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In »Die Frauen von Capri – Das Lied vergangener Sommer« erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Riepp von vier Frauen, einer unerwarteten Erbschaft und einem alten Verbrechen.
Weite Himmel, türkisfarbene Wellen und steile Felsen – die Trauminsel Capri hat auch ihre Abgründe. Und in diesem 2. Band von Antonia Riepps Capri-Reihe wird Italiens schönste Insel zur farbenprächtigen Kulisse für einen packenden Urlaubsschmöker.
Herrschaftlich, strahlend weiß und wunderschön – von der Villa des Sängers Carlo Romano, hoch oben auf den steilen Felsen Capris, kann man bis dorthin sehen, wo türkisfarbenes Meer und blauer Himmel eins werden. Ein magischer Ort.
Doch für die drei Frauen, die sie nach Carlos plötzlichem Tod erben sollen, wird die Villa zum Härtetest: Bevor sich Ehefrau, Ex-Frau und Ex-Geliebte das Erbe teilen dürfen, müssen sie sechs Monate lang zusammen dort leben, überwacht von Carlos strenger Mutter. Es entsteht eine Zwangs-WG, in der sich alle misstrauen. Alte Wunden brechen auf, Lebenslügen werden aufgedeckt. Erst als eine Tragödie ihr Glück bedroht, werden aus Feindinnen Freundinnen und wird Capri zum neuen Zuhause.
»Antonia Riepp schreibt unaufgeregt und fließend leicht. Gleich ab der ersten Seite fühlt man mit den so unterschiedlichen Frauen mit und kann das Buch kaum noch zur Seite legen.« Freundin über »Belmonte«
Mit »Die Frauen von Capri« legt SPIEGEL-Bestellerautorin Antonia Riepp nach »Belmonte« (»Belmonte«, »Villa Fortuna« und »Santo Fiore«) ihre neue, atmosphärische Reihe von Urlaubsromanen vor. Wer fesselnde Sommerlektüren rund um Familien und ihre Geheimnisse, alte Häuser und ihre Geschichten, Liebe und Verrat, Freundschaft und Intrigen liebt, ist hier genau richtig.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Konrad Röhricht hatte Glück. Schrapnelle hatten ihm den Rücken zerfetzt, was nicht nur höllisch schmerzte, sondern auch aussah, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht. Doch als der junge Unteroffizier im Juni 1942 erfuhr, dass man ihn aus dem Feldlazarett von Bengasi in ein Lazarett in Neapel bringen würde, da glaubte er nur zu gern den Kameraden, die ihm allesamt versicherten: »Selbst wenn du nur zum Sterben nach Neapel kommst, hast du es gut getroffen.«
Tatsächlich mobilisierte schon die Nachricht von der Verlegung seine Lebenskräfte. Neapel, Napoli … Allein der Name klang so fröhlich, hell und überaus verheißungsvoll. Fernab der Fronten, jedoch strategisch günstig auf halber Strecke zwischen Berlin und der afrikanischen Küste gelegen, war die Stadt der ideale Platz für ein Lazarett. Die Hafenstadt im verbündeten Italien stand aber nicht nur bei versehrten Soldaten hoch im Kurs. Als Deutscher konnte man sich dort wie zu Hause fühlen. Es gab eine Ortsgruppe der NSDAP, eine Einheit der Hitlerjugend, und die italogermanische Vereinigung bemühte sich nach Kräften, den Bewohnern ihres Gastlandes die germanische Kultur nahezubringen. Persönlichkeiten aus Regierungskreisen, Minister und Parteigrößen fanden sich immer wieder gern am Fuße des Vesuvs ein. Von hier aus unternahmen sie Erkundungsfahrten nach Sorrent, Pompeji und Capri. Die Insel, wie sie Capri nannten, als gäbe es keine andere, war ebenfalls ein Sehnsuchtsort für Kriegsversehrte. Angeblich nahmen die Bewohner sie dort sehr herzlich auf.
Für Konrad Röhricht sollte es bei Neapel bleiben. Damit war er sehr zufrieden. Nie hätte er eine Entscheidung seiner Vorgesetzten angezweifelt. Konrad entstammte väterlicherseits einer preußischen Soldatendynastie, eine Laufbahn bei der Wehrmacht war ihm praktisch in die Wiege gelegt worden. Obgleich er manchmal einen, wie sein Vater bemängelte, weibischen Hang zum Schöngeistigen pflegte.
Dem arg ramponierten und kriegsmüden Konrad kam die Stadt vor wie eine Oase des Friedens. Allerdings war Neapel eine sehr laute und lebhafte Oase, und besonders sauber war sie auch nicht. Streunende Hunde und Katzen machten sich über den allgegenwärtigen Müll her, dazwischen wuselte es vor subversiven Elementen; Straßenhändler, Diebe, Schnorrer, Hehler, Huren, Zuhälter und immer wieder Horden bettelnder und stehlender Kinder. Neapel, das war Chaos, Leichtsinn, Begeisterung, Sentimentalität, Improvisation und Fantasie. Aber auch Gerissenheit und Kriminalität, Armut und Ausbeuterei sowie Hilfsbereitschaft und tiefe Frömmigkeit existierten hier, direkt neben gelebter Unmoral und der Unfähigkeit der Bewohner, mit Ordnung und Disziplin zu leben.
Das alles schreckte niemanden dauerhaft ab, auch Konrad nicht. Ganz im Gegenteil. Wie alle Verwundeten, die es bis hierher geschafft hatten, versuchte auch er, seine Dienstfähigkeit möglichst lange hinauszuzögern. Doch seine Wunden heilten, wenn auch langsam. So erfreulich das einerseits war, so bedeutete es doch, bald Abschied nehmen zu müssen von diesem aufregenden Ort. Als er wieder einigermaßen auf den Beinen war, schleppten ihn die Kameraden unter viel Getuschel und Gekicher fort. Es war der 11. Juli des Kriegsjahrs 1942, sein vierundzwanzigster Geburtstag. Davon hatten die Freunde spätestens Wind bekommen, als ihn ein Paket mit allerlei Köstlichkeiten von seiner Familie erreichte. Konrad ahnte, dass sie irgendeine Schweinerei planten, ein Besäufnis wahrscheinlich, einen Besuch im Bordell oder beides. Und tatsächlich, es ging in eine sinistre Spelunke in der Nähe des Hafens, welche Konrad normalerweise niemals betreten hätte. Schon der Weg dorthin war ein Abenteuer. Aber es gab in diesem finsteren Loch auch Lichtblicke. Zum Beispiel dieses Mädchen im roten Kleid. Sie war blutjung und hatte ein herzförmiges Gesicht mit großen, seelenvollen Augen und vollen Lippen, die ihn übertrieben lasziv anlächelten. Ihr frivoler Hüftschwung geriet aufgrund ihrer Magerkeit etwas eckig. Irgendwie tat sie Konrad leid. Aber sie weckte auch gewisse, lange unterdrückte Triebe.
»Die gefällt dir, was?«, feixte der beinamputierte Hermann.
Konrad dachte an die eindringlichen Warnungen vor der Franzosenkrankheit, die man vor jedem Fronturlaub zu hören bekam. Es würde schon gut gehen! Zumal ihm gerade zwei von diesen Franzosenhütchen in die Hand gedrückt wurden.
Die Kameraden verhandelten mit einem schmuddeligen Kerl, der in einer Nische saß und ein fürchterlich stinkendes Kraut rauchte. Es wechselten ein paar Scheine den Besitzer, und damit war der Weg frei. Das Mädchen winkte ihm mit einer Kopfbewegung. Konrad folgte ihr in eine Gasse, die so eng war, dass man zwischen den gespannten Wäscheleinen kaum den Himmel sah. Sie bogen um etliche Ecken. Die Szenerie blieb im Großen und Ganzen dieselbe, nur die Gerüche wechselten: gekochte Bohnen, volle Windeln, Fisch, verdorbenes Obst, und bisweilen streifte ihn der Hauch eines aufdringlichen Parfums. Über allem aber schwebte der allgegenwärtige, faulig-süßliche Müllgeruch.
Vor einem Haus, von dessen blassroter Fassade der Putz bröckelte, blieb sie unvermittelt stehen. Sie blickte sich nach ihrem Kunden um, als wollte sie sich überzeugen, ob der immer noch willens war, die Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, die seine Kameraden ihm spendiert hatten.
Konrad war ins Schwitzen gekommen. Er wischte sich eine seiner braunen Locken aus der Stirn und lächelte.
»Vieni, komm«, sagte sie.
Es ging ein paar Stufen hinab, ins Souterrain. Der Raum war eine Mischung aus Küche und Schlafzimmer und sehr schlecht beleuchtet. Als Konrads Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte er das Madonnenbild, das über dem Eisengestell des Betts hing. Im Regal stand neben den Marmeladengläsern eine grell bemalte Holzfigur, die den Ortsheiligen San Gennaro darstellte. Der Legende nach fing eine Frau das Blut des im Jahr 305 enthaupteten Märtyrers in einer Phiole auf. Jedes Jahr, am Festtag des San Gennaro, wurde im Dom San Gennaro so lange und inbrünstig gebetet, bis sich das getrocknete Blut in eben jenem Glaskolben verflüssigte. Was es wohl recht zuverlässig tat. Dies galt als glücksverheißendes Omen und wurde mit Jubel, Applaus und dem Läuten der Domglocken gefeiert. Und tatsächlich, in den Jahren, in denen das Blut einmal nicht flüssig wurde, geschahen schlimme Dinge.
