Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur - Friedrich Maximilian Klinger - E-Book

Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur E-Book

Friedrich Maximilian Klinger

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"Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur" gilt ales eines der letzten Werke Klingers und ist eine Sammlung von Aphorismen zu zeitaktuellen Themen.

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Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur

Friedrich Maximilian Klinger

Inhalt:

Friedrich Maximilian von Klinger – Biografie und Bibliografie

Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur

Zueignung

1801. 1802

1802. 1803

1802. 1803

Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur , F. M. Klinger

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849629526

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Maximilian von Klinger – Biografie und Bibliografie

Deutscher Dichter, geb. 17. Febr. 1752 (nicht 1753) in Frankfurt a. M. als Sohn eines Stadtartilleristen, gest. 25. Febr. 1831 in Dorpat, verlor früh seinen Vater, der die Seinigen in den dürftigsten Umständen zurückließ, half sich durch eignen Fleiß und Energie weiter, besuchte bis 1772 das Frankfurter Gymnasium und trat in Beziehung zu Goethe und dessen Freundeskreise. 1774 ging er nach Gießen, um die Rechte zu studieren. Viel eifriger als mit diesen beschäftigte er sich indes mit schöner Literatur. Im Sommer 1776 ging er zu Goethe nach Weimar, im Oktober nach Leipzig als Theaterdichter der Seilerschen Truppe, mit der er bis Februar 1778 umherreiste. Alsdann lebte er einige Zeit auf Reisen durch Deutschland, machte als österreichischer Leutnant den Bayrischen Erbfolgekrieg mit und ging 1780 in russische Dienste nach Petersburg. Er erhielt 1780 eine Offizierstelle und zugleich den Adelsrang, ward bald darauf Hofmeister bei dem damaligen Großfürsten Paul und begleitete denselben auf einer Reise durch fast ganz Europa. Er stieg unter den Kaisern Paul und Alexander I. in militärischen Würden rasch empor, verheiratete sich 1790 mit einer natürlichen Tochter der Kaiserin Katharina und wurde 1798 Generalmajor, 1811 Generalleutnant. 1803 wurde er zum Kurator der Universität Dorpat ernannt, welche Stelle er bis 1817 bekleidete. 1820 suchte er um Enthebung von allen seinen Ämtern nach, zog sich aber erst 1830 ganz zurück. Von Klingers zahlreichen dramatischen Werken, die meist in die erste Hälfte seines Lebens fallen, heben wir hervor das Trauerspiel: »Die Zwillinge« (verfasst 1775), in dem, wie in so vielen Dramen der Geniezeit, ein feindliches Brüderpaar im Mittelpunkte der Handlung steht, und das 1776 bei dem sogen. Schröderschen Preisausschreiben den Vorzug vor Leisewitzens »Julius von Tarent« erhielt. Von dem wild verworrenen renommistischen Schauspiel »Sturm und Drang« empfing die ganze Epoche, in der es entstand, den Namen (s. Deutsche Literatur, S. 703 f.). Außer den Dramen (gesammelt als »Theater«, Riga 1786–87, 4 Bde., und »Neues Theater«, Leipz. 1790, 2 Bde.) veröffentlichte K. eine Anzahl meist derb-realistischer Romane, in deren ausgedehnten Reflexionen seine Verehrung für Rousseau stark zur Geltung kommt: »Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt« (Petersb. 1791), »Geschichte Giafars, des Barmeciden« (das. 1792), »Geschichte Raphaels de Aquilas« (das. 1793), »Reisen vor der Sündflut« (Riga 1795), »Geschichte eines Deutschen der neuesten Zeit« (Leipz. 1798), »Der Faust der Morgenländer« (Riga 1797), »Der Weltmann und der Dichter«, sein bestes Werk, eine Leistung voll Kraft und psychologischer Feinheit (Leipz. 1798), und »Sahir, Evas Erstgeborner im Paradies« (das. 1798). Die Summe seiner Welt- und Lebenserfahrung hat er in aphoristischer Form niedergelegt in den inhaltschweren »Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und Literatur« (1803–05). Eine Sammlung des Besten seiner Werke hat K. selbst veranstaltet (Königsb. 1809–15, lu Bde.; neue Ausg., Stuttg. 1842, 12 Bde.); eine andre Auswahl erschien in 8 Bänden (Stuttg. 1878–80). Vgl. Erdmann, Über F. M. Klingers dramatische Dichtungen (Königsberg 1877); E. Schmidt, Lenz und K., zwei Dichter der Geniezeit (Berl. 1878); M. Rieger, Friedr. Maxim. K. Leben und Werke (Darmst. 1880–97, 2 Bde.); L. Jacobowski, K. und Shakespeare (Dissertation, Freiburg 1891).

Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur

Zueignung

DER Optimism[us] und Pessimism[us] sind Zwillingsbrüder. Ob der letzte ehebrecherisch durch Superfötation hinzugepfuscht sei, ist jetzt, da man die Mutter vor kein geistliches Gericht ziehen kann und der Vater immer schweigen wird, schwer auszumachen. Mir scheinen sie beide ehrlicher Geburt, keiner älter als der andre und, um allem Streit über Erbfolge und Erbrecht zuvorzukommen, in einem nicht zu unterscheidenden Wurf ans Licht der Welt geworfen worden zu sein. Wer ihr Vater ist? Das »Pater est, quem demonstrant nuptiae« läßt sich hier nicht anwenden. Fragt die stumme Ewigkeit! Genug, die Zwillinge sind da und sind – so entgegengesetzter und widersprechender Natur sie auch sein mögen – so innig verbunden und unzertrennlich, wie sonst nichts in dem ganzen Universo innig verbunden und unzertrennlich zu sein scheint. Alles, was durch sie geschieht – und was geschähe wohl ohne sie? –, trägt die Farben beider, so kreischend diese auch gegeneinander abstechen. Keinen Augenblick kann man einen ohne den andern besitzen; und scheint auch einmal einer allein zu Gaste zu kommen, so tritt doch gleich der andre hinterdrein, als könnte er ohne seinen geliebten Gesellen nicht atmen und sein. Der erste scheint indessen immer etwas träger zu sein, wenn er kommt, als wenn er sich empfiehlt. Kurz, dieses edle Brüderpaar hat sich so ziemlich, ohne weiter ihr Recht zu beweisen, zu Herren und Herrschern der moralischen und physischen Welt gemacht; und ist der letzte wirklich ein Bastard, wie ihm die, bei denen er den Herrn über seinen Bruder spielt, oft laut nachsagen, so möcht' ich wohl den ehrlich gezeugten Bruder fragen, warum er sein Geburtsrecht nicht besser behauptet habe. Vielleicht würde er mir weislich antworten: »Durch diese Zulassung erwies ich erst recht meinen Wert.« Aber eine weise Antwort ist nicht für alle Leute eine befriedigende Antwort. 

1

DIE wahre Regierung muß einem fruchtbaren Sommerregen gleichen, der das trockne Land befeuchtet, ohne daß man ihn hört. Es haben Regenten gelebt, die die Staatsmaschine mit solchem Gepolter, Gerassel, Geräusch, Geklatsche und Ungestüm herumtrieben, daß jeden Augenblick zu befürchten war, sie oder die Maschine müßten davon zertrümmert werden. 

2

WENN ich auch die höchste und dünnste Stufe der skeptischen Leiter bestiegen habe, so führt mich immer die Poesie (im hohen Sinne des Worts) einige Stufen abwärts. Sie beweist den moralischen Sinn im Menschen; und diese schaffende, erhebende, beseligende Kraft konnte nur aus ihm entspringen. Alle Virtuosität, die Tugend selbst ist Poesie und wird nur von den sanften, glänzenden Fittichen derselben emporgetragen und gehalten. Auch beweist der Lohn, den beide in der Welt finden, ihre nahe Verwandtschaft. Und doch sind sie da, werden wohl immer dableiben. Woher kömmt doch dem Menschen dieses eigensinnige Verharren auf Dingen, die sich so schlecht lohnen? 

3

DER idealisierende Dichter und der Satiriker nehmen sich beide vor, uns den Menschen zu malen. Der eine taucht seinen Pinsel in den ätherischen Glanz, den er in seiner Entzückung vor dem Schemel des Allerheiligsten schweben sieht; der andre taucht ihn in stinkenden Morast. Wäre es möglich, die beiden ganz widerstrebenden Stoffe gehörig zu mischen, und es führte ein Maler ohne zu ekstatisches Entzücken und ohne zu galligten Humor den Pinsel, so möchte vielleicht das wahre Gemälde des Menschen über der Staffelei erscheinen. 

