Dichter als Goethe - Thilo Bock - E-Book

Dichter als Goethe E-Book

Thilo Bock

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Beschreibung

Det is Berlin! (Oder janz woanders.) Thilo Bock war nie auf einer Baumschule, er hat weder mit einer Bodendiele ein Kind gezeugt noch jemals einen "Zwingerclub" besucht. Aber die schrägen Charaktere seiner Geschichten haben all dies mitgemacht - und so manches andere. Willkommen in den Welten des Thilo Bock! Nach zwei viel beachteten Romanen legt der Berliner Autor nun seinen ersten Band mit satirischen Erzählungen vor. Seine Geschichten sind pointenreiche Miniaturen mit besonders harten rhetorischen Mitteln. In seinem Berlin ist Freizeit bloß ein anderes Wort für unbezahlte Mehrarbeit. Motorradrocker schulen um auf Kleinkinderzieher, Satanisten beherbergen Kirchentagsbesucher. Und was stört, wird einfach abgeknallt - und wenn's ein Rettungshubschrauber ist. Kommse rin in Bocks Universum, dann könnse rauskieken: Lassen Sie sich vom Exkremator die Ohren abkauen, entdecken Sie Leben in schwedischen Möbelhäusern und seien Sie dabei, wie Nachbarn über die Namen ihrer W-Lan-Netze sexuelle Botschaften austauschen. Aber hüten Sie sich vor dem Cut-and-Go-Chirurg am Bahnhof Zoo - denn zunähen müssen Sie selber.

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Thilo Bock

DICHTER ALS GOETHE

Thilo Bock

DICHTER ALS GOETHE

HEILIGENLEGENDEN UNDGESCHICHTEN AUS SPASS

THILO BOCK

wurde 1973 in Berlin geboren. Er liest und singt regelmäßig, wo man ihn läßt, und ist Gastgeber der Randkulturveranstaltung »Dichter als Goethe«. Seine beiden Romane heißen »Die geladene Knarre von Andreas Baader« (KiWi: 2010) und »Senatsreserve« (Frankfurter Verlagsanstalt: 2012). In seiner Freizeit macht er Bastelarbeiten. Neuigkeiten und Termine unter www.thilo-bock.de.

Thilo Bock verwendet die alte Rechtschreibung.

1. Auflage September 2013

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2013www.satyr-verlag.de

Cover-Montage: Susanne Bax(unter Verwendung eines Fotos von Kramografie – Fotolia.com)

E-Book-Ausgabe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-21-5

INHALT

Vorweg

Schlafanzugsingsang

I. Die Strapazen des Soziallebens

Besonders harte rhetorische Mittel

Freizeit ist ein anderes Wort für unbezahlte Mehrarbeit

Kindererziehung ist ein Chapter für sich

Kinder, Kekse und Chlamydien

Das unaufhaltbare Dasein

Der Hausvogelplatz gehört zum Kuhdorf dazu

Mein Leben als Baum

Um den Hund in uns

Plan B

Ich will keine Familie, ich will bloß ein Kind

Ich kann warten

II. Berliner Weiße mit Knall

Sei laut. Sei im Weg. Sei nicht von hier.

Unterwegs mit dem Exkremator

Das Berliner-Weiße-Geheimnis

The KSK took my health away

Berliner Halloween

HA!

Runter mit’m Müll

Ich bin nicht cool, ich war schon immer so

Selbstverteidigung in Zeiten allergrößter Gottlosigkeit

Es liegt was in der Luft

Wenn die Berliner schlafen

III. Nichts, was schwerer ist als Luft

Die Bewußtmachung des Seins

Oder wohnst du schon?

Denn ich bin nackt gewesen

Betrugsversuch

Wie Gras und Ufer

Mein Schicksal als Zahl

Ziemlich mieses Frauenbild

Die Fritierung der Welt

Das Kind mit dem Holzkopf

Schinkenbrötchen oder Falafel

Meine eigene Heiligenlegende

Zugabe

Dichter als Goethe

Nachweise

Meinem Publikum

VORWEG

Schlafanzugsingsang

Es ist vierzehn Uhr,

und ich habe noch immer meinen Schlafanzug an,

und ich weiß nicht mehr, wann

ich zum letzten Mal früh aufgestanden bin.

Also so richtig früh aufgestanden bin,

und nicht erst um neun.

Und das, was ich trage, geht nicht mal als Schlafanzug durch.

