Berlin mit scharf - Thilo Bock - E-Book

Berlin mit scharf E-Book

Thilo Bock

0,0

Beschreibung

Berlins umtriebigste Lesebühne legt ihr fünftes Buch vor: neue Berliner Geschichten, satirische und humoristische Shortstorys über den Wedding und andere Problembezirke – also über die ganze Stadt: Denn ein unfertiger Flughafen, das ist doch Berlins geringstes Problem. Seit bald 15 Jahren lesen die "Brauseboys" im Wedding ihre Geschichten vor. In ihrem neuen Band nehmen sie wieder ihre Heimatstadt aufs Korn und blicken rein ins pralle unvollendete Berlin – eine Stadt, die nie fertig ist, obwohl sie immer fertig ist, mit der Welt: "Auskunftsberliner" führen Touristen in die Irre, die Suche nach einem funktionierenden Bürgeramt führt ins ferne Biesdorf, und im Untergrund agiert die Liga der listigen Lektoren. Was tun, wenn sich der Prenzlauer Berg für unabhängig erklärt? Oder sollte Berlin gleich den "Berxit" anstreben? Nicht zuletzt geben die Autoren ganz lebenspraktische Ratschläge: Wie funktioniert Degentrifizierung? Wie genießt man Döner im Wandel der Tageszeiten, warum führt die Liebe zu Backshopverkäuferinnen zu vollgekrümelten Betten, und was sollte man Berliner niemals, niemals fragen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



THILO BOCKROBERT RESCUEFRANK SORGEVOLKER SURMANNHEIKO WERNING# BRAUSEBOYS

Berlin mit scharf

GESCHICHTEN AUS EINER UNVOLLENDETEN STADT

DIE BRAUSEBOYS

sind Volker Surmann, Robert Rescue, Heiko Werning, Frank Sorge und Thilo Bock.

Seit 2003 treten sie wöchentlich auf und haben seitdem zahlreiche Werke veröffentlicht, darunter die Berlin-Trilogie »Provinz Berlin«, »Berlin mit Alles« und »Dies ist kein Berlin-Buch« (Satyr), das Hörbuch »Wir sind nur Kurzgeschichtenvorleser« (Reptiphon) und »Geschichten aus der Müllerstraße« (be.bra). Daneben viele Soloveröffentlichungen und Texte für diverse Zeitungen und Magazine (taz, Titanic, Neues Deutschland, Jungle World, Siegessäule u. v. a.).

Seit 2006 präsentieren die Brauseboys zudem den satirischen Jahresrückblick »Auf Nimmerwiedersehen« im Kookaburra, Berlin.

Im Frühjahr 2018 feiert die Lesebühne ihr 15-jähriges Bestehen. www.brauseboys.de

E-Book-Ausgabe Dezember 2017

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2017

www.satyr-verlag.de

Cover: Maren Kaschner

Autorenfoto: Brauseboys

Korrektorat: Jan Freunscht

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

eISBN: 978-3-947106-00-4

INHALT

1. Berlin verstehen

Wir Auskunftsberliner (Thilo Bock)

Neu in Berlin (Robert Rescue)

Der letzte Rosinenbomber (Heiko Werning)

Berliner Nächte sind lang (Volker Surmann)

Der Döner im Wandel der Zeiten (Frank Sorge)

2. Berliner Kämpfe

Im Sog der Bürokratie (Robert Rescue)

Abschottung (Volker Surmann)

Einladung von Schmidtski (Frank Sorge)

Geben und Nehmen (Heiko Werning)

Wenn’s dir nicht passt, kannste ja gehen. Mit etwas Glück fährt sogar ein Zug. (Thilo Bock)

3. Berlin erleben

Wie ich mal aus gesundheitlichen Gründen den Wedding verlassen musste (Robert Rescue)

Amöbenjahre. Oder: Ich bin jetzt Experte (Volker Surmann)

Der Mitbewohner (Thilo Bock)

Verklebt (Heiko Werning)

Mikrokosmos (Frank Sorge)

4. Berlin gaga

Die Yoga-Kriege vom Friedrichshain (Volker Surmann)

Das Orakel vom Kiez (Frank Sorge)

Ein himmlisches Gespräch (Robert Rescue)

