Berber und die flotte Lotte - Georg Steinweh - E-Book

Berber und die flotte Lotte E-Book

Georg Steinweh

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Beschreibung

Der nicht besonders erfolgreiche Privatdetektiv Daniel Berber soll Lotte, die Geliebte des mächtigen Großbordell-Betreibers König finden. Zufälligerweise eine frühere Freundin von Berber. Gleichzeitig beauftragt ihn Königs Ex-Frau, den ebenfalls verschwundenen Sohn Astor zu suchen. Berber wird jäh hineingerissen in die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türkenclans, die um die Hoheit im Rotlichtmilieu kämpfen. Lottes Rolle wird immer undurchsichtiger. Wie bei Berbers erstem Fall kommt ihm ungewünscht seine Tochter Lisbeth zu Hilfe. Zwischen versuchtem Mord, Intrigen und Erpressung behält sie den Überblick. Gemeinsam mit Berber gerät sie in eine lebensbedrohliche Situation.

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Georg Steinweh war während seiner Schulzeit drei Jahre lang Minigolf-Pächter, Shakespeare-Fan und Motorrad-Schrauber. Nach dem Kamera-Studium in Berlin drehte er weltweit Imagefilme, Dokumentationen und SWR-Tatorte.

Zwischendurch erzählte er seinen drei Kindern selbsterfundene Einschlafgeschichten. Die Kinder sind aus dem Haus, die Phantasie lässt sich nicht stoppen …

Weitere Veröffentlichungen am Buchende

Informationen über den Autor und seine Werke:

www.georg-steinweh.de

wichtige Figuren

Daniel Berber Ende 40, groß, dunkelhaarig. Mittelmäßiger Privatdetektiv mit gelegentlichen Geistesblitzen und Hang zum Zynismus. Durchaus charmant. Absoluter Einzelgänger mit schlechten Umgangsformen, ist beziehungsunfähig und lehnt seine Tochter ab. Führt dafür gern Selbstgespräche und zitiert endlos berühmte Vorbilder, bevorzugt Philip Marlowe.

Lisbeth Berber Anfang 20, eifert auch äußerlich ihrem Idol Lisbeth Salander nach. Kreativer PC-Junky. Zirkusartistin und Ninja-Sterne-Werferin. Perfekte Bogenschützin. Hat gerade einen Fall mit ihrem Vater gelöst. Liefert sich gerne Wortduelle mit ihm. Und wird zur Heldin der Reihe

Mago, ihr Freund Ende 20, Halb-Spanier und genialer Hacker-Schüler seines Stiefvaters Erec. „Unerhört“ verliebt in Lisbeth, unterstützt sie trotzdem bei ihren Online-Recherchen. Redet gerne in spanischen Metaphern und entwickelt sich zum unentbehrlichen Überwachungsspezialisten und Waffenlieferanten.

Lotte Dorf 41 Jahre, sehr schick. Vor 20 Jahren Berbers Freundin. Nach einigen Jahren im Escort-Service wurde sie die Lebensgefährtin von König. Ihre Ziele wechseln, die sie mit gefährlichen Plänen umsetzen will

Jürgen König 60 Jahre, eleganter Geschäftsmann. Ursprünglich erfolgreicher Manager in einem IT-Konzern. Verdient seit über 15 Jahren sein Geld mit groß aufgezogenen Bordellen. Ist in der Szene anerkannt und gefürchtet. Große Schwachstelle: seine Freundin Lotte.

Corinna König 65 Jahre, Ex-Gattin von König. Eine schöne, selbstsichere Frau. Arbeitet als Innenarchitektin, verachtet die beruflichen Aktivitäten ihres Mannes und will ihre Söhne Astor und Caspar von seinen Geschäften fernhalten.

Caspar 24 Jahre, smarter Dauerstudent. Sucht seine Vorteile in der Familie rücksichtslos mit krimineller Energie

Astor 33 Jahre, Vize im Rotlicht-Geschäft seines Vaters. Buhlt um Lotte, was zu extremen Verwicklungen führt

Türken-Clan türkische Mitarbeiter im König-Imperium, Türsteher, Geschäftsführer. Vertraute von Lotte

Kurden-Clan die Kurden kämpfen gegen die Türken, wollen die Hoheit im Milieu. Vertraute von Caspar

Motive um Stuttgart

Stuttgart

Dorotheen-Quartier, Stadtansichten, Straßen, immer wieder Straßen

Leonhardstraße / Bohnenviertel

hier ist das magische Zentrum von Berber und Caspar, hier wird recherchiert, betrogen und auch getrunken

UHU-Bar

hier trifft man sich aus diversen Gründen

Killesberg

hier herrscht Jürgen König

Bopserwald

hier residiert Corinna König

Neugereut

hier wohnt Berber in der Wohnung eines Freundes, etwas unwillig

Bad Cannstatt

laut Berber das neue Stuttgart. Wochenmarkt, Lokale

Ludwigsburg

hier agieren in Eglosheim die Türken und in Pflugfelden die Kurden.

Nähe Remstal

hier gibt es nicht nur Besenwirtschaften und den Neckar, sondern auch Lost Places, die gut als Verstecke oder Gefängnisse dienen.

Steinbruch Lauser

ehemals Nazi-Steinbruch, aktuell ein tragischer Treffpunkt von Freund und Feind. Ein geeigneter Showdown-Platz

In jeder Stadt trifft man auf ehemals unschuldige Gassen, die nicht nur durch frei erfundene Schandtaten ihre Unschuld verloren haben. Wäre dem nicht so: Die Gassen hätten längst das Zwielicht angezogen.

Denn Unschuld ist langweilig.

Inhaltsverzeichnis

FREITAG

SAMSTAG

MONTAG

DIENSTAG

DIENSTAGABEND

MITTWOCH

DONNERSTAG

DONNERSTAG, MITTAGS

DONNERSTAG, SPÄTER NACHMITTAG

DONNERSTAGABEND

FREITAGFRÜH

FREITAG, 16 UHR 30

FREITAG, CA. 19 UHR

SAMSTAGFRÜH, 6 UHR

SAMSTAG, 11 UHR 30

SAMSTAG, 14 UHR

SAMSTAG, später

SAMSTAG, 20 UHR 30

SONNTAG, 10 UHR 30

SONNTAGNACHMITTAG

SONNTAG, 17 UHR

SONNTAG, 20 UHR

MONTAG, 8 UHR 30

EINE WOCHE SPÄTER

BERBER hat

Mein Name ist Daniel Berber. Ich bin gefangen in einer Scheune, die womöglich abgefackelt wird. Wenn ich nicht bald heil hier rauskomme, werde ich keine Chance mehr bekommen, meine Tochter Lisbeth zu mir zu holen.

*

FREITAG

Das Bix war voll, kein Wunder bei dem Programm. Ich hatte mein Objekt der Begierde fest im Blick. Alles groovte hier zur Musik, allein sie bewegte sich einen Zacken anders. Ihr Körper folgte einer Schwingung, die an mir noch unbekannter Stelle in Gang gesetzt wurde und nur sich selbst genügte. Und mir.

Dieser Abend versprach, ein guter zu werden. So einen Abend würde sich manch Rückbesinnungsverliebter sicher in sein Poesiealbum schreiben – ich wollte mich lieber um meine Zukunft kümmern.

Einen halben Song später war ich neben ihr. Sie war größer als es aussah, sie war schöner als es aus der Distanz wirkte und es waren nur zwei Frauen in direkter Nähe. Ein Mann hätte mich von dieser Frau trotzdem nicht ferngehalten. Ich fühlte mich großartig, jetzt schon. Und ich hatte noch nicht mal einen Satz mit ihr gewechselt.

Die Sängerin endete mit einem heftigen Gitarrenriff und versetzte den kleinen Saal in wabernde Begeisterung. Meine Zukünftige riss die nackten Arme hoch und touchierte dabei mein Gesicht. Was für ein Start. Sie ignorierte den Erstkontakt großzügig, grölte Richtung Bühne, presste ihre Begleiterin an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Und schon schlängelten sie sich mit überraschender Leichtigkeit durchs Gedränge nach draußen. Ich hinterher.

Sie rauchten. Und klebten aneinander, wie zwei dicke Freundinnen eben aneinanderkleben, wenn sie sich amüsieren. Konnte ich gut nachvollziehen. Ein herrlicher Abend, wie gesagt. Stuttgart zeigte sich mal wieder von seiner besten Seite. Was bei Dunkelheit auch nicht so schwer war. Und im Leonhardsviertel schon gar nicht.

Der Platz zwischen dem Gustav-Siegle-Haus und der Kirche war voll. Rauchen, trinken, kiffen, lachen. Für mich war der Übergang zwischen den Etablierten und den Ausgemusterten an diesem Ort fließend. Junkies saßen im Halbdunkel auf Betonpollern, gegenüber an der Ecke Leonhardsplatz zur Lazarettstraße standen zwei nicht mehr so taufrische Nutten reglos, als versuchten sie, mit minimalem Körpereinsatz maximale Aufmerksamkeit zu erzielen. Die neue Gin-Kneipe eine Ecke weiter bot wohl drinnen auch nicht so viel Freiraum, was die drängende Traube davor vermuten ließ. Es war also gut was los hier. Und ich mittendrin, alles zusammengehalten von den nach draußen drängenden Klangfäden der Band im Bix. Es wurde Zeit, ich musste aktiv werden.