Das Mädchen breitete ein Handtuch über den löchrigen Bettüberwurf und begann sich auszuziehen. Auch Konrad entledigte sich seiner Stiefel und Hosen, das Hemd behielt er lieber an. Sein Rücken war noch verbunden, obwohl die meisten Wunden inzwischen vernarbt waren. Der Arzt und die Schwester im Lazarett hatten den Löwenanteil seines Geburtstagspakets abbekommen, dafür ließen sie seine Verletzungen auf dem Papier ein wenig schlimmer aussehen, als sie es inzwischen waren. Das brachte ihm eine kleine Gnadenfrist ein. Zwei, drei Wochen vielleicht, ehe es dann zum Ersatzdienst ging.
Vorhin, als Konrad den schwingenden Hüften des Mädchens im roten Kleid durch die Gassen folgte, hatte er noch geglaubt, vor Verlangen gleich platzen zu müssen. Doch nun hatte er ein Problem. Vielleicht lag es an den schäbigen Möbeln, dem Schimmelgeruch oder an dem sanften, resignierten Blick der Madonna über ihm. Oder es irritierten ihn die Stimmen und Rufe, die von der Gasse durch die Fliegengittertür in den Raum drangen. Er war einfach noch nicht so weit.
Das Mädchen, das nur noch einen durchsichtigen, etwas fleckigen Unterrock am Leib trug, blickte ihn freundlich an. »Aspetto«, sagte sie.
Das tat sie dann auch. Warten.
Derweil saß Konrad mit blankem Hintern auf einem Handtuch, das dünn war wie altes Papier, und verging vor Scham. Am liebsten wäre er geflohen. Aber er hatte auf dem Weg hierher komplett die Orientierung verloren. Allein fände er nicht zurück zu dieser Kneipe, er würde sich bestimmt verirren und womöglich noch ausgeraubt werden. Und überhaupt, was würden seine Kameraden von ihm denken? Während er noch darüber nachdachte, setzte sich das Mädchen neben ihn und strich ihm in einer fast mütterlichen Geste übers Haar. Sie fragte ihn in holprigem Deutsch nach seinem Namen.
»Konrad. Und du?«
»Anella.«
»Ein schöner Name.«
»Anella ist kleine Lamm.«
»Kleines Lamm«, wiederholte Konrad.
Sie lächelte und wollte wissen, ob er zu Hause ein Mädchen habe, una ragazza?
»Eine Verlobte«, nuschelte er verlegen.
»Die Name?«
»Gloria.« Es fühlte sich falsch an, den Namen dieses blütenreinen, unschuldigen Geschöpfs an diesem schmutzigen Ort der Sünde auszusprechen. Doch Konrad war viel zu durcheinander, um auf die Schnelle einen anderen zu erfinden.
Ihre Finger mit den nicht ganz sauberen Nägeln strichen über seinen Schenkel. »Du denken an Gloria. Mir ist egal.«
Er schüttelte den Kopf. Besser nicht!
Das Mädchen, Anella, begann unvermittelt zu singen. Sie hatte eine kräftige Stimme, und das Lied klang fröhlich und ausgelassen. Konrad musste unweigerlich lächeln. Die Verlegenheit und die Scham fielen von ihm ab, während er ihr zuhörte. Vom Text des Lieds verstand er nicht viel, nur eine Zeile des Refrains stach immer wieder heraus: La ragazza del porto.
Als sie geendet hatte, war auch mit Konrad alles so, wie es sein sollte. Ein Hoch auf die heilsamen Kräfte der Musik, dachte er und kam endlich zu der Sache, deretwegen er hergekommen war. Das Franzosenhütchen, fiel ihm hinterher ein, hatte er vor lauter Aufregung vergessen.
Luisa stellte den Motorroller in den Schatten einer Pinie und blickte sich um. Die Villa Octavia präsentierte sich im gleißenden Sonnenlicht wie ein Diamant in der Auslage eines Juweliers. Ihr Baustil war nicht unbedingt typisch für Capri. Mit den vorspringenden Seitenflügeln, den Arkaden und den Rundbogenfenstern erweckte das Bauwerk vielmehr den Eindruck, als hätten dem Architekten die eleganten Villen an der Côte d’Azur als Vorbild gedient. Lediglich der Anstrich war im inseltypischen schlichten Weiß gehalten, was der Grandezza jedoch keinen Abbruch tat.
Die weiße Villa am Meer war in Würde gealtert. Vor mehr als hundert Jahren hatte man sie kühn dorthin gesetzt, wo die Ausläufer des Tiberius-Felsens abflachten, nur um danach gleich wieder steil hinabzustürzen in das Tyrrhenische Meer. Es musste ein Stück Fels weggesprengt werden, um Platz für die Räume zu schaffen und damit noch Grund übrig blieb für den Garten. Hinter dem verschnörkelten Eisentor der Zufahrt duckte sich ein weiteres Gebäude gegen die Felswand. Das Torhaus, wie Carlo es immer genannt hatte. Der Bau mit dem abgeflachten Dach aus Ziegeln bot lediglich Platz für ein Appartement. Seine ebenfalls weiß getünchten Wände schimmerten durch die üppig blühenden Bougainvilleen, die man davor gepflanzt hatte, als wollte man das schlichte Häuschen verstecken. Sie bildeten grelle Farbtupfer in Pink und Lila in dem ansonsten eher dezent gestalteten Garten, der größtenteils aus Pinien, Palmen, Zitronen- und Feigenbäumen bestand. Dazwischen wuchs hartes, störrisches Gras, das jetzt, Ende Juli, längst braun geworden war.
Das Torhaus war einst für das Hauspersonal gedacht, doch Luisa kannte es nur leer. Um den Garten kümmerte sich eine Firma, ansonsten brauchten sie und Carlo während ihrer Sommeraufenthalte kein Personal. Wenn es nach ihm gegangen wäre, vielleicht schon, er besaß diesen Hang zum Großspurigen. Luisa dagegen wollte niemanden um sich haben, der ihnen den Dreck wegputzte oder für sie kochte. Sie war im Gegenteil froh, wenn sie etwas zu tun hatte, und sei es nur, sich um einen Zweipersonenhaushalt zu kümmern.
Jetzt war es nur noch ein Einpersonenhaushalt. Vor zwei Wochen fand Carlo Romano, der berühmte Sohn der Insel, der Schlagersänger, der seit vier Jahrzehnten die Frauenherzen höherschlagen ließ, den Tod auf der Via Provinciale Anacapri, der sehr kurvigen Verbindungsstraße zwischen Capri-Stadt und dem Bergdorf Anacapri.
Es musste etwa gegen vier Uhr morgens passiert sein. Der Angestellte einer Bäckerei war mit dem Moped unterwegs zur Arbeit und entdeckte Carlos Alfa Spider im scharfen Knick einer Serpentine. Er klebte mit eingedrückter Schnauze an der Begrenzungsmauer, der Motor qualmte. Der Fahrer war durch den Aufprall aus dem Cabrio geschleudert worden. Sein zerschundener Körper lag unterhalb der Straße zwischen den schrundigen, scharfen Kalksteinfelsen, aus denen praktisch die gesamte Insel bestand.
»War es ein Infarkt?«, fragte Luisa die Ärztin in der Rechtsmedizin in Neapel. Denn das würde den Unfall erklären und die böswilligen Unterstellungen der Boulevardpresse wenn schon nicht widerlegen, dann wenigstens abschwächen. Den Sicherheitsgurt anzulegen konnte man schließlich durchaus einmal vergessen. Vielleicht hatte der Gurt auch nicht funktioniert. Das war doch möglich, bei einem über dreißig Jahre alten Auto.
Die Ärztin war mitfühlend und nahm sich Zeit für Luisa. Sie erklärte ihr, dass sich bei einer Obduktion die Anzeichen eines Infarkts am Gewebe des Herzmuskels sehr gut feststellen ließen. Carlos Herz sei intakt gewesen. Was man hingegen von seiner Leber nicht uneingeschränkt behaupten konnte. Sie hätten außerdem Spuren von Alkohol und Kokain in seinem Blut nachgewiesen. Bei diesen Worten schaute die Dottoressa Luisa bedeutungsvoll an.
Dabei hatte er ihr geschworen, die Finger davonzulassen.
Unfall oder Suizid? Erst Karriereabsturz, dann der Sturz in die Felsen. So titelte ein Klatschmagazin, und die anderen hieben in dieselbe Kerbe.
Luisa mied in diesen Tagen sämtliche Medien, so gut es ging. Für sie galt es, nach vorn zu blicken. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte gerade keinen Plan, wie es weitergehen sollte.
Sie nahm den Helm ab, hängte ihn an den Lenker und fuhr mit den Fingern durch ihre dunklen Locken. Ihr Blick wanderte durch den Garten über die niedrige Mauer hinweg auf das Meer. Die Aussicht auf den Golf von Neapel war schlichtweg atemberaubend. Wann immer sie hier war, konnte sie sich in den ersten Tagen kaum daran sattsehen. Che bellezza! Ehe man sich schließlich an die Schönheit gewöhnte und das Leben in Langeweile versank.
Die Villa gehörte nun vermutlich ihr. Bei dem Gedanken wurde ihr ein bisschen flau. Villenbesitzerin zu sein war nie ihr Wunsch gewesen. Wenn Freunde in Rom neidvoll von »eurer Villa auf Capri« sprachen, war Luisa stets peinlich berührt und hätte am liebsten darauf hingewiesen, dass das Haus ein Relikt aus Carlos früherem Leben war und mit ihr nichts zu tun hatte. Sie verkniff es sich nur, um Carlo nicht zu kränken.
