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Gefangene werden in einem Alpengefängnis als Arbeitssklaven unter widrigen Lebensbedingungen ausgebeutet. Jede Befehlsverweigerung führt zu brutalen und menschenverachtenden Strafen. Um dieser Hölle zu entkommen, gibt es nur einen Ausweg: Du musst zum Auftragskiller werden! Leo Haldemann, der seine Strafe wegen eines unglücklichen Vorfalls in dem knallharten Gefängnis absitzen muss, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die archaischen Zustände und kämpft mit seinen inneren Dämonen, um nicht selbst Täter zu werden. Wird es ihm gelingen, sich der Gehirnwäsche durch die Wärter, die ihn zu einer Killermaschine formen wollen und der attraktiven, jedoch nicht weniger erbarmungslosen und undurchsichtigen Tochter des Oberaufsehers zu widersetzen?
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Marco Rauch
Berserker
Marco Rauch
Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright © 2021 by Marco Rauch
Copyright dieser Ausgabe © 2025 by Marco Rauch
Verantwortlich: Marco Rauch, Jägerhausgasse 58-66, 1120 Wien, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.
Cover-Artwork: © by Björn Craig
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin, Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für C.
And I mean it.
Freedom begins between the ears.
- Edward Abbey
Ich wache in einem durchgelegenen Bett auf. Das Kissen stinkt nach Schweiß und den Tränen der Menschen, die vor mir hier gelegen haben.
Ich bin nicht im Gefängnis, nicht mehr in meiner Zelle. Es gibt keine Gitterstäbe vor dem Fenster.
Im Zimmer ist es still. Die Arbeiter sind alle draußen. Das Bett über mir ist leer, trotzdem hängt die Matratze tief durch. Mein Mitbewohner arbeitet bereits. Er lebt schon länger hier. Die grauen Ziegelwände sind mit farblosen Fotos und Briefen geschmückt, deren Tinte zu verschwinden beginnt.
Mein Kopf fühlt sich leicht an. Unter meinen dunklen, wild abstehenden Haaren spüre ich am Hinterkopf eine üble Beule. Im Bart klebt eingetrocknetes Blut, das ich beim Waschen gestern Abend übersehen habe.
Ich bin nicht zimperlich, ich kann einiges vertragen. Mit meinen siebenunddreißig Jahren bin ich gut in Schuss. Vielleicht ein bisschen abgenutzt und verbraucht. Mit einer leicht verbogenen Nase, die nicht so recht in das schmale Gesicht passt. Dunkle Augenringe, die von den grün strahlenden Augen ablenken. Doch an sich ein recht ansehnlicher Typ. Aber heute nicht. Heute bin ich zerstört.
Mein Körper schmerzt an allen möglichen Stellen. Von den Schlägen und Tritten, die es gestern beim Transport gehagelt hat. Zuerst beim Verladen in den Lastwagen und dann beim Abladen, wenn wir nicht schnell genug waren.
Der erste Tag in meinem neuen Leben. Der erste Tag meiner Haftstrafe. Dreizehn Jahre als Strafarbeiter. Wegen eines Unfalls.
Mein Leben gehört jetzt jemand anderem, ich habe jetzt einen Besitzer. Die Gefängnisse sind wegen Überfüllung geschlossen. Wieso hat sich meine Schwester als Sicherheit für mich verbürgt? Ich habe Lilja gesagt, sie soll es nicht tun. Sie tat es trotzdem.
Vielleicht hat sie Recht, vielleicht würde ich ein Arbeitslager nicht überleben und die Strafarbeit wäre leichter zu ertragen. Aber nach dem gestrigen Tag, nach der ewig langen Fahrt zusammengepfercht in einem zu engen Laderaum. Nach den Schlägen, Tritten, Elektroschocks und Peitschenhieben, die mich überall erwischt hatten. Nach all dem frage ich mich, ob es hier wirklich leichter ist?
Schwere Schritte marschieren über den nackten Boden. Die harten Stiefel nähern sich. Ich setze mich auf. Ich will nicht überrascht werden.
»Aufstehen, Totschläger«, sagt ein Aufseher. »Schluss mit dem Faulenzen.« Ein schlaksiger dünner Typ mit fiesen kleinen Wieselaugen steht vor mir. Bei der Tür warten zwei Kollegen. Sie tragen Elektroschocker und Schlagstöcke bei sich.
»Ich heiße nicht Totschläger«, sage ich.
»Was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt …«
Es setzt die erste Ohrfeige des Tages. Ich muss mir endlich merken, wann ich besser das Maul halte und wann nicht. Sie haben es mir gestern mit ein paar freundlichen Stockschlägen beigebracht. Rede nur, wenn du was gefragt wirst.
»Ich dachte, das wäre geklärt«, sagt das Wieselauge. »Ist es geklärt?«
»Ja.«
»Gut. Dann beweg deinen Arsch. Wird Zeit, dass du eingeteilt wirst, Totschläger.«
Ich schweige und stehe auf. Angezogen bin ich schon. Oder noch. Nach der langen Fahrt, der Dusche und der frischen Kleidung, war mir in dieser Berglandschaft eisig kalt. Ich habe mich angezogen ins Bett gelegt und geschlafen. Und mir war noch immer kalt.