Wenige Schritte trennten mich noch von einer gemeinsamen Zukunft mit der dunklen Schönheit. Ich muss im Tunnelmodus unterwegs gewesen sein, denn plötzlich bremste mich eine verführerisch lächelnde Frau, die mich um Feuer bat. Da lässt man sich doch gerne bremsen.

Sofort fiel mir der extrem schräg geschnittene Rotschopf auf, das perfekte Make-up. Als mein Feuerzeug – ich bin Nichtraucher, man sollte als Mann aber immer auf diverse Startprozedere zwischen den Geschlechtern vorbereitet sein – mit lodernder Flamme ihr Gesicht erhellte, funkelten mich zwei smaragdgrüne Augen an. Eine Hand hielt die Zigarette, mit der anderen schob sie mir irgendetwas in die Jacke.

Während sie sich einen tiefen Zug an der Zigarette gönnte zischte sie leise:

„Ruf mich morgen früh Punkt acht Uhr an. Bitte!“

Das „Bitte“ klang drängend, sie nickte dankend, drehte sich um und war Sekunden später von der Menge aufgesaugt.

Ich weiß nicht, wie lange ich perplex rumstand. Die Szene mit der Geheimnisvollen dürfte nicht länger als sechs oder sieben Sekunden gedauert haben. Bedeutend länger suchte ich nach einer Erklärung, was da eben geschehen war und warum mir verdammt nochmal dieser stechend grüne Blick aus blassem Teint bekannt vorkam. In der Hand hielt ich den Zettel mit einer Telefonnummer. Meine schwarze Schönheit war auch verschwunden. Ein echt super Abend, wie gesagt.

*

SAMSTAG

Normalerweise ließ mich mein Gedächtnis nicht im Stich. Aber wann ich vor einem Date so aufgewühlt war, wie beim ersten Rendezvous – das musste Steinzeiten her sein.

Die Nacht war kurz, aber lang genug um auf die Person zu kommen, die Punkt acht Uhr meinen Anruf erwartete. Es war Lotte Dorf, deren auffälligsten Merkmale knallrote arschlange Locken und smaragdgrüne Augen waren, die mit den roten Haaren um die Wette strahlten. Am stärksten war ich allerdings beeindruckt – zumindest vor fast zwanzig Jahren – von ihrer elfenbeinartig weißen Haut, die sie stolz wie Mata Hari schützte, um ja nicht braun zu werden. Ach ja, Sommersprossen, sie hatte das Gesicht voller Sommersprossen. Trotzdem oder gerade deswegen war sie eine Schönheit.

Auf die ich am Rand des Wochenmarktes herzklopfend wartete. Ich hatte vergessen, dass Samstag war. Ich hatte vergessen, wie schwer es war, nur in der Nähe vom Cannstatter Markt zu parken. Ich hatte vergessen, wie unrühmlich unsere Beziehung nach einem heftigen knappen Jahr zerbrach.

Es war halb zehn und zwischen Gemüseständen und Geflügelhändlern tobte schon der Wettbewerb um die längste Schlange unter dem eigenen Schirm. Es war ein lautloses Werben und ein ruhiges Wählen. Die Kundschaft am Cannstatter Markt war so vielfältig wie das Angebot. Und so wenig es trendmäßig gehypte Köstlichkeiten in homöopathischen Dosen zu horrenden Preisen gab, so gar nicht fand sich die entsprechende Kundschaft dafür. Das mochte ich an der Ecke hier: Ein völlig durchwachsenes Völkchen, häufig schlicht bis gelegentlich schrill, aber keine Spur von Killesberg.

Sie würde mich schon finden, meinte sie.

Und sie fand mich auch. Sie umarmte mich wie einen alten Freund und schob mich zielstrebig zum Roten Hirsch. Mein erstes Stirnrunzeln lag nicht an Lotte, das war zu früh. Die Kneipe gefiel mir nicht, etwas zu glatt von der Außenwirkung, gerade richtig, um meine Vorurteile zu pflegen. Ich schob Lotte durch die Sulzgasse und lenkte sie mit einem gut gemeinten „Hier ist es doch viel gemütlicher“ zum Café 44.

Ich bemerkte, wie Lotte vor der weißen Plastikbestuhlung zurückwich. Nach einem skeptischen Rundblick steuerte sie den uneinsehbarsten Tisch an der Hauswand an und setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Fürs erste zufrieden ließ ich mich neben ihr nieder.

„Alles okay hier“, fragte ich sie.

„Sind das Türken?“

Achtzehn Jahre waren eine lange Zeit, aber ob das jetzt eine fremdenfeindliche Bemerkung war, wollte ich nicht werten. Noch nicht. Lotte schaute sich um, starrte die Marktstraße entlang, als erwartete sie jeden Moment eine Büffelherde, die die sittsam chaotisch spazierenden Einkäufer rücksichtslos niederwalzen würde.

„Wirst du verfolgt“, präzisierte ich meine Neugier, die sie schließlich mit dem Wunsch nach einem Treff geweckt hatte. Ihr unruhiges Verhalten wäre selbst einem nicht so routinierteren Detektiv wie mir aufgefallen.

„Ich freu mich auch, dich zu sehen, lieber Daniel.“

Ungeduldig winkte sie dem Kellner, der vom Nebentisch zwei Karten aufnahm und sie uns reichte.

„Danke“ sagte ich, ökonomisch den Kellner und Lotte ansprechend.

Sie nahm die Karte und schaute mich vorwurfsvoll an.

„Okay“, nickte ich, „die Karten sind etwas abgegriffen. Aber die Teller sind echt schön gemacht.“

Ich machte sie auf die Werbetafel an der Gasse aufmerksam, sie boten Weißwürste mit Brezel, Caprese und Muhammara mit Fladenbrot zum Frühstück.

Lotte brummelte etwas wie „Die wollen wohl auch jede Nation ansprechen“ und winkte dem Kellner mit der Karte.

Sie bestellte Caprese, dazu eine Roséschorle. Als ob es einen Gegenpol bräuchte, nahm ich die Weißwürste. Und ein Apfelschorle. Morgens Alkohol ging gar nicht, zumindest nicht, wenn ich einer Frau gegenübersaß, die irgendetwas von mir wollte. Lotte nippte an ihrem Rosé, schien zufrieden und berichtete in Stichworten, warum sie hier mit mir saß. Ein Stalker würde ihr auflauern, die Polizei nähme das nicht ernst, sie bräuchte aber zwei Tage Ruhe für ein großes Geschäft und Hotels hasste sie.

Ich schwärmte von ihrem guten Aussehen, fragte, ob der Typ jemand aus ihrem Umfeld sein könnte und ob sie noch beim Theater arbeite. Letzteres war eher rhetorisch, so wie Lotte gekleidet war, passte sie vielleicht in die Intendanz, auf keinen Fall zu ihrer schlecht bezahlten, ambitionierten Regieassistentinnen-Zeit. Das satte Grün ihres Kostüms betonte auffällig die roten Haare und ich würde jetzt schon wetten, dass sie selbst bei Minusgraden in Stöckelschuhen daherkam.

Der Caprese stellte sie kurzfristig zufrieden, meine Weißwürste kamen in einem weißen Porzellantöpfchen nebst Salatgarnitur. Donnerwetter. Das beeindruckte mich mehr als das, was Lotte erzählte. Sie erzählte viel und doch war nichts Habhaftes für mich dabei.

„Wo wohnst du eigentlich“, kam so unvermittelt wie die Frage, ob es mir schmeckte.

Sie fingerte eine Zigarette aus der Box, ich zündete sie an. Eingespielte Teams hatten schon mit kleineren Ritualen begonnen.

Lotte aß, schaute sich um, trank, schaute sich um. Schaute mich an. Ich pellte meine zweite Wurst, ließ mich von dem unaufgeregt daherkommenden kunterbunten Menschengetümmel auf der Gasse gerne ablenken. Hier gab es nun wirklich keinen Dresscode, aber so richtig reinpassen wollte Lotte nicht.

„Was ist nun mit dem Stalker?“

„Du glaubst mir nicht.“

„Warum soll ich dir nicht glauben? Hast du Feinde, Neider? Eine Konkurrentin in deinem Job?“

So wie Lotte aussah, konnten sich Hunderte arme Seelen in sie verlieben und unerhört bleiben. Könnte eine Möglichkeit sein, dachte ich.

„Gibt es einen abgeblitzten Verehrer, eine arme Seele, die du in den Rinnstein gestoßen hast?“

„Also ich finde das nicht lustig. Bist du schon mal ständig nachts angerufen worden, hast das Gefühl gehabt, ein Schatten klebt an deinen Absätzen und die Haustür schlägt nicht richtig zu?“

Lotte starrte mich an. Fünf Sekunden länger und das Besteck in ihren Händen würde sich verbiegen.