Was sollte sie mit diesem noblen alten Gemäuer bloß anfangen? Hier wohnen? Auf gar keinen Fall! Und zwar aus zwei simplen Gründen: Haus zu groß, Insel zu klein.
Lächerliche zehn Quadratkilometer umfasste die Fläche Capris. Das war etwa der Richmond Park in London. Allerdings hatte man selten so viel Landschaft auf so wenig Grund. Wo man auch stand und sich umsah, man wähnte sich stets am schönsten Punkt der Insel, mit dem tollsten Ausblick, nur um nach der nächsten Biegung eines Besseren belehrt zu werden. Ja, Capri war ein Fluchtort, wenn man es im Hochsommer in Rom vor Hitze nicht aushielt. Zwar brannte auch hier die Sonne gnadenlos herab, doch um die Villa an der Steilküste wehte fast immer ein Wind, der die Temperaturen erträglich machte. Am schönsten fand Luisa die Insel aber im zeitigen Frühjahr. Im Februar oder März strahlte das Licht hier viel heller als in der Stadt, die Farben leuchteten intensiver, und das Beste: Man war noch »unter sich«.
Dennoch, auf Capri zu leben kam nicht infrage. Schon im letzten Sommer schwankte sie ständig zwischen genervt sein vom Trubel an den Hotspots der Insel und dem Gefühl der Eintönigkeit und des Abgeschnittenseins, das sich nach spätestens einer Woche in der Villa zuverlässig einstellte. Deshalb war sie erschrocken, als Carlo dieses Jahr bereits im Juni vorschlug, sich vorzeitig in die Sommerfrische zu begeben. Tatsächlich war es für Juni sehr heiß in Rom. Doch Luisa wand sich.
»Fahr du allein voraus, amore. Ich kann nicht von heute auf morgen von hier verschwinden. In zwei, drei Wochen komme ich nach.«
Insgeheim beschloss sie, diese Frist noch länger auszudehnen. Deutlich länger.
Die Wahrheit war: Nach vier Jahren hatte ihre Ehe die Honeymoon-Phase definitiv überschritten. Das Lachen und die Gesprächsthemen waren ihnen schleichend abhandengekommen, abseits der Banalitäten des Alltags hatte sich Sprachlosigkeit breitgemacht. Daher graute Luisa vor einem monatelangen Alleinsein mit Carlo an diesem abgelegenen Ort, an dem jegliche Impulse von außen – Freunde, Kollegen, Patienten – fehlten.
Apropos Honeymoon. Sie könnte die Villa künftig an Hochzeitsgesellschaften vermieten. Über das erste Stockwerk verteilt gab es sechs Schlafzimmer, zwei im Mittelteil und je zwei in den Seitenflügeln, und dazu drei Bäder. Im Untergeschoss lagen großzügige Räume und eine gut ausgestattete Küche. Zugegeben, die Einrichtung, die Elektrik und die Wasserleitungen waren ein wenig in die Jahre gekommen, die Bäder nicht mehr ganz l’ultima mania, der letzte Schrei. Es zog durch die Fensterrahmen, und die Läden gehörten gestrichen. Wann immer Luisa etwas davon in Angriff nehmen wollte, blockte Carlo ab und behauptete, er liebe diesen morbiden Charme, er wünsche, dass alles so bleibe.
Wenn erst die Mieteinnahmen flossen, überlegte Luisa, könnte man den morschen Kasten peu à peu wieder herrichten. Das klang doch nach einem sinnvollen Plan. Sofern sie überhaupt die Alleinerbin war. Dies würde sich in Kürze herausstellen. Die Testamentseröffnung war für sechzehn Uhr angesetzt. Luisa war extra eine Stunde früher gekommen. Sie wollte sich noch einmal ungestört umsehen und gründlich durchlüften. Vielleicht mussten ein paar Sachen von Carlo weggeräumt werden, die entweder posthum kein gutes Licht auf ihn werfen würden oder einfach nicht für die Augen anderer bestimmt waren. Bei ihm wusste man ja nie.
Allerdings war sie nicht die Erste. Der Fiat Panda ihrer Schwiegermutter Gloria Romano stand im Carport zwischen dem Torhaus und der Villa. Zu Luisas Leidwesen besaß Carlos Mutter einen Schlüssel für die Villa.
»Wenn irgendetwas sein sollte, ist sie viel schneller vor Ort als wir«, hatte Carlo argumentiert.
»Sie wird hemmungslos in unseren Sachen herumschnüffeln.«
»Wenn schon? Was hast du denn zu verbergen?«
Im Grunde nichts. Dennoch deponierte Luisa nichts von ihren Kleidern oder persönlichen Dingen dort, wenn sie im Spätsommer wieder nach Rom zurückkehrten. Nein, die Villa Octavia war nie ihr Zuhause gewesen, sie war dort immer nur Gast.
Eines der unteren Fenster stand offen. Sie hörte die sonore, tragende Stimme eines Mannes. Er schien mit Gloria zu erörtern, in welchem der Räume die Sache über die Bühne gehen sollte. Wie? Der Notar war auch schon hier? Wahrscheinlich hatte Gloria ihn vom Fähranleger abgeholt. Das war im Grunde nichts Besonderes, aber die Vorstellung, dass ihre Schwiegermutter und der Notar alleine im Haus waren, wer weiß, wie lange schon, gefiel Luisa gar nicht. Kannten die sich? Kungelten sie gerade hinter Luisas Rücken etwas aus? Luisa hegte gegenüber ihrer Schwiegermutter ein ausgeprägtes Misstrauen. Den Notar kannte sie nicht. Wo sie herkam, aus Bergamo, stand ein Notar für absolute Seriosität. Allerdings war man hier im Süden, der Heimat von Korruption und Vetternwirtschaft. Durfte man einem Notar aus Neapel über den Weg trauen?
Warum musste diese Testamentseröffnung ausgerechnet hier stattfinden? Warum nicht in Neapel, dem Sitz des Notariats Bergesio, wie es im Briefkopf stand? Vermutlich, weil Carlo es so gewollt hatte. Jedenfalls sah es ihm und seinem Hang zu Symbolik und Theatralik ähnlich, seinen Letzten Willen in seiner geliebten Villa Octavia, seinem Rückzugsort und Prestigeobjekt, verkünden zu lassen.
Luisa hatte nicht gewusst, dass Carlo ein Testament aufgesetzt und hinterlegt hatte. Andererseits, warum nicht? Carlo wäre im August neunundfünfzig geworden. Vielleicht würde Luisa in dreißig Jahren ebenfalls einen Letzten Willen verfassen, und wer weiß, welche Extravaganzen ihr dabei in den Sinn kämen.
Im Schreiben des Notars wurde sie als Erbberechtigte bezeichnet. Das war zu erwarten. Kinder hatte Carlo keine, auch keine Geschwister. Seine einzige Verwandte war seine Mutter. Bestimmt würde auch sie das eine oder andere Stück erben. Bilder oder Möbel. Luisa hatte kein Problem damit. Sie hatte lediglich ein Problem mit ihrer Schwiegermutter: Gloria Romano, achtzig Jahre alt, ehemalige Operndiva. Wobei sich ehemalig lediglich auf den Operngesang bezog. Eine Diva war sie noch immer.
Luisa konnte sich beim besten Willen noch nicht überwinden, ins Haus zu gehen und Gloria zu begrüßen. Lieber verbrachte sie die Wartezeit auf der Terrasse. Sie lag zwischen drei Pinien, die dastanden wie die Figuren eines Theaterstücks. Die ganze Insel erschien Luisa zuweilen wie ein Bühnenwerk. Auch die Faraglioni-Felsen hatten diese theatralische Anmutung, ganz zu schweigen von den verfallenen römischen Villen. Sie trat vor bis an die Mauer. Dahinter fiel der Fels steil hinab bis zu einem winzigen Kiesstrand. Das Ende der Mauer bildeten zwei Pfeiler, darauf hockte je ein Gargoyle. Der eine bewachte mit grimmigem Blick den Garten und die Villa, der andere den Golf von Neapel. Luisa betrachtete fasziniert die Wellen, die wütend gegen die Steilküste klatschten. In der vergangenen Nacht war ein Sturm über Süditalien gezogen, und das Meer hatte sich noch nicht wieder beruhigt, obwohl es heute windstill war und der Himmel wolkenlos. Sie brauchte einen Moment der Kontemplation und der Ruhe, um sich für die Begegnung mit Gloria zu wappnen. Vielleicht wäre es das letzte Mal. Womöglich musste sie nach dieser Testamentseröffnung ihre Schwiegermutter nie wiedersehen. Das war doch immerhin ein Lichtblick.
Ein knatterndes Geräusch drang durch das Rauschen der Brandung. Luisa wandte sich um. Ein Motorroller näherte sich. Kam noch jemand? Wer mochte das sein? Auf Capri erhielten nur die Einwohner eine Lizenz für ein Auto, doch viele fuhren lieber ein Moped, ein Dreirad oder einen Roller. Damit kam man in den engen Gassen der Ortschaften und auf den schmalen, steilen Straßen der Insel schneller voran. Die kurvige Schotterstraße, die hinab zur Villa Octavia führte, war in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Der Roller hielt neben dem von Luisa. Eine Frau in einem schlichten schwarzen Kleid stieg ab und zog ihren Helm vom Kopf. Zum Vorschein kam langes brünettes Haar mit ein paar grauen Strähnen darin. Es umrahmte ein längliches Gesicht mit hellbraunen Augen. Milena! Was machte Carlos erste Ehefrau denn hier? Dumme Frage! Was wohl? Sie musste ebenfalls eine Einladung des Notars bekommen haben, denn sie kam bestimmt nicht zufällig vorbei.