»Ich sag dir was, merk dir das endlich, ich will dieses Scheiß-Spiel nicht jeden Tag mit dir durchmachen müssen.«
Seit gestern bin ich kein Mensch mehr. Seit gestern gehöre ich offiziell und legal meinem neuen Besitzer. Moritz Derflinger und seinem Luxus-Berghotel. Seit gestern bin ich nichts weiter als ein Gegenstand, mit dem sie machen dürfen, was sie wollen.
Auch wenn dieser Moritz es noch so oft betont, dass sie fair sind, wenn wir hart arbeiten. Dass er uns nicht wie Gegenstände behandeln wird, wenn wir es nicht darauf anlegen. So einen Blödsinn kann er jemand anderem erzählen.
Sie bringen mich hinaus. Führen mich an den Schlafbaracken und dem Essensraum vorbei.
Ein Schrei ertönt. Er ist gar nicht so weit weg.
Wir biegen an einer Scheune ab und kommen auf einen kleinen Hof.
Ein zischendes Geräusch. Wieder ein Schrei. Es stinkt nach verbranntem Fleisch.
Der erste Gedanke ist Flucht. Nur Flucht wohin? Wir sind auf einer Bergspitze. Es gibt nur eine Straße. Sonst sind wir umgeben von Klippen, Wald und Schnee. Die nächsten Dörfer sind zu Fuß mehrere Stunden entfernt.
Dann sind wir da. Ein glühendes Stück Eisen erwartet mich. Eine rissige Holzbank. Eingetrocknetes Blut und vielleicht andere Körperflüssigkeiten, die man in Panik und vor Schmerz ausscheidet.
Die Flucht ist auf einmal kein Gedanke mehr, sondern ein Instinkt, eine Gewissheit. Sofort stemme ich mich unwillkürlich in die andere Richtung. Zwei Männer packen mich von hinten. Ich schiebe dagegen an. Mit knapp neunzig Kilo bin ich kein Schwergewicht, aber sie verlieren an Boden.
Obwohl sie zu zweit sind, bin ich kräftiger als die beiden. Die vielen Jahre körperlicher Arbeit machen sich bezahlt. Die ganzen miesen, unterbezahlten Jobs, bei denen du deinen Körper schindest, bis du jeden Muskel spürst. Manchmal sogar so lange und so schwer zermürbt, bis du nichts mehr spürst, bis du mehr tot als lebendig am Abend einfach umfällst. Man besteht zwar aus Kraft, aber man hat keine Kraft mehr zum Leben.
Ich schiebe sie in die andere Richtung. Sie rechnen nicht mit so viel Widerstand. Der dritte, das Wieselauge, packt mit an. Reißt mir an den Haaren den Kopf nach hinten.
»Was soll der Scheiß?«, fragt er.
»Das frag ich mich auch«, sage ich. Der Hass in meinem Blick lässt ihn kurz erstarren, verunsichert ihn. Meine Augen lodern auf. Mein Kiefer mahlt und macht mein Gesicht kantig und verbissen. Wie ein Wolf, bereit sich auf seine Beute zu stürzen.
Das Wieselauge reißt nicht fester an meinen Haaren an, er schlägt nicht zu, er macht gar nichts.
»Gibt es ein Problem?« Das ist Bruno Derflinger. Der Bruder meines neuen Besitzers. Er packt sich das glühende Eisen und kommt damit zu mir.
»Der Mistkerl bockt«, sagt Wieselauge.
Bruno hält mir das Eisen vors Gesicht. Ich versuche der Hitze auszuweichen, da packen die drei anderen hart zu, halten mich richtig fest und ich kann mich nicht mehr bewegen. Aber vielleicht ist es auch die Angst, die mich erstarren lässt, je stärker ich die Hitze spüre.
»Willst du, dass ich abrutsche?« fragt mich Bruno.
»Nein.«
»Willst du vernünftig und ruhig sein?«
Was soll ich darauf sagen? Bruno starrt mich an. Sein Gesicht ist ganz dicht vor meinem. Diese zerschlagene Visage, mit Narben, die sich so tief wie Krater in seinem Gesicht abzeichnen. Einer zerquetschten Nase, ohne Nasenbein. Den brutalen, kalten Augen, die in mir nichts Menschliches sehen.
»Leg dich brav dort hin, dann hast du es schnell hinter dir.« Er gibt den anderen Zeichen, mich loszulassen. »Wirst du brav und vernünftig sein?«
Eine drohende Hand legt sich ganz sanft und leicht auf meine Schulter. Die Hand ist noch geöffnet. Diese viel zu große Hand für den untersetzten, stämmigen Bruno. Er ist fast einen Kopf kleiner als ich. Aber seine Fäuste haben bestimmt mehr Menschen verprügelt und zerschlagen, als ich überhaupt kennen gelernt habe. Wenn er die Hand schließt, dann sieht man die Knöchel fast gar nicht mehr, weil er sie sich so oft gebrochen hat.
