Berber und der Tod am Karpfenteich - Georg Steinweh - E-Book

Berber und der Tod am Karpfenteich E-Book

Georg Steinweh

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Beschreibung

Eine fingierte Entführung wird ernst und endet blutig. Daniel Berber, als Privatdetektiv von der betroffenen Industriellenfamilie engagiert, wächst der Fall über den Kopf. Er selbst bemerkt das allerdings trotz schmerzhafter Niederschläge kaum, denn seine Selbstgefälligkeit übertrifft seine Fähigkeiten bei weitem. Berber ist frech, eitel, erotisch leicht entflammbar. Nur mithilfe seiner Tochter Lisbeth, Computercrack und fantastische Bogenschützin, gelingt es ihm, aus einem dreifachen Showdown siegreich hervorzugehen.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.dnb.de.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2018 by Fabulus Verlag, Tanja Höfliger, Fellbach 

Lektorat: Fabulus Verlag

Umschlaggestaltung, Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany 

ISBN Print: 978-3-944788-63-0

ISBN E-Book: 978-3-944788-62-3

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.fabulus-verlag.de

Diese Geschichte ist den fränkischen Landschaften 

und regionalen Attraktionen gewidmet,

die nicht nur einen touristischen, sondern auch einen 

detektivischen Zweitblick verdient haben.

Mein Name ist Daniel Berber. Ich liege bewusstlos am Rand eines Karpfenteiches und sehe gar nicht gut aus. Wenn mich nicht bald jemand findet, werde ich kaum Gelegenheit haben, das Arschloch aufzuspüren, das mich in diese missliche Lage gebracht hat.

Mittwoch

Es begann an einem jener Abende, die man nicht braucht. Jeder kennt das, ich kenn das. Die Geschichte endet meist katastrophal, egal ob der Beginn privater oder geschäftlicher Natur ist. Hier war es eine ganz private Angelegenheit. Zunächst.

Ich saß in einem nüchternen Mehrzwecksaal des Turn- und Sportvereins Buckenhofen und versuchte, mir den Abend schön zu trinken. Ich war nicht mehr nüchtern, meine ehemaligen Schulkameraden auch nicht, trotzdem wollten mir ihre sehr offen und lebhaft ausgebreiteten Lebensgeschichten immer noch nicht gefallen. Dreißig Jahre Realschulabschluss, da war einiges geschehen. Aber oft nichts passiert. Vorhersehbare Reihenhäuser, Grundstück neben dem Schwiegervater, Auslandsmontage bei Siemens Asia. Spektakulär.

Wie so oft galt mein Groll dem nicht Vorhandenen. Hier den nicht Vorhandenen. Mit großer Trefferquote waren vier der sechs oder sechs der acht (ganz so eng wollte ich es dann doch nicht sehen) engsten Kumpel  aus vergangenen Zeiten nicht da. Hatten einfach Wichtigeres zu tun. Was gab es Wichtigeres, als mich zu treffen? Daniel Berber, der immerhin extra aus der Schwabenmetropole angereist war, um sich zu vergewissern, dass sich jeder einzelne so entwickelt hatte, wie es ihm damals schon ins Gesicht geschrieben stand. Und sie hatten sich so entwickelt, inklusive Wohlstandsbauch, abnehmender Haarpracht, kompensiert von zunehmender Trunksucht. Vorurteile? Ich doch nicht. Stand es mir ins Gesicht geschrieben, wie ich ende? Noch ende ich nicht, aber die große weite Welt hatten mir die Jungs schon zugetraut, wie sie mir mit wohlwollendem Schulterklopfen versicherten. Sollte wohl bedeuten: Einer von uns hat es geschafft.

Keine Ahnung haben die, keine Ahnung. Nicht ich habe es geschafft, es hat mich geschafft. Ein Privatdetektiv, der immer noch auf den großen Wurf wartete, dem alle Ganoven zu klein, alle Ehebrüche zu banal und jeder Versicherungsbetrug zu dämlich eingefädelt war. Und auch hier konnte ich nicht abschalten, hielt meine Fassade aufrecht und versuchte, zwischen den Zeilen hinter die kleinen Geheimnisse der Schulfreunde zu gelangen. Betrog Uwe seine Frau oder warum schielte er so unauffällig zu den Mädels der Parallelklasse? Hatte Gerhard jemals Kontakt zu seinem als Abschlussklässler gezeugten Sohn? Wo war Helmut? Vorstand im Fußballverein, heut Abend große Sitzung. Und Gregor? Der hatte die Baufirma seines Vaters verkauft und tourte durch Afrika. Jürgen wollte ... ja komisch, Jürgen habe sich nicht mal abgemeldet, meinte Walter, ganz Polizist. Großartig.

Die Mädels waren auch nicht mehr das, was sie noch vor zehn Jahren versprachen. Außerdem war mir sowieso egal, was Frauen versprachen. Ich versuchte, nichts zu versprechen und keinen Versprechungen zu erliegen. War früher anders. Und wischte sofort den Gedanken weg. Hier hockten locker siebzig Leute aus vier Klassen, redeten querbeet, lachten, präsentierten ihr Leben auf Fotos. Und ich dachte – Hauptsache an was anderes.

Es muss gegen halb elf gewesen sein, als mein Alkoholpegel endlich hoch genug war, um mich verabschieden zu können. Zum letzten Mal. Zumindest sah ich das so. Ich pinkelte mit Genuss ans Auto neben meinem und war sicher, die Wohnung meiner Tochter in Forchheim gerade noch so zu finden. Die paar Kilometer. Als ich endlich im Wagen saß, ärgerte ich mich schon wieder. Unter meinem Scheibenwischer klemmte ein Fetzen Papier. Aussteigen, Zettel entfernen, endlich losfahren. Nur an meinem Wagen fand sich ein Zettel. Mit Telefonnummer. Handschriftlich, wichtigtuerische Schwünge bei banalem Zahlenwerk. Warum mein Auto? Das Auto mit der offensichtlich weitesten Anreise vielleicht? Die anderen Kennzeichen kamen nicht über Nürnberg hinaus, der große Rest regionale Treue.

Ich unterdrückte meine Nummer und wählte. Ein Detektiv war schließlich immer im Dienst.

»Becker«, klang es nüchtern von irgendwoher auf dieser Welt.

Ich legte auf. Die Stimme kam mir bekannt vor. Der Name sowieso. Augenblicklich. Was war das denn? Wollte sich da jemand heimlich entschuldigen, mich an diesem ausufernden Abend nicht mit seiner Gegenwart erfreut zu haben?

Becker. Es gab einen Clemens Becker. Mein bester Freund.

Damals.

Ich setzte mich ins Auto und wurde nüchtern. Verdammter Mist. Es war nicht die zunehmende Klarheit, die mir zu schaffen machte. Ich hatte mit einem Schlag zweihundert Dinge parat, die ich mit Clemens angestellt hatte. Bis ihm seine Mutter verbot, mit mir zu spielen.

»Mit Straßenkindern spielt man nicht«, krächzte ich der Windschutzscheibe zu. »Blöde Kuh«, war dann schon etwas aggressiver. Ja, die Beckers. Das waren immerhin Industrielle und die Alte sowieso was Besseres. Ich und meine Kumpel kamen nur aus dem Genossenschaftsviertel oder vom Zeughof. Da spielte man eben auf der Straße, weil man auf der Straße spielte. Alles andere war schließlich langweilig.

Der Zettel wanderte zusammengeknüllt in die Jacke, und der Wagen fand wie von selbst die Wohnung meiner Tochter. Ich hatte ganz vergessen, dass ich am Nachmittag schon bei ihr gewesen war. Hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als mich mit solchen Lappalien aufzuhalten.

Johanna, die unbedingt Lisbeth nach der Filmheldin aus

»Verblendung« genannt werden wollte, saß am Computer. Natürlich, wie ihre Namenstante. Da würde sie sicher noch Stunden sitzen. Dabei hatte sie so viel von einem Nerd oder Online-Freak wie ich von Philip Marlowe.

Wobei ich gerne etwas von Marlowe hätte. Er schaute mit einem so wunderbar destruktiven Blick auf die Welt. Das Leben konnte so ungerecht sein.

Nach zwei Sätzen war der Abend erzählt und ich kam zu Clemens Becker. »War natürlich auch nicht da. Steckt sicher seine Mutter dahinter.«

»Papa! Dein Clemens ist ein erwachsener Mann. Wie du.

Da hört man nicht mehr auf seine Mutter.«

»Soso. Du hoffentlich auch nicht.«

»Das gehört jetzt nicht hierher. Ruf ihn an.«

»Ich bin ein erwachsener Mann und soll also auf meine Tochter hören?«

Lisbeth stand auf und stellte sich vor mich. Es hätte den Anschein haben können, als wollte sie zwei Zentimeter größer sein als ich. Was mir sowas von egal war – aber trotzdem störte.