Als ich fast mal reich geworden bin (Thilo Bock)

Dies ist ein Beitrag zur Kritik einer Berliner Subkultur, auch wenn es nicht sofort offenkundig ist (Heiko Werning)

5. The New Berlin

Wedding für alle (Frank Sorge)

Knollen der Amoralität (Volker Surmann)

Exodus (Robert Rescue)

Historische Berliner Momente: Der Tag, an dem die Pandas kamen (Heiko Werning)

Raus aus dem Schlamassel, rein in den Wahnsinn! Berxit jetzt! (Thilo Bock)

Gentrifizier mir (Frank Sorge)

6. Auswärts jwd

Sportvereinsheimgaststätte (Heiko Werning)

Zehlendorf, Ortslage Düppel (Robert Rescue)

Der frühe Vogel singt mir viel zu laut (Thilo Bock)

Der Eiermann (Volker Surmann)

Ankunft in Tegel (Frank Sorge)

7. Berlin widersetzen

Meine Zeit ist gekommen, ich kriege sie alle (Robert Rescue)

Briefe an die Berliner (Heiko Werning)

LLL (Volker Surmann)

Was man Berliner nie fragen sollte (Thilo Bock)

Wir vom Milieu (Frank Sorge)

Nachwort

Die Brauseboys

KAPITEL 1

Berlin verstehen

WIR AUSKUNFTSBERLINER

Thilo Bock

Ich bin ja immer froh, wenn ich helfen kann. Wenn wer was von mir wissen will. Zum Beispiel, wie er zum BER kommt. Den frage ich meinerseits, was er um Himmels willen am BER will.

»Da fliegt doch nix!«

»Na, deswegen muss ich da ja auch hin. Um denen die Brandschutzanlage zu reparieren.«

»Ah! Dann fahren Sie am besten bis zum U-Bahnhof Hönow, nehmen den hinteren Ausgang und laufen immer geradeaus.«

»Laufen?«

»Ja, leider gibt’s noch keinen Bahnanschluss. Und die Busverbindungen … Nee, besser nicht. Auch wenn Ihnen andere vielleicht was anderes sagen. Laufen geht echt am schnellsten. Glauben Sie mir, ich bin zertifizierter Auskunftsberliner.«

»Oh, dann habe ich ja Glück, Sie getroffen zu haben.«

»Das Glück ist ganz auf meiner Seite.«

Zufrieden blicke ich dem Mann nach, beseelt davon, wieder einmal eine gute Tat vollbracht zu haben. Wunderbar, dass ich den umlenken konnte! Sonst hätte der noch den Flughafen repariert, und fortan würden bei Berlin minütlich Ferienflieger aus der ganzen Welt eintreffen.

Ich habe nichts gegen Touristen. Und ich begegne ihnen in der Regel auch mit Wahrhaftigkeit. Doch die meisten meiner Mitberlinerinnen und Mitberliner sind noch nicht so weit. Der sogenannte Senat, besser bekannt als »Berliner Freizeitausschuss«, hat in der Vergangenheit zwar viel dafür getan, dass die Stadt von Besuchern überschwemmt wird, aber in seinem Eifer vergessen, die Bevölkerung auf die Ankunft der Ahnungslosen vorzubereiten.

Neulich saß ich im Nachtbus vorne rechts, also schräg hinterm Chauffeur. Unter den Linden stieg eine Japanerin ein mit lustiger Mütze und dickem Rollkoffer und fing an, den Fahrer in ein Gespräch zu verwickeln, das dieser irgendwann ergebnisoffen beendete, indem er einfach mal den Blinker setzte.

Verwirrt wandte sich die Japanerin nun mir, dem Nächstsitzenden, zu. Ich hörte gerade ein wunderbares Stück Musik und genoss den Blick auf den menschenleeren Boulevard, aber das kümmerte die Frau gar nicht. Sie plapperte mich fröhlich lächelnd an. Das störte die Stimmung und den Rhythmus der Musik in meinen Ohren. Also ließ ich die Stöpsel herausploppen und mir das Problem schildern. Gegen 1 Uhr in der Früh wollte die Dame doch ernsthaft zum Flughafen Tegel, wo nachts ja überhaupt nichts fliegt. Immerhin, tags schon.