Wenn jetzt jemand klingelt ...

Wer sollte denn klingeln?

Und der Postbote kennt meinen Aufzug ja schon,

und ich bin nun mal der einzige im Haus,

der Pakete für die Nachbarn annimmt.

Ich selbst bekomme keine Post,

nur Rechnungen,

aber die wandern gleich in den Müll.

Es ist vierzehn Uhr drei,

und ich habe bereits zwei Lieder und einen Roman,

na ja, angefangen, vielleicht setze ich mich

nachher noch mal dran.

Ich weiß jedoch nicht, ob sich das wirklich lohnt.

Kann sein, daß ich nachher eine bessere Idee,

kann auch sein, daß ich einfach auch nur Hunger krieg.

Blöd ist bloß: Ich hab dann ja noch immer meinen

Schlafanzug an.

Das ist eher ’n alter Schlüpfer und ein T-Shirt,

auf dem steht: Spiegelleser wissen mehr.

Wo hab ich das eigentlich her? Ich hab sogar drei davon.

Ich weiß es nicht mehr.

Ich bin ja gar kein Spiegelleser,

und ein Spiegelgucker bin ich auch schon lange nicht mehr.

Kaum auszuhalten, wie jämmerlich ich heute wieder

aussehe!

Es ist vierzehn Uhr fünf,

und ich bekomme langsam

kalte Füße.

Nicht metaphorisch gesehn,

ich habe nämlich schlichtweg keine Socken an.

Sondern lediglich meinen alten Schlafanzug.

Am besten wär, ich legte mich wieder hin.

Unter der Decke wird mir sicher schnell wieder warm.

Praktisch, daß ich immer noch meinen Schlafanzug ...

Und ich habe ja heute eigentlich schon genug getan.

Immerhin zwei Lieder und einen

neuen Roman,

natürlich nur angefangen,

doch mit Anfängen fängt selbst Großes an.

Bloß ich selber habe ...

Na ja, egal, es gab mal eine,

die wollte mir sogar den noch ausziehen.

Vielleicht rufe ich mal bei der Tina an.

Es ist vierzehn Uhr sieben,

und ich habe soeben einen Korb bekommen.

Keinen richtigen Korb so mit Früchten drin.

Das wär ja mal was. Dann hätt ich wenigstens was,

um meinen Hunger zu stillen.

Und Hunger habe ich.

Deshalb müßt ich mal los und ging ich ja auch,

hätt ich nicht noch immer meinen ...

Ach, mir ist alles schnurz, und es ist ja nicht der erste Korb,

schon gar nicht von dieser einen bestimmten Frau.

Als ich ihr sagte: »Du Tina, ich habe nur ...«

hat sie gesagt, ich soll mir erst mal einen richtigen Job.

Dabei habe ich doch heute immerhin bereits

einen Roman ...

Na ja und überhaupt, was geht das denn die Tina an?

I. DIE STRAPAZENDES SOZIALLEBENS

Besonders harte rhetorische Mittel

Ich warte an einer Haltestelle. Neben mir hängen zwei unscheinbare Mädchen auf den Sitzen wie leere Plastiktüten. Vielleicht kommen die aus der Jugendherberge auf der anderen Straßenseite. Beide sind mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt. Offenbar schreiben sie sich gegenseitig Nachrichten. Ein weiteres Mädchen stößt dazu. An ihrer Oberlippe klebt etwas Glänzendes. Das Haar ist dunkelgefärbt, kinnlang. Höchstens sechzehn, glaubt sie garantiert, älter auszusehen. Sie fängt einfach an zu erzählen. Ob die beiden anderen Mädchen zuhören, ist fraglich, sie starren zumindest unverändert auf ihre Smartphones. Na ja, ich bin ja da. Ich habe keine Lust, mir irgendein Teeniegetröt anzuhören, aber ein Entrinnen gibt es leider nicht.