4

DIE Deutschen haben keine hervorstechenden Satiriker oder vielmehr keine Satiren, die ein Mann, der die Welt und die Menschen kennt, lesen mag. Kömmt es etwa daher, weil sie alles verehren, was reich und groß ist? Weil sie ein leidendes, kein politisches Volk sind? Oder ist die deutsche Treuherzigkeit und Gutmütigkeit daran schuld, da sie sich immer begnügen und bei den ihnen mißfallenden Vorfällen denken, es ließe sich wohl noch ertragen oder bei genauerer Untersuchung manches zur Entschuldigung des Widrigen sagen? Das gute Volk glaubt sogar, Rabener sei ein Satiriker. Ein guter, witziger Schriftsteller war er wirklich, aber nur ein Satiriker, der einem obige Fragen noch näher legt. Man vergleiche nur das, was er behandelt, mit dem, was Swift und Rabelais behandelten. Gehört aber der Stoff und die Bearbeitung des alten Gedichts »Reineke der Fuchs« wirklich einem Deutschen, so haben wir einen Satiriker, den man mit diesen Männern nennen kann. 

5

BEI keinem Volke hat die schöne und täuschende Idee von immer steigender Veredlung des Menschengeschlechts mehr gläubige Anhänger und Verehrer gefunden als bei den Deutschen. Vielleicht darum, weil sie noch das moralisch beste Volk unter den kultivierten Völkern unsrer Erde sind. Wer wird es nun einem edlen Manne verargen oder seinen Glauben zu nah' an die widersprechende Erfahrung halten, wenn er ihn durch schöne dichterische Bilder und platonische Gedanken zu befördern sucht? Sein Glaube entspringt aus seinem Herzen – und hoffentlich auch aus dem Herzen seines Volks – und ist mit jener Poesie verwandt, von welcher ich oben sprach. 

6

KANN man die deutschen Sitten und Gebräuche, ihren Charakter, ihre Denkungsart nach den Werken ihrer Schriftsteller beurteilen? Mir scheinen sie mehr die Schriftsteller der ganzen Erde zu sein, keinem Volke besonders anzugehören und nicht mehr Charakter zu haben als ihre politische Reichsverfassung. Was man von den meisten sagen kann, ist: daß sie Schriftsteller sind, daß sie alles zusammenraffen, alles schildern, alles auftragen, ohne sich nur im geringsten an eignen Ton und Farbe zu halten. Das Vaterländische allein scheint ihnen fremd. In den Übersetzungen ihrer Werke erkennt man an einer gewissen Nüchternheit und Enge der Begriffe, an einer gewissen Charakterlosigkeit auf den ersten Blick, daß das Machwerk auf einem Boden entsprungen ist, der sich durch nichts bezeichnet. Man sagt von großen Schriftstellern, daß sie nicht einem Volke, sondern der ganzen Welt gehören. Spräche ich in diesem Sinne, so hätte ich Klopstock, Goethe, Schiller usw. genannt; aber diese bezeichnet der Charakter des Genies, das durch jedes Werk seine Herkunft beweist. Jedes gute, ja sogar jedes mittelmäßige französische oder englische Werk hat den Ton und die Farbe der vaterländischen Sitten und Gebräuche. Warum haben sie die deutschen nicht? 

7

DIE Großen und der Hof hatten in Frankreich die Grundsätze (das, was man jetzt »Mißbrauch der Philosophie« oder »heutige Philosophie« nennt) schon lange praktisch ausgeübt, eh' sie die Philosophen in ihren Werken systematisch aufstellten. Wann haben wohl die Großen und Menschenführer Bücher um Rat gefragt, wie sie ihr Geschäft treiben sollten! Der Lehrmeister ist ihnen viel näher, und das Praktische stellt sich bei ihnen ohne alle Theorie ein. Zu allen Zeiten haben wohl die herrschenden Sitten die Schriftsteller nach ihrem Geiste gebildet, aber wann die Schriftsteller die Sitten nach dem ihrigen? Und wer von den Großen liest den Sittenrichter, der sich der Zurechtweisung anmaßt? 

8

WENN ich von den Großen im Staate oder am Hofe rede, so will ich damit eben nicht immer sagen, sie verdienten diese Benennung immer wegen ihrer großen und wichtigen Taten und Tugenden; vielleicht denke ich nur dabei, sie hätten den Beruf dazu. Vielleicht erinnert mich dieser laute Schall auch nur an die Gefälligkeit und Gutmütigkeit der Kleinen. 

9

DER höchste Genuß für mich in diesem Leben war bis jetzt die Hervorbringung einiger meiner Schriften, dann ein witziger Einfall unter munter-geistreichen, sich verstehenden Gästen bei Tische, der das Lachen rechter Art erweckte, oder ein kühnes Bild, ein starker, verwegner Gedanke, die plötzlich, ganz ausgerüstet, dem Geist entsprangen, tiefen Sinn enthielten, die Zuhörer in angenehmes Erstaunen oder mit Furcht vermischte Verwundrung versetzten. Der Augenblick ist voll wahren ästhetischen Genusses, wenn die Anwesenden nach und nach, mit noch schüchternem Blick, nach dem Manne hinsehen, der die Blitze so kühn über ihre Häupter schleuderte, ohne sie zu versengen. 

