Betongold - Tanja Weber - E-Book

Betongold E-Book

Tanja Weber

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Beschreibung

Drei Freunde und die dunkle Seite einer leuchtenden Stadt Josef Frey, genannt Smokey, hat sein Leben als Mordermittler verbracht, doch seit fünf Jahren ist er raus. Morbus Bechterew, eine unheilbare Rückenkrankheit, zwingt ihn, den Blick auf den Boden zu richten, goldenen Münchener Boden. Mithilfe von Cannabis und endlosen Spaziergängen durch die Stadt will er seinen Schmerzen entkommen. Bis sein alter Freund Schani, der sich zuletzt als Immobilienhai einen unrühmlichen Namen gemacht hat, mit dem Gesicht nach unten in einer Baugrube liegt. Auf der Suche nach der Wahrheit über den Tod des Freundes muss Smokey weiter durch München laufen, denn er weiß: Die Antwort liegt irgendwo da draußen, in den Straßen seiner schönen und grausamen Stadt.

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Seitenzahl: 245

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Tanja Weber

Betongold

Kriminalroman

Hoffmann und Campe

Die Handlung und alle handelnden Personen

sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit

lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

The games must go on

München 1972

Der Terrorist, der sich vom Balkon des olympischen Dorfes beugt.

Scharfschützen in Trainingsanzügen.

Hans-Dietrich Genscher.

Ein Hubschrauber mit Geiseln.

Der Schriftzug des Flughafens Fürstenfeldbruck.

Und dann in schneller Folge Schüsse, der Tower, Chaos, zwölf Tote.

 

Sechzehn Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Obergiesing. Vater Eisenbahner, Mutter Hausfrau, keine Geschwister.

 

Und plötzlich steht die Welt vor der Tür und klopft an.

 

Damit ist die Entscheidung gefallen. Der Sepp wird zur Polizei gehen. Gleich morgen.

1

Der Schani war schon immer für das Unerwartete gut, und obwohl der Smokey gedacht hat, man könne ihn in diesem Leben nicht mehr überraschen, hat der Schani es geschafft, dort unten in der Baugrube.

Dass der Smokey doch noch einmal staunt.

Ausgerechnet Obergiesing, denkt er, dass sich der Schani ausgerechnet Obergiesing zum Sterben aussucht, das hätte er nicht gedacht. Vielmehr hat er auf Mallorca oder die Malediven oder wenigstens Ischgl getippt.

Ausgesucht ist der falsche Begriff. Es sieht von hier oben eher aus, als hätte der Tod den Schani eiskalt erwischt.

Zum Glück liegt er unten in der Grube, und er hängt nicht oben irgendwo an einem Baugerüst. Denn herunterschauen, das geht für den Smokey einwandfrei, er tut den ganzen Tag nichts anderes, aber hinaufschauen, das ist schon schwieriger.

Wegen seinem Bechterew.

Es gibt keinen Zweifel, dass es der Schani ist dort unten, dazu braucht man kein ehemaliger Mordermittler sein. Sogar die Frau Wiese hat das erkannt, deshalb hat sie ihn auch geholt, anstatt in der Wache anzurufen.

Für die Frau Wiese wie für alle Alten aus dem Viertel ist er eben immer noch der Polizist. Josef Frey, genannt Smokey. Früher Sepp.

Seit fünf Jahren ist er nicht mehr dabei. Vorzeitiger Ruhestand. Aber wann immer was ist, und wenn nur einer im Rossmann einen Ratzefummel geklaut hat oder sie sich in der Shisha Bar streiten, wird er gerufen, der Smokey.

Vielleicht liegt’s daran, dass sich bei ihm nicht viel verändert hat. Er wohnt immer noch in der Herzogstandstraße. Da, wo er aufgewachsen ist. In der Wohnung seiner Eltern. Natürlich hat er nicht sechsundsechzig Jahre da gewohnt, zwischenzeitlich war er schon ausgezogen. Die erste eigene Wohnung war in der Watzmannstraße, direkt ums Eck. Eine schöne Wohnung, und manchmal, bevor er in die Arbeit gefahren ist, hat er beim Semmelnholen den Franz getroffen, der in der Zugspitzstraße gewohnt hat. Gegrüßt hat er ihn allerdings nicht. Der Smokey ist nachtragend, er hat dem Franz immer übel genommen, dass er zum FC Bayern gegangen ist anstatt zu den Löwen, wie er es vorgehabt hat. Nur weil ihm der König eine Watschn gegeben hat.

Der König watscht den Kaiser, schöner geht’s nicht.