»Ja«, antwortete sie lakonisch.

Ich rief also an. »Becker«, meldete sich Clemens.

»Berber«, antwortete ich.

»Daniel?«

»Clemens?«

»Du musst sofort kommen. Es ist etwas passiert.«

»Danke für die Einladung. Aber es ist schon spät.«

»Das ist egal.«

»Ich bin betrunken.«

»Das wundert ... äh, stört hier niemanden.«

Das Städtchen war echt übersichtlich. Zehn Minuten später passierte ich das Tor der Becker-Villa. Ein alter Jaguar XJS und ein noch älterer 220er Pagode thronten mehr als sie parkten unter einem weißen Baldachin.

Clemens öffnete, reichte mir die Hand.

Ein leichtes Schulterklopfen hielt ich nach jahrzehntelanger Abstinenz für angemessener und natürlich einen Kommentar zu seinen Autos. »Steht der Jaguar nicht öfter in der Werkstatt?«

»Hält sich in Grenzen. Komm doch rein«, meinte er unverbindlich und deutete verbindlich die Treppe hoch.

Seine Stimme klang angestrengt. Ich schaute mich schon mal um. Er schob mich in den Salon. Der Weg dahin war in ein ausgeklügeltes Effektlicht getaucht. Alles vom Feinsten. Hier hatte sich ein begabter Innenarchitekt ausgetobt.

»Ihr seid also umgezogen«, begann ich. Irgendwie war Clemens nicht sehr gesprächig. Dabei wollte er doch etwas von mir und nicht umgekehrt.

»Auch schon wieder zwanzig Jahre her. Magst was trinken?«

»Danke.«

«Danke ja oder danke nein?«

»Danke ja.«

Clemens schlenderte zur Bar, die wohl in allen Salons dieser Welt an identischen Plätzen zu finden war. Prima. Übersichtliche Wege für Alkoholiker.

Er schenkte mir einen Whiskey ein und reichte mir das Nosing Glas mit salbungsvollen Worten: »Irischer Connemara. Schön, dass du so schnell kommen konntest.«

»Ja, find ich auch. Ganz im Gegensatz zu dir. Bist schon wieder nicht zum Klassentreffen erschienen. Weiter Weg wohl, oder?«

Clemens hob sein Glas. Entschuldigend? »Nein, meine Mutter, weißt du ...«

Ich musste riechen und trinken, mal sehen, womit die Familie so angab. »Ach, darfst du immer noch nicht mit den Straßenkindern spielen?« Clemens schwieg, also nippte ich noch mal. Großartig. »Wie geht’s ihr eigentlich?«

»Danke der Nachfrage. Leidlich schlecht.«

Ich drehte mich zu der Stimme um und erlebte einen theatralischen Auftritt. Frau Becker kam aus dem Halbdunkel in einem Rollstuhl angefahren. Ein äußerst dezentes Surren wies auf dessen Elektroantrieb hin. Frau Becker hatte noch nie gern irgendwo selbst Hand angelegt. Außer bei ihrem Mann vielleicht. Aber wer wusste das schon.

»Hallo Daniel«, unterbrach sie mein erstauntes Schweigen,

»schön, Sie zu sehen.«

»Bleiben Sie bitte beim Du, Frau Becker. Bei mir hat sich nix geändert.« Um mit irgendeiner Nettigkeit aus der Peinlichkeit meines stierenden Blickes auf den Rollstuhl rauszukommen, sagte ich, »Ihnen geht es hoffentlich bald wieder besser.«

»Ich bewege mich seit acht Jahren so und daran wird sich auch nichts ändern«, informierte sie mich emotionslos, ja fast unbeteiligt. »Brigitte ist verschwunden«, wechselte sie zackig das Thema. Clemens fingerte aus seiner Jackentasche ein Foto seiner Schwester, als hätte er es sicherheitshalber hundertmal geübt und wartete seit Tagen auf nichts anderes.

»Ist das ungewöhnlich?« fragte ich. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Brigitte, die sich »Brischitt« nennen ließ, einen üppigen Männerkonsum. Natürlich war ich auch in sie verliebt. Damals, mit fünfzehn. Brischitt hatte Beine bis zum Nabel, aber keinen Arsch unterm Minirock. Was kaum auffiel, weil ihre glänzend-schwarzen Haare nahtlos in ihre schlanken Beine übergingen. Ich war also hoffnungslos in Brigitte Becker verliebt. Wie so viele, allerdings auch unerhört. Von heut aus betrachtet – Gott sei Dank. Ich musste schmunzeln. Man möge mir verzeihen.

»Sie ist mit ihrem Mann verschwunden. Seit gestern früh.« Clemens’ Erweiterung fand ich nun noch weniger aufregend. Mann und Frau verschwinden aus dem Hoheitsgebiet der Eltern. Ein Befreiungsschlag.

Ich studierte das Bild. Da war eine Frau um die dreißig zu sehen. »Hast du kein aktuelles Foto. Das da ist ja zwanzig Jahre alt.«

»Das Bild ist aktuell.« Darauf war Frau Becker wohl auch noch stolz. Brigitte hatte offensichtlich mit zumindest fotografischem Erfolg an ihrer Alterskurve schnibbeln und straffen lassen. BB, wie sie sich auch gerne nennen ließ, hatte allerdings mit der Original-BB so viel gemeinsam wie eine Haselnuss mit einer Lidschi. Außerdem liebte die Bardot Tiere. Die Becker-Frauen liebten nur sich. Gut, mit einer Ausnahme: vermögende Ehemänner.

»Hast du ein Foto ihres aktuellen Gatten?« Clemens überhörte meine Spitze, Frau Becker zischte aus dem Untergrund. Er gab mir noch ein Bild. Brigitte im Brautkleid, geführt von einem älteren Herren.

Hier wollte mich jemand verwirren. »Da nützt mir jetzt ein Foto ihres Schwiegervaters wenig. Auch wenn er sie zum Traualtar führt. Also eher gar nix.«

»Das ist nicht ihr Schwiegervater. Das ist ihr Gatte«, fauchte Hermine Becker aus ihrem Motorstuhl.

Ich studierte sie aufmerksam und konstatierte zwei Dinge:

Zum einen überlegte ich, ob sie nicht die geeignetere Partie für diesen sportiven Silbernacken gewesen wäre. Und – ob sie das selbst nicht auch dachte.

Hermine bat Platz zu nehmen, wohl, damit ich sie nicht länger von oben herab behandelte. Dergleichen sollte ihr vorbehalten bleiben.

Eine halbe Stunde und zwei Whiskey später beschloss ich, den Auftrag anzunehmen. Ich wollte 350 Euro am Tag, das Doppelte, wenn Gewalt im Spiel war. Oder illegale Aktionen. Das war nicht mein Gebiet. Zumindest nicht gerne. Je mehr ich fragte, warum sie nicht die Polizei benachrichtigten, warum sie mich aus der Ferne anheuerten, ob sie Vermutungen hätten – immer fiel das Wörtchen »Diskretion«. Als ließe sich alles damit erklären.

»Du bekommst 500, wenn du Tag und Nacht ermittelst. Und das Doppelte, wenn DU es für die Entführer gefährlich machst«, erklärte Hermine Becker.

Na also, war doch gar nicht so schwer mit dem Du. Wie sie allerdings auf eine Entführung kamen, war mir ein Rätsel. Noch.

Clemens zog aus der anderen Jackentasche – es konnte auch die gleiche sein, nach dem dritten Connemara im Ledersessel war das echt schwer zu sagen – eine Liste mit Namen, Telefonnummern, Adressen. Fürsorglich erklärte er mir die Zusammenhänge. Anfangen sollte ich in der Fleischfabrik von Wolfram von Grafeneck. Das war Brigittes Mann. Ich sollte mich in der Grafenwöhrer Zentrale melden, dorthin wollte mich Clemens als Aushilfsfahrer empfehlen. Das wäre unauffällig, und ich könnte problemlos recherchieren. Warum glaubte ich ihm nicht?

Ich war überinformiert, müde und außerdem wollte mir offensichtlich niemand mehr etwas einschenken. Also bedankte ich mich für Auftrag und Vertrauen und verabschiedete mich.

Hermine und Clemens blieben im gedämpften Licht des Salons. Sehr zufrieden schienen sie mit ihrem Plan nicht zu sein.

»Dann hoffen wir mal, dass Daniel den Köder mit der Entführung frisst«, stöhnte Clemens.