Luisa und Milena kannten sich flüchtig. Vor vier Jahren, beim ersten ihrer Sommeraufenthalte auf Capri, hatte Carlo ein Treffen eingefädelt und Milena seine neue Ehefrau vorgestellt. Man könnte auch sagen: zur Begutachtung präsentiert. Luisa erkannte, dass es Carlo wichtig war, nur deshalb ließ sie sich widerwillig darauf ein. Doch was, fragte sie sich beklommen, wenn Milena den Daumen senkte über Luisas Haupt? Dieser Macht aus der Vergangenheit hatte sie wenig entgegenzusetzen.
Die Begegnung war beiden Frauen nicht sonderlich angenehm. In stillem Einverständnis machten sie bella figura, zumindest für die Dauer eines Cocktails auf der inseleigenen Bühne der Eitelkeiten, der Piazzetta von Capri-Stadt. Schweigend angesichts der Vergangenheitsintimität der beiden Ex-Ehepartner, die sich schon seit der Schulzeit kannten, saß Luisa daneben und fühlte sich wie ein Kind, das dazu verdammt war, den langweiligen Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen. Das Kind, das das Paar niemals hatte.
Milena entdeckte Luisa und winkte ihr zu. Das ärmellose Kleid ließ muskulöse Oberarme sehen. Alles an Milena war stramm und drahtig. Schon vor Jahren hatte sie die Bootswerft ihrer Familie übernommen. Sie beschäftigte zwei Angestellte, aber es war unübersehbar, dass die Chefin auch selbst mit anpackte.
»Salve, Luisa«, rief sie, noch während sie näher kam, zögernd, als wäre es ihr nicht recht, überhaupt hier zu sein.
»Salve, Milena!«
»Weißt du, warum ich die Einladung dieses Notars bekommen habe?«
»Keine Ahnung«, antwortete Luisa, und um der Situation die Peinlichkeit zu nehmen, umarmte sie ihre Vorgängerin in einem spontanen Anflug von Herzlichkeit und sagte: »Ich bin froh, dass du hier bist. Ich weiß, du mochtest Carlo, trotz allem, und er mochte dich. Er hat jedenfalls immer voller Zuneigung und Respekt von dir geredet.«
»Hat er das?«
»In seinen Augen standst du kurz vor der Heiligsprechung.«
»Oje! Du musst mich gehasst haben!«
»Wie die Pest!«
Ein gemeinsames Lachen hätte sicherlich zur Entkrampfung der Situation beigetragen, aber eingedenk der ernsten Situation beließen sie es bei einem konspirativen Lächeln. Auch für den Fall, dass Gloria hinter einem der Fenster lauerte und sie beobachtete.
»Wie geht es dir?«, fragte Milena.
»Einigermaßen«, antwortete Luisa wahrheitsgemäß. »Ich bin nur froh, wenn ich das alles endlich hinter mir habe.« Damit meinte Luisa die Pflicht, Carlos Leiche zu identifizieren, die Trauerfeier, deren Planung allerdings Gloria ganz und gar an sich gerissen hatte, und nun diese Testamentseröffnung.
»Es tut mir leid, dass ich bei der Trauerfeier so früh gegangen bin«, entschuldigte sich Milena. »Aber ich konnte sie nicht mehr ertragen.«
Luisa wusste genau, von wem die Rede war.
Ihrer extrovertierten Natur entsprechend hielt Gloria Romano nichts von stiller Trauer. Sie nutzte die Beisetzung ihres Sohnes, um sich nach allen Regeln der Kunst zu inszenieren – als leidende Mutter und trauernde Operndiva. Der schwarze Schleier, der in Kaskaden von ihrem ausladenden Hut herabfiel, verhüllte ihr Gesicht. Wenn sie nicht gerade sang. Sie ließ es sich nämlich nicht nehmen, in der Kirche für ihren Sohn zu singen, begleitet von zwei älteren Herren, die Violine und Cello spielten. Un bel dì, vedremo aus Madame Butterfly machte den Anfang. Der Sopran der achtzigjährigen Künstlerin war mittlerweile brüchig wie altes Pergament. Luisa schwankte während der Darbietung zwischen Fremdscham und der Furcht vor dem nächsten holprigen Ton. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was ihre Eltern gerade dachten. Die Rinaldis saßen zu ihrer Linken, und Luisa war, als kicherte ihr Vater – als Husten getarnt – in ein Taschentuch, während ihre Mutter die Augen verdrehte und gut hörbar stöhnte. Der Rede des Pfarrers folgte eine todtraurige Arie, die Luisa nicht kannte, aber das Kirchenschiff von San Michele in Anacapri schwamm in Tränen.
Diese terroni! Typisch Süditaliener. Was waren sie doch sentimental und nah am Wasser gebaut!
Danach ging es in einem endlos langen Trauerzug zum Friedhof, und wenig später stand Gloria Romano aufrecht wie eine düstere Säule vor der Familiengruft der Romanos. Wer gehofft hatte, es nach dem Trauergottesdienst überstanden zu haben, dem stand das Schlimmste noch bevor. Ein letzter Gesang ertönte auf dem Friedhof, neben dem Sarg: Il dolce suono, die Wahnsinnsarie aus der Oper Lucia di Lammermoor von Donizetti. Dabei war beileibe nicht jeder Ton dolce. Zu diesem Zeitpunkt war Luisa schon so wütend, dass es ihr unmöglich war, sich ihrer eigenen Trauer zu widmen, was eigentlich der Zweck dieser Feier gewesen wäre. Sogar den Abschied von Carlo musste dieses Weib ihr noch verderben!
Anscheinend hatte Gloria trotz der Anstrengung, die das Singen ihr abverlangte, dennoch mitbekommen, wie Milena und Luisa einen genervten Blick wechselten und synchron die Augen verdrehten.
»Wie wollt ihr beiden auch ermessen, was der Tod eines Kindes für eine Mutter bedeutet, da ihr ja nicht einmal eines geboren habt«, warf sie ihnen gleich nach dem Segen mit dramatischem Tremolo an den Kopf.
Das nahm Milena zum Anlass, sich wortlos zu verabschieden und zu gehen.
Luisa beneidete sie um diese Freiheit. Sie selbst musste bis zum bitteren Ende ausharren und der endlosen Reihe der Kondolierenden entgegentreten, schon um der Presse kein Futter zu liefern, aber hauptsächlich, um Gloria nicht kampflos das Feld zu überlassen.
»Für einen Moment hatte ich gehofft, sie lässt sich mit Carlo zusammen in die Gruft einmauern«, gestand Luisa nun.
Milena hielt sich rasch die Hand vor den Mund, um ihren Lacher zu ersticken. »Ist sie drin?«, fragte sie dann und wies mit einer kleinen Kopfbewegung in Richtung der Villa.
»Sieht so aus. Sie und dieser Notar. Ich habe mich noch nicht hineingewagt.«
»Ich dachte, du wohnst hier. Ich meine, zurzeit.«
Luisa schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Hotelzimmer genommen. Bei der Vorstellung, nachts allein in diesem Haus zu sein … Ich hätte kein Auge zugemacht und bei jedem Geräusch gedacht: Vielleicht spukt sein Geist noch herum. Dabei glaube ich gar nicht an so etwas, ehrlich nicht. Zumindest nicht tagsüber.«
»Ich verstehe dich vollkommen. Hätte ich auch nicht gemacht«, versicherte Milena und schlug vor: »Vielleicht sollten wir reingehen und es hinter uns bringen.«
Sie durchquerten den Garten und stiegen die sechs ausgetretenen Marmorstufen hinauf, die vor dem Portal einen Halbkreis bildeten. An der obersten Stufe wachte auf jeder Seite ein steinerner Löwe auf einem Sockel über die Besucher.
»Warte, ich habe einen Schlüssel.« Luisa kramte in ihrem kleinen Rucksack. Sie wollte auf keinen Fall den Türklopfer – ebenfalls ein Löwenkopf – benutzen und damit Gloria die Genugtuung geben, sie gnädig hereinzubitten, als wäre sie die Hausherrin. Das musste sich erst noch herausstellen, wer das in Zukunft war.
Reifen knirschten über den Kies. Beide wandten den Kopf in Richtung des Geräuschs. Eines der inseltypischen offenen Taxis mit Sonnendach passierte die Einfahrt, wendete und hielt dann an. Sie hatten es wohl wegen des lautlosen Elektroantriebs nicht eher gehört. Eine blonde Frau in einer blauen Bluse und einem geblümten Rock stieg aus. Ihr Gesicht wurde halb verdeckt von einer dickrahmigen Sonnenbrille. Das Taxi fuhr davon. Die Frau blieb stehen und schaute sich um. Sie musste Milena und Luisa längst gesehen haben, dennoch zeigte sie keinerlei Regung. Eine froschgrüne Handtasche hing über ihrem Arm, und die hohen Absätze ihrer goldfarbenen Sandaletten bohrten sich in den Kies, als sie langsam, mit erhobenem Kinn und durchgedrücktem Kreuz auf die Villa zustöckelte.
»Wer ist das denn jetzt?«, wunderte sich Luisa. »Hat er uns eine Tochter verschwiegen oder eine dritte Ehefrau?«
Milena antwortete nicht gleich, sondern starrte die Frau aus schmalen Augen an. Ihre Stimme war dunkel vor Wut, als sie schließlich sagte: »Das ist Emilia Prodi.«
»Wer ist sie?«, fragte Luisa.