Mir ist das einmal passiert. Mit nur einem Schlag. Drei Knöchel gebrochen und ein Mann fiel vor einen heranrasenden Zug. Und jetzt bin ich hier.
Bruno deutet auf die Holzbank. »Es liegt ganz an dir, wie wir das erledigen. Aber mach schnell.«
Ich nicke. »Okay.« Ich gehe hinüber zur Holzbank.
»Hemd runter«, sagt er.
Ich ziehe mir das Hemd aus.
»Hinlegen.«
Ich lege mich auf die Bank. Gesplittertes Holz sticht mir in Brust und Bauch. Es fühlt sich überraschend warm an, im Material gespeicherte Angst von den Menschen, die vor mir hier gelegen haben. Mit dem Kopf blicke ich über den Rand. Auf dem Boden vor mir ist gefrorene und frische Kotze. Ein giftiger Gestank.
»Festhalten.«
Plötzlich packen mich alle drei Männer. Wieselauge stemmt einen Fuß gegen meine Schulter und reißt mir die Arme in die Länge. Er zieht so fest an, ich warte nur darauf, dass sie mir aus den Gelenken springen.
Ein anderer setzt sich auf meine Füße. Und der dritte drückt mir mit seinem ganzen Gewicht ein Knie ins Kreuz.
»Leo Haldemann«, sagt Bruno meinen Namen. »Verurteilt zu dreizehn Jahren Strafarbeit wegen Totschlag. Hiermit bist du offiziell Eigentum von Moritz Derflinger.«
Ein reißender Schmerz erschüttert mich und fährt mit einer Wucht durch meinen Körper, dass ich beinahe alle drei Männer mit einem einzigen, gewaltigen Ruck von mir schleudere. Ein Schock, ein Glühen und Brennen. Das rechte Schulterblatt, wo Bruno das glühende Eisen auf meine Haut presst, verbrennt. So muss sich Lava anfühlen.
»Scheiße, war wohl nicht mehr heiß genug«, sagt Bruno.
Die anderen lachen.
Ich versuche, den Kopf zu bewegen. Ich versuche, irgendwas zu bewegen. Ich höre, wie Bruno das Eisen ins Feuer legt und ein anderes herausnimmt. Damit kommt er wieder zu mir.
»So, aber jetzt.«
Gnadenlos rammt er das Feuer auf die gleiche Stelle wie eben. Es zischt. Es stinkt nach verbranntem Fleisch. Ich weiß, es ist meins. Die Hitze frisst sich durch Haut und Muskeln. Das Brennen vorhin war nichts im Vergleich dazu.
Ich verliere kurz das Bewusstsein. Der Schmerz haut mich einfach um, knockt mich aus.
Als ich wieder zu mir komme, schleifen mich zwei andere Männer an den Armen über den Platz. Sie werfen mich mit dem Rücken voran in einen Schneehaufen.
»Haldemann«, sagt der Schatten vor mir. »Haldemann?« Langsam erkenne ich ein Gesicht. Die Stimme ist mir bekannt. »Scheiße, was hast du denn gemacht?«
»Es war ein Unfall«, sage ich.
»Ein Unfall?«
»Ich wollte nicht so fest zuschlagen.«
»Was redest du denn? Wen hast du geschlagen?«
»Na den Mann, bei der Station. Weiß du nicht mehr …« Aber das ist nicht Lilja, mit der ich da rede.
»Verdammt nochmal, der hat dir ja fast die Schulter durchgebrannt.« Das ist Jonas Steinböck, Spitzname Stoney. Mein Zimmergenosse. Hat schon fünf Jahre hinter sich und nur noch zwei abzuleisten. Der Glückspilz hat es bald geschafft.
Er schiebt sich die Brille auf der kurzen Nase hinauf. Seine aufgeweckten Augen suchen mich nach anderen Verletzungen ab. Vorsichtig dreht er mich um. Er hat kleine, zarte Hände, die so gar nicht für körperliche Arbeit gemacht sind.
»Sieht schlimm aus«, sagt er. »Aber das verheilt von allein. Die Jungs wissen, was sie tun, muss man ihnen lassen.«
Der Schmerz in der Schulter wird durch das Eis betäubt. Ich stehe auf. Etwas wackelig zwar, aber ich stehe.
»Weißt du, ich hab dich nicht mal schreien gehört.«
Erst jetzt, wo er es sagt, wird es mir bewusst. Er hat recht. Mir kam kein einziger Laut über die Lippen.
Ich bekomme meinen neuen Job zugewiesen. Scheißhäuser putzen.
»Scheiße«, sagt Stoney. Er wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie schafft er das nur? Er bindet sich die langen Haare zusammen, aber eine Strähne hängt immer heraus. Macht er das absichtlich?
»Kann man wohl sagen.«
»Ich werd mal schauen, vielleicht kann ich da was machen.«
»Vergiss es.«
»Ich sag dir was, da stecken sie normalerweise nur die Problemfälle hin.«
»Schön zu wissen.«
»Sag mal, bist du ein Problemfall?«
»Woher soll ich das wissen.«
Vor dem Hauptgebäude, direkt vor dem Eingang, hält ein schwarzer Mercedes. Eine Frau steigt vorne aus und öffnet die Hintertür.