»Hier das Piercing, das hab ich mir gestern selber gestochen«, so ihre ersten Worte. »Meine Oma hat ja gesagt, wenn ich mich piercen lasse oder ’n Tattu mache, enterbt sie mich. Na und? Gibt sowieso nix zu erben. Okay, klar, das Haus, nur wer will schon so ’ne alte Hütte, ist bestimmt hundert Jahre alt, und dann wohn da noch so blöde Leute drin. Und als ich meiner Mutter das gestern am Telefon gesagt habe, also das mit dem Piercing, ist die total ausgerastet, meine Güte, ich kann was erleben, wenn ich nach Hause komm. Dabei ist das doch echt ’n cooles Teil oder nicht? Jedenfalls, ich hab dann meinen Vater angerufen, und der wußte bereits Bescheid. Unfaßbar! Hat die den echt angerufen, dabei sprechen die seit dreizehn Jahren nicht mehr miteinander! Könnt ihr das glauben? Bloß weil ich ein Piercing habe! Das hat nicht mal richtig was gekostet. Regt die sich so auf! Ich mein, ich bin immer ’n braves Mädchen, echt mal, ich tu alles, was meine Mutter sagt. Ich geh zum Klavier, ich geh zum Gesang, ich geh zum anderen Gesang, ich geh zu Pilates, ich geh zur Scheißwirbelsäule, ich nehm keine Drogen, ich geh nicht auf Partys, nur wenn ich bei meinem Vater bin, und da kriegt die das nicht mit. Ich bring nie Jungs mit nach Hause, ich geh immer zu denen. Meine Mutter kann mal heimfahrn, ich tu echt alles für die.«

Plötzliche Pause. Ich will gerade zu dem Mädchen gucken. Wäre ja möglich, daß die aufgrund ihrer Logorrhö spontan verschieden ist. Zur Salzsäule erstarrt wegen Sprechdurchfall. Derartiges würde ich gern einmal als Schlagzeile an den Kiosken lesen: »So straft nur der Herrgott: Jaqueline (15) wegen Dauerlaberei versteinert. Eltern fassungslos: ›Mit uns hat sie nie gesprochen.‹«

Leider hab ich mich zu früh gefreut. Es gibt eben keinen gerechten Gott. Sieht man ja an den Talkshows. Ansonsten wären selbst Übertragungen aus dem Bundestag spannend. Wen erwischt es diesmal? Kommen die Bubis von der FDP erneut mit dem Schrecken davon, vielleicht mit einer verdorrten Hand?

»Hey, was schreibste da?« Das Piercingmädchen hat die Sprache wiedergefunden. Bloß mit wem spricht sie? Meint sie eine der SMS-Schreiberinnen? Jetzt muß ich wirklich zu ihr schauen.

»Brauchst nicht so unbeteiligt gucken!«

»Bitte was?« Die Schnalle redet tatsächlich mit mir!

»Ich mach mir hier lediglich Notizen!«

»Du schreibst mit!« Ihre Augen funkeln, und zwar stärker als ihr Piercing.

»Nein, ich hatte gerade ’ne Idee für einen Text.«

»Sag ich ja«, sagt sie. Die beiden anderen Mädchen kichern.

»Nee, hast du nicht!«

»Klar. Du siehst aus wie so ’n Künstler, der nie eigene Ideen hat und deshalb mitschreibt, was andere erzählen.«

Ich fühle mich durchschaut. Das hätte ich der Göre gar nicht zugetraut. Und gleichzeitig fällt mir auf: Die duzt mich die ganze Zeit! Einerseits irritiert es mich durchaus, von Jüngeren mit »Sie« angesprochen zu werden, sogar von Leuten, die eher alternativ daherkommen, lange, verfilzte Haare, Kutte, kaputte Jeans, Chucks und so, und dann fragen: »Ey, haben Sie mal ’ne Kippe, bitte?« Aber das Piercingmädchen?! Ich bin über zwanzig Jahre älter als die. Ich könnte ihr Vater sein. Oh Gott, allein die Vorstellung! Mit Anfang zwanzig ein Kind gezeugt, mich mit dessen Mutter elendig verkracht, seit dreizehn Jahren kein Wort mit der gewechselt, und eines Tages ruft sie mich an und erzählt, daß unsere Tochter ein Piercing hat. »Na und?« wäre eine mögliche Antwort, »in dem Alter haben die das heutzutage doch alle!«

»Ist ja wieder typisch«, würde es mir aus dem Hörer entgegenkeifen. »Du hast einfach kein Verantwortungsbewußtsein, mit so einem Piercing verbaut sie sich ihre Zukunft.«

»Wo ist denn dieses Piercing?«

»Keine Ahnung, ich hab sie ja noch nicht gesehen.«

»Dann ist es irgendwo sichtbar. Brüste, Bauchnabel, Vagina, das müßte sie dir ja nicht erzählen.«

