie, dessen Wort jetzt schon mindestens dieselbe Geltung besaß wie das des Ortspfarrers. Für das kommende Jahr hatte Max einen Studienplatz am Collegium Germanicum in Rom in Aussicht, und seither sah Friedel in ihrem Enkel einen künftigen Kardinal, wenn nicht gar den nächsten Papst. Demnächst wird sie dich bloß noch mit Euer Exzellenz anreden und jedes Mal bei deinem Anblick auf ihre knochigen Knie sinken, hatte Johanna kürzlich noch gelästert.

Johannas Blick hing an den Lippen ihres Bruders in Erwartung eines die Gemüter besänftigenden, erlösenden Wortes. Schließlich hatte Jesus der sündigen Magdalena doch auch verziehen, oder?

Aber Max sagte nichts, er wies lediglich mit einem Ellenbogenrempler seinen Bruder Roland zurecht, der, als wäre er vier und nicht vierzehn, seiner Großmutter nachgeplappert hatte: »Ja, hau ab, du verkommen’s Luader!«

Währenddessen bekreuzigte sich Friedel und meinte dann mit einem bitteren Lächeln und einem bösen Blick in Richtung ihrer Schwiegertochter, sie habe es ja immer schon gewusst, dass bei der Larifari-Erziehung und dem vornehmen Getue von dieser Dahergelaufenen so etwas herauskommen würde, und jetzt hätte man den Salat.

»Johanna, geh auf dein Zimmer! Deine Mutter wird dir später dein Essen bringen.«

Ihr Vater hatte diese Worte ausgesprochen. Korbinian Burger war ein impulsiver Mensch, leicht aufbrausend, und die Lehrlinge und Gesellen mussten sich von ihm einiges anhören, wenn sie Mist bauten. Er meinte es meistens nicht so, und wenn man nicht die beleidigte Leberwurst spielte, kam man mit ihm gut zurecht, denn nachtragend war er nicht. Nur wenn er diesen leisen, bestimmten Ton anschlug, so wie jetzt, dann wurde es ernst, dann folgten seinen Worten Konsequenzen.

Die Mutter setzte sich hin und senkte den Blick. Max sah seine Schwester immerhin an, zuckte dabei aber nur bedauernd mit den Achseln.

Johanna spürte, wie die Verzweiflung von ihr Besitz ergriff. Sie drehte sich um und ging, ehe die anderen ihre aufsteigenden Tränen bemerken konnten. Noch auf der Treppe hörte sie, wie sie in den üblichen Singsang verfielen, der jeder Mahlzeit vorausging: Komm, Herr Jesus, sei unser Gast …

Oktober 2020

Michael

»Michael, haben Sie eine Ahnung, wie spät es hier ist?«

»Gleich sieben Uhr morgens, ich habe es gegoogelt«, antwortete er.

»Genau.« Dr. Moses Feldheimer gähnte demonstrativ, und Michael war froh, dass das Gespräch über Skype stattfand. Er hatte bei den Sitzungen schon des Öfteren wahrgenommen, dass der Atem seines Therapeuten nicht sonderlich frisch roch, und so früh am Morgen dürfte sich das Problem noch verschärft haben.

»Wo sind Sie? Das sieht so mediterran aus.«

Michael hatte seinen Laptop extra so platziert, dass man hinter ihm einen Oleanderbusch und die Landschaft sehen konnte, denn auf der Terrasse der Bar war nicht nur der Internetempfang deutlich besser als oben bei Johanna, der Ort bot auch einen wunderbaren Blick in die Gegend. »In Italien. In einem winzigen Dorf namens Belmonte. Es ist wunderhübsch, das sprichwörtliche alte Europa, schrecklich viel historisches Gemäuer auf einem Haufen, und die Leute wohnen noch wirklich da drin, stellen Sie sich das vor, sie wohnen sozusagen in der Stadtmauer, it’samazing!«

»Ihre Begeisterung in Ehren, Michael, aber haben Sie mich deshalb aus dem Schlaf gerissen?«, kam es leicht ungehalten von Dr. Feldheimer.