Ja, um sechs!, gab die Japanerin an. So lange wolle sie vor Ort warten. Ich befragte mein schlaues Telefon, wie man nachts um eins zum Flughafen kommt. Gar nicht. Der erste Bus dorthin fährt ab Zoo um drei Uhr dreißig. Das sagte ich der Japanerin. Sie erwiderte, da gäbe es doch eine U-Bahn – »you six, you know?« –, die ganz nah am Flughafen vorbeiführe, den Rest könne sie ja laufen. Auf der Karte habe das nicht so weit ausgesehen. Und sie habe schließlich Zeit.

Ich betrachtete ihren dicken Rollkoffer, stellte mir kurz vor, wie sie damit über die Stadtautobahn manövrieren würde, und schüttelte den Kopf. Sie solle lieber zum Zoo fahren. Nirgendwo lernt man die Stadt besser kennen als dort. Zwischen denkmalgeschützten Ruinen des Kalten Krieges pfeift ein schneidiger Ostwind, der stets leicht nach Tierurin duftet. Das aber verschwieg ich lieber, als ich sagte, Zoo Station sei ein nahezu romantischer Ort. Wenn man Glück habe, könne man beim Warten sogar Elefanten streicheln.

Die Japanerin wirkte skeptisch. »Are you sure?«

»Yes, trust me. I am an educated Berlin informant. No whistleblower, just an Auskenner.«

In anderen Worten: Ich bin ein Auskunftsberliner. Und damit nicht allein. Ohne uns ginge in dieser Stadt gar nichts mehr. An jeder Ecke orientierungslose Touristen, die die Stadtpläne falschrum halten.

Auskunftsberliner! Das ist doch was. Endlich mal eine Perspektive für all die hier ansässigen Besserwisser und Klugscheißer. Eine kurze Schulung, und schon geht’s los. Wer sich qualifiziert, bekommt einen Button angesteckt, der Fremden signalisiert, dass der Stickerträger fähig ist, ihnen weiterzuhelfen. Natürlich gehört da auch ein bisschen Psychologie hinzu. Feinfühligkeit! Das ist nichts für die üblichen Tourette-Tröter und Schulle-Nasen. Nein, ein guter Auskunftsberliner weiß, wen er wann wohin schickt.

Nicht jeder, der zur Museumsinsel möchte, sollte diese finden müssen. Lärmende Schulklassen lotst man lieber gleich in ein Großraumeinkaufszentrum nach Hellersdorf oder – bei hoher Markenklamottendichte – in eine dunkle Neuköllner Ecke. Die dort herumlungernden Kleinkriminellen müssen schließlich auch beschäftigt werden. Sonst kommen die noch auf falsche Gedanken und überfallen Einheimische.

Außerdem sind Auskunftsberliner dazu angehalten, die Touristenströme zu lenken. Per SMS erhalten sie die aktuellen Hotspots des Besucherinteresses und können so gegebenenfalls umlenken. Fragt beispielsweise eine sächsische Schulklasse nach dem Weg zum Alexanderplatz, wo derzeit jedoch nicht nur ein jahreszeitlicher Budenmarkt stattfindet sowie die Kundgebung einer bizarren Splittergruppe von Mondanbetern, sondern bereits mehrere Reisegruppen aus verschiedenen Erdteilen umherirren, sollte der verständige Auskunftsberliner bemüht sein, den Sachsen andere Orte schmackhaft zu machen.

Schon mal in der Kaulsdorfer Kronkorkensammlung gewesen? Oder im Wilmersdorfer Lippenstiftmuseum? Oder bei der Wurstbude mit dem ältesten noch flüssigen Fett der Welt? Die ist in Wedding. Oder wie wär’s mit einem Ausflug nach Mahlsdorf? Dort steht Europas modernste Müllsortierfabrik. Wenn das mal nichts ist!

Bleiben die Fragenden allerdings beharrlich und wollen unbedingt zu ihrem Wunschort, muss der Auskunftsberliner zu härteren Bandagen greifen und die Touristen bewusst in die Irre führen. Am besten mit dem Bus nach Köpenick. Die Hinfahrt dauert ewig, und eh’ sie zurückfinden, ist der Alex wieder menschenleer.