»Das müsste man sein«, sagt Stoney. »Chauffeur. Aber ich sag dir, ein Problemfall kriegt den Job nicht.«
»Danke.«
Plötzlich steigt von hinten der größte Mann aus, den ich je gesehen habe. Ein richtiger Koloss. Es gibt Bären, die kleiner sind als dieser Typ. Ein Stiernacken und Schultern wie eine Gebirgskette. Arme und Beine wie Baumstämme spannen sich unter der Kleidung an, zerreißen sie fast. Selbst aus der Distanz wirkt der Kerl imposant. Ich möchte gar nicht wissen, wie es ist, wenn er vor einem steht.
»Wer zum Teufel ist das?«
Stoney folgt meinem Finger. Ich kann nicht anders und muss auf ihn deuten. Dabei ist der Hüne nicht zu übersehen.
»Bist du irre, nimm die Hand runter.« Stoney schlägt nach meiner ausgestreckten Hand. »Auf den zeigt man nicht.«
»Wer ist das?«
»Das ist Tankred.«
»So sieht er aus.« Keine Ahnung wieso, aber bei dem Namen muss ich an einen Panzer oder Lastwagen denken – und genau so sieht der Kerl eben aus.
»Der hat es geschafft.«
»Was meinst du?«
»Der arbeitet direkt für Derflinger. Schläft und lebt im Haupthaus. Kommt also immer wieder hier raus. Ich sag’s dir, der hat irgendwas richtig gemacht.«
»Was, das ist einer von uns?«
»Ja, und ob. Der ist schon länger hier als jeder andere von uns. Ich weiß nicht mal, wie der mit ganzem Namen heißt. Es gibt eigentlich nur Gerüchte über ihn.«
»Will ich die überhaupt hören?«
»Manche sagen, er war Soldat. Andere meinen, er hat was Indianisches im Blut und war Menschenjäger. Hab aber auch gehört, dass er Terrorist war, irgendwas mit Sprengstoff und Sabotage und so, weißt du.«
»Schon gut«, sage ich. »Ich will das alles gar nicht wissen.« Und noch weniger will ich je etwas mit ihm zu tun haben. So stelle ich mir Frankensteins zu Fleisch gewordenes Monster vor.
Stoney packt seinen Werkzeugkasten. Er ist für Reparaturen aller Art zuständig. Einer von mehreren. »Los, mach dich an die Arbeit«, sagt er. »Bruno schaut schon.«
»Wo finde ich das?« Ich deute auf meine Arbeitskarte.
Stoney tippt sich an die Nase. »Immer dem Geruch nach, Freundchen, sorry.«
»Haldemann«, sagt Bruno. Seine Stimme ist laut und gebieterisch. Sie hallt über den Platz. »Was stehst du da noch rum? Du hast deine Karte, an die Arbeit, beweg deinen Arsch.«
Ich nicke und gehe los. Gehe an ihm vorbei und er packt mich plötzlich am Arm. Er greift zu wie ein Schraubstock. Seine Finger bohren sich in meinen Oberarm, als wäre da kein Fleisch, als wären da keine Muskeln oder Knochen.
»Hier wird nicht gefaulenzt. Du bist zum Arbeiten hier, hast verstanden?«
»Ja.«
Er lässt mich los und ich mache gleich den nächsten Fehler.
»Aber es gibt eine Mittagspause?«, frage ich. Du Idiot! Nie reden, wenn du nicht gefragt wirst. Und unter gar keinen Umständen eine Frage stellen.
Reflexartig verpasst mir Bruno eine Ohrfeige. »Hast du was gesagt?«
Was jetzt? Die Wahrheit sagen und sich eine einfangen? Oder lieber lügen und sich eine einfangen?
»Ja«, sage ich. Man soll doch immer die Wahrheit sagen, nicht?
Als Belohnung bekomme ich eine weitere gescheuert. Er ist so nett und schlägt auf die andere Seite. Damit es links und rechts brennt.
Bruno baut sich vor mir auf. So gut er kann. Er ist trotzdem kleiner als ich. Egal, seine Schläge sitzen. Sie sitzen fester und härter als die Schlagstöcke.
»Ich weiß nicht, ich werd nicht schlau aus dir, nicht?«
Was ich auch sage, ich bekomme auf jeden Fall wieder eine ab. Ich bin nur gespannt, wo er diesmal hinschlagen wird.
»Nein«, sage ich.
»Willst du damit sagen, ich bin dumm?«
»Nein.«
»Was willst du dann damit sagen?«
»Dass Sie nicht wissen, wie Sie mich einschätzen müssen.«
Bruno grinst tatsächlich. Seine Narben zerfurchen sein Gesicht in eine Kraterlandschaft.
»Ich weiß nicht, bist du einfach nur dämlich oder bist du so ein widerspenstiges Mistvieh.«
Ich schweige. Ich bin überrascht, dass ich keine abgekriegt habe.
