die Zeit der Zeiten - Georg Steinweh - E-Book

die Zeit der Zeiten E-Book

Georg Steinweh

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Beschreibung

Fred, Zeit seines Lebens Egoist und Zyniker, erbt sein Elternhaus, kehrt nach 18 Jahren zurück an den Bodensee. Die Eltern waren Fischer, seine Mutter ertrank, als er ein Kind war. Renie, eine Schweizer Immobilienspekulantin, will sein sehr attraktives Anwesen kaufen. Dafür beginnt sie sogar ein Verhältnis mit ihm, das sich aber zur Liebe entwickelt. Schlafwandelnd entdeckt er das versteckte Chemielabor seines Vaters und schafft es durch Zufälle, dessen geniale Erfindung zu Ende zu führen. Mittels dieses Botenstoffs und der hinterlassenen Tauchausrüstung gelingt ihm eine Zeitreise nach Konstanz um 1415. Die Stadt platzt wegen des Konzils mit 70.000 Menschen aus allen Mauern. Freds Profession als Koch erleichtert ihm im Mittelalter kurzfristig Zugang zu dieser fremden Welt. Die Freundschaft mit dem armen Straßenjungen Paul sorgt dafür, dass sich Fred zu einem empathischen Menschen entwickelt. Er bekommt Albträume, befürchtet, wie Hus auf dem Scheiterhaufen zu enden. Wieder zurück, verzagt er und scheitert fast daran, all das Erlebte zu verarbeiten. Um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Für sein Haus, seine Zukunft, seine Liebe.

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Georg Steinweh war während seiner Schulzeit drei Jahre lang Minigolf-Pächter, Shakespeare-Fan und Motorrad-Schrauber. Nach dem Kamera-Studium in Berlin drehte er weltweit Imagefilme, Dokumentationen und SWR-Tatorte.

Zwischendurch erzählte er seinen drei Kindern selbsterfundene Einschlafgeschichten. Die Kinder sind aus dem Haus, die Phantasie lässt sich nicht stoppen …

Weitere Veröffentlichungen am Buchende

Informationen über den Autor und seine Werke:www.georg-steinweh.de

Figuren

Fred Keller ist Koch und Restaurantbetreiber in Bacharach. Trifft am Bodensee seine alte Freundin Mara wieder. Unfreiwilliger Erbe, Chemiker und Zeitreisender. Anfangs egoistisch, wandelt er sich durch seine außergewöhnlichen Erlebnisse

Renie Tiez, eine schöne Maklerin, hat mit ihrem Chef Marc Lüti ein Verhältnis, tut alles für ihre Karriere. Schleicht sich in Freds Leben, verliebt sich in ihn und hofft auf ein Happy End. (ihr Name ist ein Anagramm: „Einer Zeit“ …)

Mara Sieder – eine Jugendfreundin von Fred – unterstützt ihn als vertraute Freundin. Sie ist eine leidgeprüfte Frau und plant durch den Verkauf ihrer Wiesen ein schöneres Leben mit ihrer Tochter Lisa.

Gunnar von Falkenstein Notar in Hemmingen, geschäftlich verbunden mit Lüti-Boden, die Ufergrundstücke aufkaufen wollen. Hat ein etwas merkwürdiges Liebesverhältnis zu

Carola Serlbacher, seine Sekretärin. Sie trat die Nachfolge ihrer Mutter an (auch im Bett) und lebt zwei unterschiedliche Leben. Trennt sich von Gunnar wegen seiner Geschäfte.

Ferdinand Beißwanger arbeitet an der Jubiläumschronik des Konzils. Dabei stößt er auf Fred, der seiner Meinung nach zu viel Wissen aus der Zeit hat. Trifft, obwohl notorischer Single,

Friederike Schmal, die in der Uni-Bibliothek arbeitet und im Zweitjob als Fremdenführerin Geld verdienen muss – was Beißwanger nicht wissen darf. Eine reizende Person.

Mittelalter

die Herrin leitet das Kranichhaus (Dirnenhaus)

Runold und Irmtraut Dienstboten der Herrin

ein Dutzend Dirnen versorgen die Kundschaft – und Fred

Paul ein aufgeweckter Junge. Er freundet sich mit

Fred an und ist schuld daran, dass Fred lernt, Verantwortung zu tragen.

drei Päpste auf der Flucht, ohne Einsicht, ohne Wahl

König Sigismund ein Kämpfer, Prasser, Zechpreller

Pfaffen, Herolde, Hus, internationale Marktbeschicker …

Motive

• Bodensee, die Höri, Gaienhofen

hier war Fred Kellers Lebensmittelpunkt, bis er 18 war

• Bacharach am Rhein

hier hatte Fred sein florierendes Lokal

• Bodensee, auf der Höri, Gaienhofen, Hemmingen, u.a.

hierher kehrt Fred zurück, trifft Menschen, die ihn lieber nicht getroffen hätten und manch andere …

• Konstanz Arbeitsplatz von Beißwanger, Uni-Bibliothek mit zeitweisenden Informationen

• St. Gallen

Sitz von Lüti-Boden, einem internationalen Immobilien-Unternehmen. Maklerin Renie Tietz heckt alles verändernde Pläne aus – und verbirgt in ihrem Namen ein Anagramm

• Konstanz um 1415 das Konzil, magischer Anziehungspunkt für Neugierige aus der ganzen Welt, die das Ende des Schismas miterleben wollen – und die Wahl eines einzigen neuen Papstes. Und die Verbrennung des ketzerischen Hus. Berstende Wohnstätte für 70.000 Menschen. Märkte, Dreck, Bordelle, Menschen, Ängste: alles prasselt auf Fred nieder.

Inhaltsverzeichnis

die GelegenZeit

was für ein Raum

staubige Erinnerungen

kein Paradies

ein Lokal, ein Freund

frühe Erkenntnisse

nicht nur ein Mustang

ein Bild von einem Notar

Gedanken, Briefe, Zeitung

ein Gefühl, kein Geschäft

Mara – was für eine Aussicht

kein guter Morgen

eine Seefahrt verändert vieles

ein Mustang, eine Strategie

Freds gedankliche Abstecher

Fernblick, kein Weitblick

zwei in einem Boot

etwas viel für einen Tag

eine falsche Renate

die doppelte Serlbacher

vom Sie zum Du zum Sex

wieder eine verlorene Nacht

aus einer anderen Zeit

Ferdinand und Friederike

morgens schon Missverständnisse

Spuren zum Geheimnis

Wissenschaft, die Wissen schafft

Botschaften und Telefonate

Scherben der Vergangenheit

Renies Prioritäten

ein Labor ist keine Küche

Maras Wiese

der Spekulationssee

Möwen und Träume

das begehrte Buch

eine Tauchausrüstung?!

Möwen, Enten, Sensationen

Freds neues Medium

ein doppelt aufgelöster Beißwanger

Dreieckstelefonat

Eifersucht Leiden schafft

Chemie oder Logik, dazu Richental

was für ein Sonntag

die VergangenZeit

wo ist hier?

die Vier-Säfte-Lehre

ins Kranichhaus?

drei Päpste, ein Elend

… 1417, 1418, ohne Fred

Dachse, Veroneser, Riviglio

der Koch der Hübschlerinnen

der Klerus

Massen, Gassen, Würdenträger

Freds erste Belohnung

des Kochs neue Kleider

erst Paul, dann Hus

Freds Wegeplan, Pauls Führung

Fred, der Kümmerer

Albträume, Feuerängste

Traum der Entscheidung

träumen, trennen, tauchen

die WahrZeit

die Wahrheit der Gleichzeit

Albträume, gegenwärtige

zu laute Gedanken

zwei Welten

die zweite gleiche Zeit

Frauenthemen?

zwei Storys, zwei Zeiten, zwei …

Fehlinterpretationen

auch Carola hatte Pläne

Hirngespinste – oder doch ein Déjà-vu

Freds Schwäche

Renies Leid, Maras Freud, Freds Chaos

ein kranker Phantast?

tierische Nähe

gefährliche Schritte

Tag vieler Entscheidungen

die Zeit der Zeiten

Dank

Was zu denken wäre

Jede Erzählung, jedes Gedicht entspringt größtenteils der Phantasie. Dem Drang, etwas mitzuteilen, dem Druck, die Fülle von Erfahrungen und Emotionen in Worte zu fassen.

Dann kommen Verlage und suchen Schubladen für diese Texte. Und plötzlich wird aus Phantasie: Zeitgeist, Historisches, Fantasy, Liebesgeschichte.

Diverse Schubladen auf einmal öffnet die folgende Geschichte.

die GelegenZeit

04.07.2012 was für ein Raum?

Das Papier klebte an den Fingern, die Zeilen entglitten dem Verstand. Überm Buch ein harter Schatten, die linke Hand hielt ein luftdicht verschlossenes Glas in den Strahl der Leselampe.

Blutverkrustete Glassplitter neben einer akkurat aufgereihten Auswahl unterschiedlich hoher Gläser. Zwei düstere Ecken wurden von irgendeiner Lampe angestrahlt, nur um den ganzen Rest noch mehr im Dunkel, im Ungewissen zu lassen. Ein Geheimnis aus Dingen zu machen, die entweder nicht existierten oder bei hellem Licht banal wären.

Im auslaufenden Schein der Tischlampe links vor dem Eckregal wurden Chemikalien sichtbar. Alphabetisch aufgereiht, sicher über zwanzig. Eine Reihe darunter ebenso viele Kräuter und Wurzelmixturen, fein säuberlich beschriftet, Druckbuchstaben auf weißen Etiketten.