NEU IN BERLIN

Robert Rescue

»Ich wohne seit einem Jahr in Kreuzberg und spiele mit dem Gedanken, in den Wedding zu ziehen. Der soll ja mächtig im Kommen sein. Was meinen Sie?« Ich schaute den Typen vor mir aufmerksam an. Am Tresen standen zwanzig Leute und verlangten Getränke, und er wollte ein Gespräch mit mir anfangen. Ausgerechnet jetzt! Genau so etwas hasse ich wie die Pest. Und schlimmer noch: Er siezte mich.

Wenn ich im Klappstuhl e.V. jeden Mittwoch meine Tresenschicht antrete, möchte ich den Abend über meine Ruhe haben. Ich möchte, dass nur wenige Leute kommen, die alle nur Bier oder Wein trinken wollen, mir aber nicht mit so exotischen Getränkewünschen kommen wie B52 oder White Russian. Die kann ich nämlich beide nicht. Nachfragen nach einem White Russian beantworte ich stets mit einem »Milch ist leider alle«, obwohl im Kühlschrank zwei Packungen stehen, und den Wunsch nach einem B52 lehne ich ab mit einem: »Das ist ein Druckfehler auf der Getränkekarte. Damit ist eigentlich ein Lebensmittelzusatzstoff gemeint.«

Wobei ich da das Glück habe, noch keinem Klugscheißer begegnet zu sein, der dann entgegnen würde: »Das kann nicht sein. Lebensmittelzusatzstoffe sind grundsätzlich mit einem E vor der Zahl gekennzeichnet.«

Aber dann würde ich einfach sagen: »Das ist ein Vitaminzusatz. Vitamin B52 hilft gegen notorische Nörgler, die meinen, in jeder Lebenslage und entgegen besseren Wissens recht haben zu wollen.«

Ich möchte, dass die Gäste sich nicht mit mir unterhalten, sondern unter sich bleiben. Wenn ich Glück habe, kommt Stefan rein, ein Exmitstreiter. Der unterhält sich gerne und über alles Mögliche und hält mir die Leute vom Hals. Die Gäste sollen das Gefühl haben, dass es ein guter Abend ist und sich jemand ihrer Sorgen oder Themen annimmt. An mich sollen sie nur denken, wenn sie Getränke haben wollen, und mich wieder vergessen, wenn sie diese haben. Ich bin für den Tresendienst nicht geschaffen, ich mache das ungern, aber da der Laden Nachwuchssorgen hat, muss ich auch mal ran. Deshalb übernehme ich den Mittwoch, den Tag, wo Leute ihr Feierabendbier trinken und sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen wollen.

Nun kam aber neulich die Facebook-Gruppe »Neu in Berlin« auf die Idee, ihren monatlichen Stammtisch mal im Klappstuhl e.V. abzuhalten. Als ich mir die Veranstaltung auf Facebook ansah, bekam ich es mit der Angst zu tun: »221 sind interessiert, 76 nehmen teil«. Ich rief um Hilfe, denn mir war klar, dass ich bereits bei 15 Leuten kollabieren würde – und das in den ersten zehn Minuten nach ihrem Eintreffen.

Clara bot sich an, und das war mir eine große Hilfe, denn sie arbeitete gelegentlich in der Gastronomie und konnte sicherlich auch die oben erwähnten exotischen Getränkewünsche erfüllen.

Nun lief der Abend mit der »Neu in Berlin«-Gruppe anders ab als geplant. Ich hatte die Eismaschine zu spät angeschaltet, sodass zu wenig Eis da war. Manche fragten nach »Alkopops«, ein Wort, das ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Ihnen gaben wir dann Radler in Flaschen, was ja irgendwie auch ein Alkopop ist. Viele der Stammtischbrüder und -schwestern machten dagegen den Kardinalfehler, der im Klappstuhl überhaupt nicht gerne gesehen wird. Sie kamen an die Theke und bestellten ein »Pils«. Anfangs zeigte ich noch auf die herumliegende Getränkekarte oder schaute auf den beleuchteten Kühlschrank und fragte: »Was für ein Pils? Wir haben Berliner, Budweiser, Staropramen und Pilsator, die Hausmarke.«

Nach dem zehnten Besteller war ich es leid und holte einfach irgendeine Bierflasche heraus.