»Papperlapapp!«, zischte Hermine ihren Sohn an. »Dein Vater weiß, was er tut. Und wenn Daniel nur halb so schlecht ist, wie er auf mich wirkt, wird er in Würde scheitern und genügend Staub an den richtigen Stellen aufwirbeln. Marius wird gar nichts mehr verstehen und früher oder später einen Fehler machen.«

»Lieber früher«, antworte Clemens kleinlaut. »Bevor es am Ende doch gefährlich wird.«

Neben ihrer Überschaubarkeit war der zweite Vorteil einer Kreisstadt, dass es nachts keine Alkoholkontrollen gab. Ich saß am Küchentisch meiner Tochter und wollte mich nicht erinnern, ob es früher mehr als zwei Vorteile gegeben hatte, die für diese Stadt sprachen. Ich erzählte Lisbeth nur das Nötigste.

»Ich hab einen Auftrag. Der Rest ist Diskretion.«

»Wenn du das sagst, Papa, klingt das wie ›Dysfunktion‹.

Aber jetzt schlaf mal. Musst ja morgen Geld verdienen.« Lisbeth schenkte mir noch ein großes Glas Leitungswasser ein und schob mich ins Zimmer ihrer WG-Mitbewohnerin.

»Keine Sorge, sie ist zehn Tage verreist. Ich weck dich um sieben. Schlaf gut.« Und tatsächlich drückte sie mir noch einen Kuss auf die Stirn. Ich hab’s genau gespürt. Irrtum ausgeschlossen.

Donnerstag

Kalle, nach eigenen Aussagen 1. Disponent für alles, was sich gekühlt transportieren ließ, führte mich eilig durch einige Hallen. Es war sauber, kein Tropfen Blut, aber ein permanenter Geruch nach Apotheke oder Kosmos’ Chemie-Baukasten.

Der Tod agierte anonym hinter dicken, halbtransparenten Pendeltüren. Die Portionierer an den Fließbändern arbeiteten mechanisch wie Roboter und ohne Gesichtsregung wie Pokerspieler. Und ich sollte dieses Zeugs durch Franken fahren. Na gut, essen wollte ich ja auch.

Kalle brachte mich zum Chef. Der aber noch nicht da war. Sein Büro war kein Büro, das war ein hochgebockter, strategischer Tempel mit Rundumsicht, mitten aus der Halle herausgebrochen. Überblick, wohin das Auge reichte.

»Also ich hätte keinen Bock drauf, den ganzen Tag Schweinehälften an meinem Fenster vorbeibaumeln zu sehen«, wollte ich zu Kalle sagen, der aber geräuschlos verschwunden war.

Ich hatte ebenfalls nicht bemerkt, dass ein Fremder im Raum stand. Es musste noch eine Tür geben.

»Man muss eben Prioritäten setzen.« Der Mann kam schnellen Schrittes auf mich zu.

Musste ich mich wehren?

»Tag, Herr Berber. Müller mein Name. Marius Müller. Ich bin der Betriebsleiter.«

Er streckte mir die Hand entgegen, das machten die hier wohl gern. Ich antwortete: »Müller, aha. So ganz ohne Westernhagen?«

»Ja. Und auch ganz ohne Milch«, antwortete er. Und lächelte ein Lächeln, das ich mir gern abgekupfert hätte.

Respekt. Hätte ich ihm nicht zugetraut. Aber vorerst konnte ich sowieso noch nicht einschätzen, was ihm alles zutrauen war. Viel stand nicht auf der Liste, die mir Clemens gegeben hatte.

»Und, haben Sie sich einen ersten Überblick verschafft, Herr Berber?«

»Eine schöne Sauerei haben Sie hier am Laufen. Respekt.« Ich lächelte ebenfalls, kam immer gut. »Allerdings soll ich ja nur Kühlwagen fahren, den Laden führen doch Sie. Und sicher allerbestens.«

Müller wippte auf den Zehen, tänzelte zu seinem Schreibtisch und konzentrierte sich kurz auf seine zwei Bildschirme.

»Ja, das hört man so. Wir sind der größte Gewerbesteuer-Zahler der Region Grafenwöhr im Osten bis hin zur Grenze.«

Ich muss ihn wohl sehr unverständlich angeschaut haben.

»Also nein, doch, ich meine natürlich schon seit damals, als es noch die Grenze zur DDR gab. Da gab es hier nicht so viel, und dann eben uns. Die Grenze ist weg, glücklicherweise. Und uns gibt es immer noch.«

»Glücklicherweise«, ergänzte ich.

»Wie meinen Sie?«

»Naja, was für ein Glück für die vielen Menschen hier und für mich. Sonst hätte ich jetzt keinen Job.«

»Richtig. Zurück zum Thema. Kalle hat Sie informiert?

Alles klar. Dann herzlich willkommen und an die Arbeit.«

Wie von Geisterhand bestellt tauchte genau in dem Moment Kalle in der offenen Tür auf, zu der mich Müller rausschob.

»Das ist Chantal, mit der fährst du die ersten zwei Tage. Chantal, das ist Daniel. Vertragt euch.« Damit war das Wichtigste gesagt, ein Disponent musste wohl auch mit seinen Worten ökonomisch umgehen.

An der östlichen Flanke der Fabrik war die Ladestation mit den Parkbuchten. Vom Sprinter bis zum Zwanzig-Tonner fand hier alles Platz. Ich staunte. Auch über Chantal. Zwei Kriterien sprachen für ihre ostdeutsche Herkunft: ihr Name und ihre Sprache. So war es auch. Sie war wahrscheinlich kaum älter als meine Tochter, aber ihre Haut sah aus, als wäre es besser, Chantal würde dauernd reden, damit sie niemand mit einer Schweinehälfte verwechselte. Als ob sie noch nie die Sonne gesehen hätte. Eine pockennarbige Blässe, die mir schon wieder leid tat.

Dann standen wir vor einem 7,5-Tonner. Meine Güte, und das womöglich alles voller Fleisch. Ich schluckte.

»Keene Sorje. Das is meiner.« Chantal schlug mir kumpelhaft auf den Rücken. Und schon war ich beruhigt. Sie verstand, welche Sprache ich verstand.

»Uff disch warded übermorschen dar Kleene da drüm.« Sie deutete auf einen Fiat Ducato, dessen Rückseite irgendwie verstärkt war und sicher ganz dicke Isolierwände hatte. Könnte auch ein Geldtransporter sein.

Aber warum hatte ich den Eindruck, dass ihr Hinweis etwas abfällig klang?

Ich schwang mich auf den Beifahrersitz und erlebte, mit welcher Präzision Chantal das offene Heck an die Kühlschneise der Laderampe andockte. Förderschienen klinkten ein und schon rollten Tierteile an riesigen Haken in den gekühlten Lkw. Das hatte was von Montagehallen in Kfz-Betrieben, alles automatisch. Zwei Jungs schoben noch ein paar mit Folien verschweißte Styropor-Kartons an die Seite, Chantal verzurrte alles sachgemäß.

»Das machd jedar selbar. Vorantwordung. Vorstehste. Du stehst dafür grade, dass die Laadüng grade stehn.«

Chantal war echt gut. Aber ich hatte etwas Besseres gesehen. Die Hallen waren rechtwinklig normiert, da fiel ein warzenartiger Auswuchs aus dem Winkel anfangs der Ladestraße zwangsläufig auf. Und die Menschen hier wirkten alle so passend blass, unterkühlt und hässlich. Da fiel eine schöne Frau selbst hinter einer spiegelnden Glasfläche richtig auf. Schöne Frauen konnte ich riechen. Am liebsten ohne Abstand.

Chantal sah meine Gedanken. »Das ist Andrea. Unsere Fleischbeschauerin.«

Chantal schob ihre Papiere in eine Art Briefkastenschlitz, es ratterte zweimal, dann rollte sie die Lieferscheine zusammen und schlug mir damit auf den Kopf. »Mache los, Meiner. Kochanek.«

Wir nabelten uns ab, für mich einem Weltraumausflug von der Basisstation in einer Kapsel nicht unähnlich. Es zischte, gefrorene Luft fiel sichtbar zu Boden, die Türen des Lasters saugten sich aneinander und Chantal verriegelte ihre wertvolle Fracht.

Ich dachte an die Fleischbeschauerin. Ich war auch ein Wesen aus Fleisch und Blut, wollte auch mal wieder beschaut werden. Verdammt einsames Dasein, so als gefragter Detektiv, der gar nicht so gefragt war.

Die ersten Kilometer schwiegen wir einvernehmlich. Trotzdem hatte ich noch eine Frage offen. Unsere Strecke ging über Bamberg nach Erlangen, eventuell Nürnberg, das käme auf einen Anruf an. Ich verstand nichts. Auch nicht, warum sie mich Kochanek nannte.

»Das is polnsch. Und heißt Liebhabar. Nachher ziehst dir eine Schürze über und kannst eine halbe Sau umarmen. Is auch sowas wie liebhaben.«

»Du bist doch keene Polin«, meinte ich verwundert. Über irgendwas musste man ja reden. Und auf keinen Fall wollte ich tiefer ergründen, warum in Teufels Namen sie mich Liebhaber titulierte.