»Du bist wieder unmöglich. Sie ist deine Tochter! Da darfst du an so was nicht einmal denken!« schreit mir meine eingebildete Exfrau ins Ohr. Bevor sie aber den Hörer irgendwo hinknallen kann, verdrängt eine äußere Stimme ihre innere aus meinen Gedanken: »Hallo, jemand zu Hause?«

Meine Nichttochter glotzt mich fragend an. Und die anderen beiden Mädchen hängen auch nicht länger über ihren Handydisplays. »Bist du irgendwie gestört?«

»Keinesfalls«, sage ich. »Ich hab bloß gerade mit deiner Mutter gesprochen. Sie weiß ja noch gar nicht, wo du dein Piercing hast.«

»Ey, Alter, was läuft denn bei dir für ’n Film?«

»Okay, ja«, ich geb’s einfach zu, »das, was du erzählt hast, war beim besten Willen nicht zu überhören. Wobei, frag mal deine Freundinnen. Die haben dir bestimmt kein Stück zugehört. Also sei froh, daß ich ein Ohr für dich übrig hatte.«

Das Piercingmädchen macht große Augen und wendet sich den anderen beiden zu. »Ihr habt mir nicht zugehört?«

»Was?«

»Natürlisch ham wa zujehört, isch schwöre.«

»Ach ja, und was hab ich erzählt?«

»Na«, sagt die eine, »was mit deiner Mutter, hat der Typ doch gerade gesagt.«

»Daß deine Mutter jetze ’n Piercing hat. Was hast du da eigentlisch an deiner Lippe? Voll häßlisch!«

»Was seid ihr ’n für Arschkinder?«

In diesem Moment kommt der Bus. Als ich einsteige, schaut der Fahrer an mir vorbei. »Prügeln die sich?«

»Nein«, sage ich, »das ist lediglich ein Gespräch unter Mädchen mit besonders harten rhetorischen Mitteln.«

»Aha.« Der Fahrer nickt und setzt den Blinker.

Freizeit ist ein anderes Wortfür unbezahlte Mehrarbeit

Ich habe meine Fenster geputzt und dabei ganz neue Erkenntnisse gewonnen. Seit wann ist das Haus gegenüber grün? Erstaunlich. Hat sich ja gelohnt, direkt nach dem Wachwerden Hausarbeit anzugehen. Dabei ist Sonntag. Wer am Sonntag arbeitet, in seiner Freizeit also, hat nicht genügend Hobbys. Wie ich neulich beim Fernsehen erfuhr, haben die Zuschauer des RBB die Modelleisenbahn auf Platz eins ihrer liebsten Freizeitvergnügungen gewählt. Modelleisenbahn? Liebstes Freizeitvergnügen? Okay, S-Bahnfahren macht nur noch wenigen Spaß. Mit Miniaturzügen ist man eindeutig sicherer unterwegs.

Ich setze mich ja gerne nachmittags auf die Bank eines Umsteigebahnhofs und beobachte die Leute beim Drängeln und Hetzen. Kommt dann mal wieder eine Ansage, daß wegen einer witterungsbedingten Störung – vielleicht liegen zu viele Pollen auf den Gleisen – die Züge der Berliner Ringbahn derzeit über Hamburg-Altona umgeleitet werden, vielen Dank für Ihr Verständnis, gucke ich in die Gesichter der gestreßten Menschen und ergötze mich an ihrer Verzweiflung. Mehr Drama gibt es weder im Deutschen Theater noch zu später Stunde bei einer dieser schmierigen Castingshows, wo keine echte Emotion gezeigt, sondern die Geduld psychisch labiler Jugendlicher auf die sprichwörtliche Folter gespannt wird, wobei es letztlich egal ist, ob es um das Ergebnis eines Publikumsvotums oder eines Vaterschaftstests geht.

So was schaue ich nicht mehr. Das Fernsehen hat viel mehr zu bieten! Zum Beispiel diesen untersetzten Österreicher, der in einem fort Messer vertickt und demonstriert, was sich damit so alles schneiden läßt: Brot, Käse, Tomaten, Kabel, Nägel, Finger – der helle Wahnsinn ist das. Bei dem Mann kann ich unmöglich wegschalten. Besonders wenn ich ramponiert von den Strapazen des Soziallebens mal wieder allein heimgekehrt bin, versöhnt mich so eine Messerverkaufsshow mit der Welt. Die Spannung hält bis zum nächsten Morgen an. Ich wache auf und hoffe, erfolgreich Widerstand geleistet zu haben gegen die kleine Hausfrau in mir drin – ui, das ist ja total praktisch! – und daß mir keins der tollen Messersets demnächst zugestellt wird. War ’n prima Angebot, man kriegt sogar ein zweites Set gratis dazu, was man auch braucht, durchtrennt man ständig Kabel und Nägel und Finger.