Auf einem etwa schulheftgroßen schwarzen Samttuch glänzten silberne Werkzeuge, wie bei einem Zahnarzt oder Modellbauer. Die metallene Feinwaage daneben verlieh dem Arrangement einen unwirklichen Chic. Sie präsentierte sich aufdringlich, warf das Licht der Lampe von ihrer matt gebürsteten Stahlplatte an die poröse Sandsteinwand. Die ovale Reflexion streifte noch den schlichten, aber praktischen Holzständer für Pipetten und Reagenzgläser. Arbeitsutensilien, wie sie seit Hunderten von Jahren benutzt wurden.

Rechterhand die gleiche Leuchte wie links, festgeschraubt an der Stirnseite eines weiteren Holzregals. Der Schwanenhals der Lampe wirkte unglücklich verdreht und hielt den Lampenschirm schräg, ein Wunder, dass er nicht herunterfiel. Kein Fünkchen Licht fiel auf die großzügig bemessenen Arbeitsfläche, der Schein der Lampe sollte offensichtlich nur die auffällig spitz zulaufende Ecke beleuchten.

Millimetergenau fügte sich die dicke Resopalplatte an die Wand, das Regal darüber keilte sich in die Ecke, es wuchs schier aus dem Sandstein und verdeckte mehr als zwei Meter. Es war still im Raum. War es ein Raum?

Scheinbar nicht zusammengehörige Gerätschaften und Mobiliar: eine Kammer für Überflüssiges, bereit für ein Rätsel. War das alles? Hin und wieder raschelte Papier, mal zaghaft, mal energisch, fast ungeduldig. Ja, hier wurde umgeblättert. In einem Buch oder Heft. Dann wieder ein faszinierter Blick über dieses Sammelsurium, schon fühlte sich die Phantasie aufgefordert, das nächste entdeckte Detail, das nächste Geräusche mit eigenen Bildern zu versorgen. In diesem Regal hier, dem rechten mit der Lampe, verschieden große Büchsen, Gläser, Schachteln. Eine Holzprobe im Wasserbad, versiegelt in einem Einmachglas. Ein Stück Holz in einem Einmachglas?

Das Buch wurde zugeschlagen und auf den kleinen ovalen Tisch gelegt, der gerade so unter die umlaufende Arbeitsfläche passte und fast zur Hälfte hervorstand. Wie ein Auge, das unter dem halboffenen Lid noch irgendwo etwas erspähen wollte.

Flirrte da Staub vom Tisch, von genau der Stelle, wo vorher das Buch lag? Der Blick stieß an, den Geräuschen folgend. In der rechten Ecke stapelten sich Schächtelchen mit Stoffresten, Fotos, Alben, Leitzordner. Rechts um den spitzen Winkel – sicher kaum mehr als 40 Grad – sortierten sich … Plötzlich ein Geräusch von links. Aus dem großen Regal wurde ein Buch gegriffen! Welches? Von wem? Zurück blieb eine Lücke zwischen Büchern. Vielleicht dreißig, vierzig. Über ‚Heilkräuter’, ‚Hexenkräfte’, eine gebundene Doktorarbeit ‚Von der Alchimistenküche zum Chemielabor’. Nicht gerade die typische Literatur eines Fischers. Daneben Manuskripte, die Weltuntergang und Himmelskunde thematisierten.

Es brummte. Unnachgiebig legte sich ein ratterndes Geräusch über die mühsam gesammelten Bilder, füllte die stillen Lücken. Ein Generator in diesem Zweckverband aus Labor und Bücherei? Eine Tür schlug zu. Nicht groß, nicht laut, gummigefedert. Fast gleichzeitig wurde wieder geblättert, Seite um Seite, zügig, auf der Suche nach ... wonach? Von wem? Waren die Fingerkuppen benetzt, um das Blättern zu erleichtern? Das Papier klebte an den Fingern, die Zeilen entglitten dem Verstand. Überm Buch ein harter Schatten, die linke Hand hielt ein luftdicht verschlossenes Glas in den Strahl der Leselampe.

Dreiviertel voll Wasser oder einer ähnlich klaren Tinktur, darin ein daumengroßes Stück Holz, von einem Stein unter die Oberfläche gedrückt. Etwas konisch, ein Holznagel vielleicht, Fred stellte es nach ergebnisloser Betrachtung wieder zurück in den Kühlschrank. Genau an die vorherige Stelle. Das wieder gut beleuchtete Buch wurde zugeklappt, „Dendrochronologie und Archivierung“ stand in weißer Helvetica halbfett auf einem verblichenen Bilduntergrund, einer Holzscheibe mit imposanten Jahresringen. Sicher kein Vesperbrett.

Ruhig, fast mechanisch schob Fred das Buch an seinen Platz zurück, blieb einige Sekunden vor dem Regal stehen. Suchte er etwas Bestimmtes? Drehte sich zum Tisch. Der Aufbau dieser eindeutig chemischen Versuchsanordnung behielt ihren Sinn für sich. Er war erschöpft, ohne es zu spüren. In Fremdes eingedrungen, ohne sich zu wundern. Ignorierte die fehlende Raumhälfte, ohne sie zu vermissen. Übergangslos verlor Fred jegliches Interesse an diesen rätselhaften Ort. Von außerhalb dieses Raums schloss er ordentlich die Tür, die, kaum hatte er die Hand weggenommen, nicht mehr auszumachen war. Setzte Fuß vor Fuß aufwärts die steile Holzstiege in einem Licht, das wenig mehr war als nichts, mit einer Sicherheit – die nur einem Schlafwandler zu eigen war.

Wie von Marionettenfäden gezogen bewegte sich Fred durch die Stube, die so gar keine gute für ihn war, nach draußen. Wie er fast zärtlich mit den Fingerspitzen über jeden Tisch, über jede Stuhllehne strich, die sich ihm scheinbar in den Weg stellte, nahm er gar nicht wahr. Der Raum und die Zeit, die sich hier unten verbündet hatten, waren auf dem besten Weg, eine unauffällig begonnene Schlacht gegen einen Unzugänglichen zu gewinnen, der weder mit dem einen, noch mit der anderen etwas anzufangen wusste.

05.07.2012 staubige Erinnerungen

Lustlos beschickte Fred die Kaffeemaschine und wunderte sich, wie vertraut all die Handgriffe in dieser fremden Umgebung geworden waren. Fast hätte er gedacht, in dieser ungeliebten Umgebung. Denn zu allem Übel schlief er auch noch schlecht, fühlte sich gerädert, ausgelaugt. Als beharre das Haus auf dem Recht, ihn nicht willkommen heißen zu müssen. Für ihn war das Beweis genug, sich damals richtig entschieden zu haben. Aber musste er sich für irgendeine Entscheidung rechtfertigen? Wem gegenüber?

Es ist schließlich mein Leben, um das es hier geht. Schon immer, stachelte er sich auf.

Er goss sich Kaffee ein, schwarz, zwei Löffel Zucker, umschloss die bauchige Tasse mit beiden Händen und bewegte sich einmal mehr langsam durch die oberen Räume. Sein Blick streifte die Einbauschränke, suchte Erinnerungen. Sein Kopf streifte den Türsturz.

Ist mir früher gar nicht aufgefallen, ganz schön niedrig diese Decken.

Ein volles Bücherregal füllte die Wand zwischen der Wohnstube und der Küche.

Eigenartig.

Langsam ging er am Regal entlang, als registriere er die Titel.

Was macht ein vergrämter Fischer, wie mein Vater einer war, mit so vielen Büchern? In einem Haus, das unten eine verstaubte Besenwirtschaft ist und oben eine Höhle für einsame Leseratten.

Vor knapp drei Wochen war Fred auf der Halbinsel Höri angekommen. Er hatte sich in all den Jahren keine Gedanken darüber gemacht, ob sich hier etwas verändern würde. Es hatte sich alles verändert. Und gehörte nicht mehr zu seinem Leben. Als er, begleitet vom Quietschen des Gartentürchens, die Wiese des ungepflegten Grundstücks betrat, erschien ihm das Haus – obwohl es nicht anders aussah als früher – wie eine Fehlkonstruktion. Eine Zwangsgemeinschaft zweierlei Stile aus zweierlei Bedürfnissen. Ein gemauerter, dicker weißer Ring, der allem trotzte, was einzudringen versuchte. Was völlig sinnlos wäre. In dem Haus gab es nichts zu stehlen. In dem Haus wollte sich auch nichts verbergen. Oder wollte das Haus etwas verbergen? War das der Sinn des Erdgeschosses? War es nicht zu wenig, einer bretterverschalten, schwarz lasierten Fachwerkkonstruktion zur ersten Etage zu verhelfen? Noch dazu mit einem sich unanständig weit auf den See hinausbeugenden Balkon, der die ganze Breite des Hauses dominierte. Und obwohl das Grundstück reichlich groß war, saß das Haus seeseitig auf einem Betonsockel, der mehr als einen Meter ins Wasser ragte. So war der alte Keller. Selbst sein Haus hatte er dem Wasser abgetrotzt.

Aus dem Bücherregal griff Fred ein Fotoalbum, von seinem Wäschestapel kramte er einen weichen Pullover. Der breite Fenstersims, auf dem sich sonst Zimmerlinden und Geldbäume den Platz an der Sonne streitig machten, diente ihm als Kleiderablage. Drei Stapel – die keine waren – hatte er ausgebreitet: weiße T-Shirts und Hemden, einen Haufen Unterwäsche und ein Stapel aus zwei dünnen Pullovern, grün und blau. Die Hosen hingen ordentlich – soweit das ohne Kleiderbügel ging – über einem Sessel. Eine schwarz-weiße Pepitahose, die ihn auch hier zum Koch machte, zwei dunkle Leinenhosen, je eine schwarze und braune Lederhose. Fred war kein Jeanstyp, er hasste dieses „uniformierte Allerwelts-Outfit“. Sein Freund Paul war da ganz anders. Der wurde bei guten Jeans, die gerne über 250 Euro kosten durften, gerne schwach.