„Ich kenn den Typen nicht. Verzerrte Stimme, hab ihn nie gesehen.“

Lotte entspannte sich wieder, sie legte das Besteck neben den Teller und griff meine Hand.

„Du musst mir helfen, Daniel. Um alter Zeiten willen.“

Ich schaute sie an. Lotte musterte mich. Ihren heftigen Erklärungen folgte kurzes Schweigen. Wie abgesprochen. Ich trank. Lotte aß weiter. Ich war fertig.

„Lebst du allein“, fragte sie unvermittelt und entschuldigte sich sofort, dass sie mit vollem Mund sprach.

Also nach großer Angst sah das nun wieder nicht aus. Ich verstand sie genauso wenig wie damals zur Zeit unsrer Trennung. Als ich sie gerne erwürgt hätte. Dafür verstand ich endlich, worauf sie hinauswollte.

„Also ich wohne in Neugereut und bin überhaupt nicht auf Besuch eingerichtet.“

Das sollte nach der Beschreibung einer kontaminierten Zone klingen.

„Neugereut. Wo ist das denn?“

In ein bedenklicheres Gesicht hatte ich lange nicht geschaut.

„Noch in Stuttgart?“

Ich nickte.

„Weit?“

„Gleich hinter Cannstatt.“

Vorsichtig tupfte sie sich mit der Papierserviette die Lippen, knüllte das dünne Papier und warf es auf den komplett leer gegessenen Teller.

„Ist ja ein richtig kleines Spießerbiotop hier.“

Trotz Lottes abfälliger Bemerkung blieb mir ihre latente Unruhe nicht verborgen.

„Immerhin können wir in deinem Neugereut bestimmt ungestört über alte Zeiten reden“, lächelte sie mich an und drückte mit einer Vehemenz ihre Zigarette aus, als müsste die für alles Hässliche, was sie hier betrachten musste, bestraft werden.

Meine Rolle wurde mir immer unklarer. Keiner von uns beiden war auf schnellen Sex aus, und erkaltete Geschichten aus dem Leben interessierten mich nicht. Schade, damals hatte sie mich nicht kalt gelassen. Der Fall – mittlerweile betrachtete ich Lotte als Fall – stagnierte im Moment und das, was ich spürte, war nicht das, was ich sah. Und wie damals wuchs die Lust, sie zu erwürgen.

Die Aufmerksamkeit der Bedienung war mir sicherer.

Lotte stand plötzlich auf und wirkte ganz schön groß. Sie war groß und dann noch diese Schuhe. Lackschwarz das Leder, bleistiftdünn die Absätze. Und hoch.

„Kannst du mich in zwei Stunden in der Mauserstraße 19 abholen? Und stell bitte keine Fragen.“

Bevor ich keine Frage stellen konnte war sie verschwunden.

Der Kellner kam.

„Sie möchten zahlen?“

Ich hatte es mir anders überlegt.

„Bringen Sie mir ein Bier.“

„Pils, Weizen, alkoholfrei? Vielleicht ein Efes?“

Schlagartig ein Gefühl, als kümmerte sich der tatsächlich nette Kellner mitleidig um mich.

„Gute Idee. Ein kleines. Muss reichen.“

Ich lehnte mich verwirrt zurück. Und kaum war Lottes Parfum von der porösen Häuserfassade aufgesogen, waren es wieder ganz normale Leute, die an mir vorbeiliefen. In einer ganz normalen Fußgängerzone. War einer von ihnen der Stalker? Die verschleierte Frau; eines der reichlich vorhandenen langhaarigen Mädchen? War es der Typ mit dem abgesetzten Sidecut oder doch der Kerl mit dem perfekt getrimmten Vollbart, der eben den Barbershop verließ? War gespannt, welche Genese diese schmalen Läden noch erlebten. Schlüsseldienst, Nähstube, Barbershop. Natürlich nur für Männer. Keine Haare schneiden, nur Bärte. In Berlin soll es ein Gesetz geben, das nur an drei von vier Straßenecken Kneipen erlaubt. In Stuttgart schien die Schlacht zwischen Telefonshops und türkischen Frisörläden als Start-ups heftig zu toben und dabei alle anderen Kleinstläden auszumerzen. Mit oder ohne Frisörlizenz. Jedenfalls war hier der Mode-Einfluss junger moslemischer Männer größer als jener der Berliner Hipster-Szene.

Eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit parkte ich etwas abseits des verabredeten Hauses in der Mauserstraße. Voll das Türkenviertel. Nicht gerade meine Ecke. Moschee, Bäckerei, Restaurant. Fast alles türkisch, der Rest öde. Da sich das bestimmte Gefühl bei mir festigte, dass sich Lottes Wunsch, keine Fragen gestellt zu bekommen, auf ihren kompletten Aufenthalt bei mir beziehen würde, musste ich mir meine Fragen selbst beantworten. Wohnte sie hier, was holte sie, wovor floh sie? Ein Stalker? Für die Polizei offenbar zu wachsweich. Für Lotte bedrohlich. Oder es steckte mehr dahinter und sie traute es mir nicht zu sagen? Was wusste sie von mir, als wir uns zufällig in die Arme liefen? War ich ein ehemaliger Freund, den sie um Hilfe bat oder der erfolgreiche Detektiv, der ein Verbrechen aufklären sollte? Ohne mir selbst schmeicheln zu wollen spürte ich sofort das Gefühl, letztere Bestätigung nicht nötig zu haben und wünschte mir diesmal tatsächlich lieber einen Kontakt aus zwischenmenschlichen Gründen. Ein Detektiv ist ja auch nur ein Mann. Aber eben ein erfolgreicher.

Mitten in meine Überlegungen drängten sich zwei schwarze SUVs, die in einigem Abstand von mir direkt vor einer Bäckerei hielten, direkt auf der Straße und genau deshalb meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Nach Parken sah das nicht aus, nicht nach kurz mal drei Brötchen holen. Haben türkische Bäcker überhaupt Brötchen? Sehr schnell klärte sich alles auf. Lotte Dorf kam mit einer größeren Reisetasche aus der Bäckerei oder der Tür daneben. So genau konnte ich das aus meinem Winkel nicht sehen. Sie lief in meine Richtung? Ich war doch noch gar nicht da. Also grundsätzlich, wegen der verabredeten Zeit, dachte ich. Aus dem hinteren Wagen stiegen zwei stämmige Typen aus, riefen ihr hinterher. Zumindest sah es so aus, Lotte blieb nämlich stehen und drehte sich um. Zögerte sie? Hatte sie die Autos nicht bemerkt? Gab es da einen Zusammenhang, über den sie genauso grübelte wie ich? Ohne sich noch einmal in meine Richtung umzudrehen, ging sie auf die aufgehaltene Wagentür zu, warf ihre Tasche ins Auto, schob sich elegant nach. Der Typ knallte die Tür zu, eine Sekunde später heulten die Motoren auf und die Autos schossen davon.

Tja. Eine Entführung sah anders aus. Andererseits hatte ich eine Verabredung mit ihr genau hier. Und ich wurde das mulmige Gefühl nicht los, dass sie in zwanzig Minuten nicht zurück sein würde. Also hinterher. Sie waren an der Ecke rechts abgebogen, so weit, so gut. Das ging noch. An der nächsten Kreuzung gab es schon drei Möglichkeiten: Die Borsigstraße links oder rechts oder grade rüber. Wenn ich Entführer wäre ... Ach so ein Scheiß, schnell links Richtung Autobahn. Ich quälte meinen Benz so gut es ging, die Verkehrslage forderte von dem alten 200T allerdings eh keine zu sportlichen Allüren. Stuttgarts Straßen waren wieder mal das, wozu sie gebaut waren: voller Autos. Und wozu sie nicht gebaut waren: alle Autos standen. Oder quälten sich zentimeterweise weiter. An der zweiten Ampel gab ich auf. Nein, natürlich nicht. Mein großer Erfahrungsschatz als Privatdetektiv ließ mich mit der Möglichkeit spielen, dass Lotte nur etwas zu erledigen hatte und wie geplant rechtzeitig zur verabredeten Zeit zurück sein könnte. Und in der Zwischenzeit durften die Dinge gefälligst aussehen, wonach sie aussahen. Lotte kam nicht.

*

MONTAG

Am Samstag hatte ich Lotte noch zweimal aufs Band gesprochen.

Am Sonntag hatte ich sie schon fast vergessen.

Am Montag bekam ich Post.

Die Zeitungsausschnitte waren fein säuberlich nach Erscheinungsdatum sortiert, die Fotos nach geschätztem Gesichtsalterungsprozess. Manche hatten Laborstempel mit geprägtem Datum auf der Rückseite. Alles sehr übersichtlich. Hätte mich nicht gewundert, wenn Lotte auch noch dreißig passgenaue Tesafilmstreifen mitgeliefert hätte. Der Großbrief hatte keinen Absender, trotzdem ging ich aus drei Gründen davon aus, dass Lotte mir das Material geschickt hatte. Erstens war sie auf den meistens Bildern selbst mit drauf, zweitens war das Schriftbild der Adresse für mich das eines zumindest beim Schreiben ordentlichen weiblichen Wesens und drittens lag im Umschlag als Beiwerk wie das Wachssiegel eines erzbischöflichen Dekrets einer der beiden Anhänger, die sie an einer silbernen Halskette getragen hatte.