10

MAN streute wohl ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufelsdreck zu parfümieren. Ich würde sagen: Was für einen Zauber muß Schmeichelei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt! Aber ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er habe diesen Gestank gerochen. Wären »Wilhelm Meister« und »Hermann und Dorothea« nicht von so gutem Atem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein? Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer dadurch geworden. Übrigens gehört den Deutschen der Ruhm dieser neuen Vergiftungsart zu, und hoffentlich wird kein Volk sie ihnen streitig machen wollen. 

11

EINEM Unerfahrnen Lebensregeln geben, heißt: einem Ungeübten Unterricht im Fechten durch Zuschauen geben. Das Auge unterscheidet die Stöße nicht, und doch gleicht einer dem andern so wenig als ein Fall des Lebens dem andern. In Büchern nehmen sie sich sehr gut aus, und ein Welterfahrner kann bei Lesung derselben ebendas Vergnügen empfinden, das ein Weltumsegler bei einer Reisebeschreibung fühlt, die ihm bekannte Untiefen, Klippen, Sandbänke mit den dabei ausgestandnen Gefahren ins Gedächtnis ruft. 

12

DER fanatisch-royalistische Schriftsteller ist mir ebenso verhaßt als der fanatisch-demokratische. Gewöhnlich verteidigt der erste einen sultanischen Despotismus und schadet einer Sache, auf welcher notwendig das Glück der Menschen gebaut ist, der andre baut ohne Grund und tut dasselbe. Beide sind nun außer der Zeit. Der erste suche nun von dem Äußern des zweiten etwas Gefälligeres und Gesetzlicheres anzunehmen, so wird alles recht gut gehen. Wer wagt dann noch aufzustehen und ein freches Wort zu sagen? 

13

UM orthodox zu reden, so hat auch die »Vorsehung« die Französische Revolution, wie alles, herbeigeführt. Das heißt: Sie fand die Voraussendung aller der uns empörenden und erschreckenden Greuel nötig, um endlich das zu bewirken, was wir nun sehen. Man muß ein Theolog sein, und ein recht orthodoxer, um diese Angel zu verschlucken, an der sich auch ein Walfisch verbluten könnte. 

14

WENN die Menschen die moralische Kraft hätten, alle ihre moralische Kraft zu gebrauchen, so möcht' ich wohl das Wesen der Gesellschaft sehen, wenn noch so etwas bestehen könnte. Ein einziger Mann von ganzem, unbiegsamen, gediegenen Charakter ist der Schrecken der ihn Umgebenden, ein Felsen, gegen den der Strom verunglücktes gläsernes Geschirr treibt. 

15

DIE härteste und schwärzeste Erfahrung, die wir zu machen haben, ist die Anerkenntnis, daß wir im tätigen Leben das ganz Entschiedene unsers moralischen Werts verbergen müssen, wenn wir geduldet werden wollen. Nur mit dem, was man nicht fürchtet, was man nicht zu achten gezwungen ist, woraus das gewöhnliche moralische Wesen der Gesellschaft besteht: mit schielenden, schwankenden Halbtugenden verstattet man aufzutreten, und auch nur diese machen uns der Gesellschaft erträglich. 

16

ALLES, was uns Vater, Mutter, Lehrer und Bücher in der Jugend als feste moralische Lehren so sorgsam einzuflößen trachten, müssen wir auf der Bühne des Lebens zu verschleiern oder gar zu vergessen suchen. Der sie ganz befolgen will, muß die Beschränktheit und Einsamkeit wählen. Nun frage ich: Was ist denn die Gesellschaft, die ihr widersprechende Erziehung dazu, wenn es so ist? Das Sonderbare aber, meiner Meinung nach, liegt noch mehr darin, daß man uns trotz allem dem nach so vielen tausend Jahren noch immer in der Jugend gegen den Strom zu schwimmen lehrt, ob man sich gleich bewußt ist, daß der Strom für die Kraft des Stärksten zu mächtig ist. Hier waltet abermals etwas von der Poesie, von welcher ich oben1 sprach. 