Der Vater hat ihm die Watzmannstraßenwohnung besorgt, als er die Ausbildung abgeschlossen hat. Der Bua braucht was Eigenes, so war das damals. Ohne eigene Wohnung keine eigene Familie, schon klar. Und der Papa war in der Genossenschaft, da war es kein Problem, dass der Sohn auch eine Genossenschaftswohnung bekommt, keine zwei Monate haben sie darauf gewartet.

Ein Jahr später ist die Gabi bei ihm eingezogen.

Mit der nächsten Gehaltsstufe haben sie sich vergrößert, weil man das so gemacht hat und weil man es konnte.

Heut geht das nimmer.

Oder nur, wenn man einer wie der Schani ist, immer flüssig und eine dicke Rolle Bargeld in der Hosentasche, mit einem Gummi zusammengebunden. Von den Albanern hat er sich das abgeguckt, von denen er seine Autos gekauft hat. Es hat dem Schani imponiert, dieses Lässige, einen getunten Golf bar aus der Tasche zahlen. Am Daumen lecken und die Scheine auf den Tisch blättern.

Aber so war es nur am Anfang, später ist der Schani mit einem neuen Maserati direkt aus dem Autohaus gefahren, oben aus dem Verdeck haben die Mädels herausgeschaut und Schampus aus der Flasche gesoffen.

Damals hat der Schani schon längst nicht mehr bei den Albanern gekauft, versteht sich. Ab einem gewissen Punkt mussten es Neuwagen sein, die ganz dicken Kisten.

Aber die Sache mit dem Geldbündel ist ihm geblieben, denkt der Smokey, und jetzt bohrt sich ein Gefühl durch seinen Panzer, den er sich zugelegt hat, seit die Gabi weg ist.

Sein alter Freund da unten.

Das Geldbündel steckt auch jetzt noch in der hinteren rechten Hosentasche, der Smokey kann die Beule genau sehen. Kein Raubmord also.

Aber es ist nicht mehr sein Job, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, der Smokey ist erleichtert, er ist kein Mordermittler mehr. Gleich kommen die Kollegen und übernehmen hier, er hat ja die Durchwahl zur Mordkommission und sofort den Wolf angerufen.

Neben dem Gefühl für den alten toten Freund klopft das schlechte Gewissen an, wenn er an die Kollegen denkt.

Denn als die Frau Wiese ihn aus dem Bett geklingelt hat, ist er erst einmal hin und hat selbst einen Blick auf die Situation geworfen, ob das wirklich der Schani ist und ob sie sich nicht täuscht. Sie ist über neunzig und sieht nicht mehr gut. Und dunkel ist es auch gewesen. Da wollte er schon selbst erst einmal die Lage checken, bevor er Alarm auslöst.

Aber sie hat schon recht gehabt, genauso wie sie vor zwei Monaten recht gehabt hat, wo das Haus mitten in der Nacht abgerissen worden ist. Damals hat er es auch nicht geglaubt, da hat sie ihn genauso aus dem Bett geklingelt.

Seitdem ist da die Baulücke. Es ist die Baulücke vom Schani, der das Haus abgerissen hat, obwohl er es bestreitet und behauptet, er war es nicht.

Aber der Smokey weiß genauso gut wie alle anderen, dass sein Freund mitten in der Nacht mit dem Bagger gekommen ist und das Haus abgerissen hat. Er hat sein Elternhaus – oder eigentlich Mutterhaus – dem Erdboden gleichgemacht und in das Herz von Giesing ein Loch gerissen. Weil er den Hals nicht vollbekommen hat.

Jetzt ist da also eine leere Stelle, so leer wie die Stelle, an der der Schani eigentlich selbst ein Herz hätte haben sollen.

Das war schon immer sein Problem, nur dass er das Problem jetzt gelöst hat, weil er mit seinem Dickschädel in einer Baugrube liegt, eine Wunde am Hinterkopf, die gar nicht gut aussieht.

Und oben heraus schauen die Cowboystiefel aus silbernem Schlangenleder, an denen jeder Depp erkennt, dass der schlimmste Immobilienhai von München ein böses Ende genommen hat.

 

»Und«, sagt der Wolf, als er neben ihm steht, »Fall gelöst?«

»Martin Schanninger. Siebenundsechzig Jahre. Immobilieninvestor, kinderlos, nicht verheiratet.«

»Alle Achtung.«

Der Wolf pfeift anerkennend, aber natürlich ist das ein Witz, denn auch er weiß genau, um wen es sich bei dem Toten handelt. Und obendrein, dass sein Vorgänger mit dem Schanninger seit Kindertagen befreundet war.