Warum leg ich mir nicht einfach ein Kissen unter den Hintern und mach es mir auf der Fensterbank bequem? Der Blick von hier oben ist nicht zu verachten.

Fred hatte immer noch keine Lust, sich großartig zu etablieren – nur nicht das Gefühl aufkommen lassen, man könnte sich hier einnisten, womöglich sogar wohlfühlen. Faul schlurfte er mit seinem Päckchen die Treppe runter in die Wirtsstube. Warf achtlos das Fotoalbum auf einen Tisch und zog den Pulli über – obwohl … er hätte einfach nur vor die Tür treten müssen, schon würde er merken, wie angenehm warm dieser späte Vormittag war.

Morgen um drei wird Jure-Gunnar endlich das Testament eröffnen, endlich Freitag.

Für Fred war Gunnar von Falkenstein nur noch Jure-Gunnar. So wie er ihn in den letzten Tagen erlebt hatte, konnte er ihn nicht mehr ernst nehmen. Diese Tage, diese verdammten Tage hoffte er irgendwann aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Er lebte einen bizarren Traum, in dem sogar der Notar eine surreale Rolle spielte. Er wollte endlich aufwachen und wenn es sein musste, vor Schreck aus dem Bett fallen. Das natürlich in seiner Wohnung in Bacharach zu stehen hatte. Dann würde er auf dem Boden sitzen, über sich lachen und schreien und lachen. Würde sich in den Arm zwicken, feststellen, was wirklich war und sich über seine Phantasie wundern.

Aber noch war er hier, allein, phantasielos. Alter Staub und frische Putzmittel. Ein großes Haus, ein toter Vater, unruhige Nächte, eine stumme Stube. Alles leider echt, kein chaotischer Traum.

Fred stand zwischen den Stühlen, betrachtete wieder einmal den Raum und stützte sich müde auf den Tisch. Der sich keinen Millimeter bewegte. Solide Arbeit. Die Eckbank umklammerte den Raum wie ein dickes ‚U’, war für die Ewigkeit gebaut. Eiche mehr als rustikal. Ebenso der schmale Tresen links an der Tür zur Stube. Der Tisch in der linken Ecke viel größer als die beiden anderen an der rechten Wand.

Sicher der Stammtisch, mit Vorzugsblick zum See. Mehr als 20 Leute waren hier bestimmt nie drin.

Schmale Stühle mit offenen Lehnen, die den Männern den Schweiß des Tages aus den Kitteln zogen. Über den Tischen hingen schmiedeeiserne Lampen mit gelben Glasschirmen. Zur Zeit des alten Keller verbreiteten die sicher ein Licht, das die gemütliche Wirkung des Raumes noch verstärkt hatte.

Von der Fred momentan nichts spürte. Müde setzte er sich, müde betrachtete er das Album.

Was waren die siebziger Jahre bloß für eine Zeit? Geschmacklos ohne Ende, wie das Fotoalbum.

Ein Album, verpackt in pastellfarbene Seifenblasen im Stil der Flower-Power-Jahre. Ganz anders das Hochzeitsfoto der Eltern. Perfekt inszeniert, brav und bieder. Ein steifes, honoriges Zeugnis aus dem Jahre 1969, in zeitgebleichten Farben.

Mamas Haare sehen aus, als könnte sie mit der taftgefestigten Betonfrisur schadlos jede Mauer durchbrechen. Und Vater macht ein Gesicht, als denkt er darüber nach, wie er die Mauer wieder heil bekommt. Was dachte er bloß, als er sein Sterben vorbereitet hatte?

Kann man sein Sterben vorbereiten?

Wie viel Zeit hatte er sich dafür genommen …

Kann man Zeit irgendwo wegnehmen?

… zu planen, mich drei Wochen hierher zu zwingen, und ich kann nix dagegen machen?

Fred blätterte weiter, und mit jeder Seite wuchs der Zorn auf seinen Vater. Er spürte nicht das Glück in den Familienfotos. Sah nicht den strahlenden Vater, der bis weit in die siebziger Jahre immer zufriedener wurde. Schnappschüsse im Boot auf dem See, abwechselnd mit Netz, beide bei der Arbeit. Bilder am Haus, die Mutter hing nicht die Wäsche, sondern die Netze auf. Dann wieder eine Jahreszahl, mit Buntstiften geschrieben, liebevoll ausgemalt: 08.08.1976, seine Geburt. Fotos im Krankenbett, die erschöpfte Vrenie, der stolze Konrad mit dem Baby auf dem Arm, er streckte es dem Fotografen entgegen. Dann ein Foto zuhause am See, im weißen Rahmen, mit Bleistift das Datum: 20. August 1976.

Wahrscheinlich mein erster Seeblick.

Ein Bild voller Zärtlichkeit. Fred betrachtete es wie alle Fotos, als suchte er krampfhaft etwas, als wollte er die Zeit analysieren. Oder recht behalten mit seinem negativen Blick auf den toten Vater, der in jedem dieser Bilder eine Fred fremde Geschichte erzählte. Er wollte sie nicht erkennen.

Keine zwei Wochen war er alt auf dem Foto, seine Mutter drückte ihr Gesicht an seines, sie strahlte und schaute verträumt zum See. Zwei Schritte hinter ihr stand sein Vater, die zu großen Hände im Overall versteckt. Ein schmaler Typ, braune glatte Haare, mit 32 schon ausgeprägte Geheimratsecken und dem Ansatz eines Bierbauchs.

Viel ausführlicher betrachtete er seine Mutter. Ihr schmaler Kopf wirkte durch die ins Gesicht hängenden dunkelblonden Haare noch zierlicher. Schön und zart sah sie aus, war auf dem See ihrem Mann trotzdem ebenbürtig. Ihr Gesicht, ihre Augen sprachen eine sanfte Sprache, das Kinn war schmal und etwas spitz, die Augen grün und klar und – sie hatte eine Stupsnase.

Fred schaute genauer hin.

„Na Mama, für Deine Nase würden heutzutage einige Frauen ´ne Menge Geld hinlegen.“

kein Paradies

Ferdinand Beißwanger war kurz im Paradies. Konnte es aber mit diplomatischem Geschick vermeiden, in die Wohnung namens Septembersuite ziehen zu müssen. Eine Wohnung in einem anonymen Hochhaus – das ging gar nicht. Da half es auch nicht, dass der Wohnblock in besagtem Paradies-Viertel stand, einem Zentrum seiner Recherchen. Allerdings in einem sehr schmalen Zeitkorridor. Beißwanger interessierte sich für Konstanz und seine an der Stadtmauer klebenden Viertel ausschließlich von 1414 - 1418. Und es ging ihm ausschließlich um das Konstanzer Konzil. Anfangs.

Mitten in die Stadt zog es ihn. Bis November würde er in der Hüetlinstraße wohnen, dort hatte ihn sein Verleger untergebracht. Die Vermieter priesen den Wohnraum zwar als Appartement, aber Beißwanger wollte es lieber Wohnung nennen – mit kleinem Bad und noch kleinerer Küchenzeile. Ihm reichte das vollauf. Seine sieben Teesorten fanden Platz, morgens holte er sich unweit vom Haus zwei Croissants und eine Tageszeitung. Als glückliche Fügung wertete Beißwanger außerdem die Tatsache, dieses zartblaue Haus sei zu Zeiten des Konzils gebaut worden.

Was wollte er mehr?

Er lehnte am offenen Fenster und betrachtete das grüne Haus auf der anderen Straßenseite. Ebenso alt wie seines. Die Luft war warm, er genoss in tiefen Zügen den lauen Abend – und seine Gedanken, die ihn heftig umtrieben. Trotzdem war er empfänglich für den Hauch Feuchtigkeit, die eine Brise von der Hafenmole herübertrug. Hin und wieder drang Musik aus vorbeifahrenden Autos nach oben, viel konstanter war allerdings das Gerede der Grüppchen, die an seinem Haus vorbeiliefen, irgendwoher kamen oder irgendwohin gingen. Es war halb zwölf am Abend und Ferdinand Beißwanger arbeitete sich noch immer durch seine Bücher. So spät in den Gassen des späten Mittelalters zu wühlen war für Beißwanger ungewöhnlich. Er war Fan geregelter Tagesabläufe, außerdem Frühaufsteher und konnte sich auf entspannte Feierabende freuen. Es war aber auch ein ungewöhnlicher Tag. Schließlich hatte er noch drei Monate vor sich, um seine Recherchen zum Konzil in ein sachkundiges und pointenreiches Manuskript zu verpacken. Er dachte über diesen Tag nach, ließ ihn Revue passieren, ebenso präzise, wie er sich vorstellen konnte, in welcher Enge und mit welchem Geschrei das Marktgeschehen zwischen Hofhalde und Oberem Münsterhof um 1414 ablief.