»Nein, natürlich nicht«, lachte Michael. »Stellen Sie sich vor, Dr. Feldheimer, ich habe sie gefunden!«

»Was? Wen?«

»Meine leibliche Mutter!«, rief Michael entrüstet. Wovon, bitte schön, hatten sie denn in den Sitzungen vor seiner Abreise andauernd geredet? Er warf einen Blick hinüber zu der Besitzerin der Bar, die auf der Bank neben dem Eingang saß und sich mit einer uralten Frau mit grauem Dutt und sehr dicken Brillengläsern unterhielt. Bei seinem Ausruf hatte die Barbesitzerin kurz zu ihm hinübergesehen. Er musste sich zusammennehmen und leiser sprechen, schließlich sollte Johanna nicht durch seine Schuld zum Gegenstand des Dorfklatsches werden.

Die Leute hier seien sehr nett, aber auch sehr neugierig, hatte sie ihn indirekt gewarnt, ehe er nach dem Mittagessen zusammen mit Mauri losgezogen war.

Jetzt lag der Hund neben ihm und hypnotisierte den Keks auf der Untertasse des Cappuccinos, der neben dem Laptop stand.

»Oh. Das ist schön«, sagte Dr. Feldheimer und gähnte schon wieder. »Einen Augenblick, bitte, Michael, ich muss nur kurz …«

Das Bild verwackelte, dann sah Michael für eine ganze Weile nur einen Ausschnitt der Küchenzeile und hörte das Geräusch eines Kaffeeautomaten. Morgenstunde hin oder her, der Psychiater könnte ruhig ein bisschen mehr Enthusiasmus zeigen, fand Michael. Schließlich war es im Großen und Ganzen Dr. Feldheimer zu verdanken, dass Michael jetzt hier saß, an diesem verträumten, entlegenen Flecken Erde.

Michael hätte seinem Therapeuten gegenüber vielleicht nicht erwähnen sollen, dass er ein Adoptivkind war, denn prompt stürzte Dr. Feldheimer sich darauf wie ein Hund auf den sprichwörtlichen Knochen. Immer wieder drängte er Michael auf seine sanfte Art, nach Deutschland zu reisen und seine leibliche Mutter zu suchen. Für Dr. Feldheimer schien darin der Schlüssel zur Lösung aller Probleme seines Klienten zu liegen. Nicht einmal das Corona-Virus und die damit verbundenen Reisebeschränkungen taugten als Ausrede, denn dummerweise war es Michael gegenüber seinem Therapeuten herausgerutscht, dass er zusätzlich zum amerikanischen auch noch immer einen deutschen Pass besaß.

»Wozu soll das gut sein? Ich bin doch bisher bestens ohne diese Frau zurechtgekommen«, wehrte Michael ab.

»Wenn alles bestens wäre, dann wären Sie nicht bei mir, Michael.«

Während der gesamten Reise hatte Michael Dr. Feldheimers eindringliche Stimme im Ohr gehabt: Finden Sie Ihre Mutter. Es ist wichtig, Ihre Wurzeln zu kennen und zu erfahren, warum sie Sie weggegeben hat. Das wird Ihnen helfen, es wird Ihnen Klarheit verschaffen …

Auch Helen schloss sich der Meinung des Psychiaters an, aber das wunderte Michael nicht. Schon seit Längerem fiel es ihr leichter, Michael zu mögen, wenn er nicht anwesend war, und bestimmt freute sie sich, ihn für einige Zeit los zu sein und sich ungestört ihrem Liebhaber – wer immer das im Augenblick sein mochte – widmen zu können.

Dr. Feldheimer war ursprünglich ihr gemeinsamer Therapeut gewesen. Er sollte ihre zerrüttete Ehe kitten. Nach zwei Monaten gelangte Helen jedoch zu der Überzeugung, dass mit ihr alles in Ordnung sei und hauptsächlich Michael das Problem. Sie klinkte sich aus, mit dem Argument, Michael könne sich besser öffnen, wenn sie bei den Sitzungen nicht dabei sei.