Apropos: Neulich las ich von einem Studenten, der einen Obdachlosen in seiner eigenen Wohnung ermordet und dann zerstückelt hat, weil er nicht wußte, wie er die Leiche sonst wegschaffen soll. Ob der zwei dieser Messersets besessen hat? Oder wie hat er das gemacht? Einen Fleischwolf oder so was Extravagantes wie eine Moulinette wird er ja wohl kaum besessen haben, und wenn doch, muß das ’n ziemliches Geraffel gewesen sein. Ist ihm auch nicht gelungen, den Mord komplett zu vertuschen. Dafür braucht man ein Profigerät, so ’nen Cutter wie beim Metzger. Wie viel Mensch ein durchschnittlicher Wurstesser wohl in seinem Leben unwissentlich verzehrt, bloß weil in der Wurstwarenfabrik Mörder tätig sind? Das müßte das perfekte Verbrechen sein.

All dies geht mir durch den Kopf, während ich wieder rausgucke. Erstaunlich, was so ’n geputztes Fenster bringt. Hätt ich auch schon vor acht Jahren drauf kommen können. Und daß das Haus gegenüber tatsächlich grün ist – ich kann’s immer noch nicht fassen. Manchmal bin ich der kleinen Hausfrau in mir drin wirklich dankbar. Mein Verstand hat verdrängt, daß man kalte Füße verhindert, indem man Socken anzieht, die Fensterscheiben aber sind so sauber, als seien sie gar nicht vorhanden.

Draußen ist es endlich wieder schön, meistens jedenfalls. Frühling und so. Wer jetzt kein Fahrrad hat, sollte sich schnell eins klauen gehen. Blöd ist bloß: Die gemeinen Radfahrer schließen die Dinger alle an! Um die loszubekommen, bräuchte man eins dieser Spezialmesser. Neulich hab ich mich total geärgert. Da stand ein Fahrrad, das sah so aus, als müßte es eigentlich meins sein, doch das Schloß war massiv, also im Grunde genommen mehr Burg als Schloß, keine Chance. Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen, bin flugs in den nächsten Heimwerkerfachmarkt und hab mir da mal was gekauft. Ein Fahrradschloß nämlich. Damit konnte ich das Rad, das eigentlich meins sein sollte, ein zweites Mal am Laternenpfahl befestigen. Dazu hab ich ein Bekennerschreiben gebastelt und drangehängt: »Dieses Fahrrad ist entführt, wir werden es erst wieder freigeben, wenn Sie einen Umschlag mit zehn unnumerierten Geldscheinen auf dem Gepäckträger deponieren, gezeichnet Kommando Lance Armstrong.«

Am nächsten Tag kam ich zur Kontrolle. Und was soll ich sagen? Das Fahrrad war weg! Mein Schloß dagegen lag auf dem Pflaster – durchgeschnitten. Derart blinde Gewalt macht mich gelinde gesagt fassungslos.

Genauso wie mich junge Frauen gelegentlich fassungslos machen. Vor allem wenn sie nackt ins Zimmer kommen. Stimmt, da war ja was. Lieblingsfreizeitaktivität: Mädchen kennenlernen. Leider eine zumeist einseitig gelagerte Beschäftigung. Nur manchmal klappt’s wohl doch. Wie konnte ich das vergessen?

»Was machst du hier?« Sie wirkt irritiert. Das ist der Trick. Frauen wollen Männer, die sie überraschen.

»Ich konnte nicht mehr schlafen.«

»Und deswegen putzt du die Fenster?«

»Ja. Ist echt erstaunlich, was man plötzlich so alles sieht.«

Wobei die Anwesenheit einer unbekleideten Frau einem Zimmer auch ein anderes Aussehen verleiht. Es wirkt gleich viel mädchenmäßiger. Selbst die Wände erstrahlen in einem leichten Rosaton. Und die Diddl-Maus auf dem Sofa – wo kommt die denn her? Sowieso das Sofa! Liegt das am geputzten Fenster, daß ich das zum ersten Mal wahrnehme?