17

VOLTAIRE, Montesquieu, Rousseau, Mably, Diderot, die Ökonomisten und Enzyklopädisten sollen durch ihre Schriften die Französische Revolution geschaffen haben – so sprechen die Ausgewanderten, und wer nicht denken kann oder mag, ihnen nach. Sie vergessen (die Ausgewanderten wissen warum) die Ränke, den Stolz, die Habsucht und Zügellosigkeit der Großen seit der Minderjährigkeit Ludwigs XV. Doch wer mag sich hierbei aufhalten? Und was wäre wohl ohne obige Genies am Ende aus der Revolution hervorgegangen? Ebendas, was aus der Türkei hervorgehen würde, wenn dort eine politische Revolution statthaben sollte: noch grausamere Szenen und eine gänzliche Auflösung. Haben diese Genies wirklich etwas zur Entwicklung der Revolution beigetragen – nachdem sie so gut vom Hofe und vorzüglich von den Großen vorbereitet war –, so haben sie auch den Samen in ihren Schriften hinterlassen, den man wieder aufgehen sieht. Im Wiederaufbauen zeigt sich das aufgeklärte Volk; die andern können nur niederreißen und dann sich zerstreuen! 

18

DASS etwas Teuflisches (ein dunkles Wort; aber es bezeichnet) in der menschlichen Natur ist und sich der Oberherrschaft bemächtiget, sobald es nur kann, haben wir während der Französischen Revolution anschaulich genug gesehen, und es hat beinahe das Ansehn, als sei es nur dieses Teuflische, das den Sumpf bewege, in dem das Menschengeschlecht sich herumwälzt. Mit guten Absichten wird immer angefangen (wann je mit reinern, edlern von seiten der Regenten?); aber sie sind allein nicht hinreichend, die Kräfte aufzurühren; die scheußlichen wilden Leidenschaften sollen, müssen zum Ziel führen, und nur wann sie ein Ungeheuer, das alle verschlingt und alle noch übrigen zu verschlingen droht, ausgebrütet haben, blickt man wieder auf den Zweck zurück, den die guten Absichten angedeutet haben. So schien auch dieses Werk ohne Teufeleien nicht gelingen zu können und prägte sich zur Beschämung des Menschengeschlechts dadurch recht zum scheußlichen Menschenwerk. Gelungen ist [es] nun einmal, wir mögen es nun anstaunen, verfluchen, bewundern oder uns davor kreuzigen und segnen. Es ist doch nur Menschenwerk und leider ganz natürlich zugegangen, so teuflisch es auch aussieht. Da habt ihr eine allgemeine Weltgeschichte zur Lehre und Warnung in einem Atemzug, wie freilich noch kein deutscher Professor seinen Zuhörern eine zum Leitfaden zugeschnitten hat. 

19

WENN etwas Sonderbares und Bedeutendes im deutschen Charakter ist und ihm Ehre macht, so ist es dieses: daß die Gelehrten dieses Volks noch im achten Jahre der Französischen Revolution untersuchten, ob die Franzosen auch ein Recht dazu gehabt haben. Hätten sie dieses ausfinden können, so hätten sie sich wahrscheinlich über ihre Leiden getröstet. Und dieses Gefühl für Recht ist das Gefühl des ganzen Volks. Haben Deutschlands Völker diesen Sinn für Recht nicht in den gefährlichsten Zeiten aufs kräftigste bewiesen? Ihren Fürsten trotz dem von ihnen so laut, durch so auffallende Maßregeln gezeigten Mißtrauen so bewiesen, daß man kein Dorf auf dem deutschen Boden zu nennen weiß, das seine Bürgerpflichten verletzt hätte? Ich hoffe, Deutschlands Fürsten werden es erkennen; werden erkennen, daß, wenn die Weltgeschichte kein Ereignis aufgezeichnet hat, das der Französischen Revolution gleicht, sie auch kein Volk nennt, das bei solchem Unglück, in solcher Not und solchen Versuchungen es so mit Recht und Pflicht und seinen Fürsten gehalten hat. Und da ich aus vielen moralischen Ursachen stolz bin, ein Deutscher zu sein, so bin ich es aus dieser vorzüglich. 