Um Dr. Feldheimer einen Gefallen zu tun, hatte Michael nach vergeblicher Recherche im Netz eine Detektei beauftragt, die Adresse der Frau herauszufinden, deren Name auf seiner Geburtsurkunde stand. Insgeheim hoffte er, dass die Detektive scheitern würden und die leidige Angelegenheit damit vom Tisch wäre. Weiß der Teufel, wo die Frau jetzt lebte und wie sie inzwischen hieß.

Jedoch durfte man das deutsche Meldegesetz nicht unterschätzen. Es dauerte keine zwei Wochen, da ließ ihm die Detektei sowohl die Adresse als auch eine Rechnung über zwölfhundert Dollar zukommen. Direkt in seinem Geburtsort Kempten, einer Stadt im Süden Deutschlands, sei eine Johanna Burger gemeldet, auf welche die in der Urkunde aufgeführten Geburtsdaten passten.

Dort war er dann auch zuerst gewesen, in diesem Kempten. Es lag nah an den Alpen, eine hübsche kleine Stadt. Er fragte sich, ob es 1976 auch schon so ausgesehen hatte und ob es wohl einen Unterschied machte, ob man in einer hübschen oder einer hässlichen Stadt zur Welt kam.

In der Wohnung, deren Adresse er bekommen hatte und an deren Briefkasten unter anderem auch der Name Burger stand, lebte jedoch eine Frau, die höchstens so alt sein konnte wie er selbst. Sie sei die Mieterin, Frau Burger wohne in Italien, sei aber offiziell noch hier gemeldet, es habe irgendetwas mit der Steuer zu tun, erklärte ihm Nicola Schwab, die zum Glück recht gut Englisch sprach.

»Haben Sie die aktuelle Adresse von Frau Burger?«

»Sicher, aber wie käme ich dazu, sie einem Fremden zu geben?«

Michael nahm an, dass es Johanna Burger nicht recht wäre, wenn er ihrer Mieterin gewisse pikante Tatsachen erzählte. Also schwindelte er ein bisschen und behauptete, er sei der Sohn einer Cousine zweiten Grades.

Nicola Schwab, hin- und hergerissen zwischen gesundem Misstrauen und dem Wunsch, dem netten Amerikaner einen Gefallen zu tun, versuchte, Johanna anzurufen. »Sie wohnt in den Bergen, da gibt es kein Telefon, und das Handy hat nur bei schönem Wetter Empfang.«

Offenbar herrschte jenseits der Alpen gerade schlechtes Wetter, denn es kam keine Verbindung zustande. »Das tut mir wirklich leid«, sagte sie und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen ratlos an. Vielleicht wäre sie schon in dem Moment wankelmütig geworden, aber Michael entschied sich für eine andere Strategie und führte die sehr blonde, sehr adrette Nicola in ein italienisches Restaurant in der Innenstadt aus, um ihr bei Pizza und Primitivo zu schwören, weder ein Trickbetrüger noch ein perverser Stalker oder vom Finanzamt zu sein. Derartig weich gekocht, gab sie ihm schließlich die Adresse ihrer Vermieterin in Italien, und der Abend ging noch sehr harmonisch zu Ende. Michael, der es auf einmal gar nicht mehr so eilig hatte, blieb noch ein paar Tage in Kempten im Allgäu und ließ sich seine Geburtsstadt und die Umgebung zeigen.

Vor gut einem Jahr hatte Michael mitbekommen, dass Helen ihn seit über drei Jahren mit einem Kunstmaler betrog, dessen Werke auffallend oft in ihrer Galerie hingen. Seither sah er die Sache mit der ehelichen Treue ebenfalls ziemlich locker. Im Grunde war es zwischen ihm und Helen längst zu Ende, diese Erkenntnis verfestigte sich im Verlauf seiner Reise zusehends. Die Therapie bei Dr. Feldheimer änderte daran nichts. Er hatte sowieso nie verstanden, warum Helen gemeinsam einen Therapeuten aufsuchen wollte. Vielleicht, um sich nicht nachsagen lassen zu müssen, dass sie ihre Ehe kampflos aufgegeben habe. Wahrscheinlich lebten sie nur noch im selben Haus, weil keiner wagte, den ersten Schritt zu machen, und weil Michael noch bis vor Kurzem die Hälfte des Monats in Los Angeles zubrachte. Sein Job als Drehbuchautor im Team der Dauerserie crazy family erfordere dies – behauptete Michael. Wozu ausziehen und sich scheiden lassen, wenn man sich einfach aus dem Weg gehen konnte? Michael fühlte sich in dem Apartment in Santa Monica mittlerweile mehr zu Hause als in ihrem gemeinsamen Bungalow in San Antonio.