Oder lange befreundet war und zuletzt nicht mehr so sehr, man weiß es nicht.

Die beiden Männer, der Ex-Mordermittler und der Jetzt-Mordermittler, schauen den Leuten vom ED zu, wie sie den Fundort sichern und einen Bogen um die Leiche machen, bis der Arzt kommt und mit seinem Koffer und Schutzanzug herunterklettert und der Erste ist, der den Toten anfasst und dann nickt, alles klar, Tod bestätigt. Todesursache vermutlich Schädelfraktur, Genaueres erfahren Sie nach der Untersuchung, Todeszeitpunkt, hm, ja, mal Temperatur messen, also ich würde sagen, nicht länger als vier Stunden her. Fremdeinwirken nicht ausgeschlossen.

So genau kann der Smokey die Worte, hier, wo er steht, nicht hören, selbstverständlich, aber nach fünfzig Jahren bei der Polizei, da weiß man halt, wie der Hase läuft.

Smokey dreht sich um, die leere Herzstelle vom Martin Schanninger ist jetzt ein Tatort, vermutlich auch ein Fundort, aber die Wortklauberei ist wurscht, weil: Er, der Smokey, ist draußen.

 

»War eh klar, oder?« Der Moni zapft ihm eine Halbe, der Schaum läuft über die Tätowierung zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Wieso eh klar? Siebenundsechzig ist kein Alter zum Sterben.«

Das Bier steht vor ihm, goldgelb und weiß. Der Schaum rinnt noch immer aus dem Glas und sabbert den Bierfilz voll. Der Moni meint’s zu gut mit ihm. Ein Freund ist ein Freund.

»Wie man halt so sagt: ein Leben auf der Überholspur.«

»Selber«, erwidert der Smokey und nimmt den ersten Schluck. Es ist halb neun in der Früh, eigentlich hätte Moni’s Eck noch zu, aber weil sie Freunde sind, der Smokey, der Schani und der Moni, gibt es eine Halbe für beide.

Für die beiden, die übrig geblieben sind. Und sie trinken auf den Dritten in der Baugrube, der jetzt nicht mehr bei ihnen sein kann.

Natürlich heißt der Moni nicht Moni, er ist ja keine Frau. Genauso wie der Smokey nicht Smokey heißt, er ist ja keine Band. Und der Schani? Ja mei.

Der Moni hat seinen Spitznamen nur daher, weil seine Kneipe so heißt: Moni’s Eck. Die hat er damals für seine Frau, die Monique, gepachtet. Und sie natürlich nach ihr benannt, aus Liebe. Die Monique lebt nicht mehr, die Leute aus dem Viertel gehen aber noch immer in Moni’s Eck. Früher hieß es, man geht zur Moni, heute sagt man eben, man geht zum Moni. Klingt ja auch besser als: Man geht zum Matthias Hinterkammer. Wie er richtig heißt.

 

Zum Frühstück ein Bier, ja wo sind wir denn. Einerseits. Aber andererseits stirbt nicht jeden Tag ein Mensch, mit dem man sechzig Jahre seines Lebens verbracht hat.

Außerdem ist der Smokey endlich nicht mehr Frührentner, sondern mit sechsundsechzig staatlich anerkannter Vollzeitrentner, da darf es schon einmal ein bissl mehr sein. Zumindest für den Smokey, als Beamter mit einer satten Pension. Der Moni, ein Wirt, der beim Corona nur noch selten Wirt sein darf, der wird immer arbeiten. Arbeiten müssen, bis er in die Grube kippt, aber das will der Smokey jetzt nicht sagen.

In der Grube liegt ja schon der Schani.

»Wer sagt’s der Lizzy?«

Der Moni stellt die Frage, aber die Antwort kennt er ebenso wie der Smokey, der genau weiß, dass er der Elisabeth Schanninger sagen muss, dass ihr Sohn gestorben ist.

Aber besser er als die Polizei, also trinkt er die Halbe recht schnell und fühlt sich bereit. Er sagt dem Moni ciao und servus, tritt durch die Tür auf die Tegernseer Landstraße hinaus, wo ihn die Sonne blendet und ihm der Verkehr gleich was auf die Ohren gibt. Schiebt die Pilotenbrille auf die Nase und biegt ums Eck in die Gietlstraße. Widersteht der Versuchung, den Kollegen auf die Finger zu schauen, aber ein Blick hinein in die Baulücke ist erlaubt. Der Leichenwagen ist schon fort, die Flatterbänder neu, und vor lauter Schaulustigen kann er sonst nichts sehen. Aber passt schon, schaut er eben wieder hinunter auf das Pflaster. Wo er jeden Stein kennt und jeden Löwenzahn, der sich durch den Asphalt schiebt.