20

WER, möcht' ich sagen, das Tierische, Fleischliche, Sinnliche eines durch weisheitsvolle Schriften berühmten Mannes nicht gesehen und beobachtet hat und seinen Charakter nach seinen Büchern zusammensetzt, der könnte ebensogut von einer Stadt sagen, durch die er einmal auf Reisen bei schönem Wetter und Sonnenschein gefahren, es wäre dort immer schönes Wetter und Sonnenschein; besonders wenn ein solcher Mann ohne Leidenschaft, Humor und Laune, folglich immer weise und klug schreibt. Hier kann man sich oft bei näherer Besichtigung, wenn man noch einigen Zweifel hat, aufs innigste überzeugen, daß zwei sich ganz entgegengesetzte Dinge in dem Menschen hausen: ein Gott und ein Tier, die sich wechselsweise ausspannen und ablösen; zweispännig fährt doch der Mensch in den Hauptmomenten nicht, denn wenn der Gott den Zügel ergreift, steigt das Tier murrend hinten auf; faßt ihn das Tier, so muß sich der Gott ohnedem gefallen lassen, hinten aufzutreten. Wir lesen jetzt Bücher und sogar periodische Schriften, die uns erheben, durch ihre hohe Weisheit und schöne Menschlichkeit beruhigen und beseligen. Sähen wir manchen ihrer Verfasser näher, wir würden über das sinnliche, irdische, körperliche, eitle, leidenschaftliche Tier erstaunen, das so göttlich reden kann, und gar nicht begreifen, wie es zu gewissen Stunden die grobe Hülle abstreifen und [wie] ein Wesen einer andern Welt vor uns treten konnte. Ein solcher Mann scheint unter dem Stabe einer Fee zu stehen, die ihn durch eigensinnige Berührung umwandelt. Aber kann und soll dieses den Glauben an seine Weisheit oder die Lehren derselben schwächen? Mich dünkt: Es muß ihn vielmehr in den Augen des billigen Beurteilers erhöhen; denn beweiset es nicht das wirkliche Dasein dieses Gottes um so kräftiger, wenn der ihm huldiget, der von dem gefährlichen Tier so gewaltig hin und her gezerrt wird?

Darum mochte freilich das öffentliche und mündliche Lehren in den Hallen, Gärten, auf den Spaziergängen, wie es bei den Griechen Sitte war, etwas gefährlicher und bedenklicher sein. Man mußte sich doch, um nicht durch eignes Handeln und Wirken im täglichen Verkehr des Lebens mit seinen Lehren im Widerspruch zu stehen, etwas mehr zusammennehmen, als wenn man bloß, unbekannt und unsichtbar dem Publikum, das man sich als Schüler denkt, im Kabinett die Feder führt und sich in den besten, gesundesten Stunden des Geistes und Herzens zur Höhe seines Gegenstandes schwingt, windet oder schraubt. Daher kommt auch wohl das Gehaltene, Übereinstimmende im Reden, Tun oder etwanigen Schreiben des einmal angegebenen oder angenommenen Charakters der griechischen Philosophen. Diogenes hätte vielleicht nur in Büchern hündisch gebissen und die Reichen, Üppigen, Schwelger und Ungerechten verhöhnt und zur Schau ausgestellt, übrigens aber gelebt wie jeder Autor, der auf alles dieses schimpft und demohngeachtet so gut ißt, trinkt, sich bettet und kleidet, als er und der Verleger es bezahlen können; Diogenes mußte wirklich wie ein Hund leben, wenn er sich und seine Lehren nicht lächerlich und verächtlich machen wollte. Ob Sokrates zur Bekräftigung seines öffentlichen Lebens und Lehrens im Gefängnis, das man ihm öffnen wollte, geblieben wäre, um für beides den Tod zu leiden, wenn er in seiner Stube geschrieben und das Geschriebene an den Buchhändler verkauft hätte, anstatt es jedermänniglich auf den Straßen und in den Werkstätten zu predigen, ist wenigstens eine erlaubte Frage, die ihn und seinen Dämon in allen Ehren lassen soll.

Doch haben nicht auch wir Lehrer der Weisheit und Moral in unsern Hörsälen? Aber kommt man über mehr mit ihnen überein, als daß sie zu gewissen Stunden des Tags einer gewissen Anzahl junger Leute, etwa für sechs oder acht Taler, ihr Kompendium nach ihren Heften erläutern, die Schüler dieselben nachschreiben, ohne daß sich der Schüler um den Lehrer und der Lehrer um den Schüler weiter bekümmere. Was der Lehrer gesprochen, hat der Schüler schwarz auf weiß; die Schule ist gemacht – das heißt: Er hat geschwatzt, sie haben gehört! 

21

WENN man Schillers »Don Carlos«, »Wallenstein«, Goethes »Tasso«, »Iphigenie«, Lessings »Nathan«, Klopstocks »Oden« und »Messias« und einige andre Werke liest, so fragt man sich wohl, wenn man wieder zu sich kömmt: Welch ein Volk muß dieses sein, für das man so etwas schreibt und das es zu schätzen weiß? Die Täuschung löst sich, wenn man die Götzen dieses Volks ansieht, die auch ihre Tempel haben – und weit besuchtere Tempel als die wahren Götter! Aber hat die Natur nicht jeder Art der Tiere die ihnen zukommende Nahrung aufgetischt? Warum sollte es hier anders sein? Und was wäre wohl mit Recht dagegen einzuwenden? Die Götzen wissen doch, daß sie nur Götzen, daß ihre Priester nicht die wahren sind, daß nur Götzendienst mit ihnen getrieben wird. 