»Vielle’ ’ne halbe«, zuckte Chantal mit den Schultern. »So ganz genau konnde meine Mudder mir nisch sachen.« So gut es der Verkehr zuließ, schaute sie mich an und lächelte entschuldigend. Ich glaube, sie war doch ganz passabel.

Ich umarmte also Schweinehälften, schob kistenweise Haxen in Großküchen und versuchte in den Zeiten, wo Chantal den Papierkram erledigte, zu telefonieren. Clemens hatte noch nichts gehört, seine Schwester blieb verschwunden und es hatte sich auch noch kein Entführer gemeldet. Verdammter Mist.

»Gówno!«, schimpfte Chantal. Sie warf ihr Handy aufs Armaturenbrett. »Verdammte Scheiße aber och. Wir müssen nochma nach Erlangen. Was abholn.«

Mir war ein Rätsel, wie ich diesen Fall lösen sollte, wenn ich täglich quer durch meine fränkische Heimat fuhr und so ganz nebenbei Polnisch lernte. Immerhin.

»Isch lassd’sch aber danach in Forchheim raus. Das wär ja ins Hirn gespuckt, wenn du den ganzn Wesch noch mit zurück fahren müsstest. Okay Meester?«

Ab sofort würde ich mit meinen Gedanken vorsichtiger umgehen. Chantal konnte sie lesen. Das gefiel mir nicht.

Was uns in Erlangen erwartete, gefiel mir auch nicht. Wir fuhren zu einer Art Großmarkt für Fleischlieferungen, eigentlich ein ähnlicher Laden wie unserer, nur kleiner. Dort parkte Chantal an einer entlegenen Rampe, ließ den Motor laufen und zog mich am Ärmel davon.

»Auf, wir ham uns’n Kaffee mit Schuss vordient. Den Rest machn die Jungs alleene.«

Ich ließ mich also ziehen, versuchte den Lkw so lange wie möglich im Blick zu halten und stand zwei Minuten später an einer Imbisstheke, die sich weit aus dem Osten hierher zurückgezogen hatte, weil dieses karge Retro alle luxusverwöhnten Westdeutschen offenbar schon wieder schick fanden. Fehlte nur noch die Leuchtschrift »Broilerwessi« drüber. Ich glaube, ich spürte gerade eine Marktlücke auf.

Vor uns standen zwei Tassen Kaffee, die schon allein vom Dastehen keinen guten Eindruck machten. Chantal orderte noch zwei Mokka-Spezial, die sie, freundlich wie sie war, selbst von der Theke abholte. Die Bedienung tuschelte mit ihr, ein halber Blick fiel für mich ab. Ich hatte es genau bemerkt. Ich war eindeutig unterfordert und womöglich überqualifiziert.

Chantal stellte die zwei Mokka-Spezial neben meine Tasse.

»Isch weeß, wegen dem Kaffee kommt keenar extra. Aber die Likörschen sin’ erste Sahne. Trink aus, Meiner.«

»Wegen des Kaffees«, versuchte ich sie sanft zu verbessern.

»Nee, wegen den Likörschen. Sag’sch doch, Jungschen.« Sie stierte mich an, keine weiteren Korrekturen.

Ich musste mich beherrschen. Ich musste beide Liköre trinken. Chantal trank keinen Alkohol, auch nicht, wenn sie nicht fuhr. Wieder verstand ich etwas nicht, was mit ihrer Welt zu tun hatte. Aber die Mokka-Spezial waren wirklich erste Sahne.

Irgendwann schien Chantal es für richtig zu halten, zum Laster zurückzugehen. Der Feierabend lockte. Wir hatten also etwas eingeladen, neue Fracht. Und wohin sollte die gehen? Das ging mich offensichtlich nichts an. Und hatte sicher mit der Entführung nichts zu tun. Ich sah Gespenster, weil ich keinen Entführer fand und weil ich nicht recherchieren konnte, und schon baute ich ein irgendwie geartetes Szenario eines weiteren Verbrechens um die arme, unschuldige Chantal. Das hatte sie nicht verdient. Für ihre Haut konnte sie ja nun wirklich nichts. Das lag sicher an ihrer Mutter, die so viele Nationalitäten an sich rangelassen hatte, dass sie ihrer Tochter nicht einmal eine eindeutige zweite Staatsbürgerschaft zuordnen konnte.

Die Welt war ja so schlecht.

Ich sprach Lisbeth auf die Mailbox und kündigte mich in nicht allzu ferner Zukunft an. Chantal beobachtete mich amüsiert.

»Meine Tochter«, erklärte ich ihr verlegen. Warum auch immer.

Chantal ließ mich am Stadtpark aussteigen. Nach der langen Fahrerei wollte ich wenigstens ein paar Meter laufen. Sie fuhr mit ihrer Fracht davon und ließ mich mit neuen Fragen zurück.

Lisbeth erwartete mich mit einem eisgekühlten Limettendrink hochkreativer Mischung: Leitungswasser, Eiswürfel aus Limettensaft mit eingefrorenen Minzblättern und drüber frisch geriebene Limettenschale.

»Gibt’s was zu feiern?«, fragte ich, nachdem ich meinen ersten Saugreflex aus dem Strohhalm befriedigt hatte. Konnte mich nicht erinnern, je so aufwendig keinen Alkohol serviert bekommen zu haben.

»Und du?«, fragte sie mich, »kein Schweinelendchen mitgebracht?«

»Was ist eigentlich mit deiner Freundin? Ist die in der Klinik?« Es war mir ein Rätsel, wie sich ein einzelner Mensch in einer kleinen Kammer mit Fantasy-Plakaten, -Devotionalien und -Klamotten bis hin zur Bettwäsche mit Drachenund Untotenmotiven derart übertrieben umgeben konnte, ohne bleibende Schäden zu erleiden.

»Ihr geht’s super. Und im Übrigen habe ich mir mal deine Liste vorgeknöpft, Papa.«

Meine Tochter schob mir drei Seiten Papier zu, dicht bedruckt, dazu ein paar Fotos, soweit ich sehen konnte. Meine Liste, die übrigens noch in meiner Jacke steckte, sah anders aus.

Bis zu meinem Rapport bei den Beckers hatte ich noch über eine Stunde Zeit. Lisbeth, die ich lieber Johanna nennen möchte, wollte mir einiges erzählen.

Zu den mir bekannten Namen hatte sie eine Menge Details aufgelistet. Da standen Clemens, Brigitte, die Eltern Hermine und Johannes Richard Becker. Natürlich der entführte Gatte Wolfram von Grafeneck, dito sein Geschäftsführer Marius Müller.

Mich interessierte erst der nächste Name: Andrea Wumm, Veterinärin, Landkreis-Tierärztin und gleichzeitig oder besser gesagt trotzdem Fleischbeschauerin von »Grafeneck-Premiumfleisch«. Alter: Einundvierzig. Acht Jahre jünger als ich, das passte doch.

Aber die Liste endete hier nicht. Ich staunte über den Arbeitsaufwand. Aber nur innerlich. Meiner Tochter schenkte ich einen verärgerten Blick.

»Was soll das?«

»Was hast du nur für einen Scheiß-Job an Land gezogen?«, antwortete Johanna.

»Nun mach mal halblang, Johanna. Ich bin Detektiv und hab einen Auftrag angenommen.«

»Du fährst gefrorenes Fleisch durch die Gegend. Und das nennst du ermitteln? Außerdem ist mein Name Lisbeth. Seit Jahr und Tag. Ich bin erwachsen und ich bitte das zu respektieren.«

Völlig gelassen analysierte meine Tochter meine prekäre Lage und wühlte mich mit ihrer Ruhe noch mehr auf. Sie machte einfach weiter.

»Ist jemand ins Krankenhaus eingeliefert worden? Ist die Familie verdächtig? Hast du Spurensuche betrieben und wo? Gibt es jemanden, der Brigitte oder Wolfram nicht leiden kann?« Johanna, sorry!, Lisbeth lehnte sich zurück, saugte mit geschlossenen Augen an ihrem Drink. Naja.

»Hab ich längst selber dran gedacht«, bellte ich zurück. Und ärgerte mich, weil ich tatsächlich überhaupt nicht an Krankenhäuser gedacht hatte. Lisbeth nervte. Ich war der Boss und musste noch einmal zum Namen meiner Tochter zurück. Das war wichtig, für unsere Zukunft. »Lisbeth jetzt wegen der Junkie-Tante aus dem Film oder Elisabeth wegen deiner Oma?«

»Das spielt jetzt echt keine Rolle, Papa«, wischte sie meine Einwürfe vom Tisch. »Also ich stell mir unsere Zusammenarbeit so vor ...«. Meine Tochter Johanna, also Lisbeth, meine Kollegin, legte eine kleine Kunstpause ein. Wenn sie irgendeine unbedachte Reaktion von mir erwartet haben sollte – sie sollte recht behalten.