»Also, was bist du?«
»Dämlich.«
»Dachte ich mir.« Er entspannt sich wieder. Vielleicht komme ich ohne weitere Ohrfeige davon. »Glaub ich dir aber nicht.« Dann dreht er sich um und geht. »Mach dich an die Arbeit.«
Seit gestern, seit meiner Ankunft, denke ich nur an eines: Lilja. Ich muss ihr schreiben. Einen Kontakt zu ihr herstellen. Das ist der einzige Grund, warum es hier besser ist als in einem Arbeitslager.
Es gibt Hoffnung, zumindest einen kleinen Funken.
Die Scheißhäuser. Es ist genau so appetitlich, wie es klingt. Hier wird mir zum ersten Mal richtig bewusst, was für ein Schwein der Mensch doch ist. Der Dreck ist unglaublich.
Meine Kollegen wissen genau, dass wir die Toiletten putzen und reparieren müssen. Man sollte meinen, sie würden sich etwas zusammenreißen, Rücksicht nehmen, aufpassen, wo sie hinmachen. Nichts da.
Da wird daneben gepisst, dass der Boden gelb schimmert und schwimmt. Da wird auf Klobrillen geschissen, weil sie so verdreckt sind, weil wir nicht mit dem Putzen nachkommen und keiner will sich auf eine schmutzige Klobrille setzen. Also hockt er sich darüber und legt den Großteil seiner Ladung auf die Klobrille. Und wir dürfen das dann wegwischen. Alles, was daneben geht.
»Jede Tag, glaubst du mir«, sagt Goran. Wir arbeiten immer zu zweit. Ein Erfahrener und ein Neuling. »Mindestens einmal jede Tag, da müssen wir ein Rohrverstopfung frei machen.«
Goran war Bauarbeiter. Mitte vierzig und etwa in meiner Größe. Füllig, nicht unbedingt dick, aber kräftig und grobschlächtig gebaut. Ein kurzer Hals verschwindet in breiten Schultern. Er hat kurz geschorene Haare, man sieht den Kranz der Halbglatze trotzdem deutlich. Seine schmalen Augen sitzen tief im Kopf. Die Stimme klingt dunkel und kratzig, kein Wunder, er raucht auch fast ununterbrochen Zigaretten. Er hat noch drei Jahre seiner siebenjährigen Haftzeit abzuarbeiten. Goran ist ein Vergewaltiger.
»Ist egal was wir sagen oder machen«, sagt er. »Die hauen trotzdem jeden Dreck in Rohr rein. Kannst Tafeln und Schilder aufstellen, was du magst, nutzt alles nicht.«
Allein heute habe ich Taschentücher, Küchenrollen, ein Kondom, aus einer anderen Toilette die Verpackung des Kondoms, drei Tampons und eine Socke aus den Klos gefischt. In jeder Toilette hängen die Hinweise, bitte nur Toilettenpapier in die Kloschüsseln zu werfen, alles andere in den Mülleimer. In jeder Kabine steht einer. Es ist allen egal. Die Eimer sind fast immer leer. Die Toiletten laufen über.
Es klopft an der Kabine.
»Die acht ist verstopft«, sagt ein Sträfling und marschiert gleich wieder los.
»Was ich dir sage.« Goran blickt auf seine Uhr. Es ist noch nicht mal Mittag. »Früh geht los heute.« Er packt alles Putz- und Werkzeug ein, das ich nicht mehr brauche. »Mach schnell, komm nach dann.«
Er wirft seine Zigarette in die Toilette. Er ist halt auch nicht anders.
Ich wische den Boden fertig auf und dann noch Klobrille, Deckel und Schüssel. Die Kippe schwimmt im Wasser, färbt es langsam braun und löst sich in ihre Bestandteile auf.
Ich spüle runter und verschwinde.
Goran wartet vor Kabine acht auf mich. »Hat wer ganze Arbeit geleistet.«
Er macht mir die Tür auf.
Mir schwimmt sofort alles entgegen. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Wie kann man ein Klo verstopfen und dann so oft spülen, bis alles unter Wasser steht.
»Musst du zuerst Wasser weg machen und dann mal bisschen putzen.« Er raucht genüsslich und reicht mir die Putzsachen. »Dann montierst du Klo ab und ich dir dann zeigen, wie Rest geht.«
»Handschuhe?« Ich wate durch das dreckige Wasser. Eine gelb-braune Brühe.
»Nix Handschuhe«, sagt Goran. Er winkt einer Frau zu. Es gibt auch weibliche Sträflinge hier. Mehr als genug. Sie scheinen sich zu kennen. Sie winkt zurück. Sie geben sich Zeichen. »Später«, sagt Goran. »Muss Totschläger beibringen.« Die Frau sieht mich an, wie ich in der Pisse und Scheiße wühle. Sie zieht eine Augenbraue hoch. Ihr Grinsen offenbart eine große Zahnlücke.
»Du bist doch Totschläger, oder?«, fragt Goran.