Linker Hand erhebt sich die Heilig-Kreuz-Kirche, die in der Münchner Morgensonne gar so göttlich leuchtet. Die Kirche kann man so wenig verfehlen wie den Nockherberg oder das Sechzgerstadion, in Giesing kann man sich nicht verlaufen, auch nicht nach dem Starkbieranstich.

Liegt es am Bier, oder liegt es am Tod vom Schani, aber der Bechterew, der fette Russe, drückt ihn heute besonders schwer.

 

Das Sankt Alfonsheim ist ein gemütliches Heim mit einem schönen Innenhof, direkt am Berg gelegen. Der Schani wollte seine Mama in eine Seniorenresidenz am Chiemsee bringen, aber sie hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Doch nicht aus Giesing raus auf ihre alten Tage!

Die Elisabeth Schanninger ist im Viertel geboren, sie war eine von ganz unten, und als sie schwanger war, hat jeder gewusst, was passiert ist. Ein Amiflitscherl, so hat man sie genannt. Amerikaner gab’s im Viertel schließlich genug, hier war die große Kaserne und die Siedlung, in der sie gewohnt haben. Aber die Lizzy hat sich immer ausgeschwiegen, wer der Vater von ihrem Bubi war, stattdessen hat sie hart gearbeitet, als Wäscherin, und gut für ihren Jungen gesorgt, den sie immer lieb gehabt hat. Irgendwann hat keiner mehr über sie geredet, die Zeiten haben sich geändert, und der Schani ist reich geworden und hat das halbe Viertel gekauft, die Häuser von der Neuen Heimat und noch so einiges, was keiner haben wollte, nach dem sich heute aber alle die zehn Finger schlecken.

Nein, eine noble Seniorenresidenz wäre nicht das Richtige für sie gewesen, findet der Smokey, als er durch die Gänge geht. Ruhig ist es, riecht nach Putzmittel und Linoleum, die Sohlen seiner Sneakers quietschen, und er denkt, dass es ihm hier auch gefallen würde, im Sankt Alfonsheim.

Mal sehen, wie lange er noch durchhält.

Er klopft höflich an die Zimmertür, obwohl es eigentlich nicht nötig ist, weil die Lizzy nicht mehr viel mitbekommt und sich mit ihrer Demenz eh über jeden freut, der hereinkommt. Sie ist vierundneunzig, ihr Geist hat es schon hinübergeschafft in das Gelobte Land, jetzt muss nur noch der Körper hinterher.

»Servus, Lizzy«, sagt er leise, und sie dreht den Kopf. Es ist ein kleiner Kopf in einem großen Kissen, ein bisschen weißer Flaum obendrauf und sonst alles Falten.

Sie lächelt und schaut ihn an.

Der Smokey setzt sich zu ihr ans Bett und nimmt ihre Hand, ihre federleichte Hand aus Seidenpapier, und er weiß nicht, wie er es ihr sagen soll. Obwohl sie es ohnehin nicht versteht, aber weiß man’s?

»Der Bubi«, sagt die Lizzy und kommt ihm zuvor. Sie legt ihre Hand auf die Wange vom Smokey, der sich jetzt sehr zusammennehmen muss, dass er nicht flennt.

München leuchtet

1974

»Magst?«

»Na.«

Der Sepp schüttelt den Kopf.

»Weil du Bulle bist?«

Der Hias zieht tief am Joint und müht sich, den Rauch so lange wie möglich zu halten. Als er ihn durch die Nase ausstößt, hustet er, lächelt und hält ihn dem Schani hin.

Der fischt eine Ernte 23 aus der Packung. »Geh weg mit deinem Hippiescheiß.«

Die Bierflasche, die er eben noch in der Hand gehabt hat, rollt den Hang hinunter. Der Schani gibt ihr mit dem Fuß einen Schubs und öffnet sich mit dem Feuerzeug die nächste.

»Spießer.«

Der Hias lässt sich hintenüberfallen, breitet die Arme aus.

Der Poncho, den der Hias trägt, sieht aus wie der Teppich im Flur von seiner Oma, denkt der Sepp.

Der Schani und er schauen jetzt nach vorne auf die Seebühne, wo sich die Musiker die Finger in ihren Sitars verhaken, eigentlich auch ein rechter Hippiescheiß, finden sie. Der Schani mag die Hits auf Bayern drei, und der Sepp steht auf Bob Dylan.

Der Hias hat sie hierhergeschleppt, ins Theatron, und wenn man eingeladen wird, dann sagt man nicht nein, es ist außerdem sein achtzehnter Geburtstag.