»Wer sie ist? Eine gottverfluchte Schlampe! Das ist sie!«
Das Attraktivste an Dottore Antonio Bergesio war zweifellos seine tiefe, tragende Stimme. Sie hatte etwas Vertrauenerweckendes und Beruhigendes. Optisch dagegen verlor der kleine, korpulente Mann mit dem fortgeschrittenen Haarausfall und den wulstigen Lippen. Auf seiner rot geäderten Nase saß eine schwere Hornbrille. Er thronte am Kopfende des langen Pinienholztisches im salotto, auf dem eine Karaffe mit Wasser und fünf Gläser standen. Sein Hemd war an verschiedenen Stellen durchgeschwitzt, die Krawatte hatte er gelockert, und sein Sakko hing über der Stuhllehne.
Nur keine Hemmungen, Herr Advokat, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, grollte Luisa in Gedanken.
Das Zimmer sah aus wie sonst auch, mit den alten Ölschinken an den Wänden, dem zerschlissenen Orientteppich und den Vasen, Kandelabern und Bronzestatuetten, die allesamt dem vorvorigen Jahrhundert zu entstammen schienen. Gloria hatte die schweren Vorhänge zugezogen, um das Sonnenlicht auszusperren, und dafür den kristallenen Kronleuchter angeschaltet. Sein Licht spiegelte sich auf der polierten Tischplatte und der blanken Glatze des Notars.
Etwas war doch neu. Ein in Silber gerahmtes, mit einer schwarzen Schleife versehenes Porträtfoto von Carlo stand auf der Anrichte. Es war das Foto, das Carlo lange Zeit für seine Autogrammkarten verwendet hatte. Gloria musste es vorhin erst aufgestellt haben. Was erlaubte sie sich? Auf dem Bild dürfte Carlo Anfang vierzig gewesen sein. Sein dichtes, welliges Haar fiel ihm lässig in die Stirn, sein Lächeln war betörend, in seinen Augen lag ein zärtlicher Ausdruck. Er war ein attraktiver, anziehender Mann gewesen, das ließ sich nicht leugnen.
Nachdem die Damen Platz genommen hatten, zog Dottore Bergesio eine ledergebundene Mappe aus einer etwas ramponierten Aktentasche, und nach einigem Räuspern und Geruckel am Stuhl begann er: »Gut, ja, ähm, ich begrüße die Damen zur Testamentseröffnung.« Er wandte sich nach rechts, wo Gloria und Milena saßen. »Anwesend sind die Mutter des Verstorbenen, Gloria Romano, geboren auf Capri am 16. April 1943 …«
Die Angesprochene nickte mit jenem tapferen, schmerzvollen Lächeln, das ihr dieser Tage ins Gesicht gemeißelt war. Es war bleich, mit einem strengen, schmalen Mund, bleigrauen, eng stehenden Augen und etwas zu schwungvoll nachgemalten Augenbrauen. Ihr Haar war tiefschwarz gefärbt, straff aus dem Gesicht gekämmt und zu einer schneckenartigen Hochfrisur aufgesteckt, wie man sie sonst nur noch in Filmen aus den Sechzigerjahren sah. Auf alten Fotos war ihre Figur auf eine aparte Weise füllig, ehe sie im Alter abnahm und dabei ihre Kurven verlor. Eine schwarze Spitzenbluse mit Stehkragen umschloss ihren Hals wie eine Manschette. Die Königin der Nacht war Luisas heimlicher Spitzname für Carlos Mutter. Heute passte er perfekt. Gloria Romano war groß für eine Frau aus dem Süden, und sie hielt sich auch heute aufrecht, so wie stets. Weder das Alter hatte sie gebeugt noch dieser Schicksalsschlag, der Tod ihres einzigen Kindes.
»… sowie die geschiedene Ehefrau des Verstorbenen, Milena Mancuso, ehemals Romano, geboren am 2. Oktober 1965 in der Gemeinde Capri.« Er betrachtete Milena über seine Brille hinweg mit einem Stirnrunzeln und fragte, halb förmlich, halb vorwurfsvoll: »Sie haben nach der Scheidung von dem Verstorbenen Ihren Mädchennamen wieder angenommen?«
»So ist es«, bestätigte Milena eisig. »Und geschieden wurden wir wegen der da!« Ein Blick wie ein Dolch schoss über den Tisch.
»Bitte, die Damen!«, mahnte Bergesio, obwohl sich die anderen drei vollkommen passiv verhalten hatten, respektive Emilia, der dieser Angriff galt. Nach ein paar weiteren Räusperern fuhr der Dottore fort. »Außerdem begrüße ich die Ehefrau des Verstorbenen, Luisa Rinaldi, geboren am 8. März 1995 in Bergamo.« Er hielt inne und musterte sie für einige Sekunden über seine Hornbrille hinweg mit kritischem Blick.
Was gab es da zu glotzen? Störte ihn der Altersunterschied? Damit hatten doch sonst nur Frauen ein Problem. War das einfach seine Art zu schauen, glaubte er, dass er sich damit Respekt verschaffte? Oder missfiel ihm die Tatsache, dass sie aus dem Norden kam, noch dazu aus der reichen Lombardei? Sollte ein Mann in seiner Funktion nicht über dem allgegenwärtigen Nord-Süd-Hass stehen?
Endlich hatte er seine Begutachtung beendet. »Signora Rinaldi, Sie haben Ihren Familiennamen bei der Eheschließung vor vier Jahren behalten?«
Luisa nickte. Was fragte er sie denn, wenn er es doch sehen konnte? Sie begann zu ahnen, dass es mit dieser Erbschaft nicht so reibungslos laufen würde, wie sie geglaubt hatte.
»Und Sie, Signora, sind Emilia Prodi, geboren am 21. Juni 1976 in Neapel, im Stadtteil Quartieri Spagnoli. Sie sind eine … Bekannte des Verstorbenen.«
Seine Betonung des Worts Bekannte ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er wusste, welche Rolle Emilia in Carlos Leben eingenommen hatte. Das konnte er nur von Gloria erfahren haben, schlussfolgerte Luisa. Auch die völlig überflüssige Erwähnung des Stadtteils, aus dem sie stammte, war eine Spitze, denn die Quartieri Spagnoli waren nicht gerade das Vorzeigeviertel der Stadt.
Emilia, die inzwischen ihre Sonnenbrille abgenommen hatte, bestätigte die Angaben des Notars ebenfalls mit einem Nicken. Sie hatte die Arme unter ihrer beträchtlichen Oberweite verschränkt. Sie war siebenundvierzig, das hatte Luisa inzwischen ausgerechnet. Ihr Gesicht war glatt und straff wie ein Bettlaken im Hilton, und um ihre aufgespritzten Lippen kräuselte sich schon die ganze Zeit über ein winziges, amüsiertes Lächeln. Konnte es sein, dass diese in die Jahre gekommene Barbie ihre Rolle als Enfant terrible genoss? Denn es war ziemlich klar, dass zumindest zwei der Anwesenden, Gloria und Milena, sie mit Inbrunst verabscheuten. Luisa, die stets geneigt war, sich auf die Seite der Außenseiter zu schlagen, kam nicht umhin, Emilia für ihre Chuzpe ein klein wenig zu bewundern.
»Was will sie hier?«, war Milena vorhin, beim Eintreten in die Villa, auf Gloria losgegangen. Offenbar vermutete sie eine gegen sie gerichtete Intrige.
»Woher soll ich das wissen? Frag das Flittchen doch selbst!«, versetzte Gloria mit einer Entrüstung, die ebenso unecht wirkte wie ihre Überraschung über Emilias Erscheinen.
Gut möglich, dass Gloria davon gewusst hatte. Die Art, wie sie und der Notar miteinander umgingen, ließ auf eine gewisse Vertrautheit schließen. Die beiden kannten sich, jede Wette, dachte Luisa. Vielleicht war er Gloria schon bei deren eigenem Testament behilflich gewesen. Ganz gewiss hatte Gloria mit Informationen und vor allen Dingen mit ihrer Meinung über Carlos Frauen nicht hinter dem Berg gehalten. Was hatte sie wohl über sie, Luisa, vom Stapel gelassen?
Auf der Hochzeitsfeier von Luisa und Carlo sagte Gloria ihrer neuen Schwiegertochter mitten ins Gesicht, dass sie sie für ein Miststück hielt, welches sich ihren Carlo nur gekrallt hatte, damit ein Schimmer von seinem Glanz auf sie, die unbedeutende Krankenschwester und graue Maus, abfiel. Und natürlich um an sein Geld zu kommen.
»Physiotherapeutin«, korrigierte Luisa ihre Schwiegermutter sanft. Den Rest ließ sie einfach so stehen. Sie fand es unter ihrer Würde, die Dinge richtigzustellen. Sollte diese Hexe doch denken, was sie wollte.
Luisa konzentrierte sich wieder auf Dottore Bergesio, denn nun, nachdem die Präliminarien abgehakt waren, kam der Mann endlich zur Sache.
»Wir haben uns hier eingefunden, um den Letzten Willen des am 13. Juli dieses Jahres auf so tragische Weise verstorbenen Carlo Romano zu verlesen.«
An dieser Stelle drang ein unterdrücktes Schluchzen aus Glorias Brust. »Verzeihung«, hauchte sie.