Ein Konstanzer Verlag hatte ihn beauftragt, zur 600-JahrFeier des Konstanzer Konzils 2014 eine Jubiläumsausgabe zu verfassen. Das ehrte ihn sehr, verschaffte ihm aber auch eine nicht vorauszusehende Menge an Arbeit. Richtig, er war im Mittelalter zuhause, aber von 1414 bis 1418 war eben eine lange Zeit und die mit plötzlich 70000 Bürgern aus allen Fugen platzende Stadt ein schier unerschöpflicher Brunnen. Der Verlag hatte ihm erlaubt – Beißwanger fand es eher verpflichtend – drei Artikel bis zur Buchveröffentlichung zu verfassen, die in der regionalen Presse auf das Konzilsjubiläum hinweisen sollten. Natürlich würde es sich nicht vermeiden lassen, die zugehörige Jubiläumsausgabe des Verlags dabei zu erwähnen. Beißwanger war das unangenehm, das zu erwartende Zusatzhonorar schmälerte aber seinen Widerstand ebenso wie seinen Hang zur Bescheidenheit.

ein Lokal, ein Freund

Nach den Lehr- und Wanderjahren als Koch hatte es Fred nach Bacharach am Rhein verschlagen, also wieder ans Wasser. Unterbrochen von diesem notwendigen Übel Wehrdienst, den er in einer Gegend verbrachte, die nicht gerade mit landschaftlichen Reizen glänzte. Grafenwöhr. Oberpfalz. Klang und war beides einfach nur schrecklich.

Wie anders der Rhein. Er zog die Menschen an, und sie ließen sich gerne nach Bacharach ziehen. An einen Ort, den vom Frühjahr bis zum Herbst weit mehr Touristen durchpflügten, als Bewohner gezählt wurden. Schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, die von pittoresk renovierten Fachwerkbauten gesäumt wurden. Bemalte Fassaden, geschichtsträchtige Ruinen in Sichtweite, efeu- und weinlaubbedachte Terrassen. Dem folkloresüchtigen Besucher wurde Geschichte quer durch viele Jahrhunderte geboten – der alle paar Meter ausgeschenkte Wein würde sie schon verdaulich machen.

Freds guter Ruf – zumindest was die Küche seiner Gaststätte ‚Zur guten Mahlzeit‘ anging – verbreitete sich wie die Nachricht vom Sieg über die Reblaus. Als er das Lokal übernommen hatte, sprachen zwei Gründe für den Erhalt des Namens, den er etwas abgegriffen fand: erstens tauchte der Name in allen überregionalen Internetauftritten des Gaststättenverbandes auf und zweitens thronte er unübersehbar über den vier Fenstern, die die komplette Hausbreite dominierten. Es war lange her, als die Fassade mit einem geschickt gewählten Ockerton gestrichen wurde. Mittlerweile war schwer festzustellen, was Farbe und was Alterspatina war. Das Thema Namensänderung war also vom Tisch, bevor die erste Suppe serviert wurde. Von heut auf morgen sollte ihm dies allerdings nicht gelingen.

„Wo find ich denn den neuen Besitzer dieses Dornröschenschlosses?“

Fred schaute von seiner leeren Bierflasche auf, in deren braunen Schimmer er sich vertieft hatte. Er saß an einem Gartentisch inmitten seines verwilderten Innenhofes, gab dem Störenfried innerlich Recht, wollte aber seine Ruhe haben.

„Warum?“

Wie der Chef sah er tatsächlich nicht aus. Neben seinen auffallend großen Händen lagen Block und Stift. Die dunkelbraunen Locken waren dominiert von Zementstaub und Holzwolle. Insgesamt also eher die Erscheinung eines relativ großen, relativ trainierten Bauarbeiters in abgewetzter Cordhose. Auffällige grüne Augen, ein klarer Blick – der Kerl konnte sicher eine Mauer ohne Lot hochziehen. Aber im Moment saß Fred eher da, als hoffte er darauf, dass ihn das Gestrüpp allmählich überwuchern würde.

„Weil ich ihm mein Beileid aussprechen möchte. Hast für mich auch ´ne Flasche? Ich zahl sie auch, keine Bange.“

Fred erhob sich tatsächlich, überlegte es sich anders, setzte sich wieder und machte mit der Hand eine fahrige Geste. „Selbstbedienung.“

Mit zwei Flaschen kam der Störenfried zurück an den Tisch. „Darf ich?“

„Heute ist Ruhetag“, entgegnete Fred nur. Der Fremde holte sich einen Stuhl und setzte sich in gebührendem Abstand zum Nörgler an den Nachbartisch. Er wollte nicht unhöflich sein – aber neugierig schon. Fred schaute ihn an, aber genauso gut hätte er die überwucherten Mauern beobachten können, wie sie weiter zuwuchsen.

„Ich will ja nicht wirklich stören. Aber vielleicht kann ich helfen.“ Mit einem ‚Plopp’ öffnete er die Bierflasche, trank sie halb leer und klemmte sie mit einem genießerischen „Aaaah“ zwischen die Beine.

Fred schwieg, nickte.

„Hier läuft alles bestens. Nur die Putzkolonne hat mich versetzt.“

Sein Gegenüber gab nicht auf. Freundlich streckte er dem Einsilbigen die Hand entgegen. „Paul Anker, Architekt. Ich habe Kontakte zu Handwerkern jedweder Couleur. Und das mein ich auch so.“ Dabei lachte er laut über seinen eigenen Witz.

Architekten duzen wohl jeden, dachte Fred, musterte den Typen skeptisch und drückte die angebotene Hand. „Fred Keller, Pächter. Ich habe Kontakte zu einer guten Brotzeit. Und das mein ich auch so.“

Während sich Paul über eine dicke Scheibe roten Pressack hermachte, erklärte Fred den Status Quo. Das Lokal war in einem Zustand, der dem des Gartens ähnlich war. In den Fugen der Küchenfliesen klebte das Fett der letzten Jahre, die zwei Gasträume rochen nach Zeiten, als in Wirtschaften noch geraucht wurde. Alles verlangte danach, behutsam aber gründlich modernisiert zu werden. Fred schilderte seine Pläne ziemlich detailliert, aus seinem Leben erzählte er aber nahezu nichts.

Trotzdem entwickelte sich hier in diesem Garten eine Freundschaft und es war nicht Fred Keller, sondern Paul Anker, der von Anfang an eine Nähe ermöglichte, die mit den Jahren immer intensiver wurde. Seine schnoddrige Art ließ sofort vergessen, dass Paul eher einem aalglatten Banker glich, der seine blonden Haare mit viel Gel in Form halten musste.

Zu guter Letzt hatte es doch geschlagene sieben Wochen gedauert, bis die erste Suppe aus dem Topf geschöpft wurde. Eine Rundumsanierung, zu der Paul geraten hatte, konnte und wollte sich Fred nicht leisten. Der Besitzer war auch nicht gerade jemand, der zum damaligen Zeitpunkt großes Vertrauen in sein Gasthaus oder den neuen Pächter gesteckt hätte – geschweige denn Geld. Die Küche keimfrei und ansehnlich zu bekommen, war schwieriger als erwartet, aber Pauls Truppe war ihr Geld wert.

Die Wirtsstuben schmückten helle Vorhänge, die wenigen, rau verputzten Wandstücke schimmerten zwischen den Fenstern pastellgrün, der Rest war weiß. Auf einigen alten Bodenfliesen, die zwischen Braun und Grün changierten, hatten sie Überbleibsel von Jagdmotiven, Fährbetrieb und Weinlese frei geschrubbt. Diese Betriebsamkeit zu seinen Füßen betrachtete Fred als gutes Omen und war zuversichtlich, sein Lokal in ein fruchtbares Refugium verwandeln zu können.

Mit straffer Hand trieb Fred sein Personal durch die Saison. Der Umgangston war trocken, was aber keiner aus der Belegschaft persönlich nahm – bisher hatte sowieso niemand Fred Keller mit einem Bekannten oder gar einem Fremden in einer besonders freundlichen Gesprächssituation erlebt. Das Personal hatte freundlich zu sein, auch wenn noch so viele Teller mit paniertem Saumagen und hausgemachtem Kartoffelsalat aus der Küche in den historischen Innenhof getragen werden mussten.

Fred bevorzugte es, abwegige Gerichte anzubieten. Einerseits bescherte ihm die Einfältigkeit der touristischen Vorlieben eine unkomplizierte Essenskalkulation, andererseits nervte es ihn, ja, beleidigte seine Kochkünste, wenn nur etwa 20 Prozent der Gerichte seiner sowieso kleinen Speisekarte bestellt wurden.

Es trieb ihn also nicht nur die Bosheit, seinen Gästen die üblichen Klassiker völlig verfremdet vorzusetzen. Eine Zeitlang servierte er zum Beispiel frittiertes Schnitzel – in schmale Streifen geschnitten – mit Stäbchen. Wurde unverhofft zum Renner bei Asiaten und weiblichen Kegelgruppen. Die waren verrückt nach Streifenschnitzel und besuchten ihn nur deswegen. Rheinischer Sauerbraten kam als Roulade auf den Teller, gefüllt mit Rosinen und Armagnac-Pflaumen. Die unentbehrliche Soße konnte der Gast unbegrenzt aus einem Rechaud-beheizten Fässchen zapfen. Eine Idee, um die ihn einige Kollegen aus dem Gaststättenverband sicher beneideten.

Irgendwann machte sich das Herz bemerkbar, nach Freds Meinung mehr als nötig. Sein Arzt hatte ihm einen unausweichlichen Herzinfarkt, „wenn nicht sogar einen Schlaganfall“ versprochen, wenn er nicht sofort damit aufhörte, literweise starken Kaffee wie Leitungswasser in sich hineinzuschütten. Er sah Doktor Günther förmlich vor sich: leicht nach vorn gebeugt, die Hände – damit sie nicht ständig beschwörende Gesten in die Luft malten – hinter dem Rücken verschränkt. Doktor Günther meinte es ernst.

„Trinken Sie gefälligst Tee!“

Als ob das automatisch zu einer gemäßigten Lebenshaltung führte.

„Teetrinker sind gemütlichere Menschen“.