22

WIE sehr bedauert man nicht, wenn man Garves vortreffliche Versuche voller Weisheit, politischer Klugheit und schöner Moral liest, daß der edle Mann so schwer einherzieht, so gar dogmatisch ist und uns gar so sehr den Professor zeigt! Wann werden die Grazien die Sohlen unserer Prosaisten beflügeln, wie sie es den französischen Prosaisten so gefällig tun? Wieland selbst, dem doch die Grazien bei seinen Gedichten so oft zur Seite stehn, scheint, wenn er Prosa schreibt, Blei an den Füßen zu haben. Und die Weitschweifigkeit, die uns nichts erläßt, die uns alles auskramt, die uns für gar zu dumm hält! 

23

WELCH ein schönes moralisches Ganze stellt das Leben der Greise Klopstock und Gleim auf! Übertreffen wir Deutschen die Franzosen in der wahren Poesie, so übertreffen wir sie auch in der Moralität; und beide sind so eng verbunden, daß keins ohne das andre bestehen kann. Und welch eine Reihe von Namen Verstorbener ließe sich in diesem Sinne hinzufügen: Lessing, Garve, Mendelssohn, der edle Georg Schlosser aus Frankfurt – das Bild der reinsten Menschentugend! 

24

DIE deutschen Fürsten und des Reiches unmittelbare Ritter kommen mir während des ganzen letzten Krieges vor wie der hohe französische Adel, als Richelieu Rochelle belagerte. Einer fragte den andern: »Werden wir wohl so toll sein, Rochelle einzunehmen?« Jetzt suchen die deutschen Fürsten bloß Entschädigung für die Kosten der Belagerung, und zwar, da die Festung des Feinds nicht übergegangen, auf Kosten ihrer Mitstände. Wäre aber die Festung wirklich von den Übermächtigen, an die sie sich so fest angeschlossen hatten und anschließen mußten, eingenommen worden, wie wäre es ihnen selbst ergangen? Und wie sonderbar das Schicksal sogar auch mit den deutschen Fürsten zu spielen wagt! Diejenigen geistlichen Fürsten, die vorzüglich den Lärmen zur Belagerung geblasen haben, scheinen zwar etwas berupft, doch noch so ziemlich davonzukommen. Mögen sich die säkularisierten gefürsteten Äbte und Bischöfe damit trösten, daß es wenigstens Männer ihres Standes waren, die das Feuer anlegten, welches ihre Fürstenstühle nun zu verzehren droht. So wird es sich dann jetzt ausgleichen bis zu einer neuen Staatsaktion. 

25

IN Frankreich stürzte, wie man sagt, der Dritte Stand den Thron (den doch der Hof und die Großen untergruben, als seien sie nur dazu gedungen), weil der Hof zu nachsichtig und die Großen zu habsüchtig und eitel waren, die Militär- und Staatsbedienungen dem Dritten Stand zu erteilen oder mit ihm zu teilen. Gleichwohl übertraf der Dritte Stand die beiden höhern an Reichtum, Kultur und Kenntnissen. Hier ein Gegenbild: Der russische Hof findet eine Stütze in dem Dritten Stand gegen den Geburtsadel, dessen Aristokratie und die leibeigenen Bauern. Jeder, der der Krone dient, er sei freigewordener Soldat, aus dem Sklavenstand entlassener Bürger, freigeborner Bürger oder Ausländer, gehört zu dem Adel und genießt dessen Rechte, sobald er Offiziersrang im Zivil-oder Militärstande erhält. Hier hört also aller Neid auf, und dem Verdienst und dem Ehrgeize sind die Tore ohne Unterschied geöffnet. Ja der Dienst des Staats adelt hier mehr als Geburt, weil der Geburtsadel nur durch ihn bedeutend hervortreten kann. So glänzt zwar der Adel, aber er blendet nicht. Wahrscheinlich wäre dasselbe (durch ähnliche Maßregeln, wie sie die eigentümliche Lage des Reichs gestattet) in Frankreich erfolgt, die Eifersucht erloschen, und alles hätte eine andere Wendung genommen. In Frankreich zog der Geistliche den Zehenten von dem Erwerb des Bauern; in Rußland bearbeitet der Geistliche das ihm zugeteilte Feld wie der Bauer, und der Sohn des Geistlichen muß, wenn es gefordert wird, als Soldat dienen wie der Sohn des Bauern. Hat der Mönch hier auch ein bequemeres Leben, so hat er doch gewiß ein noch armseligeres als der Weltgeistliche. Überdem sind die russischen Geistlichen die tolerantesten und genügsamsten, die ich in Europa kenne, und ersetzen an Ruhe dem Staate, was er an ihrer wenigern Kultur verliert. Ihr Stand ist also für den Staat kein Stand in politischer Bedeutung. Wollte man die meisten Staaten den gallischen Entwickelungen, soweit sie nützlich sind und sein können, näherbringen, so müßte man das Übergebliebene des Feudalsystems nach und nach ausrotten; wollte man Rußland den übrigen europäischen näherbringen, so müßte man das Gegenteil tun: Man müßte das Feudalsystem in der besten Art nach und nach einzuführen suchen, damit es den Kreis der andern durchlaufe. Aber welcher Sterbliche wagte, einen Rat zu geben und das Schicksal von vierzig Millionen Menschen auf seine Schultern zu nehmen? 