»Es war ein Unfall.«
»Ja, ja, sagen alle.«
»Du auch?«
»Natürlich, war ja auch Unfall. Oder nein, wie sagt man … Versehen.«
»Bist vielleicht nur versehentlich in einer Möse gelandet, die es gar nicht wollte?«
»Nein, so nicht. Sie wollte schon, nur dann behauptet, sie hat nicht wollen.«
»Hat sie gesagt, sie will?«
»Nein.«
»Hat sie gesagt, dass sie nicht will?«
»Kann schon sein. Spielt keine Rolle nicht, ich weiß, sie hat wollen. War deutlich.«
»Wie deutlich?« Auch wenn es der größte Schwachsinn ist, den wir da reden, es lenkt mich von der Arbeit ab. Und das ist gut. Ich kann jede Ablenkung gebrauchen. Sonst schwimmt in der Brühe auch bald mein halb verdautes Frühstück herum. Noch mehr Dreck kann ich nicht brauchen.
»Wie sie geschaut hat und angezogen war und mit mir geflirtet hat und so, verstehst du. Als Mann, du verstehst das und kennst das, da war deutlich, was sie will.«
»Hat sie mal Nein oder aufhören oder so gesagt?«
»Kann schon sein. Welche Frau sagt das nicht?«
»Dann war es kein Unfall.« Zumindest nicht wie bei mir. Ja, ich habe dem Mann eine verpasst. Aber das war’s auch schon. Ich wollte nicht, dass er auf die Gleise fällt. Von einem Zug zerstückelt wird. Das war Pech. Mehr nicht.
Goran schweigt einen Moment. Er nuckelt an seiner Zigarette. Falls er gerade nachdenkt, verrät sein Gesicht nicht das Geringste.
»Blödsinn. War Unfall, wie bei dir«, sagt er.
»Du weißt ja gar nicht, wie es bei mir war.«
»Spielt eine Rolle? Mensch ist tot und du bist hier. Also du jetzt Totschläger.« Da lacht er auf und schlägt mir auf den Rücken. »Besser als Mörder, nicht? Müsste sonst schlimmer Unfall gewesen sein.«
Er schlägt mir mit seiner rauen Hand genau auf das Pflaster, auf die frische Brandwunde an der Schulter.
Plötzlich muss ich mich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Plötzlich flammt etwas in mir auf. Denn plötzlich verspüre ich den Drang, ihm weh zu tun. Es lodern Bilder in mir hoch, wie ich seinen Kopf gegen die Wand schlage. Seinen fetten Schädel an der Klobrille zerschmettere. Ihn im vollgepissten und vollgeschissenen Wasser ersäufe.
Es sind Gefühle, die durch den Schmerz, durch seinen freundlich gemeinten Schlag, auf einmal über mich hereinbrechen. Ich wühle mit vollem Ehrgeiz in der Scheiße herum, nur um ihn nicht zu verletzen – um ihn nicht zu töten.
Ich stehe auf. Ich bin fertig mit Aufwischen und Putzen.
Goran zeigt mir, wie man ein Klo abmontiert.
»Zuerst musst du Wasser abstellen«, sagt er. »Sonst gleich wieder Überschwemmung und alles voll.« Und: »Dann schraubst du alles ab. Hier und hier und hier. Vorsicht bei Rohr an der Wand.« Und: »Das willst du nicht kaputt machen, Rohrbruch wäre noch schlimmer als Verstopfung.«
Ich verfolge jede Handbewegung. Es ist keine Hexerei, aber er könnte mir ebenso gut zeigen, wie man eine Rakete baut. Ich bin nicht mehr da.
Wie konnte ich solche Bilder im Kopf haben? Solche Gefühle in mir aufsteigen lassen? So ein Verlangen entwickeln? Ich war nie ein gewalttätiger Mensch. Lilja kann das bezeugen. Ich kann nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun. Ganz ehrlich, wenn eine Mücke in meinem Getränk schwimmt, ich hole sie raus und halte sie so lange auf dem Finger, bis sie sich erholt hat und wegfliegt. Ich kenne niemanden, der das macht.
»Jetzt kommt unangenehme Teil«, sagt er. Da hat Goran doch tatsächlich Gummihandschuhe an.
»Ich dachte, es gibt keine Handschuhe.«
Er fährt mit der Hand in das Rohr hinein, dreht sich dabei zu mir um. »Nur ein Paar. Sind meine eigene.«
Was für ein Mensch ich dort draußen war, zählt jetzt nicht mehr. Wer ich vor dem Unfall war, soll jetzt nicht mehr existieren. Bin ich jetzt ein anderer Mensch? Nur mehr definiert über diese eine Tat, über diesen Unfall?
»Siehst du, ich habe gesagt.« Goran zieht eine Unterhose aus dem Rohr. Voll gesogen mit Wasser, aufgequollen und stinkend. »Die hauen jede Dreck in Rohr rein. Scheißen auf Tafeln und Schilder.«
Ich glaube es nicht. Es war doch keine Absicht. Es war ein Unfall. Es muss ein Unfall gewesen sein. Lilja kann das bezeugen.
»Es war ein Unfall«, sage ich.