Verdammt nochmal! Was denkt der eigentlich? Ich bin 35, mein Laden brummt und ich bin topfit.

Das war vor drei Monaten.

Okay, bin momentan etwas wackelig auf den Beinen, aber ist das ein Wunder? Es stirbt einem doch nicht alle Tage der Vater weg. Und dieses schreckliche Haus, dieses Haus will mich wohl unter die Erde bringen.

Mit dem schwelenden Kaffeedampf verteilten sich Freds Gedanken im Raum.

Die Muttererde. Hatte Vater immer gesagt. Soweit wird´s nicht kommen. Den Gefallen tu ich dir nicht, mein Lieber. Reicht schon, dass du Mutter auf dem Gewissen hast.

Fred musste seinem Arzt Recht geben. Ganz munter fühlte er sich wirklich nicht. Schlief jeden Tag fast bis mittags und gönnte sich lange Ausfahrten über den Bodensee, zumindest über den schmalen Ausläufer vor seiner Tür. Das reichte. Saß gerne im Garten, einfach geradeaus schauen – um sich leider oft zu ärgern, weil er sein Hirn einfach nicht ausschalten konnte.

Als ihm langweilig wurde fing er an, die Wirtsstube zu putzen, die hatte es wirklich nötig. Putzte Mobiliar, das genauso gut im Lager eines Gebrauchtmöbelladens stehen könnte. Der Staub hing an den Tischen, er klebte nicht nur durch die Bier- und Weinspritzer an den rauen Oberflächen, er gehörte dazu, wie aus alter Gewohnheit. Der Gewohnheit, seit mehr als langer Zeit wieder und wieder von den gleichen Leuten die immer gleichen Geschichten zu hören, gewollt oder nicht.

Wann fing es wohl an aufzuhören?

Dass keine Geschichten mehr zu hören waren, weil sich einfach niemand mehr finden wollte, der hinreichend abgestumpft oder dem Wirt freundschaftlich genug verbunden war, ihre Feierabendzeit beim mürrischen Konrad zu verbringen. In den Ritzen der gescheuerten Tische versickerte kein Tropfen Selbstgebrannter mehr, kein raues Lachen drückte die Nikotinschwaden gegen die gekalkten Wände, keine abgegriffenen Schafkopfkarten, die gewinnsüchtig auf den Tisch geschmettert wurden, als könne schon allein die bessere Schlagkraft den gegnerischen Reizer beeindrucken.

Nach achtzehn Jahren ohne familiären Kontakt konnte Fred Keller nicht ahnen, wie alltagsuntauglich sein Vater geworden war. Wie er jede Begegnung minimierte. Nur mit niemandem reden, sich nicht erklären. Als wäre jeder Satz eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem Leben.

Konrad Keller war allein.

Fred konnte nur das beurteilen, was sein Vater zurückgelassen, hinterlassen hatte. Je mehr er über ihn nachdachte, umso mehr beeindruckte ihn die Art und Weise, wie er es geschafft hatte, die Zeit nach seinem Tod zu organisieren. Überraschend strategisch war er vorgegangen, hatte Vorgaben gemacht, Bedingungen gestellt.

„Einundzwanzig Tage hat mein Sohn Alfred in seinem Elternhaus, auf seiner Muttererde zu verbringen. Erst nach dieser Zeit wird am einundzwanzigsten Nachmittag um 15 Uhr das Testament durch den Gemeindenotar eröffnet. Im anderen Fall wird die Erbschaft als nicht angenommen betrachtet und alle eventuell noch vorhandenen Güter einer an anderer Stelle näher bezeichneten Stiftung zugeführt.“

Das Einschreiben hatte Fred in der Küche seines Lokals ‚Zur guten Mahlzeit‘ erreicht. Er war beschäftigt, wie immer, als ihm der Brief ausgehändigt wurde. Er las ihn. Er las ihn ein zweites Mal. Dann erst war es soweit. Er brüllte durch die volle Küche – es war ein Wunder, dass nicht jeder, der etwas in der Hand hielt, es vor Schreck fallen ließ.

Kurz und bündig wurde er aufgefordert, sein bisheriges Leben so ganz ohne Vorwarnung zu unterbrechen und eine Reise anzutreten, die ganz und gar nicht, wie man glauben könnte, ins Ungewisse ging. Im Gegenteil.

Fred war sehr sicher, dass keine Freude in ihm aufkommen würde, wenn er nach all den Jahren Höri-Boden unter seinen Füßen spüren würde. Er hatte einfach keine guten Erinnerungen zurückgelassen, auch keine guten mitgenommen. Kontaktlos, gedankenlos, lieblos, so könnte man die familiäre Bindung in den Jahren zwischen Rhein und Bodensee benennen. Das Wasser, war nicht das Wasser das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn? Die Richtung des Flusslaufs der einzige Hinweis, wer sich anzunähern hatte? Fred hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, aber wenn überhaupt, hatte sein Vater Kontakt aufzunehmen.

Und wenn es um den Preis des Lebens wäre.

06.07.2012 frühe Erkenntnisse

Freds Freitag begann mit einer galileischen Erkenntnis. Er hatte heftige Nackenschmerzen, konnte sich kaum bewegen, beobachtete erstmal hilflos das Treiben um sich herum. Die Erde, zumindest ein winziger Teil in Gestalt seines momentanen Schlafraumes, drehte sich. Bewegte auf elliptischen Bahnen Regale und Deckenlampe, die willkürlich die Richtung wechselten, um ein imaginäres Zentrum, das offensichtlich er bildete. Sein Schwindel wurde dadurch nur stärker. Die Frage nach dem ‚warum’ nur größer. Obwohl sie sofort beantwortet wäre, wenn er etwas früher nach rechts zur Vitrine mit dem Plattenspieler geschaut hätte.

Eine Schnapsflasche fiel ihm auf – sicher selbst gebrannter – als er trotz großer Müdigkeit, neugierig, wie mit Fingerspitzen tastend, seinen Blick an der Bücherwand entlang streifen ließ. Es häuften sich Buchrücken mit Titeln, die Fred an diesem Ort äußerst ungewöhnlich fand. Fachbücher über Neurologie, Psychometrie, Konservierung von Düften. Bücher übers Gehirn wechselten sich ab mit Jules Verne, Einstein und Hegel.

Er wünschte sich nicht noch so eine Nacht, oder war es schon die dritte? Eine Nacht entspannt schlafen! Ohne von Träumen geplagt zu werden, an die er sich am nächsten Morgen nur schemenhaft oder gar nicht erinnern konnte. Einmal morgens aufwachen und im Laufe des vorbeiziehenden Tages am Abend verdiente Müdigkeit spüren. Er sehnte sich nach seinen Dachfenstern in Bacharach, die ihm in sternenklarer Nacht Ausblick gönnten, ohne Einblick zu gewähren. Wie er glaubte.

Auf seinem Bauch drückte ein schwerer Bildband mit populärwissenschaftlichen Erläuterungen der Relativitätstheorie im Allgemeinen wie im Speziellen. Das Buch ruhte auf Fred wie eine zu exklusive Zeitung eines Obdachlosen unter der Rheinbrücke. Als versuchte es gewissenhaft, ihn vor der kühlen Nacht zu schützen. Umständlich bewegte er ein Bein dem fugenreichen Dielenboden entgegen. Von der niedrigen Holzdecke berichteten tanzende Lichtflecke, der Tag habe schon reichlich Fortschritte gemacht.

Sind zwar keine Sterne wie am rheinischen Nachthimmel, aber so gesehen genieße ich grade einen unglaublichen Service der Natur.

Der See reflektierte flirrende Muster an die zeitgebeugte Decke. Fred starrte auf die tanzenden Lichtspiele, als versuchte er die ständig wechselnden, sich nicht nur in seinem Leben nicht wiederholenden Zeichen zu lesen. Schwer zu sagen, wie lange er so krumm dalag und die Botschaft zu dechiffrieren versuchte. Jedenfalls konnte er sich mit einem Mal schmerzfrei bewegen, das Buch fiel zu Boden, aber er stand aufrecht, ohne zu schwanken mitten im Zimmer und starrte auf das Fensterkreuz.

Oder irgend woanders hin, da draußen.

Es dämmerte, nicht der Tag – dem Sonnenstand nach hätte ein Hörianer einfach von der Mittagszeit geredet. In Fred zog die Klarheit hoch, wie am Wasserstandsanzeiger beim Pegel Konstanz.

Freitag. Heute. Endlich!

Die Blase drückte fürchterlich. Nachdem er sich zumindest diese Erleichterung verschafft hatte, wie immer stehend, machte er sich schneller denkend als sich bewegend auf den Weg zur Kaffeemaschine. Praktischerweise war er ja schon oder noch angezogen, die abendliche Einschlafhilfe muss schlagartig gewirkt haben. Nach der ersten Tasse Kaffee – ja, immer noch Kaffee, obwohl sein Arzt es verboten hatte – machte er sich landfein, zumindest nach außen wollte er respektvoll den notariellen Termin wahrnehmen. Nicht, dass er auf die Erbschaft scharf gewesen wäre.

Komisch. Was ist denn hier los?

Fred betrachtete seine Hände. Das Wasser perlte ab, hüllte sie aber wie ein transparenter Handschuh ein. Erschrocken zog er sie zurück, als fürchtete er, sich zu verbrühen. Die Feuchtigkeit wich, tropfte ins Becken und verschwand. Das Rätsel blieb. Ungläubig starrte er seine Hände an.

Ich hab doch gestern überhaupt nix mit Schmiere oder Öl gearbeitet, wie ...?