»Gehma nachher noch ins Crash?«

Das ist typisch für den Schani, dass er bei einer Aktion schon an die nächste denkt. Immer in Bewegung, dabei ist es ein super Sommertag, die Wiese auf dem Hügel im Olympiapark ist so grün, als wär sie frisch gestrichen, die Sonne steht hoch, und das Glasdach wirft Blitze unters Volk.

Wieder schüttelt der Sepp den Kopf. Er hat dem Papa versprochen, dass er ihm nachher noch mit den Hasen hilft, auch wenn es ihm zuwider ist. Er mag die Tiere nicht, ihre weichen und immer heißen Ohren, den sanften Blick.

»Ich hau ab«, sagt der Hias.

»Jetzt? Ich denk, du willst feiern? Keine Party?«

Die Enttäuschung steht dem Schani groß auf der Stirn, er hat sich mehr erhofft von einer Feier zum achtzehnten Geburtstag. Er ist der Älteste von den dreien, bald zwanzig. Fährt einen Ford und nicht mehr seine Zündapp. Den Gesellenbrief hat er in der Tasche, er arbeitet ja schon lange und nicht wie der Sepp, der erst bei der Polizei angefangen hat.

Der Hias wiederum macht nichts Gescheites, er hilft bei seinem Vater im Getränkemarkt, und so wie es aussieht, fängt er auch nichts Größeres an mit seinem Leben, jedenfalls nicht so schnell.

Das gäb’s bei Sepp seinem Vater nicht. Nichts tun und in den Tag hineinleben. Auch nicht die langen Haare vom Hias.

»Na!«, sagt der jetzt und rollt sich auf die Seite, reißt ein Gänseblümchen aus und steckt es sich in den Mund. Er kaut darauf herum. »Nicht jetzt. Überhaupt. Fortgehen.«

Schani fällt die Kinnlade herunter. »Fort? Von hier? Ja spinnst du!«

Er streckt beide Arme aus, und der Sepp staunt über die Muckis, das kommt vom Gerüstbau, ist ja klar, wenn man jeden Tag aufbaut und abbaut.

Polizeisport ist ein Dreck dagegen.

Der Hias schaut streng. »Reg dich ab. Du musst ja nicht fortgehen, aber ich. Ich mag noch einmal was anderes sehen als die Tegernseer Landstraße und vielleicht noch die Isar oder den scheiß Stachus.«

Jetzt springt der Schani auf, sein weißes Unterhemd spannt sich über der Mordsbrust, er dreht sich um seine eigene Achse, die Bierflasche in der einen, die heruntergebrannte Ernte in der anderen Hand.

Und er brüllt.

»Siehst du des? Schau dich einmal um, du Spasti, wie super des is! Die schönste Stadt der Welt!«

Von der Wiese schauen die anderen schon her, da legt der Schani noch eins drauf und schreit lauter als die Sitars heraufklingen, hinunter zur Seebühne: »Die gottverdammt schönste Scheißstadt der Welt!«

Wie zwei Deppen schauen der Sepp und der Hias hin und her, sie sehen das, was sie immer sehen, wenn sie hier sitzen, sie sehen den Olympiapark und den Olympiasee, das Olympiastadion und den Olympiaparkplatz.

Und den BMW-Vierzylinder, der schon ganz schön super ist.

Alles neu, alles schön, München leuchtet.

Nur der Sepp sieht manchmal die Blutspuren und denkt an den Helikopter, wie er über dem Olympiadorf aufsteigt.

Er fragt sich, wie der Schani das so sagen kann, der aus Giesing selten rauskommt, vielleicht einmal bis Freising oder höchstens Garmisch, aber selbst da war er bestimmt noch nicht.

Der Sepp dagegen kennt Bibione und war einmal zum Skifahren in Südtirol.

»Ich scheiß auf die schönste Stadt der Welt.«

Jetzt wird auch der Hias patzig und verschränkt die Arme über der Teppichbrust.

Auch die zweite Flasche Bier hat der Schani ausgetrunken, blitzschnell geht das bei ihm. Er setzt sich wieder hin, wahrscheinlich brummt ihm der Schädel, von der Sonne, dem Bier und weil er sich aufgeregt hat. Ganz ernst schaut er seinen Freund an.

»Ich versteh’s nicht. Erklär’s mir. Du bist doch hier daheim.«

Auf die Erklärung ist jetzt auch der Sepp gespannt, der im Traum noch niemals daran gedacht hat, irgendwo anders hinzugehen. Er ist in München geboren, genauso wie sein Vater und seine Mutter und seine Großeltern. Davor hat die Familie einmal in Niederbayern einen Bauernhof gehabt, aber wegen der Arbeit sind sie vor hundert Jahren in die Stadt gekommen.