»Bestimmt, bestimmt. War ganz sicher Unfall, Unterhose in Klo zu spülen.« Goran wirft die Unterhose hinter sich, sie schlägt mit einem feuchten Klatschen auf dem Boden auf, und montiert das Klo wieder fachmännisch an. »Vielleicht wollte er Höschen ja nur sauber waschen. Jeder hat seine Ausreden. Du, ich, Kloverstopfer.«
Das sind keine Ausreden. Ich bin mir sicher. Ich weiß, wer ich bin. Wie ich dort draußen war. Ich weiß, was geschehen ist. So bin ich nicht. So war ich nicht.
Es muss ein Unfall gewesen sein.
Ich muss Lilja schreiben. Gleich heute Abend. Irgendwie. Aber ich bin viel zu erledigt. Am Abend falle ich einfach ins Bett. Es macht nichts, sage ich mir. Ich werde mich daran gewöhnen. Morgen wird es schon besser. Das war nur der erste Tag.
Frühstück in unserer Kantine. Es gibt eine graue Masse Haferbrei, drei Scheiben steinaltes Brot, einen kleinen Würfel Butter, vertrockneten Käse und einen Schinken, der schon leicht silbern schimmert und kurz vorm Vergammeln ist. Zum Trinken gibt es schalen Tee oder billiges Kaffeepulver aufgelöst in lauwarmem Leitungswasser. Das Mittagessen wechselt nur jede Woche, das Frühstück ist jeden Tag das gleiche.
Stoney winkt mich zu sich. Er hat mir einen Platz freigehalten. Ich setze mich ihm gegenüber und fange an zu essen. Ich schlinge es gierig hinunter. Der Hunger ist zu groß, richtig satt werden wir nie.
»Ganz schönen Appetit, was?«, fragt Stoney und schiebt mir seinen Teller hinüber. Er hat was übriggelassen, eine halbe Scheibe Brot und ein bisschen vom ranzigen Schinken.
Mit vollem Mund sage ich: »Will dir nichts wegessen.«
»Schon gut, hab keinen Hunger mehr.«
Ich schiebe seine Reste auf meinen Teller und so viel es geht in meinen Mund, bis kaum noch Platz zum Kauen ist.
Stoney holt Tabak und Papier hervor, dreht sich eine Zigarette und zündet sie an.
Draußen wäre es undenkbar in einem Lokal zu rauchen. Das wäre gleich eine Haftstrafe von mindestens sechs Monaten. Aber hier interessiert sich kein Schwein dafür. Für unsere Gesundheit oder die der anderen. Wir können uns jedes Gift in den Körper jagen. Man muss nur wissen, wie man rankommt und man muss stets einsatzbereit sein. Zumindest ein gewisses Maß an Freiheit. Selbstzerstörung bedeutet frei sein.
»Hast du Familie?«, frage ich. Die letzten Bissen liegen auf meinem Teller. Der Hunger ist noch da, aber ich will mir Zeit lassen. Ich weiß, es gibt ein Limit, wie lange wir Pause machen dürfen, wie viel Zeit wir fürs Frühstück haben.
»Ja. Eine Frau, meine Mutter und zwei Brüder«, sagt Stoney.
»Kinder?«
»Nein. Kein Geld dafür.«
»Wer ist dein Bürge?« Ich kann mir Stoney gar nicht als Ehemann vorstellen. Aber was weiß ich schon von ihm?
»Meine Frau«, sagt Stoney. Seine Augen werden leicht glasig. Er denkt wohl nicht gerne an sie. Kann ich gut verstehen. Hier denkt man nur ungern an die Welt draußen und wen man zurückgelassen hat.
»Hast du Kontakt zu ihr?«, frage ich.
Plötzlich wandern seine Augen hin und her, ohne sich irgendwo festzuhalten. Er leckt sich ständig über die Lippen, als wäre sein Mund trocken. Dann trinkt er einen Schluck. Zieht an der Zigarette. Rutscht auf dem Stuhl hin und her. Spielt mit abstehender Haut am Fingernagel.
»Wir dürfen keinen Kontakt zur Außenwelt haben, weißt du, das ist strengstens verboten«, sagt er.
»Ich weiß. Aber manche haben ihn doch«, sage ich.
»Nein, niemand hat ihn.«
»Blödsinn. Ich hab’s doch gesehen.«
»Was? Wann?« Er ist plötzlich ganz aufgeregt, ganz nervös. Ein dünner Schweißfilm bildet sich auf seiner Oberlippe. Immer wieder leckt er sich mit der Zunge darüber.
»Gleich an meinem ersten Tag. Dieser Tankred und seine Chauffeurin. Die waren unterwegs, die müssen doch irgendwie Kontakt zur Außenwelt haben.«
»Das ist was anderes. Tankred gehört nicht mehr wirklich zu uns. Und Chauffeure haben einen Sonderstatus. Alle, die Kontakt zur Außenwelt haben, sind Langzeit hier.«
»Heißt?« Ich stochere in meinem Essen herum. Langsam wird die Zeit knapp.