»Jetzt mach mal halblang ...«

»Sagtest du bereits«, unterbrach sie mich.

»... Was denkst du eigentlich, wen du vor dir hast?«

»Einen guten Detektiv, der eine umfangreiche Rechercheunterstützung brauchen kann. Die tanzen dir doch sonst auf dem Kopf rum. Ich hab hier alles aus dem aktuellen Leben der Beckers gesammelt. Und einiges aus ihrem Leben davor. Von deiner Verliebtheit bis zum heutigen Tag. Und da gab es außer zwei weiteren Ehemännern einiges bei deiner sauberen Brischitt.«

Das warf mich jetzt in die Seile. Um Zeit zu gewinnen, saugte ich ausgiebig an meinem Drink, der wunderbar gut tat und Gedanken der Erkenntnis in mir gären ließ. Oder war es Einsicht?

»Noch zweimal verheiratet, sagst du?«

»Ja genau. Die Typen habe ich hier. Schau es dir an und mach was draus. Konfrontiere doch zum Beispiel Hermine damit. Wäre eine gute Idee von dir. Wo steckt eigentlich der Alte, den alle ›JR‹ nennen?«

Ich wollte gerade zu einer umfassenden Erklärung ansetzen, da fiel mir meine Tochter in die nächsten Gedanken.

»Und mach dir keine Sorgen über mein Honorar. Ich bin mit der Hälfte zufrieden. Wir sind doch Partner, gell. Auch wenn ich weiterhin Papa zu dir sage.«

Sie drehte mir ihren Laptop zu. Ich sah eine Landkarte, auf der eine Route markiert war. Am Ende der Route blinkte ein Signal. Das würde sie mir sicher umgehend erklären.

»Solang du dein Handy anhast, weiß ich, wo du unterwegs bist und was du so treibst. Dir kann also gar nix passieren, Papa. Ist doch schick, oder?«

Ich schaute meine Tochter an. Mit welchem Gesichtsausdruck, konnte ich grade nicht festlegen. »Hab ich eine Wahl?«

»Nein.«

»Soweit, so schlecht. Dann recherchier mal schnell ›Connemara‹. Das wurde gestern bei Beckers kredenzt.«

Ich wollte wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis vorweisen, wenn ich in Kürze Frau Becker meine Aufwartung machen müsste. Ich wollte mit den Infos anfangen, die mir die Familie vorenthalten hatte. Vielleicht aber auch nicht. Käme auf die Situation an.

Unter der Dusche hatte ich mir eine kleine Gesprächsstrategie zurechtgelegt. Frische Klamotten konnten auch nicht schaden, der Fleischfahrer-Mief durfte mir nicht anhaften. Es war ein heißer Sommertag, und die Fahrt zu den Beckers brachte keine Abkühlung. Jetzt, da ich einiges wusste, wollte ich mehr auf die Körpersprache der Familie achten.

Clemens war wie immer aus dem Ei gepellt. Ein sehr großer, sehr dünner Lulatsch, der seinen Pagode-Benz sicher nur offen fahren konnte. Der musste doch am Dach anstoßen. Während wir zum Salon hochstiegen, kam mir wieder die eine Frage, die mich einmal je Jahrzehnt beschäftigte: Woher hat Clemens diese tollen Locken? Schwarz ist ja okay, Mutter und Tochter waren auch schwarz, das konnte Natur sein. Aber keiner von denen hatte Locken. Wie gern hätte ich gesagt, Mensch Clemens, die Zeit von Minipli ist echt vorbei. Aber gut, wir hatten grad andere Probleme.

Für den teuren irischen Whiskey war es wohl zu früh, wir saßen mit einer Karaffe Leitungswasser, in der zwei Limettenscheiben schwammen, im Salon. Vertraute Runde.

»Wo ist eigentlich Ihr Mann, Frau Becker?«, versuchte ich einen harmlosen Einstieg.

Sie schaute mir geradeheraus ins Gesicht. Das wirkte bei anderen Menschen sicher sofort einschüchternd. Ich kannte sie von früher – also wirkungslos. »Meinen Mann müssen Sie nun wirklich nicht suchen. Der ist bei einer Tagung, hält Vorträge. Innovation ist sein Metier.«

Ich räusperte mich kurz, schaute zu Clemens. Keine Regung. «Na dann ist ja gut. Eine Sorge weniger. Und übrigens waren wir gestern Abend schon beim Du, also Ihrerseits. Aber da lagen auch schon mindestens zwei wunderbare gerauchte irische Whiskey dazwischen.«

Auf diesem Ohr war die Familie taub. Schade. Dann voran. »Haben Sie mittlerweile einen Anruf bekommen oder hat sich ein Mensch aus ihrem direkten Umfeld eigenartig benommen? Ein Entführer meldet sich normalerweise, sonst ist späterer Reichtum ausgeschlossen.«

Clemens schüttelte den Kopf. »Ich wunder mich ja selber.« Ich musste mich bewegen, wenn ich schon nichts trank, stand auf, kreuzte durchs Zimmer. »Darf ich fragen, womit ihr mittlerweile euer Geld verdient? Vielleicht komme ich damit weiter. Eure Angaben waren ja sehr spärlich.« Mit diesem Vorwurf bewegte ich mich durch das nächste Foyer, schaute auf den die erste Etage umfassenden Balkon, kehrte um und blieb in der Tür stehen.

»Software und Hardware. Kooperationsverträge mit Siemens International, Outsourcing von Mitarbeitern, Brain-Vermietung, kurzfristige Überlassung von Computerspezialisten. Alles, was der moderne Mensch so braucht.« Mit jedem Halbsatz klang Clemens stolzer.

Die Etage war riesig, der Boden aus einem Guss, als ob irgendwann Wasser ausgelaufen und wegen der frostigen Atmosphäre gefroren war.

Ich nickte anerkennend. »Ganz schön behindertengerechtes Haus, mein Bester.«

»Barrierefrei, mein lieber Daniel, barrierefrei!« Da war sie wieder, die alte Becker. Na also. Weiter so.

»Mutters Rollstuhl ist ja ein ganz besonderes Teil. Ich hab eigens ein Programm geschrieben, das mit Infrarot-Strahlen die Räume vermisst ...« – Clemens wurde plötzlich geschwätzig – »... im Speicher des Rollstuhls ist das ganze Haus abgelegt, der Rollstuhl weiß immer, wo er steht.«

Jetzt stierte ich Frau Becker geradeheraus an. »Die Fahrerin auch?« Okay, war etwas frech, aber die Familie bestach nicht gerade mit hilfreichen Informationen. Dem konnte ich abhelfen.

»Habt ihr eigentlich noch Kontakt zu Sascha Hosenköter, früher unter dem Namen Sascha Höhn als Dressman tätig?« Ich wollte es kurz machen.

Nervöser Blickaustausch der beiden, das konnte nicht verborgen bleiben.

»Schon zwanzig Jahre nicht mehr. Brigitte war nicht so lange mit ihm verheiratet«, fing sich Hermine schnell.

»Tja, schön, aber mittellos«, stichelte ich weiter, »sicher eine Liebesheirat. Wie war das denn mit Serge Couplé, diesem sehr agilen Franzosen? Das machte anfangs doch einen absolut ... sagen wir mal ... gepolsterten Eindruck.«

Endlich kamen Reaktionen. Clemens prustete sein Wasser ins Glas, Hermine Becker kochte innerlich, ich konnte den Druck in ihr steigen sehen, bis ihr Kopf rot anlief.

»Wo hast du das her? Die Geschichte hat weiß Gott nichts mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun. Ich bezahle dich nicht, dass du in der Vergangenheit unserer Familie rumwühlst!« Hermine Becker ging hoch wie ein HB-Männchen, das würde ich Lisbeth sagen müssen. Falls sie trotz der Gnade ihrer späten Geburt etwas damit anfangen konnte. Welch passender Umstand, dass Hermines Initialen auch noch HB waren. Sie war so weit.

»Weiß Gott, wo eure Tochter ist? Von eurem Schwiegersohn ganz zu schweigen. Der scheint ja hier nicht zu interessieren. Jedenfalls ist für mich grundsätzlich jeder Mensch wichtig, der mit euch gelebt, gearbeitet und in euren Betten gelegen hat. Das ist so. Das muss klar sein und da gehe ich auch nicht von ab.«

Clemens versuchte zu beschwichtigen. »Hey Daniel, alter Freund. Unsere Nerven liegen gerade etwas blank. Und diesen Hochstapler von damals hatten wir einfach längst verdrängt.«

»Das war vor neun Jahren, Clemens. Das ist für Rache keine unmögliche Spanne. Gab es irgendetwas, was der Mann euch nicht verzeihen würde?«

Clemens stand nun auch auf, ließ seine Mutter alleine sitzen und bewegte sich grübelnd durch den Salon. Eine lange Gedenkminute, eindrucksvoll. Da war ich mal gespannt, was er mir anbieten wollte.