Und wegen der Arbeit sind sie geblieben. In München wohnt das Geld, sagt sein Vater, und auch wenn man es nicht überall sieht, vor allem nicht in Obergiesing oder der Au, weiß der Sepp, dass es stimmt. Man muss nur einmal nach Grünwald fahren oder nach Nymphenburg. Auf der Wiesn sitzen die Großkopferten im Schottenhammel zusammen, und in der Maximilianstraße fahren sie den BMW spazieren.

»Ich mag was sehen von der Welt«, sagt der Hias, reckt das Kinn nach vorne und streicht sich mit beiden Händen die langen Haare aus dem Gesicht. Zeigt hinunter zu den Sitarspielern und sagt: »Indien zum Beispiel. Das könnt ich mir schon vorstellen.«

»Geh, Schmarrn.«

»Schon. Einfach rumreisen. Der Sohn vom Weidinger Fred ist nach Afghanistan! Oder Pakistan. Stellt’s euch das vor. Mit einem Spezl und einem alten Auto. Die haben was transportiert für einen, der hat ihnen sogar die Reise bezahlt.«

»Waffen«, sagt der Schani.

»Drogen«, sagt der Sepp.

Und dann sagen sie nichts mehr. Alle drei. Sie rauchen, trinken Bier – der Schani hat für jeden was dabei – und hängen ihren Gedanken nach. Die helle Musik füllt ihre Köpfe mit Bildern, von heißem Staub und leuchtenden Gewändern. Frauen mit langen schwarzen Haaren und grimmigen Männern.

Der Hias lächelt, weil er es nicht abstellen kann.

Der Sepp weiß nicht so recht.

Aber der Schani schüttelt sich und wedelt mit der Hand herum.

»Gute Reise«, sagt er und lacht plötzlich, »meiomei. Du bist verrückt.«

Und dann lacht auch der Sepp, und der Hias kann nicht anders als sich auch kugeln, meiomei.

»Und du?«, fragt der Hias schließlich den Schani. »Was willst du? Kannst doch nicht dein Lebtag Gerüste aufbauen?«

Der Schani dreht sich auf den Bauch, schaut versonnen über die Stadt, in der jetzt die Lichter angehen, weil die Sonne langsam hinter Fürstenfeldbruck versinkt und die Alpenkette im Süden rot glühende Spitzen bekommt.

»Ich«, sagt er, »ich mach mein Glück.« Und dabei reibt er die Spitzen von Zeigefinger und Daumen aneinander.

2

In diesem Kaffee bleibt der Löffel von selbst stehen.

Smokey kennt das Gebräu von der Frau Wiese, wenn er die halbe Tasse getrunken hat, steht er in der Nacht im Bett. Trotzdem mag er den Kaffee, der ihn an seine Mutter erinnert. Die die Bohnen noch mit der Hand gemahlen hat. Er denkt an den Melittafilter aus Keramik und wie seine Mutter das heiße Wasser langsam, ganz langsam und in Kreisbewegungen in den weißen Papierfilter gegossen hat. Schon als Bub hat er diesen Geruch gemocht. Als er später seine Ausbildung bei der Polizei angefangen hat und immer früh aufstehen musste, hat die Mutter ihn jeden Morgen in der Küche mit dem frisch aufgebrühten Kaffee begrüßt.

Mit dem kannst du Tote aufwecken. Den Satz hat sein Vater gesagt, jedes Mal, bei jeder Tasse, die die Mutter ihm hingestellt hat.

Bei dem Kaffee von der Frau Wiese fängt der ganze Ostfriedhof zu tanzen an.

Beim Smokey daheim steht noch eine alte Kaffeemaschine von Tchibo, die die Gabi angeschleppt hat. Als sie ausgezogen ist, hat sie dem Sepp die Maschine gelassen, weil daraus der Kaffee viel zu scheußlich schmeckt.

»Nichts habe ich gesehen.« Frau Wiese setzt sich zu ihm an den Tisch, ihre Finger streichen das Spitzendeckchen glatt, sie zittern. »Gar nichts. Es war nur so ein Gefühl. Ich bin wach gelegen und war unruhig. Dann bin ich aufgestanden und habe aus dem Fenster gesehen.«

»Und was haben’s gesehen?«

Die Frau Wiese schaut ihn an, als wäre er nicht ganz gescheit.