»Keine Ursache, Signora Romano.« Der Notar lächelte ihr milde zu, räusperte sich wieder einmal und machte weiter. »Es geht also um den Nachlass von Carlo Romano, neunundfünfzig Jahre alt, von Beruf Sänger. Der Nachlass umfasst die Villa Octavia, in der wir uns befinden, samt Grundstück und Nebengebäude, ferner das Barvermögen, sprich Bankkonten sowie Aktien und Wertpapiere. Der geschätzte momentane Wert der Anlagen beläuft sich auf rund zweihunderttausend Euro. Dazu kommen diverse Kunstgegenstände und Bilder in der Villa Octavia, deren Wert im Einzelfall zu ermitteln ist.«
Er hielt inne und blickte in die Runde, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft zu vergewissern. Nach seinem etwas hölzernen Auftakt – vielleicht hatte die berühmte Gloria Romano eine einschüchternde Wirkung auf ihn ausgeübt – schien er nun in seine Rolle gefunden zu haben und zelebrierte die Amtshandlung mit Genuss und auch mit Erfolg. Aller Augen hingen an seinen prallen, feuchten Lippen.
»Nun, ich mache es kurz: Das Erbe geht zu gleichen Teilen an die Anwesenden Milena Mancuso, Luisa Rinaldi und Emilia Prodi.«
Seine Worte hinterließen eine absolute Stille.
Luisa traute ihren Ohren nicht. Sie schaute hinüber zu Milena, deren Blick aber nur ihre eigene Verwirrung widerspiegelte.
Gloria schloss kurz die Augen und senkte ihr müdes Haupt, womit sie zum Ausdruck brachte, dass sie auch diesen Hieb des Schicksals mit stummer Demut hinzunehmen gedachte. Dann, als sie die Augen wieder öffnete und Haltung annahm, gefror ihr Gesicht zur Maske.
Luisa tat ihre Schwiegermutter in diesem Moment sogar leid. Wenn sie den Notar richtig verstanden hatte, ging Gloria komplett leer aus. Sicher, sie brauchte Carlos Geld nicht. Anders als ihr Sohn hatte sie in Gelddingen immer umsichtig gehandelt und ihre Gagen und Tantiemen nicht für Sportwagen und überdimensionierte Villen ausgegeben. Ein kleiner Anteil am Erbe wäre lediglich eine Anerkennung gewesen, die Carlo ihr jedoch posthum verweigerte. Sie musste tief gekränkt sein. Noch dazu, da er sogar diese Emilia Prodi begünstigt hatte, seine Ex-Geliebte vor Urzeiten, wenn Luisa das richtig verstanden hatte.
Luisa schielte hinüber zu Emilia, die neben ihr saß. Sie trug noch immer dieses stoische Lächeln zur Schau, wie schon die ganze Zeit. Es musste am Botox liegen. Es sei denn, diese Frau verfügte über ein übermenschliches Maß an Selbstbeherrschung.
Dass Milena einen Anteil erbte, war halbwegs nachvollziehbar aus Carlos Sicht. Er gab sich und seinen Affären die Schuld am Zerbrechen ihrer Ehe. Der Ruhm sei ihm zu Kopf gestiegen, er habe viele Fehler gemacht und sein größter sei es gewesen, Milena gehen zu lassen. Das hatte er Luisa in einem Anflug von Sentimentalität und Selbstmitleid auf der Massageliege gestanden, damals, im Sanatorium Nemi Recovery in den Albaner Bergen, wo sie sich kennengelernt hatten. Zwanzig Jahre war die Scheidung von Carlo und Milena inzwischen her. Wenn man Milenas Bemerkung von vorhin richtig deutete, dann galt das auch in etwa für seine Affäre mit Emilia Prodi.
Warum zum Teufel wollte Carlo dieser Person ein Drittel seines Besitzes vermachen? Nach so vielen Jahren? Hatten sie sich in jüngster Zeit getroffen, war die Affäre von einst neu aufgeflammt? Nein, unmöglich. Carlos wilde Jahre waren längst passé. Er war häuslicher geworden, als es Luisa lieb war. Sie musste ihn zuletzt überreden, überhaupt einen Fuß vor die Tür zu setzen und auszugehen. Und wenn er ausging, dann nur mit ihr.
Inzwischen war Luisa eingefallen, woher sie den Namen und das Gesicht Emilias kannte. Sie moderierte eine dieser dämlichen Talentshows, Canzone per l’Italia, Lieder für Italien, abgekürzt CPI. Wer schaute diesen Quatsch heutzutage eigentlich noch an?
»Warum sie?«, fragte nun Gloria den Notar, und alle im Raum wussten, wer damit gemeint war, auch Bergesio.
»Das steht hier nicht«, antwortete der Notar, dessen Gesicht dabei fast völlig hinter der aufgeschlagenen Mappe verschwand, als suche er Deckung.
Als weiter nichts geschah und niemand mehr etwas sagte, ergriff er wieder das Wort: »Es gibt eine Bedingung, die von allen Beteiligten eingehalten werden muss, damit das Erbe angetreten werden kann. Weigert sich eine der erbberechtigten Personen oder macht zu einem späteren Zeitpunkt einen Rückzieher, dann geht das gesamte Erbe an eine wohltätige Stiftung, die sich um das Schicksal von Eseln nach deren Leben als Arbeitstiere kümmert.«
»Esel?«, wiederholte Milena. »Das ist ein Scherz, oder?«
»Nein, Signora Mancuso, das steht hier«, versicherte Bergesio todernst. »Esel. Ich kann Ihnen die Adresse der Stiftung …«
»Lesen Sie uns lieber diese Bedingung vor, Dottore. Um die Esel kümmern wir uns beizeiten.«
Die Aufforderung kam von Emilia, die erstmals den Mund aufmachte. Luisa fand, dass ihr Vorschlag vernünftig war. Die anderen funkelten sie böse an.
Der Notar schien ebenfalls dieser Meinung zu sein, er rückte seine Brille zurecht und verkündete: »Die Bedingung lautet wie folgt: Die eingangs genannten Damen Mancuso, Rinaldi und Prodi müssen für die Dauer von sechs aufeinanderfolgenden Monaten zusammen in der Villa Octavia wohnen. Sie dürfen sich lediglich tagsüber entfernen, um beispielsweise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder Besorgungen zu erledigen. Der Einzug muss spätestens acht Tage nach Verlesung dieses Letzten Willens erfolgt sein. Nach Ablauf der sechs Monate, sofern die Bedingung erfüllt wurde, kann das Barvermögen aufgeteilt und, falls gewünscht, die Immobilie und das Inventar veräußert und der Erlös geteilt werden.«
»Niemals! Niemals werde ich unter einem Dach wohnen mit dieser … ihr wisst schon!« Milena war mitsamt ihrem Stuhl ein Stück vom Tisch abgerückt, bereit, jeden Moment aufzuspringen und zu flüchten.
Luisa hingegen richtete eine Frage an den Testamentsvollstrecker: »Dottore Bergesio, wer soll das eigentlich nachprüfen? Sie? Oder wir selbst?«
Er lächelte mit einer Mischung aus Güte und Boshaftigkeit. »Diese Aufgabe fällt der geschätzten Frau Mutter des Verstorbenen zu, der hier anwesenden Gloria Romano. Wie sie diese Kontrolle im Einzelnen bewerkstelligt, bleibt ihr überlassen.«
»Das wird ja immer besser!« Luisa gelang es nur mit Mühe, ihre Empörung im Zaum zu halten. Aber sie riss sich zusammen, sie wollte Glorias Vorurteile nicht bestätigen und sich wie ein geldgieriges Biest aufführen.
»Ich bin auch nicht begeistert, das kannst du mir glauben!« Gloria warf Luisa einen vernichtenden Blick zu. Dann wandte sie sich ebenfalls an den Notar. »Sagen Sie, Dottore, was ist, wenn ich mich weigere?«
»Ähm … Augenblick. Ja, das steht hier. Sollten Sie sich weigern oder erkranken oder, Gott behüte, versterben, dann muss eine andere vertrauenswürdige Person gefunden werden. Ansonsten …«
»Ich weiß. Die Esel«, unterbrach ihn Gloria.
»So ist es«, bestätigte Bergesio.
Die Diva seufzte tief und schmerzvoll und legte ihre bleiche Hand auf die Stelle, an der man ihr Herz vermuten würde, wüsste man es nicht besser.
Man vergaß ja gerne, dass Opernsänger auch eine schauspielerische Leistung bringen mussten, dachte Luisa angesichts der theatralischen Pose.
»Nun gut«, sagte Gloria gnädig. »An mir soll es nicht liegen. Obwohl ich Esel sehr gernhabe und ihr es allesamt nicht verdient habt. Aber ich respektiere den Letzten Willen von meinem armen Carlo.«
Falls sie eine gebührende Würdigung ihres Opfers erwartet hatte, sah sie sich getäuscht. Niemand reagierte auf ihre Worte.
Stattdessen hatte nun Emilia eine Frage an den Dottore: »Was ist, wenn ich zu Dreharbeiten muss? Wenn wir im Studio in Mailand die Sendung aufzeichnen, dauert das manchmal zwei, drei Tage.«
»Nun, Ihrem Beruf dürfen Sie sicherlich nachgehen«, meinte Bergesio. »Nur sollten Sie danach schnellstmöglich wieder hierher zurückkehren.«
»Danke, Dottore.« Sie lächelte ihm auf eine latent frivole Weise zu.
»Sie haben nun also acht Tage Bedenkzeit«, wiederholte der Notar. »Sollten Sie sich auf die Bedingungen einlassen, müssen Sie sich spätestens nächsten Freitag, den 4. August, alle drei hier einfinden.«
»Heißt spätestens, dass wir auch schon früher einziehen können? Probewohnen, sozusagen?« Emilia ignorierte die pikierten Mienen um sie herum.