»Und, Michael? Wie verlief die Begegnung mit Ihrer Mutter?«, drang Dr. Feldheimers Stimme aus dem Laptop. Das braun gebrannte Gesicht mit den markanten Falten von der Adlernase bis zu den Mundwinkeln war jetzt wieder groß auf dem Bildschirm zu sehen.

»Anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

»Solche Dinge laufen nie so, wie man sie sich vorstellt.«

»Sie leugnet, meine Mutter zu sein.«

»Oh!« Dr. Feldheimer zog seine Augenbrauen in die Höhe und blickte ihn nun zum ersten Mal interessiert und konzentriert an. Der Doc schien seinen ersten Kaffee oder was immer er zum Wachwerden brauchte, intus zu haben und kam langsam auf Touren. Seine Augen strahlten im selben Blau wie das Skype-Symbol auf dem Rand des Bildschirms. Mit diesen Augen und den dunklen, buschigen Brauen im Kontrast zu seiner weißen, welligen Mähne verkörperte Dr. Feldheimer das Klischee eines Psychiaters nach bester Hollywood-Manier und hätte glatt als Klon von Sigmund Freud durchgehen können.

»Sie behauptet, sie sei nicht meine Mutter. Die Urkunde, die das beweist, sei nur ein Stück Papier, sagt sie. Aber das stimmt nicht, es ist eine Urkunde, etwas Amtliches, von einer deutschen Behörde ausgestellt. Das kann sie doch nicht einfach ignorieren!« Michael wurde unwillkürlich etwas laut, aber er saß mittlerweile allein auf der Terrasse. Die Greisin schob gerade ihren Rollator über das grobe Kopfsteinpflaster in Richtung Dorfkern, und die Wirtin werkelte im Inneren der Bar.

»Michael, beruhigen Sie sich. Einatmen! – Eins, zwei, drei – Ausatmen!«

»Okay, sorry. Was glauben Sie, warum tut sie das?« Er nahm einen Schluck von seinem Cappuccino, während er zusah, wie Dr. Feldheimer die grau-weißen Stoppeln seines Dreitagebarts massierte.

»Michael, keine Frau gibt ihr Baby freiwillig weg, nicht wahr?«

Michael schwieg, denn er begriff die Frage als eine rhetorische. Dr. Feldheimer fuhr denn auch sogleich fort: »Es sind immer schwierige Umstände, verbunden mit großem Leid und Schmerz. Wie alt war Ihre Mutter damals, bei Ihrer Geburt, noch gleich?«

»Laut den Daten in der Geburtsurkunde achtzehn.«

»Das Erlebnis dürfte für sie sehr traumatisch gewesen sein, womöglich so sehr, dass sie es aus ihrem Bewusstsein verbannte.«

»Sie meinen, sie hat vergessen, dass sie ein Kind zur Welt gebracht und es weggegeben hat?«

»Nicht vergessen. Verdrängt.«

»Aber …«

»Michael, Sie sind jetzt wie alt?«

»Vierundvierzig.«

»Das ist ziemlich viel Zeit. Sie können nicht erwarten, dass Ihnen die Frau sofort um den Hals fällt. Die Reaktion Ihrer Mutter ist durchaus nicht ungewöhnlich.«

»Na ja … Ich weiß nicht«, murmelte Michael.

»Bedenken Sie eines: Im Gegensatz zu Ihnen kam für Ihre Mutter die Begegnung vollkommen unvorbereitet. Vielleicht hat sie einfach einen Schock. Warten Sie ein paar Tage, ehe Sie wieder Kontakt mit ihr aufnehmen.«

»Aber ich wohne doch bei ihr«, wandte Michael ein.

»Sie wohnen bei ihr!«, wiederholte Dr. Feldheimer.