Im Gegenteil. Fred hatte wie ein Besessener mit Viss, Akupads und Schmierseife die Tische geschrubbt. Die Wurzelbürste flog nur so über die an die Wand montierte Eckbank. Was hätte er schließlich in den drei Wochen tun sollen? Gammeln war nicht sein Ding. Das Haus hatte eine ordentliche Substanz, sein spätestens seit Bacharach geschulter Blick verriet ihm das in jeder Ecke. Das Lokal dämmerte unter einer verfetteten Staubschicht, der Charme musste nur wieder ans Tageslicht erputzt werden. Nur? Nun gut, am Anfang hatte er keine Ahnung, wie viel Dreck, wie viel Erinnerung sich in den Winkeln verkriechen konnte. Aber das hier. Wie kam um alles in der Welt dunkle Schmiere unter seine Fingernägel?

Die Wirtsstube behielt die Antwort für sich.

nicht nur ein Mustang

‚In großem Stil’

könnte im Milchglas der Bürotür von Renie Tiez als Charakterstudie unter dem eingeätzten Namen stehen. Schlicht und transparent glänzte der Name je nach einfallendem Sonnenlicht dem Besucher entgegen, schwebte in der edlen Tür, deren Mahagonizarge gemeinsam mit dem polierten Messingrohrgriff ebenso den Weg in die Offiziersmesse eines nicht allzu billigen Kreuzers freigeben könnte. Ansonsten tauchte das Wörtchen schlicht nur noch auf, wenn Renie Tiez Oskar Wilde heranzog und ihr Leitthema beschrieb: Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: schlicht von allem das Beste.

Ihr 68er Mustang röchelte gelassen durch Sankt Gallen. Seine exotische Erscheinung provozierte die ehrwürdigen Häuserzeilen. Die Schweizer hatten seit jeher ein Faible für amerikanische Schlitten, als könnten sie damit die ihnen womöglich peinliche Unfähigkeit kaschieren, ein ordentliches, auf dem mobilen Weltmarkt akzeptiertes Automobil zu kreieren. Renie Tiez war nichts peinlich, hatte nichts zu kaschieren. Sie war weit jünger als ihr Statussymbol und dachte gerade darüber nach, wie sich die Uferbereiche – und natürlich nicht nur die anteiligen Schweizer Gestade – im großen Stil umgestalten ließen. Sie meinte es tatsächlich so, eine Neugestaltung, eine Funktionserweiterung schwebte ihr vor. Öffentliches Bodenseeufer durfte nicht Einzelinteressen krämerischer Gemeindeverwalter oder statussymbolanhäufendem Geldadel überlassen bleiben. Global und verantwortungsvoll musste an die Zukunft gedacht werden. Zumindest an die ihrer Investoren. Unterdessen schlürfte ihr Mustang fleißig Superbenzin, in seinem typischen Rot kam er daher, als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen. Jeder, der sich ans Steuer setzen durfte, fühlte sich sofort in die Ära zurückversetzt, in der sowieso alles besser war. Vor allem der Sprit billiger. Der Mustang schlürfte also reichlich, weil er den allzu laut umjubelten technologischen Fortschritt verschlafen hatte. Was ihn ja fast schon wieder sympathisch machte.

Wer Renies Charakter an ihrer Fahrzeugwahl festmachen wollte, konnte nur irren. Egal welche Schublade er aufmachte, es war die falsche. Sie war nicht naiv, nicht oberflächlich, nicht aufdringlich. Schwierig war nur: im nächsten Moment konnte alles wieder anders sein. Ein gutes Beispiel war die Arbeit mit oder besser an Doktor Ernst Tafler, seines Zeichens für die westlichen Bodenseeufer zeichnungsberechtigter Gemeindeamtmann. Der dachte immer noch, mit Lüti-Boden den für Schweizer Behörden wasserdichten Kontrakt ausgehandelt zu haben. Renie Tiez war auf dem Weg zu ihm. Füttern nannte sie das. Damit ihre Vertragspartner nicht in Verlegenheit gerieten, selbstständig recherchieren zu müssen, um über Sinn und Richtigkeit ihrer Unterschriften im Bilde zu sein. Renie hatte neue Informationen – natürlich nur gute – für Dr. Tafler.

Einmal mehr konnte sie ihren Chef davon überzeugen, mit ihr die beste Wahl für das Gelingen des epochalen Bodensee-Resorts getroffen zu haben. Marc Lüti war Besitzer von Lüti-Boden, der Schweizer Immobilienagentur für innovative Projekte, die weit über das Vorstellungsvermögen eines Normalbürgers hinausgingen. Renie Tiez wurde schnell seine Geliebte. Das ging anfangs auch über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Von dem seiner Frau ganz zu schweigen. Renie war gut vorbereitet, das Gespräch mit Tafler würde eine Kür. Weitere Grundstücke waren gekauft, die Präsentationen für Projektierung und Inbetriebnahme der verschiedenen Bauphasen hatte sie fast fertig. Sie hing ihren Gedanken nach, spürte den Fahrtwind in den Haaren und hätte am liebsten die Augen geschlossen, um tief entspannt durchzuatmen. Es war ihr bewusst, wie außergewöhnlich es war, in diesem Mustang zu sitzen, es bis dahin geschafft zu haben, wo sie nun war. Sie war dankbar, sich selbst. Wie zielstrebig sie doch war. Wo ihr dieses Leben überhaupt nicht in die Wiege gelegt worden war.

Damals war sie heulend, fast kreischend durch den Bauerngarten gestolpert. Einem Garten, dem nicht ganz klar war, ob er zu den wilden oder den künstlich robust gehaltenen Gärten gehören wollte, so gelungen wuchsen Blumen, Gemüse und Früchte nebeneinander her.

„Mama, du wirst es nicht glauben“, sprang sie ihrer Mutter an den Hals.

Jeanne Tiez war überrascht. Renie hatte sich nicht angekündigt, Renie überfiel sie nie so übermütig, Renie landete lachend mit ihr im Hagebuttenstrauch.

„Ich krieg ein Stipendium, ich krieg ein Stipendium und einen Freiplatz an der Uni dazu!“

Urs, der Bernhardiner, bellte heiser und sprang schnell wie selten durchs Holzgatter. Sofort wühlte er sich mit nasser Schnauze zwischen die beiden Frauen und plättete den Hagebuttenstrauch noch mehr. Als hätte er nur darauf gewartet, eine straffreie Gelegenheit zu finden, dem Busch den Garaus zu machen. Die drei gaben ein merkwürdiges Bild ab, als der Vater, vom Geschrei und Gebell aufmerksam geworden, den Kopf aus dem Stallfenster streckte.

„Seid ihr noch gesund? Wollt mir wohl meine Ernte ruinieren?“

Vater Tiez hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus nahezu allem, was Früchte trug, ein feines Destillat zu brennen, und würden es nur ein paar Fläschchen Hagebuttenlikör. Im Moment wurde das allerdings fraglich. So einen wie Renies Vater hätten sie im Mittelalter ans Wagenrad gebunden. So eine wie Renie, so eine hätte es bis ins Gemach des Königs geschafft.

Heutzutage musste es eben das älteste private Bankhaus der Schweiz sein. Wegelin & Co – unter dieser Adresse machte es die zielorientierte Praktikantin nicht. Folgerichtig musste der nächste Sprung auf der Karriereleiter großzügig ausfallen. LütiBoden wurde auserkoren. War Marc Lüti nicht ein moderner König? Beherrscher einer international verzweigten ImmobilienAgentur mit neun Niederlassungen in sechs Ländern …

Renie brauchte Zeit. Die bescheiden ausgebaute Uferstraße, die ständigen Ortsdurchfahrten erlaubten kein gedankenloses Kilometerfressen von A nach B. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Für sie unvorstellbar, zwischen zwei Punkten, zwischen zwei Meinungen nicht irgendetwas zu finden, was nicht als Anknüpfungspunkt dienen könnte. In der gefälligen Bodenseelandschaft war das kein Problem, da konnte sie sich immer noch nicht satt sehen. Ihre Geschäftspartner betrachtete sie ebenso. Ein Skrupel hier, eine Perspektive, ein Wunsch des Gegenübers da, sie sezierte alles. Sie entfachte geschickt das zarte Flämmchen Hoffnung für den Kunden, schürte Zweifel beim Kontrahenten, wechselte bis zum Geschäftsabschluss auch einmal die Perspektive, drängte zum Kauf, verzögerte Verhandlungen. Nachdem sich alle Beteiligten beim Notar die Hände geschüttelt hatten, trennten sie sich mit dem sicheren Gefühl, zum einzig richtigen Zeitpunkt instinktiv die beste Entscheidung getroffen zu haben.

Das war ihre Stärke, Argumentation im Paradoxen.

ein Bild von einem Notar

Fred hatte sich für das Fahrrad entschieden. Die Kontakte mit den Dorfbewohnern waren sowieso auf das Nötigste reduziert.

Selbst wenn er im Auto durch den Ort fuhr spürte er schnell ein beklemmendes Gefühl. Egal, ob er sich morgens nur frische Brötchen holte oder in der Gemeindeverwaltung Einsicht in die Grundbucheintragungen wollte. Sobald er sich jemandem näherte, der am Gehsteig stand oder die Straße kreuzte, spürte er die Enge. Er kannte die Leute, zumindest viele, die da konspirativ ihre Köpfe zusammensteckten und wie eh und je ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen – über Dinge zu tratschen, die sie nichts angingen. Der feuchte Sommerwind stemmte sich gegen seinen maladen Kopf und brachte ihn allmählich wieder auf Vordermann. Nur die Beinarbeit ließ zu wünschen übrig. Der alte Drahtesel verbarg seine Defizite nicht. Sein Gewicht hätte Fred beim Alteisenhändler einige Euros eingebracht. Die vertrocknete Kette wäre bei einem Gangwechsel hundertprozentig vom Ritzel gesprungen, so spröde klang das Eisen. Es gab aber eh keine Schaltung. Weit war es nicht mehr zum Notar.