Was mich interessierte, war die Frage, ob alle Anwesenden wirklich Neu-Berliner waren. Anfangs sprachen wir die Leute noch an und fragten nach. Einer war tatsächlich erst seit sechs Monaten in der Stadt, aber alle anderen wohnten hier schon zwei bis zwölf Jahre. Ein richtiger Neuling war nicht auszumachen.

Dann stand plötzlich Klaus vor dem Tresen. Ein gebürtiger Berliner, der mit Frau und Kindern nach Schweden ausgewandert ist, wo er jetzt als Busfahrer arbeitet. Er trank ein Bier und verabschiedete sich dann, weil es ihm zu voll war. Dabei hätte er all den Neuberlinern gute Tipps geben können, wie man die Stadt verlässt, um woanders beruflich und familiär sein Glück zu finden. Inzwischen war die Situation desolat. Es mochten etwa 70 bis 100 Personen im Laden sein, und alle wollten trinken. Der Kühlschrank verdiente seinen Namen nicht mehr. Wir stellten aus Gewohnheit Flaschen rein, um sie spätestens nach drei Minuten rauszuholen und zu verkaufen. Einer stellte seine leere Flasche auf den Tresen und wandte sich an mich:

»Ich wohne seit einem Jahr in Kreuzberg und spiele mit dem Gedanken, in den Wedding zu ziehen. Der soll ja mächtig im Kommen sein. Was meinen Sie?«

Neben mir stand Clara und ackerte routiniert, während mir die Kräfte schwanden. Und jetzt dieser Typ mit seiner Frage. Ignorieren konnte ich ihn nicht, und Stefan war leider nicht da.

Mich zu siezen, empfinde ich stets als Art Kommentar zu meinem äußeren Erscheinungsbild und meinem Alter. Okay, damit musste ich leben. Aber warum suchte er das Gespräch? Ich zündete mir eine Zigarette an.

»Was zahlst du denn in Kreuzberg so?«, fragte ich zurück.

»So etwa 1.300 Euro für 60 Quadratmeter. Finde ich aber ganz schön viel. Ich habe gehört, im Wedding soll es viel billiger sein.«

»1.300 Euro«, gab ich ungläubig zurück. »Das ist ja ein Schnäppchen! Ich zahle 1.800 Euro für 30 Quadratmeter.«

»Was?« Mein Gegenüber wich einen Schritt vom Tresen zurück.

»Das ist noch das Billigste, was du hier finden kannst«, entgegnete ich. »Einige hier beneiden mich um meine Wohnung. Siehst du den Typen da drüben, der neben dem Garderobenständer? Der hat 80 Quadratmeter.«

»Und wie viel zahlt der?«

»Das verrate ich dir besser nicht. Sonst kippst du aus den Latschen. Der arbeitet in der Bundestagsverwaltung. Gehobener Dienst, du verstehst? Die Miete frisst aber viel vom Verdienst auf, deshalb bekommt er noch Wohngeld dazu. Und hier trinkt er nur Pilsator, mehr kann er sich nicht leisten.«

»Und wie finanzierst du die Miete? Doch nicht etwa mit diesem Job hier?«

»Nein, natürlich nicht. Ich gehe nachher noch putzen. Acht Stunden. Danach noch Regale einräumen, anschließend wieder hier hinter dem Tresen.«

»Und wann hast du Freizeit?«

»Freizeit? Was?« Ich machte ein irritiertes Gesicht. Mein Gegenüber gestikulierte kurz hilflos.

»Und was ist mit der Kriminalität? Wir haben ja den Kotti und die Antänzer. Ich wohne da in der Gegend, und mir ist nicht wohl in meiner Haut.«

»Ja, davon habe ich gelesen und schallend gelacht«, rief ich aus. »Ich habe bloß gedacht: Mann, über was die sich aufregen. Hier im Wedding gibst du zweimal am Tag deine Brieftasche und dein Handy ab. Sie tanzen auf dich zu, und du winkst nur ab und sagst: ›Okay, hier habt ihr.‹ Man kommt sich vor wie auf dem Karnevalsumzug in Rio. Deshalb habe ich auch mehrere Jobs. Einerseits für die Miete, andererseits für die Beute. Wir verteilen hier im Klappstuhl eigentlich auch Salzstangen und Erdnüsse an die Gäste, aber nicht, wenn ich Schicht habe. Ich muss ja schließlich auch mal was essen.«