»Du bist echt komisch«, sagt die Frau, die sich endlich was anzieht – meinen roten Bademantel. Wobei, war der nicht viel kürzer und braun? »Erst schläfste ein anstatt mit mir, und dann putzt du meine Fenster.« Sie lacht. »Das ist mir echt noch nie passiert.« »Moment mal!« Ich betrachte die Situation genauer. »Das ist gar nicht meine Wohnung, oder?«

»Was bist du denn für ’n Freak?« Sie läßt sich neben die Diddl-Maus fallen. »Als du unbedingt mitwolltest, wegen meiner zwei neuen Messersets, hatte ich das für ’ne ausgeklügelte Anmache gehalten.«

»Ach ja, die Messer! Hab ich mir die überhaupt ...?«

»Mann Mann Mann«, sie verdreht die Augen, »hast du nicht gesagt, du bist Freizeitprofi?«

»Kann sein, ja.«

»Jedenfalls hast du die Messer erschöpfend betrachtet, und zwar so sehr, daß du darüber eingeschlafen bist.«

»Am Tisch?«

»Mit dem Gesicht im Messerkasten. Gestern hattest du noch keinen Tomatenmesserabdruck auf der Stirn.«

»Tomatenmesser?« Ich taste meine Stirn ab.

»Und warum um Himmels willen putzt du meine Fenster?«

Gute Frage, denke ich, will mir aber keine Blöße geben. »Das war ja wohl total nötig«, sage ich daher. »Zum Beispiel dieses Haus da drüben, wußtest du, daß das grün ist?«

»Wie jetzt?« Sie steht auf. »Da steht ein Haus?«

Kindererziehung ist ein Chapter für sich

Eine Reportage von der Kitafront

In der Kindertagesstätte »Hotzenplotz« ist mal wieder der Teufel los. Der kleine Igor hat der noch viel kleineren Chantal soeben die fristlose Kündigung ausgesprochen. Das will diese natürlich nicht akzeptieren, sie wehrt sich kratzend und beißend. Der kleine Igor fühlt sich daher genötigt, Chantals Kaufmannsladenfiliale unverzüglich dichtzumachen. Um das zu unterstreichen, stößt er das Regal mit den Reinigungsmittelattrappen aus Holz und Plastik um. Ihre Kita-Kameraden Melanie, Emma und Justin fangen an zukrakeelen. Ungeduldig stehen sie bereits Schlange, um vom reduzierten Ausverkauf zu profitieren.

Höchste Zeit für Erzieher Ludger einzuschreiten. Der zweiundvierzigjährige bezopfte Zweizentnerriese trennt die Streithälse durch einen beherzten Griff in ihre Haare. »Ruhe!« schimpft er. »Sonst spielen wir Razzia. Aber sofort!« Das wirkt. Die Kinder sind schlagartig still. Razzia spielen sie nicht so gerne. »Razzia ist voll langweilig«, sagt Melanie, »und die Handfesseln tun echt weh.«

»Ich spiel lieber Türsteher!« ruft Justin dazwischen. Mit leuchtenden Augen erzählt er, wie es ihm kürzlich gelungen sei, die anderen stundenlang am Betreten der Toiletten zu hindern.

»Das war echt kraß. Die haben mich mit Bomben beworfen! Und da war nicht nur Wasser drin.« Beistand habe er dann von Paul bekommen. Der neben ihm stehende Junge mit den Sommersprossen nickt ernst. »Dein Bruder hat nicht immer recht«, sagt er, »aber er bleibt dein Bruder!«

»Ich liebe es, die Kids einzuschüchtern«, erzählt Ludger später bei einem Pausenjoint und kratzt sich am Vollbart. »Hätte früher nie gedacht, daß mir so ’ne Arbeit so viel Freude bereitet.«

Sein Kollege, Glatzkopf Slavko, kommt hinzu und nimmt einen Zug von Ludgers Joint. Wie Ludger trägt auch er eine Lederweste. Lediglich die Abzeichen unterscheiden sich voneinander. »Noch letztes Jahr hätt ich unter keinen Umständen mit ihm einen geraucht«, sagt Ludger. »No way«, bestätigt Slavko. »Statt ’ner Kippe hätt ich dir höchstens drei Kugeln in den Kopf gedrückt.« Sie lachen heiser.