»Die haben alle mindestens zwanzig Jahre. Denen müssen sie vertrauen können, das Fluchtrisiko muss bei Null liegen«, sagt Stoney.
»Du kannst mir nicht erzählen, dass keiner hier Kontakt zu seinen Angehörigen hat. Auf irgendeinem Weg.«
Stoney macht seine Zigarette aus. Lässt sie einfach in seinen letzten Schluck Kaffee fallen. Sie geht zischend aus und schon saugt sie sich mit der Flüssigkeit voll.
»Ich will doch nur mit meiner Schwester reden. Ihr ein paar Zeilen schreiben.« Lilja ist der einzige Mensch in meinem Leben, der mir etwas bedeutet. Ich will ihre Stimme hören. Ihr Gesicht sehen. Ihre Umarmung spüren. Oder zumindest einen Brief von ihr lesen.
Ein kurzer Austausch, ein bisschen menschliche Nähe. Die Gewissheit, dort draußen jemanden zu haben, für den man lebt und das hier durchsteht und dem man etwas bedeutet. Noch einmal das Gefühl haben, nicht komplett wertlos zu sein.
Mehr verlange ich doch nicht.
»Ich kann dir leider nicht helfen, Freundchen, ich weiß nicht mal, wovon du sprichst. Das alles geht mich nichts an.«
»Und was ist mit Flucht?«
Plötzlich springt er auf, schmeißt dabei seinen Stuhl um. Einige drehen sich um, aber den meisten sind wir egal.
Aber anstatt vor Panik auszurasten oder zu schreien, ist er auf einmal ganz ruhig.
»Vergiss das sofort wieder. Du kommst hier nicht weg. Und selbst wenn, glaub mir, sie schnappen dich. Sie erwischen einen immer. Und dann tun sie dir Sachen an …« Er lehnt sich über mich. Sein Atem stinkt nach Kaffee und Zigaretten. Der Schweißfilm auf seiner Oberlippe ist jetzt wieder verschwunden. Er hat sich beruhigt. »Und dann holen sie sich deinen Bürgen, schnappen sich deine Schwester. Einfach so. Weil sie es dürfen. Dann sitzt du erst recht in der Scheiße und …«
»Ich sitz schon in der Scheiße.«
Stoney steht auf. Er rümpft die Nase. Einen Monat lang Scheißhäuser putzen und der Geruch der Arbeit steckt in jeder Pore.
»Ich weiß«, sagt er. »Aber deine Schwester nicht.«
Das war es also mit einer Flucht. So schnell kann es gehen, so einfach ein Funke Hoffnung ausgelöscht werden. Ich kann ihnen Lilja nicht ausliefern. Das darf nie passieren.
»Zumindest Papier für einen Brief kann …«
Stoney reißt die Augen auf und verlässt fluchtartig die Kantine. Mein ganzer Tisch leert sich. Der Raum verstummt.
»Haldemann.« Bruno knallt seine Pranke auf meine Schulter. Drückt fest zu. »Heute Abend, Punkt acht Uhr, stehst du frisch geduscht und ordentlich angezogen draußen auf dem Vorplatz bereit, kapiert?«
»Ja.«
Er hält mich weiter fest. Packt noch stärker zu. Die Nerven in meiner Schulter stechen und brennen. Meine Muskeln geben nach. Die Nackenhaare stellen sich auf. Alles verkrampft sich.
»Gar keine weiteren Fragen diesmal? Oder irgendeine schlaue Anmerkung?«, fragt er.
»Nein«, sage ich. Eigentlich will ich ihn nach dem Sinn seines Befehls fragen. Ich verkneife es mir.
»Gut so.« Er tätschelt mir tatsächlich den Kopf. »Lernst also doch ein bisschen dazu.« Dann geht er.
Auf einmal sind da zwei Gedanken, die sich ständig in meinem Hirn wiederholen. Irgendwann bringe ich ihn um. Und ja, ich lerne dazu. Ein bisschen.
Es ist kurz nach acht. Ich bin zu spät dran. Im Laufen ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke zu. Im Mund hängt eine Zigarette. Die Asche weht mir ins Gesicht. Die Glut verbrennt mir die Wange.
Die ganze Zeit überlege ich mir eine Ausrede. Irgendwas Glaubhaftes, damit Bruno nicht wütend wird. Es wäre schön, einen weiteren Tag ohne Tracht Prügel zu beenden.
Wenn ich mich konzentriere, wenn ich die Erschöpfung ausblende, die Arbeit in den Scheißhäusern, den Gestank, der an mir hängt, weil ich nicht zum Duschen gekommen bin, dann spüre ich die Brandwunde auf meinem Rücken, das Narbengewebe und wie es an meiner Kleidung kratzt und scheuert. Die ständigen Schläge und Tritte, die es regelmäßig setzt, bei jedem noch so kleinen Fehler. Sogar die Peitschenhiebe vom ersten Tag, von vor einem Monat, als sie uns aus dem Lastwagen getrieben haben. Alles davon fühle ich noch. Alles tut wieder weh. Es frisst sich in dein Gehirn, der Schmerz ist für immer abgespeichert.