Ich nahm ein warmes Bier aus dem Kühlschrank und reichte es ihm. »Überleg dir das gut mit dem Wedding. Ich habe dir noch nicht mal alles erzählt, du verstehst?«

Er schaute ratlos, legte Geld auf den Tresen und ging zurück in den Nebenraum. Dort würde er erzählen, was ich ihm berichtet hatte, das war gewiss.

Ich dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass mir gefiel, was ich ihm erzählt hatte. Das versöhnte mich mit diesem arbeitsreichen Abend.

DER LETZTE ROSINENBOMBER

Heiko Werning

Fast schien die alte Frontstadt Berlin endgültig am Ende: Hertha BSC immer mal wieder in der zweiten Liga, Brigitte Mira und Eisbär Knut lange tot, der Flughafen kaputt, und dann auch noch das: Chefreporter Gunnar Schupelius verließ die B.Z., das Boulevardblatt für alle Berliner, denen die Bild-Zeitung zu akademisch ist.

Aber gerade noch rechtzeitig war der Mann nach einem halben Jahr beim Focus wieder da. Die ganze Stadt atmete erleichtert auf. »Keine gute Nachricht für Schlamper-Behörden, Geldverschwender, Vergangenheits-Leugner und Flunker-Politiker!«, jubelte die B.Z. »Gunnar Schupelius kommt zurück zu Berlins größter Zeitung und nimmt seine beliebte Kolumne wieder auf.« Die da heißt: »Mein Ärger – der gerechte Zorn des Gunnar Schupelius«.

Nun könnte man fragen: Who the fuck is Gunnar Schupelius? Die B.Z. gibt Auskunft: Es handelt sich nämlich um »Berlins schärfste Feder«, um jemanden, der täglich »den zornigen Finger stets in die richtige Wunde legt«.

Zwar sieht Schupelius aus wie eine Kreuzung zwischen Harry Potter aus Harry Potter Teil 1 und Harry Potter aus Harry Potter Teil 2, neben ihm erinnert selbst Eberhard Diepgen an einen verwegenen Anarcho und die Pandabären im Zoo an Amok laufende Werwölfe, er wirkt wie der erotische Wunschtraum jeder Wilmersdorfer Witwe, wenn sie sich nach einer Flasche Mampe halb und halb noch eine Überdosis Valium verabreicht hat. Aber das kuschelige Äußere darf nicht über den Zorn seines Fingers hinwegtäuschen, sein Intellekt ist scharf wie eine Berliner Currywurst (ohne Darm!). Unerbittlich kämpft er für die Schwachen und gegen ihre Unterdrücker. Also: für Autofahrer und gegen Radler.