»Die Ehe wurde nach vier Monaten geschieden. Er war Hochstapler, vorbestraft, saß in U-Haft. Das war alles kein Problem für uns.«

»Tja, Beziehungen sind eben alles«, ergänzte ich.

»Das war ein komplett rechtsstaatlicher Akt, mein Lieber«, fauchte Hermine.

»Davon gehe ich in Bayern sowieso aus«, zischte ich zurück.

»Habt ihr ihm etwas bezahlt, dass er verschwindet, hat er euch erpresst? Irgendetwas für euch Unwichtiges?«

Clemens schaute auf die Uhr, Hermine stotterte suchend nach einem ordentlichen Satz. »Nein. Er verschwand. War im Gefängnis, gaukelte seinen Schwiegereltern vor, ein wohlhabender Geschäftsmann zu sein, der in die Firma investieren will.«

Mein Telefon klingelte. Mist.

In meinem Flow gestört zog ich das Handy hervor. Eine mir unbekannte Nummer erschien.

»Berber ...«, sagte ich unwirsch, »rufen Sie bitte später nochmal an, ich hab grad keine Zeit.« Dann stockte ich. »Nein, das ist nicht möglich. Woher haben Sie meine Nummer, wo stecken Sie?«

Gebannt lauschte ich der fremden Stimme und versuchte den beiden im Raum stimmlos zu signalisieren, dass der entführte Graf am Telefon war. Sie erschraken. Ich nickte. Und hörte zu. Clemens und seine Mutter kamen näher, angespannt standen sie im Raum, horchten und hofften und fieberten.

»Und was wollen die?« Ich war erstaunt über dieses Lebenszeichen und horchte so tief in den Hintergrund, wie es nur ging. Gab es auffällige Geräusche? Welchen Eindruck machte er? Sprach er unter Zwang, war er verletzt, geschwächt? Mitten im Satz riss seine Stimme ab. Die Verbindung war zu Ende. Ein Spuk, so plötzlich er begann, so schlagartig war er vorbei.

Ich schaute auf meine Uhr. 20.40 Uhr, das könnte wichtig werden. Clemens schaute auch auf seine Uhr.

Beide fielen mit Fragen über mich her, wollten endlich wissen, was Wolfram gesagt hatte, ob es ihm gut ging.

Da klingelte wieder mein Telefon, gleiche Nummer.

»Ja, hier Berber«, meldete ich mich angespannt. Aber es war eine andere Stimme am Apparat. Eine technisch verzerrte Stimme sprach auf mich ein. Nur das Nötigste. Fünf Millionen, Schweizer Nummernkonto, Übergabe wird später vereinbart, dem Grafen geht es gut. Keine Polizei. Der Automat legte auf.

Ich setzte mich.

»Red schon«, drängte Clemens.

»Ich brauch ’nen Schnaps«, fand ich. Wenn das kein Grund war, was dann.

Clemens brauchte offensichtlich auch einen, eilte zur Bar, kam mit zwei ordentlich gefüllten Gläsern zurück. Seine Mutter warf ihm einen bösen Blick zu. Er gab ihr eines der Gläser und holte für sich ein neues.

Ich erzählte, was mir aufgetragen worden war. Dass der Graf ruhig und gesund geklungen hatte und dass die Stimme des Entführers verzerrt gewesen war. »Elektronisch oder so.«

»Natürlich elektronisch. Das ist heut überhaupt kein Problem mehr«, nörgelte Clemens. Er als Programmiergenie musste es ja wissen.

»Er wird sich wieder melden. Fünf Millionen auf ein Schweizer Nummernkonto sollen es werden. Noch kein Übergabeort oder Zeitpunkt.« Ich schnüffelte an dem wunderbaren Getränk. Ein Grund mehr, lange an dem Fall dran zu bleiben.

Meine Nase im Glas schien Hermine bemerkt zu haben.

»Du scheinst dich damit auszukennen. Sollte mich das wundern?«, merkte sie in einem unerwartet charmanten Tonfall an.

»Ich versuche, ordentlich zu recherchieren, womit ich es zu tun bekomme«, antwortete ich ebenso sanft und beugte mich nahezu lasziv über ihr Gefährt. »Wir müssen uns morgen Abend wieder treffen. Ist die Zeit wie heute in Ordnung oder lieber später?« Ich hoffte auf spätere, größere Bereitschaft, irischen Whiskey auszuschenken.

»Was machst du morgen?«, wollte Clemens wissen.

»Ich schau mir den Familiensitz derer von Grafeneck in Ebermannstadt an. Das hat so alles keinen Sinn. Kannst du mich anmelden? Erklär ihnen irgendwas, aber kein Wort von der Entführung. Ist das klar?«

»Also hör mal Daniel, wie redest du mit meinem Sohn? Etwas mehr Respekt bitte!« Frau Becker, wie sie leibte und lebte. Und nicht einmal in so einer Situation aus ihrer arroganten Haut konnte.

»Sehr verehrte Frau Becker, entschuldigen Sie meine Arbeitsweise. Ich will hier niemanden verletzen. Aber den einzigen Respekt bringe ich grade für den oder die Entführer auf. Die haben die Fäden in der Hand und wir sticheln hier gegeneinander rum. Das muss aufhören.« Ich musste durchatmen. Der Satz war zu lang. »Wenn wir den Grafen lebend wiedersehen wollen.« Irgendwie hatte ich Brigitte unterschlagen. Aber da war ich nicht der Einzige, was mir erst viel später bewusst gemacht wurde.

Ernüchtert verließ ich die Villa.

»Und das nennst du einen erfolglosen Detektiv?« Hermine Becker ließ kaum Berbers Geruch aus dem Salon, schon beschimpfte sie ihren Sohn.

»Mama, das ist gar nichts. Diese zwei Ehen kann jeder herausbekommen. Das ist kein Geheimnis. Das wird genau so, wie wir das geplant haben. Morgen wird er Marius verwirren und dann geht es weiter ...«

»Ach was!«, schimpfte sie. »Wir haben Daniel engagiert, weil wir sicher waren, dass er sich vor lauter Ehrgeiz mehr im Weg stehen wird, als dass er irgendwann merken würde, einer nicht stattgefundenen Entführung nachzuspüren. Er muss sich gefälligst auf Marius fixieren, egal wie du das anstellst. Der muss nervös werden, dann macht er auch Fehler. Und das mit den fünf Millionen fand ich ganz schön übertrieben von Wolfram. Seine Fleischverschiebungen sind mir egal. Aber unser Ruf, unser guter Name darf nicht mit hineingezogen werden.« Sie schluckte kurz. »Hol mir noch einen.«

Clemens schlich mit eingezogenen Schultern zur Bar und hätte auch die ganze obere Etage durchqueren können, ohne es zu bemerken. Er war woanders. Irgendwo, nur nicht hier sein, das war im Moment sein sehnlichster Wunsch.

Für sein Gefühl kam er viel zu schnell zurück.

»Na das hat ja gedauert«, bedankte sich seine Mutter.

»Wonach riecht’s hier denn«, wollte ich wissen, als mir schon im Flur meiner Tochter ein eigenartiger Geruch in die Nase stieg.

»Risotto«, antwortete Lisbeth laut von irgendwo, »und ja, ich freu mich auch, dass du da bist.«

»Risotto und was dazu?«

»Risotto und Risotto.« Das klang nach einer Antwort auf eine blöde Frage.

»Hast du extra gewartet«, wollte ich wissen, hob den Topfdeckel und schnüffelte tief hinein. So auf die Nähe roch es besser.

»Hab ich nicht. Aber ich nehme mir gerne noch einen kleinen Teller – falls du was übrig lässt.«

Meine Tochter. Wohl ganz schön von ihren Kochkünsten überzeugt. Von mir hat sie das nicht. Mir reichte es, eine gewisse Qualifikation beim Essen erlangt zu haben. Nur übertroffen vom Trinken.

Es schmeckte, ich nahm mir eine zweite, kleine Portion.

»Kannst du auch andere Telefone aufspüren, Tochterherz? Ach so ja, bevor ich es verg-esse ... weg-esse ... schönes Wortspiel, nicht ... schmeckt gut. Doch.«

Lisbeth überging mein Lob mit einem kleinen Lächeln.

»Wenn du eine Nummer hast und das Telefon an ist – kein Problem.« Sie knüllte ihre Papierserviette in den Teller, schob ihn weg und platzierte auf dem vorgewärmten Tischplatz ihren Laptop. »Nummer?«, schaute sie mich fragend an.

Ich sagte sie ihr, sie tippte sie in ihr Programmfenster und wartete.

»Ist das der Entführer«, wollte sie wissen.