»Ja nichts. Das habe ich doch gerade gesagt.«

Damit er jetzt nicht aus der Haut fährt, nimmt der Smokey einen Schluck von dem fabelhaften Kaffee. Das hat er gelernt in den vielen Jahren beim Mord: immer schön wohltemperiert bleiben.

»Aber Sie haben mich doch aus dem Bett geholt«, versucht er es noch einmal und setzt die Tasse, eine dünnwandige Porzellantasse mit Goldrand, sehr behutsam ab. Auf die Untertasse auf dem Spitzendeckchen. »Wenn Sie gar nichts gesehen haben, liebe Frau Wiese, dann wären Sie doch nicht zu mir gekommen und hätten mich herausgeklingelt.«

»Ja schon.« Die Finger von der Frau Wiese zittern jetzt noch stärker, sie wirft einen Blick hinaus, durch die Vorhänge vor dem Wohnzimmerfenster.

Eigentlich ist es nicht mehr sein Job, eigentlich soll er sich gefälligst raushalten, aber wie er in der Nacht nicht schlafen konnte wegen der Schmerzen vom Bechterew, ist es dem Smokey wieder und wieder durch den Kopf gegangen.

Wie der Schani in der Baugrube liegt. Die er selbst gegraben hat. Dass es natürlich ein Unfall sein kann, er ist gestolpert, im Dunkeln mit seinen Cowboystiefeln ausgerutscht oder über einen Stein gefallen.

Kann schon sein.

Einerseits.

Andererseits ist der Schani in seinem Leben über tausend Baugruben gestolpert, auch in den Stiefeln und nicht immer ganz nüchtern, und nie ist etwas passiert.

Noch schwerer aber wiegt für den Smokey, dass der Schani tunlichst versucht hat, sich von der Baugrube fernzuhalten, wegen der er so viel Ärger bekommen hat.

Das Haus, das der Schani abgerissen hat, das sein Mutterhaus war, das war obendrein leider denkmalgeschützt. Gesehen hat man es nicht, es war ein winziges und feuchtes und dunkles Haus. Die Lizzy hat ja nie Geld verdient und hat sich keine schöne Wohnung leisten können. Aber zu der Zeit, als der Schani die Gerüstbaufirma von seinem Chef übernommen hat, weil er fleißig war und ehrgeizig, da hat das Häusl leer gestanden. Keiner wollte darin wohnen, es waren die späten Siebziger, da wollten alle in die schönen neuen Häuser von der Neuen Heimat einziehen und nicht in so eine kleine Hütte. Auch der Schani wollte nicht, dass seine arme Mama da reingeht, er hätte sie lieber in einer modernen Wohnung gesehen, aber sie hat nicht gewollt. Sie wollte das kleine Haus in der Gietlstraße. Mit dem Garten hintendran, wo sie Hühner gehabt hat und Gemüse.

Das war wie später mit der Seniorenresidenz und dem Sankt Alfonsheim. Der Schani wollte immer groß und hell und neu für seine Mama, aber die Lizzy mit ihrem Dickschädel hat sich durchgesetzt. Niemals höher hinaus und auch nicht das Geld von ihrem Sohn, als der einen Highfly nach dem anderen bekommen hat.

Jahrzehntelang hat die Lizzy in ihrem Häusl gewohnt, das geduckt zwischen den höheren Häusern stand, als wenn es sagen wollte: Schaut mich bloß nicht so genau an.

Aber irgendwann hat es jemand genauer angeschaut und festgestellt, das ist ein Baudenkmal, weil es typisch für die Bebauung vor hundertfünfzig Jahren war, und dann sollte der Schani die Modernisierungen, die er für seine Mama vorgenommen hat, wieder rückgängig machen. Das hat ihm gestunken, schon klar. Er hat geschimpft, ob er jetzt wieder ein Plumpsklo hineinbauen soll statt dem Badezimmer oder wie oder was. So ist es eine ganze Zeit lang gegangen, der Schani hat sich mit der Stadt gestritten, und der Lizzy war es wurscht.

Und auf einmal war Ruhe.

Aber so eine seltsame Ruhe, das hat der Smokey schon immer gedacht, mit dieser Ruhe stimmt was nicht.

Auch der Moni hat gesagt, da ist etwas faul.

Vor allem weil der Schani nicht mit ihnen geredet hat. Sonst hatte er immer eine ganz große Klappe, jeden Schmarrn hat er seinen alten Freunden erzählt, aber als es um das Häusl ging: kein Wort.

Als seine Mama nicht mehr allein bleiben konnte, weil sie nicht mehr gewusst hat, ob sie den Herd angemacht hat oder dass sie in der Nacht um drei nicht im Nachthemd zum Einkaufen gehen soll, und der Schani sie zähneknirschend ins Sankt Alfonsheim verfrachtet hat, stand das Häusl leer.