Der Dottore, aus dem Konzept gebracht, studierte angestrengt seine Unterlagen. Als er den Kopf hob, begegnete sein ratloser Blick dem von Gloria, welche jedoch keinerlei Regung zeigte.
»Ja, ich denke, das bedeutet es«, antwortete er schließlich.
»Das könnt ihr vergessen!« Milena sprang auf. »Mit mir könnt ihr nicht rechnen, tut mir leid. Adieu zusammen.« Sie klemmte sich ihre Tasche unter den Arm und stürmte mit gesenktem Kopf aus dem Raum, ehe jemand etwas sagen konnte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt.
»Ich denke, das werde ich tun«, sagte Emilia, als wäre nichts geschehen, und fügte, da Gloria und Luisa sie mit Befremden anschauten, hinzu: »Das Probewohnen. Ab morgen. Hier ist es allemal schöner und ruhiger als in meinem Hotel. Wer lässt mich ins Haus?«
»Ich«, sagte Luisa resigniert. Was blieb ihr anderes übrig? Keinesfalls konnte sie zulassen, dass diese Person sich allein im Haus herumtrieb. Noch fühlte Luisa sich als Hausherrin, so etwas legte man nicht so schnell ab. Außerdem könnte sie die Zeit mit Emilia nutzen, um etwas mehr über diese Liaison zu erfahren. Nicht, dass es jetzt noch eine große Bedeutung hätte. Aber interessant wäre es bestimmt.
»Sehen Sie. Damit sind Sie schon zu zweit«, lächelte der Dottore und schloss die Mappe mit einem Knall, der in den hohen Räumen widerhallte wie ein Schuss.
Schotter spritzte unter den Reifen weg. So schnell es der Motor erlaubte, jagte Milena den Roller die Serpentinen der Privatstraße hinauf, die von der Villa Octavia wegführte. Sie kochte vor Wut. Hätte sie geahnt, dass Emilia auftauchen würde, hätte sie niemals auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzt. Es hatte sie bereits etliches an Überwindung gekostet, überhaupt an diesen Ort zu kommen und dort ihre ehemalige Schwiegermutter zu treffen. Zum zweiten Mal in dieser Woche, das war wirklich mehr, als der Mensch ertragen konnte. Zwar war Gloria heute vergleichsweise zurückhaltend gewesen, aber ihr Auftritt bei der Trauerfeier hatte ja auch gereicht.
Milena und Carlos Mutter lagen seit vierzig Jahren über Kreuz. Es war nicht Milenas Schuld. Von der ersten Begegnung an hatte Milena nicht die geringste Chance, Gnade vor Glorias stahlgrauen Augen zu finden. Milena Mancuso war die Tochter des Inhabers einer kleinen Werft in der Marina Grande. Der Familienbetrieb hielt sich mehr schlecht als recht über Wasser. Ein Mädchen dieser Herkunft war einfach nicht gut genug für den Sohn der berühmten Operndiva Gloria Romano, Enkel des erfolgreichen Limoncello-Fabrikanten Corrado Romano.
Doch Carlo verliebte sich bereits in der Schule in das schlanke, hochgewachsene Mädchen mit dem Madonnengesicht. Und Milena gefiel der gut aussehende Carlo, Schwarm aller Mädchen, ausgestattet mit einem frechen Mundwerk und einer schönen Stimme. Der ragazzo, der alle haben konnte, der aber anscheinend nur sie wollte.
Zum ersten Mal küssten sie sich im Bootsschuppen hinter der Werft. Milena war vierzehn und Carlo fünfzehn. Sie hatten mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick schien.
»Vermisst du deine Mutter?«, fragte Carlo die Halbwaise Milena.
»Und du?«, erwiderte Milena. Man wusste allgemein, dass Gloria viel in der Welt herumreiste und sich wenig um ihren Sohn kümmerte.
Sie waren zwei einsame Kinder, die sich ewige Liebe und Treue schworen.
Mit dem Ende der Schulzeit verloren sie einander aus den Augen.
Gloria hegte ehrgeizige Pläne für ihren Sohn. Er sollte eine Ausbildung im Fach Gesang absolvieren und später in die Fußstapfen seiner Mutter treten. Ein Tenor sollte er werden und die Bühnen dieser Welt erobern. Sein Ruhm sollte den ihren noch übertreffen. Sie ließ ihre Beziehungen spielen, und schließlich wurde Carlo am Conservatorio Giuseppe Verdi in Mailand angenommen, der größten Musikhochschule Italiens.
Milena blieb auf Capri. Sie führte für die Werft ihres Vaters und ihres älteren Bruders die Bücher und den Haushalt. Hin und wieder packte sie auch in der Werkstatt mit an. Seit sie denken konnte, faszinierten sie Boote. Ohne Scheu davor, sich schmutzig zu machen, assistierte sie ihrem Vater bei Reparaturen und schaute ihm über die Schulter, wenn er Motoren auseinandernahm. Bald besaß sie genug technisches Verständnis, um zu begreifen, wie ein Bootsmotor funktionierte. Oder der eines Mopeds. Heimlich frisierte sie die Maschinen der Jungs aus Marina Grande, was ihr in gewissen Kreisen zu einigem Ansehen verhalf. Außerdem wusste sie mit Schleifmaschine, Hobel, Schweißgerät und Sandstrahler umzugehen. Talente, die ein Mädchen in den Augen der meisten Leute nicht unbedingt auszeichneten. Milena konnte gut und ausdauernd arbeiten, das musste selbst ihr Bruder Nino zugeben, der immer ein wenig eifersüchtig auf seine Schwester war. Sie galt als der Liebling ihres Vaters.
Carlo hielt ganze achtzehn Monate am Conservatorio durch. In dieser Zeit wurde ihm klar, was er wollte und was nicht. Er wollte Milena heiraten. Er wollte in einer Rockband singen. Ein Opernsänger werden wollte er nicht. Auf gar keinen Fall!
Er kam zurück nach Capri und zog wieder zu seiner Mutter und seiner Großmutter Anella nach Anacapri, in die Villa Beatrice.
Zum großen Kummer von Gloria, die Milena dafür verantwortlich machte. Die Strafpredigt, das Jammern und Flehen Glorias, es sich doch noch zu überlegen, ließ er an sich abprallen. »Es ist mein Leben, Mutter«, sagte er. »Ich möchte es nicht damit zubringen, in Strumpfhosen über eine Bühne zu hopsen.«
»Du wirfst dein Talent weg! Du trittst alles mit Füßen, was ich für dich getan habe.«
»Nur weil aus dir keine zweite Callas wurde, muss aus mir kein Pavarotti werden«, antwortete Carlo – und bekam dafür erstmals im Leben eine Ohrfeige von seiner Mutter.
»Schuld daran ist nur dieses kleine Miststück!«, schrie Gloria rasend vor Zorn.
Am übernächsten Tag besuchte Carlo Milena. Sie hatte schon gehört, dass er wieder hier war, doch sie war unsicher, was ihr Verhältnis betraf. Sie hatten einander geschrieben, aber beide waren keine begabten Briefschreiber, und bei den wenigen Telefonaten, die sie führten, litten sie an einer seltsamen Verstocktheit.
Das Strahlen von Milenas Bernsteinaugen bestätigte Carlo, dass seine Entscheidung zurückzukommen richtig war. Dass Milena die Richtige war.
Er lud sie ins Kino nach Capri-Stadt ein. Sie spielten Indiana Jones und der Tempel des Todes. Danach machte er ihr einen Antrag. Ohne sich nur eine Sekunde lang zu zieren, nahm Milena ihn an.
Der Halbkaräter, den er ihr ansteckte, stammte von seiner Großmutter Anella. Es war einst ihr Verlobungsring gewesen.
»Das ist ein braves, hübsches Mädchen, eine gute Wahl«, sagte sie zu ihrem Enkel. »Dein Großvater Corrado, Gott hab ihn selig, hätte sie auch gemocht.«
»Danke, Nonna!«, freute sich Carlo.
Denn wenn es überhaupt auf die Meinung einer anderen Person ankam, dann auf die seiner Großmutter.
Gloria hingegen war geradezu niedergeschmettert, als Carlo ihr die frohe Kunde mitteilte. Sie wusste nicht, was sie mehr enttäuschte: dass Carlo seine Gesangsausbildung hingeworfen hatte oder die Verlobung mit Milena Mancuso. Dieses Mädchen war ein Nichts, ein Niemand! Und doch besaß dieses kleine Luder die Macht, die Pläne der berühmten Gloria Romano zu durchkreuzen und damit nicht nur ihr Leben zu ruinieren, sondern auch das ihres Sohnes.
Aufseiten der Familie der Braut war man ebenfalls nicht entzückt über die Verbindung. »Was sollen wir denn mit einem anfangen, der nichts kann außer singen? Warum suchst du dir keinen, auf den Verlass ist und der anpacken kann?«, schimpfte Milenas Vater.
Allerdings neigten sich Mitte der Achtzigerjahre jene Zeiten, da Väter wie Zerberusse über das Leben und die Ehe ihrer erwachsenen Töchter bestimmten, sogar auf Capri allmählich dem Ende zu. Zudem war Ciro Mancuso kein autoritärer Mensch, sondern eher einer von der gutmütigen Sorte, der Streit am liebsten aus dem Weg ging.
Drei Tage nach der inoffiziellen Verlobung zwischen Carlo und Milena erschien Gloria Romano an seinem Arbeitsplatz, der Mancuso-Werft.