Den da drüben kenn ich doch, ist das nicht der alte Leon? Genau, Leon Tomhart. Wollte der nicht Maler werden und als Künstler New York aufmischen? Roy Liechtenstein und Andy Warhol den Rang ablaufen. Naja, vielleicht war er´s auch nicht. Auf jeden Fall, die Sache mit dem Fahrrad war zur Abwechslung mal die richtige Entscheidung.

Einige freundlich gemeinte Nicker registrierte er heute tatsächlich, als er den Marktplatz querte. Es war, als säße er in einem offenen Zweispänner, die Frackschöße faltenschützend über die Knie gelegt, den Zylinder nicht nur zur Sicherung der kurz geschnittenen Haare auf dem Kopf. Aufrecht radelte er weiter zum Notar. Unsanft knallte er mit dem Vorderrad gegen den Bordstein, was ihn innerhalb eines Lidschlags auf den steinigen Boden der Tatsachen zurückholte.

Vereidigter staatlich anerkannter Buchprüfer und

Nachlaßverwalter Doktor in jure Gunnar Falkenstein

Und drunter in ebenso schwungvoll ausladenden Lettern

Consul Honoreire de Cap Verde

Na, das kann ja heiter werden.

Fred wagte kaum, das heruntergekommene Familienrad an die ehrwürdige Fassade des messingtafelgeschmückten Hauses zu lehnen.

Mit ebenso glänzenden Phrasen erläuterte Doktor Falkenstein Fred Keller, warum es notwendig war, so lange in dieser doch so wunderschönen Gegend bleiben zu müssen.

„Haben Sie sich denn niemals in dieses Biotop harmonischen Einklangs zwischen Mensch und Natur zurückgesehnt, werter Herr Keller?“

„Ehrlich gesagt nein, Doktor Falkenstein.“ Fred verspürte nicht den geringsten Drang, mehr als unbedingt nötige Konversation mit dem Herrn Notar zu betreiben. Und die Floskel „ehrlich gesagt“ war ihm auch nur so rausgerutscht. Lieber zurückhalten, niemand konnte von ihm erwarten, ehrlich zu sein, in einer Situation, die für ihn ungünstig schien. Und obwohl es ihn brennend interessierte, wie dieser Gunnar zu einem Honorarkonsul irgendeiner winzigen und weit entfernten Inselgruppe werden konnte, verkniff er sich die Frage.

„Nehmen Sie doch Platz. Bitte sehr. Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Sie wird nur übertroffen von meiner Neugier, Sie endlich kennenzulernen.“ Während Falkenstein Fred freundlich zu einem schweren Sessel führte, redete er weiter. „Verzichten wir doch bitte auf den Doktortitel. Ich bin auch nur ein nahezu gewöhnlicher Mensch.“

Der Raum war glücklicherweise groß genug für die ausladenden Gesten, mit denen Jure-Gunnar, wie Fred ihn nach wenigen Minuten für sich nannte, seine gewählten Worte einrahmte. Und die Tapete war dick und weich genug, Wort für Wort mühelos zwischen den goldenen Ornamenten auf samtigem Rot versickern zu lassen. Aufmerksam musterte Fred die vielen Bilder, die die sehr hohen Wände füllten. Bis ihn Falkensteins gleichbleibende Freundlichkeit zurückholte – von wo auch immer.

„Ich möchte Ihrem berechtigten Interesse, unverzüglich die Formalitäten ordnungs- und wunschgemäß abgewickelt zu wissen, mit all meiner fachlichen Kompetenz entgegenkommen. Lange genug hat Sie Ihr werter Herr Vater, den ja leider viel zu früh der Tod aus unserer Mitte gerissen hat, auf die Folter gespannt.“

Fast hätte er gelacht, der Herr Doktor, über dieses müde Witzchen, seine kleine anzügliche, wohldosierte Entgleisung. Aber als Testamentsvollstrecker geziemte sich das sicher nicht.

„Herr Falkenstein. Natürlich möchte ich nicht nur etwas über die Erbschaft erfahren. Mein Vater wird sicher Gründe gehabt haben, mich hier drei Wochen warten zu lassen. Aber … zwischen uns war …“, Fred suchte eine unverfängliche Floskel, „... wir hatten ein etwas gespanntes Verhältnis. Wenn wir überhaupt eines hatten. Ich hoffe, ich verstehe mit Ihrer Unterstützung ein paar Zusammenhänge.“

Der Notar räusperte sich hinter seinem ausladenden Mahagonischreibtisch. In dessen polierter Platte war ein goldgerändertes Lederpolster eingelassen, dessen einziger Verwendungszweck zu sein schien, den feingliedrigen Händen, die in Dürer´scher Bildhaftigkeit auf dem Tisch lagen, sanftes Kissen zu sein. Zu seiner Rechten lag parallel zur Goldkante ein Brieföffner. Ein Brieföffner, der in einem anderen Leben ein mörderisches, kaum eine Einstichstelle hinterlassendes Stilett gewesen sein könnte. Auf der anderen Seite des Lederpolsters lag ein dicker, brauner DIN A4 Umschlag. Um diesen Umschlag ging es.

„Darf ich Ihnen, bevor ich tätig werde, eine frisch gebrühte Tasse Kaffee anbieten, lieber Herr Keller? Die Dicke des Umschlags lässt auf eine nicht geringe Verweildauer in meinen bescheidenen Räumen schließen. Und viele Menschen pflegen ja des Nachmittags eine kleine Kaffeestunde einzulegen. Gönnen Sie mir die Freude und Ihnen die Entspannung.“

Fred gab sich geschlagen und nickte. So freundlich es in dieser Situation eben ging. Die betenden Hände trennten sich lautlos, eine griff nach der Messingglocke, die früher möglicherweise in einem Gerichtssaal für Ruhe und gebotene Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Innerhalb erstaunlich weniger Sekunden klingelte sie Fräulein Serlbacher herein, deren auffällig unauffällige Erscheinung schon auf den ersten Blick nicht nur Kaffeemaschinenkenntnisse versprach.

Fred hatte den festen Boden unter den Füßen verloren. Ganz leicht, fast widerstandslos glitt er dahin. Das Blatt schnitt sanft die Welle, mühelos trennte der Bug das Wasser, um auf der kurzen Reise zum Heck an den lackierten Bootswänden welke Erinnerungen aufzufrischen. Der alte Nachen und der See, sie gehörten zusammen. Fred setzte die Flasche an den Mund, ganz gewiss, nun überhaupt nicht mehr zu verstehen, was passiert war. Einzig und allein sicher war: er und dieses rätselhafte Haus gehörten nicht zusammen. Genauso wenig wie er und sein Vater. An dieser Ansicht war nach wie vor nicht zu rütteln. Der „vorzügliche Hennessy“, wie ihn Jure-Gunnar am Ende der Testamentseröffnung und den nachfolgenden Erläuterungen angeboten hatte, konnte gar nicht so großzügig bemessen sein, wie ihn Fred gebraucht hätte. Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt.

Den Rest gab sich Fred nun Stunden später draußen auf dem See, der ihm mit jedem Gedanken, jedem Schluck fremder wurde. Der See und der Schnaps sollten ihn schützen, bewahren, vor allem bewahren. Doch wovor? Denn obwohl Fred seit einiger Zeit dem Flaschenboden entgegentrank, war er immer noch zu nüchtern, um sich nicht mehr zu ärgern. Nicht weil er Fragen stellen musste. Er war es gewohnt, frühzeitig Probleme zu erkennen, für seine Art der Gastronomie Profile zu erstellen, die ihm und ausschließlich ihm Vorteile brachten.

„Da wo ich bin, ist vorn!“ Diese Floskel wurde durch einen Zeitgenossen wie Fred Wirklichkeit. Nein. Was Fred fuchste, war, erkannt zu haben, sich diese Fragen auch noch selbst beantworten zu müssen. Wenn er allerdings ehrlich mit sich war – und das war er meistens, ganz anders als er mit anderen umging – steckte er in einem unerträglichen Dilemma. Er spürte genau, dass es so war.

Aber nicht, warum.

07.07.2012 Gedanken, Briefe, Zeitung

Nur von einer Wolldecke geschützt, hatte Fred den Rest der Nacht auf der Bank in der Wirtsstube verbracht, den Kopf ungepolstert auf dem rohen Holz. Es war aber nicht die unbequeme Lage, die ihm zu schaffen machte.

„… hinterlasse ich Dir als Allerwichtigstes ein moralisches Erbe …“

Fred versuchte, sich bequemer zu legen. In seinem Hirn kreisten Satzfetzen.

„… vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist …“

Er konnte es sich nicht erklären. Drei Wochen waren vergangen. Drei Wochen, die ihm sein toter Vater aufgezwungen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt, überfordert. Nicht, weil es zu viel zu tun gab an diesem Ort, den er vor Jahren fluchtartig verlassen hatte, sondern weil er kein Gefühl dafür bekam, was er überhaupt tun konnte. Was er tun konnte, um dieses Warten zu beschleunigen. Er hätte sich auch gar nicht beschäftigen müssen, nur verstanden hätte er gerne, warum diese drei Wochen bis zur Testamentseröffnung sein mussten. Dabei hatte alles so einfach ausgesehen, als er vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses stand.

Vorübergehend geschlossen

So heruntergekommen, wie das Schild aussah, hing es nicht erst an der Tür zur Besenwirtschaft, seit der Vater tot war.