Ich erinnerte mich genau, oft genug stierte ich auf ihren Hals, nicht nur weil er makellos und faltenfrei war, sondern weil ich ihr am Samstag gerne wieder einmal an die Gurgel gesprungen wäre. Gut, ich hatte mich beruhigt, irgendwann musste die Vergangenheit auch mal vergangen sein. Aber jetzt war ich schon wieder soweit.

Meine beste Methode, wirklich, meine allerbeste Methode wieder egal wovon runterzukommen, war und blieb die Küche. Das war mein Geheimrezept. Nach dem ich gar nicht so Geheimes kochte, aber immer frisch, ich war kein Dosenöffner. Auch nicht in Frustzeiten. Andere saufen, ich bekoche mich. Und was hab ich mich bekocht im Leben ...

Die Artikel klebten ordentlich an einer zur Pinwand umfunktionierten, zusammengeklappten Bierbank, die an der Wohnzimmerwand lehnte. Tesafilm hatte ich selbst. Allein der Anblick zeugte von einer gewissen Innovationskraft und färbte schlagartig auf meine Kreativität ab. Ich kochte also – weil es grade vorrätig war – Hühnerbrust mit Blumenkohl in Estragon-Senfsoße, dazu natürlich Reis. Für drei Personen. Ich kochte immer für drei Personen. Meistens. Erstens aß ich meist soviel wie eineinhalb Gäste, zweitens kochte ich auf kurzen Vorrat. Zweimal essen war meine Devise. Aber nicht hintereinander. Ein Tag Pause, je nach Gericht maximal zwei, dann gab es den Rest. Und wie so oft: Aufgewärmtes schmeckte noch besser.

Ich tänzelte also durch die schmale Küche, die der best ausgestattete Raum der Wohnung war und kam runter. Trotzdem spürte ich, dass ich nicht verdrängen konnte. Die Bilder meiner Pinwand unterstützten meine Gedanken. Ich zerteilte den Kohl in Röschen und fügte die Artikel zu einer Geschichte zusammen.

Lotte auf einer Jacht, Lotte im Abendkleid mit Sektkelch bei einem Event, Lotte als Galionsfigur an ein englisches Cabrio gelehnt. Meist deutsche Artikel mit ähnlichem Tenor. Es ging nie um Lotte, sie war auffälliges Beiwerk, das rasende Reporter wohl gerne fotografierten. Und ich musste ihnen recht geben. Sie sah verdammt gut aus, strahlte, was der Zahnarzt erlaubte. Aber wie gesagt, es ging nicht um sie. Es ging um den Mann, der sich offensichtlich gerne mit etwas umgab was ihn schmückte und stolz machte. Ja dieser Mann schaute tatsächlich mit einer Art Erfinderstolz in die jeweilige Kamera, als präsentierte er nicht nur seinen Besitz, sondern seine ganze Lebenshaltung als etwas Einzigartiges. Selbst auf den Schwarzweiß-Fotos wirkte dieser Mann eine Spur strahlender, sonnengebräunter und trainierter als die Zeitgenossen neben ihm. Ein Skilehrer, Tennistrainer, Basketballspieler. Alter schwer zu schätzen.

Dieser Mann war international unterwegs, zumindest im europäischen Bereich, und offensichtlich gerne an Küsten. Eine französische Gazette schrieb 2012 über seinen Aufenthalt an der Cote d´Azur, ein englisches Revolverblatt breitete 2016 seine Umseglung Irlands wie eine Weltumseglung aus. Alles keine Geheimniskrämerei, auch der Mann war kein Geheimnis. Wo lag also das Problem? Jürgen König war überall der Mann der Stunde, stets in Begleitung der ‚flotten Lotte’, wie die ‚BILD’ schrieb, die natürlich im Reigen der Presseerzeugnisse nicht fehlen durfte.

Zwei Bilderstrecken waren ohne Lotte, dafür mit mehreren anderen Frauen, durch die Bank hübsche Wesen. Ich erfuhr, dass Jürgen König einige Diskotheken, die mittlerweile Clubs hießen, sein Eigen nannte. Außerdem fühlte er sich wie der generöse Wohltäter der Stadt Stuttgart nebst Umland, weil er dafür sorgte, dass die in der Öffentlichkeit so arg in Verruf geratene Prostitution durch seine intensive Unterstützung in geregelte Bahnen gelenkt wurde.

Ich schluckte und leckte den Soßenlöffel ab. War schon mal gelungen. Es war kein Geschmackstest. Ich schmeckte nie ab. Je nach Topfgröße würzte ich frei aus der Hand und wenn das Essen auf den Tisch kam, schmeckte es perfekt. Zumindest so, wie ich es mir vorgestellt hatte. König war also ein Saubermann, ein Gönner, ein Highlight der Stadt. Umgeben von bezahlbaren Schönheiten. Mir wurde schlecht. Lag aber am Hunger. Den moralischen Zeigefinger gab es bei mir nicht, Dirnen musste es einfach geben, das verstand ich schon. Auch wenn ich stets in der glücklichen Lage war, bei eigenem sexuellem Notstand nicht darauf, sagen wir mal, zurückgreifen zu müssen. Herr König tat also vielen Männern einen Gefallen, inklusive der Stadtverwaltung. Er plante auf der grünen Wiese ein Superbordell. Schlagartig fragte ich mich, warum auf der grünen Wiese vor Stuttgarts Toren kein umfangreicher sozialer Wohnungsbau stattfinden konnte, damit die von der Politik so herbeigeredeten jungen Familien überhaupt erst mal die Chance bekamen, eine junge Familie werden zu können. Ein Sextempel brachte offensichtlich vom Quadratmeterpreis bis zur Gewerbesteuer mehr ein. Soweit, so gut. Oder auch nicht.

Ich deckte meinen Balkontisch. Der Balkon war recht groß und so hatte ich trotz der halben Biertischgarnitur immer noch Platz, um mich zu bewegen. Wobei ein Balkon natürlich für mich kein Bewegungsplatz sein sollte. Ich brauchte einfach einen großen Tisch. Und ich brauchte den weiten Blick in die Natur. Das reichte schon. Wesentlich mehr Berührung mit der Natur musste gar nicht sein. Schön, die Wanderer beim Sonntagsspaziergang auf der Neugereuter Hochebene vor oder nach dem Mittagessen ihre Kreise ziehen zu sehen. Da war ich voll zufrieden, und genoss einen heißen Schluck aus meinem großen Kaffeepott. Außerdem lenkte mich Natur nicht so ab vom Denken und Schmecken. Vorsichtig löffelte ich mein Essen, saß so, dass ich mit geringstem Aufwand an Kopfbewegung sowohl besagte Natur genießen, wie auch, mit einer kleinen Linkswendung, den Blick durch die große Scheibe auf mein Kunstwerk werfen konnte, das sich vernachlässigt fühlte. Dabei dachte ich unaufhörlich daran, wie mit den Bildern und der Geschichte dahinter umzugehen war.

Warum hatte mir Lotte das Zeugs geschickt? Was wollte die mir nun noch fremder gewordene Frau damit sagen? Steckte der geld- und auch sonst gierige Bordellkönig dahinter? Ich schöpfte etwas Huhn mit Blumenkohl nach, die Soße hatte eine originelle Gelbfärbung, stand dem Blumenkohl gut, dachte ich. Der Reis war sowieso zufrieden, Hauptsache er bekam genügend Soße. Da verstand ich ihn ganz gut, ging mir auch so. Ich schaute lang aufs Land, essen sollte man in Ruhe, und entdeckte nichts. Ich schaute auf die Bilderstrecke, und entdeckte auch nichts. Im Gegensatz zu meiner Soße war die Story dahinter noch zu dünn. Ich klammerte mich an drei Auffälligkeiten, die mir wichtig schienen: Erstens wollte sich Lotte unbedingt bei mir einnisten, zweitens blieb Lotte verschwunden und drittens erhielt ich von Lotte ein offensichtlich vorbereitetes Päckchen mit Recherchematerial. Mir fiel bei der Gelegenheit auf – was meine Punkte allerdings um eine vierte Komponente erweitern würde –, dass das Material nichts, aber auch gar nichts mit einer Stalker-Geschichte zu tun zu haben schien. Es wird mir nicht erspart bleiben, meinen Laptop anzuschmeißen, in diesem weltweiten Netz wird sich doch brauchbares Material über König verfangen haben. Und wie immer, wenn es um Computer oder ähnliches elektronisches Zeugs ging, fiel mir meine Tochter ein. Und schon schwenkte mein Blick wie ferngelenkt an meine Dreierreihe Billy-Regale, die glücklicherweise nicht nur als Bücherbord zu nutzen waren. Lisbeth klebte mit besagtem Tesafilm in DIN A3-Größe am Regal und verdeckte zwei leere Borde. Das Bild war zwar nicht gerahmt, aber immerhin hing es schon mal. Sie hatte es mir nach unserem gemeinsam erlebten Franken-Fall zur Erinnerung mitgegeben. Also ein aktuelles Bild. Und da ich kurz vor der Wohnungsrenovierung stand, was ein zum Leidwesen meines Freundes und Vermieters Lasse ein seit über drei Jahren währender Zustand war, wusste ich eh noch nicht, wohin damit.