»Die Verkehrspolitik in Berlin zeichnet sich seit Jahren dadurch aus, dass Autofahrern immer mehr Platz weggenommen und Radfahrern immer mehr Platz gegeben wird. Die Stadt wurde mit Fahrradstreifen durchzogen und sogar mit Fahrradstraßen, in denen Autos prinzipiell benachteiligt sind. Autoparkplätze wurden abgebaut, Fahrradständer aufgebaut«, fingert er in der richtigen Wunde, denn welcher Berliner wäre nicht entnervt davon, ständig über im Weg herumstehende Fahrradständer klettern zu müssen, während es auf den Straßen praktisch keine Autos mehr gibt. Deren Fahrer zudem durch bizarre Lärmschutzmaßnahmen gedemütigt werden: »Das ist absurd! Den Anwohnern winken viel Geld und neue Schallschutzfenster, und es wurde ein Exempel gegen das Automobil statuiert.« Und dann fällt diesen Geldsäcken hinter ihren nigelnagelneuen Schallschutzfenstern nichts Besseres ein, als gegen den dringend notwendigen Straßenausbau zu klagen: »Wer dagegen klagt, der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!« Oder, schlimmer noch, der ist womöglich Radfahrer: »Es ist ja bekannt und oft beschrieben worden, dass der Mensch, wenn er sich auf’s Fahrrad setzt, einen großen Teil seiner Hemmungen verliert. Er jagt mit lauten Rufen die Fußgänger vor sich her und droht jedem zweiten Autofahrer mit der Faust.« Höchste Zeit, dass die Flunker-Politiker und Schlamper-Behörden etwas dagegen unternehmen: »Klar ist doch, dass es für Radfahrer endlich ein Tempolimit geben muss.« Stattdessen aber geht es wieder nur gegen die freien Bürger, denn jetzt fordert sogar die Berliner »Wattebausch-CDU« einen »Hundeführerschein«, um sie noch weiter zu gängeln. Hemmungslose Radfahrer dürfen also einfach so völlig ungebremst durch die Stadt rasen und ein Exempel nach dem anderen gegen harmlose Automobile statuieren, während ausgerechnet der brave Hundehalter, der emotionale Identitätskern der Stadt (Herz und Schnauze!), mit irren Behördenauflagen terrorisiert wird. Es ist so ungerecht: »Es ist schlimm, wenn ein Kind von einem Hund gebissen wurde, aber es ist auch schlimm, wenn ein Kind von einem rasenden Fahrradfahrer umgefahren wurde. Einen Fahrradführerschein gibt es nicht.« Oder wenigstens Maulkorbpflicht und Leinenzwang für Radler!

Aber Schupelius schwingt seine scharfe Feder nicht nur für den Fortschritt, sondern als letzter Standhafter auch gegen die Kommunisten. Jahrhundertelang verteidigten die Rosinenbomber die Freiheit des Westens, und dann das: »Der Westteil dieser Stadt wird benachteiligt. Im Westen wurden zwei große Theater geschlossen, im Osten keins. Die Deutschlandhalle ist dicht, während im Ostteil drei Olympiahallen und die O2-World errichtet wurden.« Die Beispiele ließen sich endlos fortführen: Harald Juhnke, Hänschen Rosenthal und Didi Hallervorden sind lange tot, während die Puhdys, Kati Witt und Oskar Lafontaine ihr unheilvolles Wirken ungestört fortsetzen. Das Stadtschloss im Osten wird wieder aufgebaut, während die Gedächtniskirche im Westen einfach kaputt stehen gelassen wird. Der Völkische Beobachter wurde eingestellt, während das Neue Deutschland weiter erscheint. Und schließlich: »Der Straßenbau wurde im Westen über 20 Jahre gegen null gefahren, während der Osten überall ganz neue Straßen bekam.« Man kennt das ja: Während den Menschen in Marzahn oder Lichtenberg die Schallschutzfenster in ihren Plattenbauten vergoldet werden, sind die Bewohner der Elendsviertel wie Zehlendorf, Dahlem und Nikolassee bereits gezwungen, sich Geländewagen mit Vierradantrieb anzuschaffen, um die unwegsamen Straßen überhaupt noch passieren zu können. Und dann sollten auch noch dem (West-)Zoo die Zuschüsse gestrichen werden, während der (Ost-)Tierpark weiterhin Geld bekommt: »Der Zoo ist Liebling des Publikums, der Tierpark spielt die zweite Geige. Warum wird der Verlierer belohnt und der Gewinner bestraft?« Dieser verdammte Sozialismus überall! »Der Tierpark wurde zu DDR-Zeiten als Zoo-Ersatz für den Ostteil der Stadt gebaut. Er ist heute überflüssig«, zumal dort von der Baikal-Robbe bis zum Sibirischen Tiger immer noch zahllose Russen stationiert sind. Schupelius’ federscharfes Fazit: »Es muss auch mal möglich sein, im Ostteil einen Subventionsempfänger vom Netz zu nehmen und nicht immer nur im Westen.« Wo ja nicht nur der Zoo, sondern auch der gleichnamige Bahnhof vom Netz genommen wurde und inzwischen aussieht wie nach 40 Jahren sozialistischem Schlendrian: »Der Bahnhof Zoo ist gegenwärtig eine Schande für Berlin. Wirklich unappetitlich sieht er aus. In der Haupthalle des Bahnhofs sind zwei von sechs Deckenlampen ausgefallen, zwei weitere brennen nur mit halber Kraft. An einer schmutzigen, verschlossenen Tür hängt ein zerknüllter Telekom-Aufkleber mit der Aufschrift Hot-Spot.« – Zerknüllte Hot-Spot-Aufkleber und ausgefallene Deckenlampen, mitten in West-Berlin. Das ist der späte Sieg von Erich Honecker!