»Äh, ja.«

Dr. Feldheimer nickte auf seine langsame, bedeutungsvolle Art. Michael kannte sonst niemanden, der so beredt und weise nicken konnte wie Dr. Feldheimer.

»Sie hat angeboten, ich könne eine Weile bleiben, solange ich sie nicht Mutter nenne oder sie mit Fragen löchere.«

Dr. Feldheimer nickte erneut bedeutungsvoll, dann lächelte er. »Nun, das ist doch schon einmal ein vielversprechender Anfang.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Betrachten Sie es als ein gutes Zeichen. Sie ist an Ihnen interessiert und wird sich Ihnen schon noch erklären. Geben Sie ihr die Zeit, die sie dafür braucht, erzwingen Sie nichts.«

»Ich verstehe. Danke, Dr. Feldheimer! Und entschuldigen Sie die frühe Störung.«

»Schon gut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Michael.«

»Ihnen …« Zack, weg war er! »… auch«, seufzte Michael.

Er trank seinen Cappuccino aus und spendierte Mauri den Keks. Besonders traumatisiert wirkte Johanna Burger auf ihn ja nicht. Sie kam ihm, im Gegenteil, ziemlich resolut vor, und sie schien ihr seltsames Leben da oben auf dem Berg gut im Griff zu haben. Ein Mensch, der sich selbst genügte, wie oft gab es das schon? Johannas Lebensweise nötigte Michael eine gewisse Bewunderung ab. Er selbst würde an ihrer Stelle wahrscheinlich nach wenigen Wochen durchdrehen. Shining ließ grüßen.

Aber war diese selbst gewählte Einsamkeit nicht andererseits ein Indiz dafür, dass etwas mit ihr nicht stimmte? Welcher halbwegs normale Mensch kapselte sich denn freiwillig von der Menschheit ab und umgab sich lieber mit einem Rudel Hunde? Verdammt, er hätte Dr. Feldheimer von den Hunden berichten sollen. Das nächste Mal durfte er das nicht vergessen.

Michael hätte Johanna gestern am liebsten gefragt, warum sie so lebte, wie sie lebte, aber aus Furcht, doch noch von ihr hinausgeworfen zu werden, hielt er sich an die Absprache und stellte Johanna keine Fragen mehr, auch keine aus seiner Sicht harmlosen.

Ob er und Helen Kinder hätten, wollte stattdessen Johanna wissen.

»Nein, keine Kinder.«

Eine Zeit lang hatte Michael das bedauert, doch inzwischen nicht mehr. So würden wenigstens keine Unschuldigen unter der Lieblosigkeit der Beziehung zwischen Helen und ihm und der früher oder später unvermeidlichen Trennung leiden müssen.

Zu weiteren persönlichen Fragen ließ Johanna sich nicht herab. Ob seine Adoptiveltern ihn geliebt und gut behandelt hatten, ob seine Kindheit glücklich oder unglücklich verlaufen war, welche Schule, welches College er besucht hatte … das alles schien sie nicht zu interessieren. Oder wollte sie nur krampfhaft vermeiden, wie eine neugierige Mutter zu wirken? Aus schierem Trotz vermied es auch Michael, über seine Kindheit und Jugend zu sprechen. Instinktiv befolgte er damit Dr. Feldheimers Rat, noch bevor dieser ihn überhaupt erteilt hatte.

November 1975 bis Januar 1976

Johanna

Es war nicht ihre Mutter, die Johanna später zwei belegte Brote und ein Glas Milch vorbeibrachte, sondern Max. Johanna saß, gegen die Bettlade gelehnt, da und starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit.

»Hab keinen Hunger.«

»Iss es trotzdem. Ihr braucht das jetzt. Du und das Kleine«, sagte Max mit sanfter Stimme. Johanna nickte und murmelte ein Dankeschön. Das Kleine. Es hörte sich so zärtlich an. Ein Kind, ein Butzele, wie man im Allgäu sagte. Sie würde einen Menschen zur Welt bringen, einen richtigen Menschen, war das nicht irgendwie auch ein Wunder? Zum ersten Mal versuchte Johanna, sich vorzustellen, wie ihr Kind wohl aussehen und wie es sein würde, Mutter zu sein.

»Denkst du auch so über mich wie die Oma?«