Lisbeth hing in ihren Kniekehlen kopfüber am Trapez und wusste, wohin sie gehörte. Das bisschen Welt, das sie sah, gefiel ihr. Diese Welt stand Kopf. Und schaukelte. Zwei Scheinwerfer waren auf sie gerichtet, aus großen Lautsprechern dröhnte ein Trommelwirbel, den Tiago, der verrückte Toningenieur mithilfe seines Panoramareglers rund um die Manege kreisen ließ. Ein spektakulärer Moment, offensichtlich kündigte sich eine gefährliche Einlage an. Lisbeth konzentrierte sich, fixierte die roten Stühle, die vom Himmel schwebten, bemerkte im Halbdunkel die drei Artisten, die ihr das Trapez überlassen hatten, ließ ihre Arme dem dunkelblauen Manegenboden entgegenbaumeln, der im Moment so absolut unerreichbar für sie war. Lisbeth war sehr angespannt, so sehr, dass sich ihre Beine niemals versehentlich lockern würden, sie vom Trapez rutschen und zu Boden stürzen würde. Das Trapez schaukelte stärker, der Bogen wurde weiter, aus dem Dunkel kam kopfüber Mago auf sie zu. Das war zuviel.

„Stopp!“, rief sie, „keinen Schritt weiter oder ich mähe dich um.“

Mago blieb wie angewurzelt stehen, er war es gewohnt, auf Lisbeths Ansagen unverzüglich zu reagieren. Dass sie, wie in diesem Fall, etwas bestimmend ausgefallen waren, musste in der Natur der Situation liegen. Mago verzieh ihr. Er hätte sich auch auf den Kopf gestellt, ohne dass Lisbeth kopfüber vom Trapez hängen musste, wenn sie ihn jemals verkehrt herum betrachten wollte. Lisbeth hing gerne am Trapez. Aber dass ihr Mago zu nahe kommen konnte, ohne dass es zu verhindern war, ging ihr doch einen Schritt zu weit. Sie bog ihren Oberkörper dem Trapez zu, griff die Stange, hakte ihre Beine mit einer rückwärtigen Rolle aus und hing über dem Boden. Dann ließ sie los. Federnd ging sie nach dem Fall aus über einem Meter Höhe in die Knie. Im Hintergrund applaudierte das Trapez-Trio, im Vordergrund jubelte Mago.

„Damit könntest du auch bei der nächsten Turn-WM starten. Bravo Lisbeth.“

„Mach dich nicht lächerlich. Ich mach mich doch nicht lächerlich. Ich wollte nur mal spüren, wie sich das anfühlt. Ohne Orientierung und so. Und dann auch noch die grellen Spots.“

„Tjaja“, sinnierte Mago, „meine Lisbeth braucht halt immer die Orientierungshoheit.“

Das sagte er schon eher zu den Artisten, die Lisbeths Waffengürtel mitbrachten.

Lisbeth bedankte sich und ignorierte sicherheitshalber Magos Geschwätz. Sie war weder „seine“, noch musste sie bestimmen, wo es langging. Obwohl ...

„Ich bleib bei meinen Sternen. Aber so als Meditation, um drumrum mal alles auszublenden, ist das echt nicht schlecht.“

Lisbeth schnallte sich ihren Gürtel um und ging ein paar Schritte auf den Manegen-Eingang zu.

„Tiago, gib bitte mal meine Stimmung raus.“

Tiago, der nicht nur für den Ton oder das Licht, sondern quasi in Personalunion für das Circus-Theater Ilusao als Ganzes die Verantwortung trug, erledigte es sofort.

Das Licht wechselte, die Manege wurde dunkel, Lisbeth trat in einen senkrechten Lichtstrahl und fixierte das gelbe Manegentor, das ebenso von Geisterhand mit einem roten Vorhang verhängt wurde. An der rechten Seite, knapp zwischen den ersten Zuschauerplätzen und dem Tor erschien ein etwa vier Meter großer Holzdrache. Aus dem Nichts tauchte neben ihr Heidi auf, die taiwanesische Großmeisterin im Ninja-Sternewerfen. In ihrem Land bedeutete der Name ‚von adliger Herkunft‘ und Heidi benutzte ihn auch in Deutschland gerne, schon allein, weil sie sich über die erwartbaren Reaktionen königlich amüsieren konnte.

„Konzentriere dich, schwebe, deine Füße berühren nicht den Boden, dein Körper schwingt zum Ziel, dein Arm ist der Bote, dein Stern klopft für dich an die Pforte.“

Lisbeth hörte zu, holte aus, fixierte die Brust des gefährlichen Drachen und schickte den Stern auf die schnelle Reise. Noch bevor ihr Arm sich entspannt hatte, hörten sie ein dumpfes „Blopp“. Eine Spitze des fünfzackigen Sterns hatte sich in den Drachen gebohrt. Nicht ganz da, wo Lisbeth erhofft hatte, aber sie spürte, sie wurde täglich besser.

Heidi legte eine Hand auf Lisbeths Brust und eine auf ihren Rücken. So fixierte sie Lisbeth ins Zentrum ihrer Kräfte.

„Bravo. Wenn wir auf Tournee gehen, werden die Zeitungen voll sein mit Bildern und Artikeln über das deutsche Ninja-Talent.“

Die Zeitungsausschnitte verursachten ein kleines Durcheinander in mir. Es gab zwei Artikel, die ich weder Lotte noch Jürgen König zuordnen konnte. Die Artikel berichteten über Stuttgart 21-Demos. Datiert auf 2013 und 2016. Naturgemäß mit Bildern, auf denen mehr als ein, zwei Menschen zu sehen waren. War Lotte eine S21-Gegnerin? Aber ich fand sie nicht auf den Bildern. Dafür einen Spruch auf Pappkarton, der mir einleuchtete:

„Bahn und Stadt hab ich satt“.

Ich lehnte mich satt an meine Hauswand, als einziges Manko hatte meine Bierbank keine Lehne. Sonst war alles gut. Redete ich mir erfolgreich ein. Zumindest ein paar Verdauungsminuten ging das gut. Mein Wohlfühlprogramm versuchte zu verdrängen, dass mir eins völlig klar war: Der Blick auf Lottes Bilderstrecke lieferte keine aktuellen Erkenntnisse – er lieferte Erinnerungen. In diesem Fall schmerzhafte.

Als ich Lotte kennenlernte und so unüberlegt wie plötzlich ein Verhältnis mit ihr begann, war Lisbeth, die damals noch mit ihrem richtigen Namen ‚Johanna’ zufrieden war, gerade mal zwei Jahre alt. Ich dachte, das wird eines dieser Verhältnisse, die man mit knapp dreißig eben mal hatte. Und ich dachte, an sich glücklich zu sein, so mit Frau und Kind. Dass das ein Widerspruch war, zeigte schnell die Wirklichkeit, in der ich plötzlich angekommen war. Lotte wollte mich ganz, vielleicht sogar in einer anderen Stadt. Auf jeden Fall ohne Kind. Lotte war dreiundzwanzig, da störte das womöglich. Petra, Lisbeths Mutter, kam mir natürlich irgendwann auf die Schliche. Und schlagartig sollte ich mich zwischen einer soliden Schwarzhaarigen und einem aufgekratzten Rotschopf entscheiden. Ich kratzte mich am Kopf. Kein gutes Mittagsthema, ganz ohne Wein oder Bier. Ganz ohne Happy End.

Als ich mich lange genug nicht entschieden hatte und zu Lotte tendierte, zog diese nach Frankfurt. Und Petra schnappte Johanna und machte das, was statistisch betrachtet viele taten und tun: Sie zog zu ihrer Mutter. Und ich blieb ziemlich belämmert übrig: Drei Weiber auf einen Schlag auf und davon.

Wie zum Teufel ich mich bei Lotte an Frankfurt erinnerte, überraschte mich nun doch. Kein klares Bild, nur eine verhuschte Erinnerung. Ich verfluchte mich. Das war wahrlich nicht die Verfassung, in der ich mich jetzt brauchen konnte. Ich kannte mich. Wollte ich mich in diesem Zustand aufmachen, um am aktuellen Fall zu arbeiten? Ich war sowas von satt, träge und mein geistiger Horizont angemessen durcheinander. Was nun auch noch meinen realen Ausblick störte, war dieser vermaledeite Hochhaus-Wohnturm, der als mahnender Rohbau aus Fellbach herausragte, ohne dass man Fellbach überhaupt sehen konnte. Aber womöglich steckte wie bei Lottes Bilderrätsel auch bei Fellbachs Stadtoberhäuptern eine gewisse Absicht dahinter.