Doch auch der Gerechteste kann einen Moment der Schwäche erleben, wenn alles, woran er glaubt, sich gegen ihn wendet: »Vor einigen Tagen blieb ich mit meinem Wagen auf dem Kaiserdamm liegen, in Fahrtrichtung West« (selbstverständlich). Auf der mittleren von drei Spuren stand Schupelius mit seiner Karre, da geschah das Unfassbare: »Ich konnte nicht aussteigen, denn niemand hielt an. Autos und Lastwagen bremsten noch nicht einmal ab.« Es kam zum Äußersten: »Ich hörte Hupen und laute Flüche aus geöffneten Wagenfenstern. Man zeigte mir den Vogel.« Um es zu verdeutlichen: Andere Autofahrer (!) zeigten ihm, Gunnar Schupelius (!), den Vogel! Und dann auch noch das: »Die Ampel hinter mir schaltete auf Rot, und ich wollte aus dem Auto springen. Das wäre fast mein Ende gewesen.« Man stelle es sich nur mal bildlich vor: Gunnar Schupelius, mitten auf dem Kaiserdamm, den goldenen Westen noch fest im Blick, überfahren von, ausgerechnet: »Linksabbiegern von der Stadtautobahn«!

Das war knapp. Auch für die Freiheit der Stadt. Doch so lange Gunnar Schupelius heil aus seinem Auto steigt, wird das alte West-Berlin nicht untergehen.

Wenn es aber doch einst schiefgehen sollte: Begrabt seinen zornigen Finger an der Biegung des Verkehrsflusses.

BERLINER NÄCHTE SIND LANG

Volker Surmann

Sie waren zu oft bei der Langen Nacht der Museen? Es macht Ihnen keinen Spaß mehr, mit zehn Shuttlebusladungen Kunstfreunde durch alle Säle zu joggen? Die Lange Nacht der Wissenschaften ödet Sie an, weil Sie keinen Bock mehr haben auf noch ein Merkelfoto und noch ein Katzen-GIF in jedem verdammten Science-Slam-Beitrag? Sie wollten zur Langen Nacht der Ausbildungsberufe, waren aber zu spät dran, weil die Lange Nacht nur von 17 bis 22 Uhr ging? Dann wurden die Azubis von ihren Eltern abgeholt.

Der Trend zur Langen Nacht ist ungebrochen. Die Lange Nacht ist der neue Tag der offenen Tür. In Berlin gab es zuletzt: die Lange Nacht der Museen, die Lange Nacht der Opern und Theater, die Lange Nacht der Wissenschaften, die Lange Nacht der Autohäuser, die Lange Nacht der Industrie, die Lange Nacht der Ausbildungsberufe, die Lange Nacht der Familie, die Lange Nacht der Start-ups, die Lange Nacht der Bibliotheken, die Lange Buchnacht Oranienstraße, die Lange Buchnacht Moabit, die Lange Nacht des Tauchens, die Lange Nacht der Ernährung, die Lange Nacht der Religionen, die Lange Nacht der Stadtnatur, die Lange Nacht des Ehrenamts, die lange Nacht des Designs, die Lange Nacht des Tanzes, die Lange Nacht der Filmfestivals und für alle Heimwerkerfreunde die Lange Nacht des Selbermachens (was jedoch arg nach exzessiver Onanie klingt).

Sie glauben, schon alles gesehen zu haben? Dann kann Ihnen geholfen werden. Freuen Sie sich auf:

1. DIE LANGE NACHT DER ÄMTER UND BEHÖRDEN

Staunen Sie, wie viele absurde Ämter es in Ihrer Stadt gibt! Bislang verwalteten sie ganz im Verborgenen. Besuchen Sie mal das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, wundern Sie sich, was ein Amt für regionalisierte Ordnungsangelegenheiten so macht, und schauen Sie dem Amt für Statistik bei seiner aufregenden Arbeit zu.