Daß die beiden ehemaligen Erzfeinde, wie viele andere Mitglieder von inzwischen aufgelösten Rockergangs, jetzt einträchtig Kinder erziehen, ist Verdienst deutscher Politik, damals eine glänzende Idee der Bundesarbeitsministerin. »Nach dem Verbot der Hell’s Angels und der Bandidos standen hunderte Männer ohne Perspektive und vor allem ohne Motorrad da«, erklärt Ursula von der Leyen rückblickend, »ihnen sollte Mut zugesprochen werden, einen Neuanfang zu wagen.«

Der Plan ist aufgegangen. Viele Rocker ließen sich umschulen auf Mangelberufe wie hier in der Kinderbetreuung. Auch Kristina Schröder hat das Vorhaben von Anfang an verbal unterstützt. »Es ging ja nicht darum, jemanden in eine Umschulung zu pressen«, sagt die ehemalige Bundesfamilienministerin, »aber mir war klar, daß unter diesen lebenserfahrenen Herren viele mit Freude und Engagement ihre neuen beruflichen Chancen ergreifen wollten.«

Anfangs stieß die Ministerinneninitiative auf massive Kritik. Die kam vor allem von denjenigen, die sich wirklich auskennen. Von einem »Schlag in die Magengrube« war da die Rede, von der fehlenden »inneren Haltung« umschulungswilliger Rocker. Denen wurde sehr oft mangelnde Kinderliebe und Unfähigkeit zur Selbstreflexion vorgeworfen. »Manche haben sogar behauptet, wir würden das nur tun, um an die scharfen Mamas ranzukommen«, Slavko spuckt aus und grinst. »Was soll ich sagen? Das stimmt natürlich.« – »Wobei«, wirft Ludger ein, »so scharf wie erhofft waren die meisten gar nicht, manche sind regelrecht kratzbürstig, weil sie Angst haben, wir würden ihre Brut verderben.« – »Dazu muß man sagen«, ergänzt Slavko, »der Ludger war vorher im Prenzlauer Berg. Gab ziemlichen Ärger, was?«

»Yo! Ein paar von den Kids haben Gebietsstreitigkeiten mit ’nem Kinderladen aus der Nachbarschaft angefangen. Ich mein, mehrere Clubs in einer Gegend, das geht halt nicht.«

»Sei froh, hier bei uns im Wedding gefällt’s den Eltern, wenn wir ihre Kids gleich auf die rechte Bahn bringen.«

Auch in der Kindertagesstätte Hotzenplotz waren nicht alle Eltern auf Anhieb begeistert von den neuen Erziehern. Überzeugungsarbeit mußte geleistet werden. Fragt man die zwei, wie sie Skeptiker umgestimmt haben, grinsen sie vielsagend. Das anfängliche Akzeptanzproblem konnte abgebaut werden.

Karina R. ist eine von wenigen Müttern, die ihre negative Haltung nicht ablegen wollte und zudem mutig genug ist, sich öffentlich dazu zu äußern. Die alleinerziehende Unternehmensberaterin gerät rasch in Rage, spricht man sie auf ihre Erfahrungen mit umgeschulten Rockern an. »Sie müssen wissen, hinter jedem dieser Kerle steht ein ganzer Haufen. Ihre Clubs mögen ja aufgelöst sein, offiziell zumindest – ja, klar! Wir wurden regelrecht bedroht, nachdem wir dem Neuen beim Elternabend kritische Fragen gestellt und ihm seine empathischen Fähigkeiten abgesprochen haben. Am nächsten Morgen lag ein toter Karpfen auf dem Dach meines Porsche. Ein toter Karpfen! Das müssen Sie sich mal vorstellen!« Karina R. lacht höhnisch. »Vom Himmel wird der wohl kaum gefallen sein. Der Wagen stand nämlich im Carport im fünften Stock. Da kriegt man es schon mit der Angst zu tun. Also, ich habe den Benjamin jetzt im katholischen Kindergarten angemeldet, wo ich früher auch war. Da weiß ich wenigstens, welche Art von Gewalt meinem Sohn droht.«