Irgendwie musste ich hinter Lottes Absicht kommen, warum sie mir die Unterlagen geschickt hatte. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass mir nichts anderes übrigblieb, als mich endlich auf die Socken zu machen und die paar Erkenntnisse, die ich Online ergattert hatte, gegen reale Kontakte einzutauschen. Ich hatte als einzige Adresse die Bopserwaldstraße ermittelt, nicht gerade die schlechteste Wohngegend für Stuttgarts Geldadel. Und ich hatte eine wunderbare Information, zitiert aus Königs Munde, die natürlich gleich von zwei Zeitungen mit großem Genuss verbreitet wurde:

„Am Bodensee will ich auch so ein Lustzentrum eröffnen, möglicherweise sogar in Konstanzer Nähe. Denn ich glaube, den Schweizern ist sogar ihr eigener Puff zu teuer, unsre Mädchen sind ohne Begrenzung und glatter. Wie unsre Autobahnen.“

Also ich fand, der Mann hatte was.

„Man hat mir beunruhigende Informationen von unseren östlichen Geschäftsfeldern zugetragen.“

Jürgen König stand mit dem Rücken zu seinem Gesprächspartner. Das allein war schon ganz gegen seine Art. Er blickte auf die Stadt hinunter und wippte unstet mit dem Körper. Das war noch ungewöhnlicher für den stets kontrollierten Jürgen König und musste jeden Menschen, der König kannte, aufs Höchste in Alarmbereitschaft versetzen.

Cem Tuna stand hinter seinem Chef und war tatsächlich sehr angespannt.

„Herr König, Sie können sich auf meinen Bruder verlassen. Er ist die Diskretion in Person.“

Mehr konnte Cem in dieser Situation nicht beitragen. Wenn sein Chef ungehalten war und Schwierigkeiten auf sich zukommen sah, waren Beschwichtigungen das Letzte, was der hören wollte. König drehte sich langsam um, schaute seinem leitenden Angestellten lange ins Gesicht. Und nickte.

„Ihr Bruder ist also gewillt ... in welcher Größenordnung sollten wir denken, wenn Sie von Brüdern in Ihrer Familie berichten, werter Cem?“, wechselte König anzüglich das Thema.

„Wir sind doch alle irgendwie Brüder in unserer Familie“, meinte Cem sanft. „Unsere Familie Tuna pflegt eben eine große Verbundenheit. Wir sind loyal Herr König. Das wissen Sie, darauf können Sie sich verlassen.“

Jürgen König ging zu seinem Schreibtisch. Das Büro hatte den besten Blick über Stuttgart und schien dem Hausherrn weit wichtiger zu sein als das noch weiträumigere Wohnzimmer. Zumindest war es edel eingerichtet und bot diverse Plätze, um zu entspannen oder konzentriert zu arbeiten. Oder prestigegemäß hinter dem Schreibtisch für große und sensible Geschäfte die Fäden in der Hand zu halten.

„Ich verlasse mich auf meine Order, auf die Menschen, die sie umsetzen. Auf Sie, Cem. Es mag sicher entfernt von jedweder Bedeutung sein, wenn im polnischen Grenzgebiet junge osteuropäische Mädchen in meinem Lusthaus großzügigen Herrschaften zu Diensten sind. Aber wenn Ihr Osmanen-Clan, Ihre Brüder also, mit zehn sehr jungen Mädchen in Stuttgart auftaucht, wird mir die Frage erlaubt sein, ob diese ‚Damen‘ aus Gründen des Völkeraustausches mehr oder weniger freiwillig hier sind. Denn diese Frage wird von Amtswegen gestellt werden. Wenn wir uns auf sonst nichts verlassen können – darauf sicher.“

König sprach mit ruhiger Stimme. Cem hörte kein lautes Wort, keinen aggressiven Ton. Nur das Wort ‚Damen‘ klang etwas abfällig. Cem nahm trotzdem nichts auf die leichte Schulter. Er traute keinem Frieden, der sich hier nicht einmal abzeichnete.

„Eher weniger, Herr König. Eher weniger. Es sind ganz prima, frische Mädchen und mein Bruder garantiert mir ...“

„Ihr Bruder wurde nicht für Garantien disponiert, Cem. Ich definiere das Geschäft, ich ordere Frauen, ich wäge die Risiken gegen die Erträge ab. Wir genießen einen exzellenten Ruf, was in diesem Gewerbe nicht so leicht ist, wie Sie genauso gut wie ich wissen. Und ich dulde es nicht, dass übereifrige Gesellen auch nur einen winzigen Kratzer an meiner Fassade hinterlassen. Das werde ich unter allen Umständen zu verhindern wissen. Unter allen, das verstehen Sie doch?“

König schaute Cem an. Cem Tuna war der Chef seiner ausschließlich türkischen Mitarbeiter, die bei seinen diversen Etablissements darauf achteten, dass im Rahmen des Möglichen alles mit rechten Dingen zuging. Seinen privaten Haushalt führten die ebenso zahlreichen Schwestern der Familie, vom Chauffeur bis zum Personenschutz bot Cems Clan ein eingespieltes Wohlfühlpaket. König wusste, diese Leute waren tatsächlich loyal. Und gestand sich schmunzelnd ein, einer wohlerzogener als der andere.

Trotzdem konnte sich Cem in dieser Situation, in diesem Raum so verloren wie unwohl fühlen.

König ging um seinen Schreibtisch herum, musterte beiläufig ein paar Unterlagen und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem fantastischen Ausblick.

„Morgen erwarte ich Astor zurück ist, er wird sich unverzüglich um eine dezente Lösung kümmern. Verteilen sie die Mädchen in die besten Zimmer, wenn sie schon mal da sind und angeblich so frisch, dann sollen doch alle Beteiligten etwas davon haben. Wäre doch schade, wenn sie sich langweilen würden. Schließlich fühlen wir uns Stuttgart, dieser unterhaltsamen und sauberen Stadt verpflichtet. Finden Sie nicht auch, Cem?“

Das war nun gar nicht süffisant gemeint. König pflegte einen sehr engen Kontakt zu seinem Teamchef, so gewissenhaft wie Cem seine Aufgabe wahrnahm, ließ sich das gar nicht vermeiden. Cem nickte und schaute in die gleiche Richtung wie sein Chef, irgendwohin da unten in dieses Zentrum.

„Stuttgart hat uns allen bisher sehr gutgetan, unserer ganzen Familie. Das haben wir zu allergrößten Teilen Ihnen zu verdanken, Herr König. Das kann niemand vergessen. Auch wenn wir nicht ständig die Arbeitsweisen des Osmanen-Boxclubs gutheißen können, so versuche ich doch mit meiner Familie stets die positiven und für Ihren Betrieb nützlichen Komponenten herauszuziehen.“

König grinste.

„Das haben Sie wahrhaft trefflich formuliert. Es ist eine hehre Kunst, Alles zu tun aber mit Nichts in Zusammenhang gebracht werden zu können. Gewissermaßen sind wir doch alle eine Familie. Aber Oberhaupt kann es eben nur eines geben. Sich dessen bewusst zu sein, ist für jeden Einzelnen von äußerst existenzerhaltender Tragweite. Und sollte in allen Köpfen verankert sein.“

Sowohl in meinem Kopf wie in meiner Wohnung war ich doch ein ganzes Stück weg von Stuttgart. Zumindest davon, was man unter Stuttgart verstand. Ich verstand Stuttgart längst nicht mehr. Bis Cannstatt alles normal auf der Straße. Aber was spätestens auf der Höhe vom Stadtpark mit einer höchst originellen Mooswand begann, später zu feinstaubsaugfähigen Vierkantstelen mutierte und damit sicher noch nicht endete, warnte schon mal jeden sensiblen Autofahrer vor dem, was einen nach dem Neckartor erwartete. Wenn ich es nicht schon zwanzigmal gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Braune Gruben, blaue Rohre, silberne Schächte. Es gab Städte, die verrohen. Ich behaupte: Stuttgart verrohrte! Und mochte gar nicht drüber lachen. Bis zum Charlottenplatz musste ich echt aufpassen, ob die Streckenführung der Straße noch so verlief wie eine Woche vorher. Sehr kreativ das Ganze. Immer genug Fahrspuren, egal wie kurvig, direkt bis an den Parkrand. Menschen ohne Auto sah ich gar keine mehr. In so einem High-Tech-Umfeld war ein schmaler Pfad für Fußgänger nicht vorgesehen. Außerdem würde es bei dieser Ausstoßdichte die Leute sowieso nur krank machen. Stuttgart, dein tägliches Los ist Feinstaubalarm. Also ab nach Neugereut oder Fellbach auf die Äcker, da lief es gut.