»Keine Ahnung. Womöglich. Jedenfalls hat mich jemand angerufen, der fünf Millionen will.«

»Da kann ich mich nur anschließen. Wann war der Anruf und wie lang? Was haben denn die Beckers gemeint?« Lisbeth konzentrierte sich auf ihr Programm, öffnete nebenher eine Datei und machte sich Notizen.

Ein Button blinkte auf, Lisbeth holte die Seite nach vorn. Gespannt schaute ich ihr zu. Machte alles einen schrecklich professionellen Eindruck, was sie da tat.

»Der Anschluss ist auf den Namen Wolfram von Grafeneck gemeldet.« Sie schaute mich an. »Wusstest du das nicht?«

Irgendwie hatte ihr Blick etwas Strafendes.

»Nein, wusste ich nicht. Hab wohl nicht drauf geachtet, Euer Ehren.« Wirklich zu blöd. Viel hatte ich nicht von den Beckers erhalten, Telefonnummern aber schon. Und ich übersah das. Verdammt. Damit hätte ich sie wunderbar vor Ort konfrontieren können.

Ich goss mir aus dem fränkischen Bocksbeutel den Römer voll. Eines der Gläser, die Lisbeth von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte. In manchen Dingen war sie ganz schön altmodisch. Bis hin zur Oma. Ich lächelte und hielt mich am Glas fest.

Wolframs Handy war leider aus, keine Ortung möglich. Lisbeth bestand darauf, sofort informiert zu werden, wenn mich irgendwer anrief, egal welche Nummer erschien. Nur dann könne sie reagieren. Ich nickte brav, war natürlich etwas enttäuscht. Sah mich schon mit gezogener Waffe in eine verlassene Scheune schleichen und den Grafen befreien. Im Augenblick musste ich mich damit begnügen, Lisbeth alles zu erzählen, was bei den Beckers so geschah. Und zwar haarklein. Jede Regung, jedes Komma, jedes Ausweichen wollte sie wissen. Von Chantal erzählte ich natürlich auch, meiner ersten Tour heute. Morgen wollte ich dem Betriebsleiter Müller am Stammsitz der Familie Grafeneck auf den Zahn fühlen. Mein zweites Glas war leer, langsam wurde ich doch müde. Der Tag war lang und ich musste früh raus morgen.

»Will der Entführer eigentlich fünf Millionen für beide oder nur für den Grafen? Hat der Graf was erwähnt, wie es seiner Frau geht?« Lisbeth schreckte mich so kurz vor dem Feierabend-Modus ganz schön auf. Das war es, was mich irritiert hatte. Brigitte fehlte. Wolfram hatte mit keinem Wort seine Frau erwähnt. Der Entführer ebenso wenig. Die Beckers hatten auch nicht nach ihrer Tochter gefragt. Eigenartig. Und mir war sie wohl auch egal. Sowieso.

Freitag

Ebermannstadt war nun nicht so weit weg, um lange grübeln zu können. Trotzdem hatte ich morgens um acht einen Auftrag für meine Tochter. Von unterwegs simste ich ihr, dass sie von allen bekannten Telefonnummern ein Bewegungsprofil erstellen solle. Ich wollte wissen, wo sich die Leute aufhielten, die mit dem Fall zu tun haben könnten. Ich erwartete nun keine merkwürdigen Verknüpfungen oder plötzliche Reisen in unwirtliche Gegenden. Ich war einfach neugierig. Wenn meine Tochter so etwas konnte, wollte ich es nutzen.

Die Burg war keine Burg. Sie war aber auch keine Villa. Eher so eine Art Gutshaus, das ebenso gut irgendwo in Schottland hätte stehen können, umringt von einer riesigen Schafherde – und viel Nichts. Aus dem dunklen Stein glotzten ebenso dunkle Fenster. Sehr schmal und sehr hoch, halbdurchlässige Schießscharten, die stets den Feind im Blick hatten und Besucher auf Distanz hielten. Zwei nicht sonderlich wohlproportionierte Erker wuchteten sich über Eck aus den Giebelseiten und endeten in mit Schiefer gedeckten Dächern. Sie liefen so hoch und spitz aus, als wollten sie die peinlich dicken Erker überspielen.

Marius Müller geleitete mich – ja, er geleitete mich – in den ersten Stock des Hauses. Nicht ohne die eine oder andere Erklärung mit dazugehörigem Fingerzeig abzusondern.

»Da drüben im Südflügel sind die Privaträume der Familie. Und wir kommen jetzt zum Verwaltungstrakt, der im Nordflügel untergebracht ist.« Im Verlauf seiner Erklärungen neigte sich seine Stimme dem gleichen schattigen Gefühl entgegen, das der Verwaltungstrakt auf mich ausstrahlte.

»Clemens Becker hat Sie natürlich angekündigt.«

Irgendwas lag in Müllers Stimme, das mir nicht gefallen wollte. Und es lag sicher nicht an seinem schattigen Büro, das groß war und genügend respekteinflößend möbliert. Ich fand es eher kitschig. Und nickte, in der Hoffnung, freundlich genug zu wirken. Immerhin war er mein Chef. Und Clemens irgendwie ja auch. Trotzdem keine komplizierte Lage für mich, schließlich war ich Privatdetektiv, da konnte es vorkommen, mehreren Herren zu dienen. Loyalität wird sowieso völlig überbewertet.

»Haben Sie sich schon eingewöhnt? Hatten Sie eine gute Tour mit Chantal?«

»Was hat Clemens denn gesagt?« Müller ging mir auf die Nerven. Es ging ihm um alles mögliche, nur nicht um das, wovon er redete.

»Dass er Sie engagiert hat. Sie sind also Privatdetektiv«, stellte Müller so emotionslos wie möglich fest.

»Im Prinzip ja«, antwortete ich und überlegte, wie schnell ich mit der Tür ins Haus fallen sollte. Sehr beeindruckt schien er nicht von meinem Beruf. Schließlich hatte er mich als Fleischfahrer angeworben. »Ich ermittle für Privatpersonen, denen die Wege der offiziellen Organe nicht direkt genug sind. Oder die Dinge herauskriegen wollen, die offiziell überhaupt noch nicht bekannt sind.«

Müller nickte. Sein Interesse schien zu wachsen. Oder er hatte die Gabe, es geschickt zu simulieren. »In welcher Kategorie wären nun Sie unterwegs? Falls das keine zu indiskrete Frage ist, Herr Berber. Und das Ihr richtiger Name ist.«

»Sie können ein Geheimnis für sich behalten?«, fragte ich Müller und stierte ihn mit großen Augen an.

»Ja, natürlich«, beeilte er sich, in der Hoffnung, sofort etwas ganz Wichtiges zu erfahren.

»Ich auch.« Zugegeben, meine Antwort war lapidar. Müllers Reaktion dafür unangemessen.

»Nun machen Sie mal keine Späßchen, Berber. Sie schleichen sich in eine Firma, lassen sich enttarnen und spielen den großen Geheimnisträger. Da muss doch was dahinterstecken.«

Es war eine Freude, Müller zuzuhören. Er explodierte bis zum dritten Wort und schraubte sich krampfhaft bis zum letzten zu einem sachlichen Ton wieder herunter. Ganz Herr der Lage setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und thronte vor sich hin.

Das konnte ich auch. Schweigend ging ich die drei Schritte auf ihn zu, setzte mich auf die Tischkante und beugte mich zu ihm hinunter. Ganz vertrauensvoll schaute ich ihn an und sagte: »Es geht um eine Entführung. Brigitte und Wolfram von Grafeneck sind verschwunden.«

»Was!? Auch noch ent...?« Müller sprang auf, ein Reflex, den er eine Sekunde später schon bereute.

Langsam ließ er sich wieder nieder, schüttelte den Kopf.

Und schwieg. Betretene Miene.

Was meinte er mit »auch noch«? Ich verstand ihn nicht. Während wir uns bedeutend anschwiegen, fragte ich mich, ob Chantal heute alleine ihre Tour machen musste oder ob ich irgendwo zusteigen konnte. Aber eigentlich hatte ich andere Pläne. Jetzt, wo ich schon mal im Haus des Grafen war. Spurensuche.

»Haben Sie einen Hinweis? Gibt es irgendwas, woraus man schließen könnte, warum jemand so etwas tut? Ist die Polizei ...?«

Müller ließ die letzte Frage offen und schaute mich erwartungsvoll an.

»Die Polizei bin in diesem Fall ich, Sie verstehen. Die Beckers wollen keinen großen Aufmarsch. Und mir hilft es. Und über Hinweise ... über Hinweise rede ich nicht. Da halte ich es ausnahmsweise mal wie die Polizei.« Ich musste kurz durchatmen, lange Redebeiträge waren wie gesagt nicht mein Ding. »Trotzdem muss ich natürlich auch ähnliche Fragen stellen.«

Müller nickte. Keine Ahnung warum. Wofür hatte er Verständnis? Für meine noch nicht gestellten Fragen?