Ludger und Slavko können die ganze Aufregung nicht verstehen. Sie machen schließlich nur ihre Arbeit. In der Kita Hotzenplotz ist die Pause vorbei. Das Gezeter im Hintergrund wird unüberhörbar. »Ich glaub, wir müssen. Wenn du mal Hilfe brauchst, sag Bescheid!« Slavko zwinkert mir zu. »Warum lärmen die Kids eigentlich so?« will ich wissen. Wo ich doch zuvor mit eigenen Augen gesehen habe, wie die beiden ihre Schützlinge an der Sprossenwand fixiert und deren Münder mit Gaffatape verklebt haben. »Ach«, Ludger winkt ab, »nüscht Besonderes, das sind nur die ersten Mütter, die ihre Brut abholen kommen!«

Vor der Kita treffe ich auf den kleinen Igor. »Hey, Zivilist!« ruft er mir zu. »Lust auf geile Bräute?« Hinter ihm räkeln sich zwei aus der Krabbelgruppe lasziv im Gras, die Münder knallrot, die Augen dunkel umrandet. Sie mustern mich herausfordernd. Als ich die drei irritiert ansehe, setzt Igor nach: »Oder ist dir mehr nach Candy?« Er hält mir eine Handvoll Smarties hin. »Ich mach dir auch ’nen Einstiegspreis.«

Beeindruckend, wie sich der Einfluß männlicher Bezugspersonen positiv auf die Entwicklung sehr junger Menschen auswirkt! Diese Kinder lernen früh, mit den Anforderungen unserer Zeit umzugehen. Der von mir bereitwillig bezahlte Einstiegspreis erschien mir zwar zu hoch, aber ich wollte nicht diskutieren. Der Totschläger in der Faust des Jungen war ein durch und durch überzeugendes Argument.

Kinder, Kekse und Chlamydien

Neulich, als ich gerade einen kopfinternen Kampf mit einer Schreibblockade ausfocht, wurde ich Ohrenzeuge einer typischen Hinterhofkommunikation unter Kindern. Darf man Gespräche Minderjähriger mithören, ohne deren Eltern um Erlaubnis zu fragen? Besonders brisant war, daß sich die vier über ein nicht jugendfreies Thema austauschten. Wäre mir das auf Anhieb klar gewesen, hätte ich mir selbstverständlich sofort die Ohren zugehalten oder – besser noch – das leicht geöffnete Fenster zum Hof geschlossen, durch das ich ein bißchen frische Luft in meine Mansardenwohnung strömen ließ, in der ich mir seit Tagen und ohne Kontakt zur Außenwelt Gedanken machte. Die aber nutzten die Gelegenheit, sich an das im Hof aufkommende Gespräch zu klammern, welches so schön harmlos wirkte, solange die Jungs unter sich blieben und ein kinderspezifisches Thema diskutierten, weshalb ich es nur beiläufig verfolgte. Es ging um die sekundären Geschlechtsmerkmale einer neuen Kunstreferendarin, als plötzlich die Karen aus dem Vorderhaus auftauchte – für die Jungs wohl so was wie das Gegenteil zur Lehrkraft in Ausbildung. Karen nervte offenbar total und fragte zudem die Frage, die man als Kind nie anderen Kinder stellen sollte: »Darf ich mitspielen?« Das ist wirklich das Allerletzte. So dermaßen erniedrigend. Schrecklich.

»Darf ich mitspielen?« Wie kann man bloß solch eine Frage stellen? Ich für meinen Teil habe darauf früher stets ein vielkehliges »Nein!« geerntet. Heutige Kinder sind ja viel subtiler als die in den frühen Achtzigern. Die sagen nicht einfach »Nein!« nein, die rufen: »Hau ab, du lügst!« Und dann wird diskutiert.

»Du spinnst ja!« entgegnete Karen, und einer der Jungs sagte: »Die hat bestimmt Chlamydien.«

»Hab ich gar nicht!«

»Woher willste das wissen? Oder warste schon mal beim Frauenarzt?« Das saß. Die Jungs lachten, und Karen war hörbar den Tränen nah: »Ihr seid blöd!«

»Heul doch!« Auch eine früher eher selten artikulierte Aufforderung, der dafür um so häufiger Folge geleistet wurde. Damals konnte man ja kaum mit Mädchen spielen, weil die entweder geheult haben oder ihre Tage hatten. Letzteres kam vielleicht auch erst später. Wahrscheinlich haben die Mädchen früher ausschließlich geheult, und wäre ich seinerzeit so feinfühlig wie heute gewesen, hätte ich meine Doktorspiele nicht immer nur mit Martin und Olaf von nebenan veranstalten müssen. Was gewiß meine Vorliebe für Urologie erklärt.