Hier lief gar nichts. Kurz vorm Charlottenplatz doch noch eine aktuelle Fahrspurverlegung, zwei Laster und ein Markierungsklebewagen oder wie die Dinger hießen, schlichen auf voller Breite vor drei Autoschlangen her. Wie anfangen, wenn ich König gegenüberstand? Dass er nicht daheim sein könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Irgendjemand würde schon da sein. Ich musste endlich heißlaufen, in die Gänge kommen. Die Hohenheimer Straße war dann endlich einfach nur volle Straße. Ab der Abbiegung zur Bopserwaldstraße sah es unvermittelt gar nicht mehr nach Stuttgart aus. Also, bis auf die Hügel. Es bahnte sich die Ruhe an, die sich die reichen Möpse hier oben offensichtlich ausbedungen hatten. So schien es. Andere Welt. Ich rollte an Häusern vorbei, deren Kaufpreis wahrscheinlich höher lag als der meiner kompletten Neugereuter Fußgängerzone. Kein Neid, ich sortierte nur die Bandbreite. Ich war da, keine Nummer am Haus, zwei Häuser vorher hatten die Bewohner noch kein Problem damit, ihren Besitz ordentlich zu nummerieren. Dem Gesetz der Serie der süddeutschen Hausnummernbeschilderungsverordnung folgend – ich grinste, schönes Wort war mir da eingefallen – musste es dieser vollverglaste Quader sein.

Ich fuhr vorbei. Vorbei an zwei überbreiten Garagentoren, an der Ecke Wernhaldenstraße konnte ich endlich wenden. Wieder runter, nochmal vorbei, zurückgesetzter Eingang, auch hier kein Mensch auf der Straße, obwohl schöner Blick, bessere Luft, außer mir kein Verkehr. Ich fuhr weiter, als traute ich mich nicht zu halten, Präsenz zu zeigen. Wendete am Weißtannenweg, wieder hoch, fünfzig Meter vor dem Haus rechts parken.

Ich stieg aus, lief einmal absolut beiläufig an meinem bergseitig zu observierenden Objekt vorbei, überquerte die Straße, lehnte mich an den talseitigen Zaun eines anderen Prachtbaus und schaute lange, ich glaube ganz lange, auf mein Stuttgart runter. Verdammt schöne Stadt, doch. Kurz wollte ich noch einmal zurück in die Sicherheit meines vertrauten Umfeldes. Im Auto studierte ich meine handschriftlichen Erkenntnisse, ich nutzte einen Block wie Colombo. Es verschaffte mir ein großartiges Gefühl, mit leichter Hand die Seiten nach oben umzuschlagen, das war so was von dynamisch. Höchste Zeit, aktiv zu werden. Nur leicht gebremst von meinem vollen Magen, der meinen Körper träge werden ließ und meinem Geist nicht folgen konnte. Ich fühlte mich gut. Und schlief ein.

Als ich wieder aufwachte, dämmerte es draußen. Und kurz darauf auch drinnen. Mir nämlich. Unter meinem Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Ich fluchte über die strengen Anwohner, die mir vermutlich unmissverständlich klarmachen wollten, dass hier weder ein Park- noch ein Campingplatz war, fingerte schlecht gelaunt den Zettel aus der Klemme und schaute auf eine gestochen klare Handschrift:

„Rufen Sie mich an, wenn Sie wach sind. König.“

Ich kannte solche Zettel. Eine ähnliche Botschaft hatte mich letztes Mal in ein ziemliches Schlamassel manövriert. Wie gewohnt rief ich mit unterdrückter Nummer an und freute mich nun doch, so unkompliziert mit Jürgen König sprechen zu können.

Eine Frau war am Telefon, Frau König. Sie bat mich, doch unbedingt ins Haus zu kommen. Wo ich schon einmal da war. Freundlich lächelnd empfing sie mich mitten in einem betonrohen Entree, dessen üppig beleuchteter Teich an dem überfrosteten Ambiente auch nichts retten konnte. Das war schon mal groß, das war schon mal hässlich. Frau König war groß und schön. Sie ging mir die breite Treppe voraus eine Etage höher und ich erwartete im nächsten Moment schwungvolle Showmusik. Hier oben begann das Wohnen – und mein Staunen.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr ...“

Sie hob kurz die Stimme, schaute mich an, als dürfte man namenlos nicht auf diesen herrlich wuchtigen und trotzdem eleganten Sofas Platz nehmen.

„Berber“, nickte ich ihr etwas verschlafen zu, „Daniel Berber.“

Ich setzte mich und erlaubte mir, jetzt, da ich meinen Namen ja genannt hatte, einen weiteren Blick Richtung Stuttgart. Nur, dass sich die Stadt diesmal hinter Glas befand, gerahmt in einer Fensterfront, die womöglich fünfzehn Meter breit und zwei Geschosse hoch war.

„Respekt“, sagte ich, ohne ein Staunen verbergen zu können.

„Danke“, lächelte sie mich an.

Frau König schien mir das Lächeln gepachtet zu haben. Womöglich hatte sie ein Abo bei einem indischen Privat-Yogi, der ihr ständige Gelassenheit antrainierte, um in diesen wahnsinnig teuer umbauten Kubikmetern eben nicht besagtem Wahnsinn anheimfallen zu müssen.

„Möchten Sie etwas trinken, Herr Berber? So ein kleiner Mittagsschlaf macht doch sicher durstig.“

Ich lächelte zurück, was die konnte, konnte ich schon lange. Immerhin war ich schon mal drin.

„Danke, gerne ein Wasser.“

Frau König stand auf, ging eine weitere Innentreppe hoch, wo ich die Küche oder zumindest einen Kühlschrank oder gleich die Bar vermutete. Ihr Aufstehen, Gehen, Treppensteigen, „Einen Moment“ sagen war von so elegant gleitendem Fluss, dass ich mir die Yogi-Adresse unbedingt geben lassen musste. Es wurde still. Dann klapperte es verdächtig wie Eis in Glas. Ich schaute nach oben, wo sie hinter der Brüstung verschwunden war und mein Blick blieb an diskret beleuchteten Wandnischen mit wirkungsvoll angeordneten asiatischen Kunstobjekten hängen. Also doch. Kunst musste sein. Weiter oben drei monochrome Gemälde eines unzweifelhaft sehr teuren Künstlers mit gehörigem Abstand. Wandfläche gab´s ja genug. Und noch weiter oben lehnte unversehens Frau König über der Brüstung aus auch hier präsentem Beton und lockte mich mit einem Lächeln nach oben, dem ich ganz gewiss auch nonverbal gefolgt wäre.

„Kommen Sie doch bitte hoch. Im Garten ist es noch mild, wir haben eine geschützte Lage hier. Wird Ihnen sicher gefallen.“

Woran ich keinen Zweifel hatte. Ich nickte stumm, das musste an Zugeständnis reichen und nahm den gleichen Weg wie sie. Fühlte sich bei mir nur überhaupt nicht fließend und tiefenentspannt an. Naja, ein Blick auf fettleibige Buddhas machte mich noch lang nicht transzendental.

Das Haus überraschte mich mindestens so, wie ich es von den Königs befürchtet hatte. Hier oben ging es unvermittelt in die andere Richtung in die Tiefe, also weg von der Stadt in den Hang hinein. Jede Etage dem Hügel abgetrutzt. Diese Ebene war ein Speisesaal mit verborgener Küche oder ein Tanzsaal mit faltbaren Tischen, mir fehlten die Worte, für mich in Bilder zu fassen, meinem Verstand zu vermitteln, was ich sah. Dazu mehr als passend steckte Frau König in einer Art Hausanzug, der zwischen Marathon-Training, asiatischem Schwertkampf und dem anschließenden Besuch einer Nobel-Bar nicht gewechselt werden musste. In einem sehr blassen Beige. Hieß das heutzutage nicht Nude? Berber, spar dir die Assoziation! Sie hielt mir ein Glas Wasser hin.

„Nun trinken Sie erst mal. Und dann erzählen Sie mir, warum Sie mein Haus beobachten.“

Ich nahm das Glas, trank es in einem Zug leer. Langsam. Ich hatte eine Antwort, war aber nicht sicher, ob sie ihr gefallen würde. Ich gab ihr das Glas zurück.

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich beobachte nicht ihr Haus.“

Das fand ich für den Anfang ziemlich clever, es klang ehrlich.

Frau König nahm schwungvoll zwei langstielige Gläser von einem Stahlsockel, spreizte einen Ellbogen ab, mit dem sie mich in eine bestimmte Richtung dirigierte.

„Hier lang“, sagte sie und schob mich bergwärts. Also da, wo früher Abhang war und nun ein von ziemlich einfallsreichen Gartenarchitekten kreiertes künstliches Gelände.

Ich ließ mich gerne schieben. Das verschaffte mir einen Überblick, außerdem etwas Zeit. Jenseits einer wiederum riesigen Glasfläche ging es diesmal raus, in das, was bei normalen Menschen Garten genannt wurde. Ich hatte keine Zeit zu staunen.

„Soso, nicht das Haus. Also interessieren Sie sich womöglich für mich.“

Frau König schaute mich amüsiert an, hob ihr Glas zum Prost und trank.

„Natürlich nicht ... ja, ich meine ... Ihr Mann ist nicht zufällig ...“, und ließ es bei dem Versuch. Mechanisch folgte ich ihr und trank.