Mit kurzen, festen Schritten fegte die schwarzhaarige Operndiva im perlmuttfarbenen Seidenkostüm schnurstracks in die Montagehalle. Mit ihrer bourgeoisen Eleganz und ihrem energischen Auftreten wirkte sie wie ein Wesen von einem anderen Stern, das sich hierher verirrt hatte. Ciro Mancuso wusch sich gemächlich die Hände, dann bat er sie ins Büro, aber Gloria Romano meinte kühl, was man zu besprechen habe, könne man auch gleich an Ort und Stelle tun. Ohne lange Vorrede forderte sie Ciro Mancuso auf, etwas gegen die Verlobung ihrer Kinder zu unternehmen. Natürlich vermied sie es, Milena oder ihre Familie herabzusetzen, aber im Endeffekt lief es dennoch darauf hinaus. Seine Tochter Milena, dieses kluge und fleißige Mädchen mit tadellosem Ruf, war dieser Madame also nicht reich und nicht fein genug.
Sie wünsche sich für ihren Sohn eine Frau mit mehr Ansehen, gestand sie. Eine höhere Tochter aus einer gut situierten Familie oder eine Künstlerseele. Eine Frau mit Klasse eben. Eine wie sie selbst. »Seien Sie bitte nicht brüskiert, Signor Mancuso, aber die beiden passen einfach nicht zusammen. Das müssen Sie als liebender Vater doch auch so sehen.«
Tatsächlich war Ciro Mancuso kurz versucht, ihr recht zu geben, schon um seiner Milena das Schicksal dieser Schwiegermutter zu ersparen. Doch sie hatte seinen Vaterstolz verletzt, und allein deshalb war er nicht gewillt, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Er überlegte, wie wohl seine verstorbene Frau Teresa, Milenas und Ninos Mutter, auf das Ansinnen der Diva reagiert hätte. Er musste schmunzeln, als er zu dem Schluss kam, dass sie diesem eingebildeten Weib das Gesicht zerkratzt hätte.
Er würde seine Tochter allenfalls vor ihrer künftigen Schwiegermutter warnen, gab er Gloria zur Antwort. Ansonsten gedenke er nicht, sich in deren Leben einzumischen.
Milenas Bruder Nino hatte die Unterhaltung stumm mit angehört. Nun, als die Besucherin mit gerecktem Kinn davonschritt, stieß er seinen Vater mit dem Ellbogen an und kicherte. Gloria musste sich während der Unterhaltung an den Bootsrumpf gelehnt haben, den sein Vater gerade grundierte. Die dunkelgraue Farbe war noch feucht, und am engen Rock der Diva zeichneten sich zwei Flecken ab, die genau die Größe und Form ihrer Pobacken abbildeten. Was Vater und Sohn dazu veranlasste, ein wenig über die unterschiedlichen Formen weiblicher Hinterbacken zu fachsimpeln.
»Sie ist ein übler Besen, aber ihr culetto …« Nino küsste seine Fingerspitzen und feixte.
Etwas später warf er die Frage auf, wer eigentlich der Vater von Carlo sei. Es war eine rhetorische Frage. Darüber spekulierte seit Jahren die ganze Insel, und die Boulevardpresse brachte immer wieder einmal diesen oder jenen Namen ins Spiel. Doch niemand erhielt je eine Antwort. Nicht einmal Carlo selbst und auch nicht Anella Romano, Glorias Mutter.
»Eine Windbestäubung«, pflegte Gloria nonchalant zu scherzen, wenn das Thema zur Sprache kam.
»Wahrscheinlich irgendein Opernheini«, meinte Ciro Mancuso. Dann grinste er über sein ganzes von Sonne und Seewind verwittertes Gesicht und meinte: »Interessanter wäre es zu wissen, wer eigentlich Glorias Erzeuger war. Denn Corrado Romano hat ja schon seiner ersten Frau kein Kind machen können … Aber darüber schweigt man besser.«
Ungeachtet dieser offenen Fragen und sämtlicher Widerstände heirateten Milena und Carlo ein halbes Jahr darauf. Da Carlo kein Einkommen hatte, zog nach der Hochzeit auch Milena nach Anacapri in das Haus, das Corrado Romano in den Zwanzigerjahren für seine erste Frau Beatrice erbauen ließ, die nur zehn Jahre nach der Fertigstellung starb. Die nach ihr benannte Villa war ein großer weißer Würfel im typischen Capri-Stil. Die schlichte Architektur, die an das Bauhaus erinnerte, machte um die Jahrhundertwende auf der Insel Furore. Corrado Romano war allerdings nicht der Mann, der einer Mode folgte, schon gar nicht beim Bau eines Hauses. Er scherte sich ohnehin selten um die Meinung seiner Mitmenschen. Der klare, schnörkellose Stil der Villa spiegelte vielmehr das geradlinige Naturell seines Erbauers wider. Finanziert hatte er den Wohnsitz von den Gewinnen, die seine Limoncello-Destille abwarf. Der Betrieb war eine Goldgrube. Der Likör aus capresischen und sizilianischen Zitronen wurde nahezu weltweit exportiert, jede Bar, die etwas auf sich hielt, hatte ihn im Angebot.
Corrado Romano starb im Frühling des Jahres 1963 nach dreiundsiebzig erfüllten Lebensjahren. So versäumte er die Mutterschaft seiner Tochter Gloria um gut ein Jahr. Biologisch betrachtet war Gloria tatsächlich nicht seinen Lenden entsprungen. Was für ihn aber nie einen Unterschied machte. Er hätte seiner Tochter den Fehltritt ebenso verziehen und Verständnis für ihre Nöte gezeigt wie damals bei seiner Anella.
Nach dem Tod ihres Ehemannes verkaufte Anella die Fabrik. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Betrieb führte, und sie brauchte das Geld, um die Ausbildung Glorias zur Opernsängerin zu finanzieren und für den Unterhalt des Anwesens.
Zweiundzwanzig Jahre später, im Jahr 1985, heiratete Milena mit gerade einmal zwanzig dort ein. Carlos junge Ehefrau und seine Großmutter Anella waren vom ersten Augenblick an ein Herz und eine Seele. Komplizinnen, wie Gloria es ausdrückte. Hätte Gloria doch nur ein Quäntchen des Humors und der Herzensgüte ihrer Mutter besessen! Leider aber waren die beiden komplett verschieden und lagen sich ständig in den Haaren. Anella nahm kein Blatt vor den Mund. Wenn ihr etwas gegen den Strich ging, zeterte und schimpfte sie lautstark und in ihrem neapolitanischen Dialekt, den sie, anders als ihre Tochter Gloria, nie abgelegt hatte. Sie war allerdings nicht nachtragend und stets rasch wieder versöhnt. Dann lief sie singend im Haus umher. Oft waren es Lieder mit zweifelhaften Texten, die sie zum Besten gab. Carlo sang begeistert mit, und sei es nur, um seine Mutter zu ärgern. Bis es Gloria zu viel wurde und sie ihnen das Singen dieser ordinären Lieder verbot. Was Anella sich natürlich nicht gefallen ließ. Ein Singverbot im eigenen Haus, von der eigenen Tochter? Und schon ging das Gezeter wieder los.
Gloria wollte sich mit der Heirat ihres Sohnes einfach nicht abfinden. Mit schöner Regelmäßigkeit schoss sie ihre Giftpfeile ab. »Sie kann sicher nichts dafür, dass sie so gar keinen Esprit besitzt. Was will man auch erwarten, wenn einem zehnjährigen Mädchen die Mutter wegstirbt, ehe diese ihre Tochter richtig erziehen konnte? Das ist wirklich tragisch. Was war es noch gleich, Lungenentzündung? Ist das nicht eine Arme-Leute-Krankheit? Doch warum müssen ausgerechnet wir das ausbaden? Ach, Carlo, warum tust du mir das an, warum musstest du nur diese fade Person heiraten?« Dabei tönte ihr glockenheller Sopran durch das ganze Haus, man konnte die Worte gar nicht überhören, selbst wenn man wollte.
»Mach es wie ich, beachte sie einfach gar nicht«, riet Carlo seiner Frau, als diese wegen der Bosheit ihrer Schwiegermutter wieder einmal in Tränen ausbrach. Leichter gesagt als getan, jedenfalls für Milena.
Zum Glück war Gloria nicht oft zu Hause. Sie war noch immer gut im Geschäft und wurde engagiert. Aber es rückten jüngere Sängerinnen nach, hübsch, talentiert und ebenso süchtig nach Erfolg und Ruhm wie Gloria selbst. Da hieß es, am Ball zu bleiben. Inzwischen wagte sie es kaum noch, ein Engagement oder einen Gastauftritt abzusagen, wie sie es früher durchaus getan hatte, wenn ihr die Rolle nicht gefiel oder die Stadt zu provinziell war. Sie war nun über vierzig, ihr Zenit war erreicht, vielleicht schon überschritten. Tief drinnen wusste sie das, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Ihr einstiger Traum, eine zweite Callas zu werden, war ein Traum geblieben.
Das ganze Haus atmete auf, wenn Gloria unterwegs war. Carlo, Milena und Anella kamen bestens miteinander aus. Nonna Anella, eine kleine, zarte, noch immer hübsch anzusehende Frau in den frühen Sechzigern, wurde für Milena zu einer späten Ersatzmutter. Anella wiederum liebte ihren Enkel mehr als ihre Tochter, dieses kühle, von Ehrgeiz durchdrungene Wesen. Das wurde zwar nicht ausgesprochen, aber Gloria wusste es, und Carlo wusste es ebenfalls.