Was schon komisch war, weil der Schani jeden Quadratzentimeter zu Geld gemacht hat, jede Absteige hat der vermietet, für ein Heidengeld. In die Häuser am Stadtrand, die alten Absteigen, wo der Schimmel sich durch die Decken gefressen hat und kein Klo mehr funktioniert, hat er Bulgaren reingequetscht, ihnen Miete abgeknöpft, dafür hätten die in ein Hotel am Bahnhof gehen können, wenn sie es nur gewusst hätten. Regelmäßig hat er Bußgeld zahlen müssen, aber das war ihm völlig gleich.

Das Bußgeld haben quasi die Bulgaren für ihn bezahlt.

Also einen Leerstand, das gab es nicht im Imperium vom Martin Schanninger.

Der Smokey und der Moni haben sich gewundert, aber vom Schani kein Wort.

Stattdessen ist er mitten in der Nacht mit einem Bagger angerückt und hat das Häusl von seiner Mama zu Klump gehauen.

Dann ging der Rummel aber richtig los. Die Zeitungen haben berichtet, und der Oberbürgermeister hat vorbeigeschaut und hat mit den aufgebrachten Anwohnern gesprochen. Anzeigen hat es gehagelt, die Polizei hat ermittelt, und mit Bußgeldbescheiden war die Sache dieses Mal nicht aus dem Weg geräumt.

Und was hat der Schani gemacht?

Er hat rotzfrech behauptet, er war es nicht. Dabei hat man sehen können, wie der Bagger angekommen ist und ein Loch in das kleine Häusl gerissen hat.

Aber es war dunkel, keiner hat kapiert, was los war, und niemand hat Fotos gemacht.

Aber wehe, es darennt sich einer auf der Autobahn! Sekunden später ist er die Internetsensation.

Zwei Monate ist das her, und der Smokey hat den Überblick verloren, wie die Sache mit der Strafanzeige gegen den Schani ausgegangen ist. Wenn es überhaupt schon ausgegangen ist, vielleicht ist der Tod vom Schani in der Baugrube erst der Schlusspunkt unter der Geschichte.

»Also, liebe Frau Wiese. Vielleicht fällt es Ihnen ja noch ein, warum Sie mich mitten in der Nacht angerufen haben«, sagt der Smokey und setzt sein Erbschleichergesicht auf.

Er schwitzt jetzt schon sehr, der Kaffee dringt aus jeder Pore, besonders da, wo sein schwarzer Anzug zwickt. Unter den Achseln und im Schritt. Es ist seine Beerdigungsuniform. Er hat sie sich vor zwanzig Jahren gekauft, als er seinen Papa unter die Erde gebracht hat. Zwanzig Jahre, da war er noch um einige Kilos und einen Bechterew leichter. Sein Oberkörper war damals aufrecht, jetzt krümmt er sich um sechzig Grad nach unten, was dem Anzug nicht gut bekommt.

Immer wenn er ihn getragen hat – tragen musste –, hat er sich gefragt, ob es lohnt, den Anzug umzuschneidern. Aber bei jeder neuen Beerdigung würde er noch ein bisschen krummer sein, er müsste also vor jeder traurigen Gelegenheit zum Schneider gehen. Der Hashemi, der seine Schneiderei beim Smokey ums Eck hat, ist ein Künstler, der könnte ihm bestimmt die passende Biegung auf den Leib schneidern. Doch immer wenn eine Beerdigung ansteht, denkt der Smokey sich, dass es die letzte ist, bevor er selbst ins Gras beißen muss, und für das eine Mal passt es schon noch. Dann geht er mit dem entsetzlich zwickenden Anzug hin und ärgert sich.

Frau Wiese gießt ihm noch einen Kaffee in die Tasse. Der Smokey bringt es nicht übers Herz abzulehnen, stattdessen schaut er noch ein bissl netter.

»Ja, wegen dem Streit!«, sagt die Frau Wiese, schüttelt missbilligend den Kopf, weil der Herr Frey entweder nicht richtig zuhört oder schwer von Begriff ist.

»Dem Streit?«

»Ich hab doch gesagt, gesehen habe ich nichts – aber gehört!« Als wäre ihr ein schöner Scherz gelungen, schaut die Frau Wiese recht verschmitzt.

Jetzt trinkt der Smokey doch einen Schluck von dem Kaffee, was einen veritablen Schweißausbruch zur Folge hat.

Ein Streit, soso. Jetzt wird’s interessant.

3