»Der arme JR«, seufzte er. Ich schaute ihn an.

»JR nennen wir den alten Becker. Alle nennen ihn so. Johannes Richard. JR gefiel seiner Gattin besser, als wenn ständig alle ›der Alte‹ sagten.«

»Was meinen Sie mit ›gefiel‹? Lebt er nicht mehr?« Hatte ich deshalb den alten Becker nicht gesehen? Von wegen Tagung ...

»Nein, keine Sorge, ganz munter ist der alte Herr. Die Seele seiner Firma. Lang möge er noch wirken können, ist immerhin auch schon einundachtzig.«

»Wo waren Sie gestern zwischen 20 und 21 Uhr?« Es wurde Zeit, ich wollte mein Geld nicht nur mit Geplänkel verdienen. Ungläubig schaute mich Müller an, schüttelte den Kopf.

»Das glaub ich  jetzt nicht. Brauch ich ein Alibi? Wurde Wolfram zu der Zeit entführt?«

Seine Frage war wirklich blöd.

»Wir einigen uns auf folgende Verfahrensweise, dann geht das schneller. Ich stelle die Fragen, Sie antworten. Und es tut auch gar nicht weh. Ich bin seit vorgestern im Dienst, aber erst gestern soll die Entführung gewesen sein. Ganz schön vorausschauende Familie wäre das. Finden Sie nicht? Vielleicht hat ja ein ganz anderer einen viel größeren Weitblick. Also, wo waren Sie?«

Müller blätterte in seinem Kalender, als gelte die Frage einer längst vergangenen Zeit. Er tippte mit dem Finger gewinnend auf einen Eintrag in seiner Ledermappe. »Sehen Sie, Kegelabend mit dem Gemeinderat. Nicht, dass ich gern kegeln würde. Geschweige denn gut. Aber manchmal muss man sich eben in die Brandung begeben, um auf den Wellenspitzen zu reiten.« Und schon lächelte er mich an. »Sie verstehen, was ich meine.«

Ich verstand, was er meinte. Und nickte. Einen größeren Beitrag wollte ich dazu nicht leisten. Er hatte also ein Alibi.

»Haben Sie mir eine Telefonnummer und einen Namen von einem der Herren?«

»Wollen Sie bei den Honoratioren mein Alibi prüfen? Sind Sie noch bei Trost?« Müller stand auf, postierte sich nah vor mich. Ich blieb sitzen. Er war zu schmal für eine Gefahr.

»Ja.« Manchmal reichte ganz wenig.

Müller schnaubte. Ungelenk bewegte er sich durch sein großes schattiges Büro. Auf der Suche nach einem bestimmten Gang, einer bestimmten inneren Haltung, die er präsentieren wollte. Jede, nur nicht die eines Verdächtigen. Kopfschütteln, am Fenster stehen und nachdenklich hinausschauen, erneutes Kopfschütteln. Sein Blick klebte an etwas draußen, sicher kein Feind, vielleicht ein Besucher. Auf keinen Fall etwas, das ihm weiterhalf.

»Was sagt JR dazu? Seine Tochter ist ihm heilig.«

»Ich weiß leider nicht, was er dazu sagt. Er ist bei einer Tagung.«

»Bei was für einer Tagung? Was ist das denn für ein ...« Müller unterbrach sich. Schon wieder. Besann sich, was er nicht sagen sollte, besann sich, was er sagen konnte.

»Sollte er denn nicht ...?«, meinte ich und ließ auch meine Frage offen.

Müller drehte sich zu mir, seine Gesichtsfarbe tendierte mittlerweile Richtung Schweineblässe. Chantal fiel mir ein. Wobei sie eher nichts für ihren Teint konnte. Keine Ahnung, warum ich an Schweine denken musste. Müller war angestrengt, bei ihm führte das zur Blässe. Andere bekamen einen roten Kopf.

»Ich bin nun wirklich nicht über jeden Schritt der Familie informiert. Kann schon sein. Der Alte hat immer noch Kontakte zu den wichtigsten Siemens-Leuten. Auch den inoffiziellen. Da geht immer was. Der war und ist ein großer Erfinder. Und sein Sohn nicht minder.« Er schmunzelte über seinen Reim.

»Ich würd mich gerne mal im ... wie nennt man das hier eigentlich? ... äh, ja ... im Haus umschauen. Kann sicher ’ne Weile dauern. Macht ja nicht gerade einen übersichtlichen Eindruck. Gibt es hier jemanden, der nach dem Rechten sieht. Hausmeister, Putzfrau, Butler oder so?« Ausnahmsweise hoffte ich, dass mein Neid nicht zu spürbar herausklang.

Ich erntete ein kraftloses Nicken. Er dachte. Oder überlegte. »Ja sicher, ist ja Ihr Job. Warten Sie ... ja, Friedrich kann Sie führen. Er macht hier quasi alles. Garten, Autos, Elektrik.«

»Das klingt gut. Danke. Und Sie können in der Zwischenzeit überlegen, wen ich wegen gestern fragen könnte, ohne dass es morgen gleich das ganze Dorf weiß.«

Ich erwartete einen gebrechlichen Mann, der bei Grafens sein Gnadenbrot mit allerlei undankbaren Arbeiten fristen durfte. Aber Friedrich schwebte mir entgegen, als fänden es seine Füße unangemessen, das schnöde Parkett zu berühren. Groß, drahtig, gut gebaut, lächelnd – ein alle Attribute, die man sich selbst andichten möchte, in sich vereinender altersloser Elfe streckte mir seine Hand entgegen. Und lächelte weiter, ganz ehrlich.

Also das mit dem Händeschütteln ... ich weiß nicht ...

So einen Friedrich hätte ich auch gerne. Wobei mir eine Friederike natürlich lieber wäre. Wenn man mich fragen würde.

Ob ich etwas zu finden hoffte? Was ich suchen sollte? Keine Ahnung. Dank Friedrichs Unterstützung bekam ich wenigstens einen kleinen Überblick in die Gewohnheiten bei Grafens. Getrennte Schlafzimmer, zwei Bäder, dazwischen ein Fitnessraum mit Fernseher. Das Ding war so groß wie meine halbe Wohnzimmerwand. In der Südwestecke eine Art Salon mit Büroecke und Bibliothek. Sah irgendwie nur nach Dekoration aus. Unbenutzt. Die Bücherwand zog mich mehr an als Brigittes Schlafzimmer. Schnell erkannte ich den Grund meiner Neugier. Kein einziges Buch mit einem knallig bunten Buchrücken, fein wie nach Farben oder Größen sortiert, ständig ähnliche Blöcke ab fünf Büchern aufwärts. Gesammeltes Wissen vergangener Tage. Ich war eher interessiert am Geschehen der letzten Tage. Bisher folgte mir mein Schatten schweigend. Was wusste Friedrich?

»Sie sind am Mittwoch mit dem Rover weggefahren. Ich sollte den Wagen noch gründlich checken. Was mich wegen einer kurzen Tagesfahrt etwas wunderte. Meine Fahrzeuge sind stets bestens gewartet.« Gegen Ende klang Friedrich fast beleidigt.

»Hatten die beiden ein Ziel genannt? Wo wollten sie hin? Gab es Gepäck?« Ich setzte mich auf die Kante des Designersofas und schaute zum Fenster raus. Ein schöner Platz für eine Doppelliege mit Blick zum Abendrot. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie sprach ich Brigitte jede Art von Romantik ab. Trotzdem, ein schöner Platz.

Friedrich fühlte sich nicht angesprochen, schaute auch aus dem Fenster und erwartete wohl schon morgens das glühende Abendrot.

»Friedrich. Was meinen Sie? War etwas anders als sonst? Heitere Laune auf einen Ausflug, geschäftiges Agieren wegen einer großen Transaktion, besorgte Mienen wegen eines Trauerfalls?« Ich hatte keine Lust, Friedrich mit verbalen MultipleChoice-Vorlagen zu füttern, damit er nur noch nicken musste, wenn etwas dabei war. »Herrgott, jetzt denken Sie doch mal nach!«

Ich stand auf und erwartete gleichzeitig eine Antwort.

»Gibt’s hier eine Küche«, fragte ich und war schon auf dem Weg zum Mitteltrakt.

»Hier lang, ist kürzer«, winkte Friedrich und schob mich eine schmale Wendeltreppe hinunter. »Der Graf räumte den Wagen leer, sogar die Golftasche stellte er in die Garage.« Friedrich suchte die Bedeutung dahinter, dachte auffallend nach und zuckte mit den Schultern. »Als ob er Platz brauchte im Rover. Dabei ist das nun wirklich kein kleiner Wagen, wissen Sie.«