„Ich hoffe, Sie haben nichts gegen einen guten Crémant einzuwenden. Dieser ganze Drinkmix-Hype geht mir auf die Nerven. Einfach ein gutes, klares Getränk. Dabei haben Sie mich gestört und jetzt machen wir gemeinsam weiter.“

„Kein Problem. An meinen freien Tagen fange ich gern mittags an zu trinken.“

Ich musste ihr ja nicht auf die Nase binden, dass das Rust Cohles Spruch aus True Detective war. Corinna König schaute mich pikiert an und entfernte sich drei Schritte. Schon blickte ich in eine üppige Landschaft, einen Mix aus sanft welligen Hügeln, die aussahen wie grün gestrichen, so akkurat gestutzt folgte der Rasen jeder Bodenwelle. Dazwischen schoben sich grobe Felsbrocken aus der Erde, es folgte ein Biotop mit Bambusbüschen, wieder Fels, ein überdachter Sitzplatz, irgendwie schien es nach oben endlos weiter zu gehen.

„Wenn ich geahnt hätte, was mich hier erwartet, hätte ich Ihnen schon früher hinterher spioniert.“

Und das war nicht einmal gelogen. Die Frau war drahtig, ohne hager zu sein, vernünftig schlank, mit Proportionen, wie ich sie mir wünschte. Ihre Art hatte trotz des offensiven Reichtums nichts überhebliches, die schulterlangen brünetten Locken rahmten wild aber gekonnt ihr Gesicht. Und ich spürte den fordernden Blick ihrer blaugrünen Augen.

„Unter anderen Vorzeichen würde ich mich für die Einladung bedanken“, begann ich in epischer Breite.

„Ich habe Sie aber nicht eingeladen und Sie haben auch noch nicht ansatzweise meine Frage beantwortet. Dafür, dass ich Sie so nett empfangen habe, sind Sie ganz schön sperrig.“

Ich nahm noch einen Schluck, der Crémant war gut und im Moment tatsächlich genau das Richtige. Sie trank auch, kam auf mich zu, was mich unwillkürlich bis an ein niedriges Geländer zurückweichen ließ. Hinter mir ging es steil abwärts. Hier war wohl alles künstlich. Ich stand an einem schmalen Lichthof und starrte auf die gegenüberliegende königliche Hausfassade, drei rettende Meter entfernt, die aus meiner Perspektive etwa zwei Etagen nach unten und bestimmt drei nach oben ging. Und obwohl ich mittlerweile dachte, es würde mich nichts mehr wundern, wunderte ich mich.

„Ganz schön kreativ, Frau König. Eine Kletterwand an der Hausfassade. Donnerwetter. Aber ich sehe gar keine Sicherungshaken.“

Sie stand nah bei mir, so nah, dass ich sie riechen konnte. Aber sie roch nicht. Zumindest nicht nach Parfum. Höchstens nach einer Spur Frische, einer natürlichen Mischung aus frisch gewaschenen Haaren und leichtem Stirnschweiß. Angenehm jedenfalls. Ich hatte nicht vergessen, warum ich hier war, die Zeit rannte oder auch nicht, und ich konnte nicht einschätzen, ob ich die Zeit bisher zu beliebig verplempert hatte. Andererseits – ich musste auch das Tempo meines Gegenübers beachten.

„Ich brauche keine Sicherung. Das ist langweilig.“ Sie trank.

„Lassen Sie uns ein Spiel machen, junger Mann. Wir haben unsere Zeit sicher nicht gestohlen. Irgendwann werden Sie mir ja doch sagen müssen, worum es eigentlich geht.“

Ich schaute sie an, schaute zur Kletterwand. Respekt.

„Solange Sie mich nicht Ihre Kletterwand hochjagen, können wir ja mal einen Spielversuch starten. Und übrigens, danke für den jungen Mann, schöne Frau.“ Und das meinte ich ausnahmsweise mal ehrlich.

„Machen Sie es sich irgendwo bequem, ich bin gleich zurück.“

Schon war sie weg. Ich wollte mich nicht zu bequem einrichten und setzte mich auf eine Bohle, die eine Stufe in der Wiese sein sollte und stellte für mich fest, dass diese Frau nicht zu dem Bild passte, das ich von Jürgen König hatte. Ich kannte weder sie noch ihn, also musste ich meine Klischees zu Hilfe bitten. Die Bleibe eines Bordellkönigs hatte ich mir echt anders vorgestellt. Ein bisschen Trump, ein bisschen Erdogan, so Richtung Protz. Es war alles zwei Nummern zu groß, aber nicht geschmacklos. Womöglich prägte Frau König mit ihrer Dominanz den Stil des Hauses. Jürgen König sprach ich den ab. Warum nur? Möglicherweise war ich hier, um auch das herauszukriegen. Frau König kam mit der Flasche zurück, lächelte, als war ihr unterwegs der indische Gott des Lichts begegnet.

„Sie trinken doch noch einen Schluck.“

„Da höre ich mich nicht nein sagen.“

Dann ging alles viel zu schnell. Nach einer halben Stunde wusste sie, dass ich meine frühere Freundin Lotte suchte, die ich durch einen glücklichen Zufall getroffen und durch einen unglücklichen Zufall wieder verloren hatte. Außer dem Namen König hatte ich nichts in der Hand und so kam ich naturgemäß zu dieser Adresse. Dass ich ein ganzes Päckchen Recherchematerial erhalten hatte verschwieg ich natürlich. Ich war Profi. Und hoffte, die Familie König könne mir weiterhelfen.

Außerdem hatte ich kapiert, dass Frau König mit den Geschäften ihres Mannes nichts mehr zu tun haben wollte. Spätestens seitdem er ins Rotlicht-Milieu abgedriftet war. Logischerweise lebten sie getrennt oder waren geschieden, und er hatte längst eine andere, Jüngere natürlich, und teilen war nicht ihr Ding.

Schlagartig wurde ich mir selbst peinlich. Einige Zeitungsfotos prügelten auf meinen Verstand ein, die Gesichter auf den Demofotos veränderten sich zu lachenden Fratzen, die sich über meine Dummheit und lahme Kombinationsgabe lustig machten. Frau König und ich sprachen von der gleichen Frau.

„Entschuldigen Sie, Frau König, wenn ich jetzt so direkt frage: Ist Lotte Dorf die Frau, von der wir beide reden?“

Mir war fast nicht klar, warum ich das jetzt zwingend fragen musste. Ob mir die Antwort gefallen würde, war noch unklarer. Ich muss einen verstörten Eindruck auf Frau König gemacht haben, jedenfalls antwortete sie sanft:

„Tut mir leid, wenn Sie die Antwort jetzt durcheinanderbringt, aber wir reden tatsächlich von der gleichen Frau. Deshalb sollten Sie lieber meinen Exmann fragen, ob Sie Frau Dorf treffen können.“

Corinna König trank, nicht aus Frust, sie wirkte sehr gelassen. Und „Frau Dorf“ klang ohne jede Häme in der Stimme.

Ich fing jetzt nicht an, die Qualitäten von Lotte und Corinna zu vergleichen, soweit sie mir bekannt waren, aber die Frau gefiel mir. Auch sie sprach von Zufällen. Zufällig suchte sie ihren Sohn, Astor, der sich seit Tagen nicht gemeldet hatte. Und da sie den leisen Verdacht hatte – ich zuckte – dass ich beim Aufspüren verschwundener Menschen unter Umständen eine gewisse Erfahrung haben könnte, empfand sie es als weiteren, diesmal glücklichen Zufall, dass ich vor ihrer Tür eingeschlafen war und nun in ihrem Garten gemütlich und nahezu vertraulich mit ihr Crémant trank.

„Ich könnte Sie mieten und Sie finden meinen Sohn.“

Ich fand „mich mieten“ nicht schlecht, auf der Suche war ich sowieso und vielleicht gehörte alles irgendwie zusammen. Außerdem brauchte ich Geld. Ich musste endlich renovieren, sonst würde mich Lasse in hohem Bogen rausschmeißen. Freundschaft hin oder her.

„Da lässt sich drüber reden“, sagte ich, „Geld kann ich brauchen. Ehrlich gesagt, wer nicht? Ich will nämlich meine Wohnung renovieren.“

Ich schaute mich um, sah alles pikobello aus.

„Sie kennen nicht zufällig zuverlässige, ich meine günstige Handwerker, die eine Eigentumswohnung ordentlich renovieren können.“

„Ich bin Innenarchitektin. Ich kenne alles.“

Noch ein Zufall. Ich zuckte wieder, mehr als innerlich.

„Ich fürchte, ich kann Sie mir beim besten Willen nicht leisten.“

„Wissen Sie Daniel“, säuselte sie, „wenn der Auftrag zur Zufriedenheit erledigt ist, können Sie sich alles leisten.“

All diese zufälligen Ereignisse sollten nun also in eine absichtsvolle Ermittlung münden. Ein enorm komplexer Auftrag. Da war Daniel Berber genau richtig zur Stelle. Wer sonst, wenn nicht ich.

Frau König wollte nachschenken.

„Danke“, hielt ich meine Hand über das Glas, „erst die Arbeit.“

„Und dann?“, lächelte sie mich an.

„Dann sehen wir weiter“, sagte ich so sachlich wie nötig und zog meinen Notizblock heraus.