Nun stand er da. Für drei Wochen an den Bodensee genötigt.

Schönes Fleckchen Erde, ruhig, zugegeben. Sicher nicht billig. Trotzdem wär ich lieber dabei, wenn meine Küche renoviert wird.

Diese Aufgabe hatte er notgedrungen seinem Freund Paul übertragen. Wenn man schon mal einen Architekten zum Freund hatte. Fred hatte keine Erfahrung mit Sterbefällen, aber mehr als eine Woche konnte das doch nicht dauern. Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen Nachbarn, die einfach nur neugierig waren. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört. Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.

Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen. Die zwei Stunden gestern bei Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.

Fred lag also auf seines Vaters Bank und war nicht ganz bei sich. Sein Blick versickerte in der dunklen Zimmerdecke, wo es glücklicherweise nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Durchs offene Fenster drang Möwengeschrei, ansonsten das fortwährende Rauschen des Sees, das zu diesem Flecken Erde gehörte, wie das Knistern zum Kaminfeuer. Könnte die Bank sprechen – die Gelegenheit so nah an Freds Ohr war günstig wie nie – sie würde einige der Vorurteile revidieren, die Fred gegen seinen Vater hegte. Ach was, das ganze Haus könnte ein Lied davon singen. Aber Fred pflegte sein Vorurteil: alles, was von seinem Vater ausging, war abzulehnen. Seit damals, zu der Zeit, als Konrad Keller versuchte, seinem Sohn ein guter Vater zu sein – und sich doch mehr und mehr in seiner Einsamkeit einrichtete.

Der frühe Tod seiner Frau hatte Konrad Keller mit einem Schlag vom Leben abgeschottet. Fred war neun, Vrenie Keller 35. Sie starb bei einem Unfall auf See, eine Geschichte, die lange nicht erzählt werden durfte. Als die Mutter noch lebte, sprach Vater Keller öfters von dem harmlosen Begriff Muttererde, der für ihn beschreiben sollte, wo man gefälligst zuhause war, wo man sich wohlfühlen durfte und die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. Doch mit der Zeit zerschliss das Wörtchen Muttererde mehr und mehr. Es fand sich als Ausrufezeichen hinter allen faden Begründungen. „Muttererde“ erklang, wenn es darum ging, geduldig die kargen Jahre zu ertragen, die über sie hereinbrachen, unerwartet wie ein Heuschreckenschwarm über das Maisfeld. War es wirklich so unerwartet? Fred lebte in den Tag hinein und konnte seinen Lerneifer gerade so lange auf Trab halten, bis er das Abitur hatte. Die Tage häuften sich, an denen er sich so störend wie Verkehrslärm und so unnötig wie Bodennebel vorkam. Stundenlang am heimischen Steg sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen mochte er am liebsten. Irgendwann ging ein Ruck durch Fred. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf den Namen Alfred hörte.

Was diesen Ruck verursachte, wusste niemand. Nicht die paar Freunde und schon gar nicht die Nachbarn, die ihn kaum mehr als vom Grüßen auf der Straße kannten. Fred war ab sofort sein Name. Auf nichts sonst würde er mehr hören. Alfred! Wie klingt das schon? Altmodisch. Schwerfällig. Unauffällig.

Es war August. Seit einigen Monaten stand ein generalüberholtes Moped im Geräteschuppen. Er war gerade 16 geworden und alles sollte anders werden. Nach außen hin blieb er unauffällig. Auch als Fred. Aber irgendwann war er so willkommen wie die Myriaden Sommerfliegen an stumpf leuchtenden Straßenlaternen, die an den zahlreichen Sackgassen standen. An deren Enden sich hinter akkurat beschnittenen Ligusterhecken ordentliche Wohnhäuser duckten. Fred duckte sich nicht mehr. Nie mehr wollte er Rücksicht nehmen – das wurde sein Motto. Im gleichen Maß wie sich der Vater, vergrämt durch den Verlust seiner Frau, immer einsilbiger wurde, wandte sich der Sohn den Dorfbewohnern zu, allerdings nur den weiblichen. Raste mit seiner Zündapp über die Felder, düngte die Dorfstraßen mit dem Gestank des Zweitakters und dem Lärm der getunten Auspuffanlage. Es fiel ihm leicht, jungen Mädchen nicht nur das Herz zu brechen, sondern sie auch mit großem Charme, den man ihm nicht absprechen konnte, von ihren Freunden loszureißen. Zumindest für kurze Zeit. Er war oberflächlich, gedankenlos, rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um die Konflikte, in die er die Mädchen stürzte, wenn sie ihre Freunde betrogen. Er war der Überzeugung, sie wollten es, sie wollten ihn. Dunkel gelockt und grünäugig, verdammt gutaussehend, zerstörte er rücksichtslos einige frische Beziehungen. Nur die Mädchen, die überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, hatten Glück – und blieben verschont.

Es schien, als hörte man weithin erlöstes Aufatmen, das sich wellenförmig durch Hemmingen schob: „Fred verschwindet!“ „Fred zieht weg.“ „Zum Bund!“

Die Welle hatte eine selbstreinigende Wirkung. Im Dorf kehrte Ruhe ein, zu lange hatte sich der flotte Fred auf einem Trampelpfad bewegt und Wut und Tränen rechts und links seines Weges hinterlassen. Fred war weg. Es wurde aber auch Zeit.

Gut möglich, dass ihm die eine oder andere weibliche Person mehr als eine versteckte Träne nachweinte. Fred weinte nicht, genauso wenig wie sein Vater. Die Wehrdienstzeit in Grafenwöhr hatte sich längst angekündigt. Bis zu diesem Tag waren sie sich nicht gerade aus dem Weg gegangen – sie gingen einfach weiterhin ihren eigenen. Hin und wieder half Fred seinem Vater, hängte die Netze zum Trocknen auf, wusch die Fischkästen, tankte das Boot. Die eigentliche Arbeit, morgens um vier auf dem See Netze einholen, Fische ausnehmen und gleich verkaufen, überließ er ihm. Damit wollte er nichts zu tun haben. Am Wochenende schlief er bis mittags, schraubte an seinem Moped rum, fuhr durch die Gegend oder machte sich an ein Mädchen aus dem städtischen Gymnasium ran. Samstags arbeitete er für sechs, sieben Stunden bei einer Abschleppwerkstatt, verdiente sich einen Fünfziger für sein Moped.

Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, dass er ohne seinen Sohn zurechtkam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, dass ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.

Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zu viel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zu viel Gefühl. Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos, gerade hier dominierten verbitterte Erinnerungen und zynische Attacken. Die Zimmer, die Möbel hatten keine Chance, ihn zu besänftigen. Er war stur. Und das von seinem Vater geerbt zu haben, hätte er sicher abgestritten.

Es erwartete ihn, den Alleinerben, einiges. Das große Haus, das er seit Tagen mühsam vom größten Dreck in den Ecken, von den klebrigsten Bier- und Weinresten auf Tischen und Bänken befreit hatte. Unmerklich arbeitete er sich durch die Zeitschichten eines Hauses, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es mit seinem Vater umgegangen war und umgekehrt. Denn das Haus lebte. Das wiederum spürte er deutlich. Es gab Momente, da fühlte er Ecken auf sich zu drängen, spürte hinter seinem Rücken stechende Blicke, als ob ihn die Wände beobachten würden. Erstaunlicherweise verhielt sich das riesige Seegrundstück scheinbar neutral. Real neutral – es verbarg aufgrund des verwilderten Zustandes sogar den Wert, den es nach Falkensteins gewinnverheißender Aussage offensichtlich hatte. Ein Bootshaus, eine große Wiese, ein Stück See mit einem hineinragenden Wohnhaus.

Nun erst recht. Er würde mit hartem Besen den alten, verlotterten Familiengeist wegfegen.

Fred hatte es geschafft, sich aufzusetzen, schaute aber noch sehr langsam vor sich hin.

Ein Kater fühlt sich anders an … aber irgendwas war mit Schnaps …

Wie spät war es, warum lag er die Nacht auf der Bank? Warum erinnerte er sich an vieles, an anderes aber nicht? Er befahl seinen Beinen, Bodenkontakt aufzunehmen. Machte kleine Schritte, streckte seine müden Knochen dem Raum entgegen.

Die Fenster müssten geputzt werden. Wäre wichtiger gewesen als die alten Tische.

Schmierige, rauchverklebte Scheiben verwehrten jedem einzelnen Sonnenstrahl den Eintritt, genauso wenig drang ein noch so angestrengter Blick nach draußen. Nur langsam kehrte der gestrige Nachmittag, Falkensteins Worte in sein Bewusstsein zurück.

„Als Kronjuwel für dieses außergewöhnliche, anmutige Königreich erlauben Sie mir, Ihnen die abschließende Offenbarung unterbreiten zu dürfen.“

Fred erlaubte es dem Notar, konnte sich aber nicht vorstellen, was sein Vater dem geflohenen Sohn plötzlich hinterherwerfen wollte.

„Ihre tragisch früh verstorbene Mutter hinterließ eine Lebensversicherung, die Ihr unglücklicher Herr Vater Zeit seines arbeitsamen Lebens niemals anrührte, obwohl meiner geringen Kenntnis nach in einigen prekären Situationen der Bedarf bestand, flüssige Finanzmittel, wie man in der Immobilienbranche so gern sagt, zur Verfügung zu haben.“

Fred wagte nicht, in diesen hoffentlich letzten Minuten den Notar pietätlos zur Eile anzutreiben. Er bot seinem Gegenüber einen ebenso mitfühlenden wie wissenden Gesichtsausdruck.