26

»HABE den wahren Geist deines Postens, Standes und Berufes, so hoch oder so niedrig du auch im Amte stehen magst!« Dieses sollte man allen Staatsbeamten von dem höchsten bis zu dem niedrigsten täglich zurufen; nur bei der Klerisei wäre es ein unnützes Geschäft. 

27

ES gehen wirklich mehr Talente in der Welt verloren, als ausgeübt werden, und dieses beweist, daß wir reicher an Geisteskräften sind, als das von der politischen Gesellschaft uns zugeschnittne Maß auszuüben verstattet. Auch mögen wir ebenso gut klagen, daß mehr von den Naturprodukten verloren geht, als wir verzehren; denn daß sie etwa andern Geschöpfen und Insekten dienen mögen – was kümmert dies den Menschen, für den alles andre gemacht ist? Aber wozu dienen ungebrauchte Talente? Etwa dazu, daß wenigstens diejenigen, welche den Spielraum zur Entwickelung der ihrigen gefunden haben, davon leben können. Beispiele erläutern am besten: Wir haben im lieben Vaterland sechs- bis siebentausend arbeitende Federn; dreißigtausend und mehrere wären gewiß fähig, die Feder zum Bücherschreiben zu führen, wenn sie in die Lage gekommen wären, dieses Talent zu entwickeln. Könnte nun das Publikum die Arbeit von dreißigtausend Federn bezahlen, wie es sechstausend bezahlt? Und gesetzt, es wäre so gefällig, das gute Publikum: Wäre dies nicht eine stärkere Kontribution als die letzte französische? 

28

Über den Kaiser Alexander den Ersten

NACH den ersten Empfindungen und Betrachtungen, welche die Todesnacht Kaiser Pauls des Ersten in mir erweckte, wandten sich mein Herz und Geist plötzlich auf seinen jungen blühenden Nachfolger, der unter solchen Umständen, in diesen Jahren, nach solchen für einen Erbprinzen seltnen Erfahrungen den Thron bestieg. Der denkende Mann, der alles Vorhergegangene beobachtet hatte, in diesem Augenblick vieles ahndete und dabei den Vorhang der Zukunft etwas zu heben suchte, konnte jetzt auf dieser Erde keinen anziehendern Gegenstand seiner Betrachtungen finden. Ich sah den in jugendlicher Schönheit blühenden Monarchen um neun Uhr aus seinen innern Zimmern heraustreten; der ganze Palast war voll noch stummfreudiger Menschen jedes Standes, jedes Ranges, die alle, noch erstaunt über die plötzliche Veränderung, ihre forschenden Blicke aufeinander und dann auf ihn hefteten. Die Herzen gehörten ihm schon lange. Alles, was in mir lebte, dachte und empfand, schien mir jetzt in ihn eindringen zu wollen, um mit ihm zu fühlen und zu denken; ich würde nun etwas Anziehenderes schreiben, wenn ich alle Gedanken und Empfindungen wiederum so lebendig aus meinem Innersten hervorrufen könnte, wie sie in jenem merkwürdigen Augenblick mein Innerstes bewegten. Das Gefühl seiner Lage schien sich in sanftem Trauern, aber in tiefem Bewußtsein seines reinen, edlen Sinnes auf seinem schönen Gesichte auszudrücken. Die Menge, welcher er heute das erste und jetzt gewiß schmerzliche Opfer durch seine öffentliche Erscheinung bringen mußte und die sich um ihn her und hinter ihm wie ein Strom ergoß, schien in seinem Herzen eine schmerzliche Empfindung zu erwecken. Ich sah, daß er tief dachte und tief fühlte. Sein blondes Haar war in Unordnung und ohne Puder. Er hatte eine sehr schwere, sehr bedeutende Nacht gelebt; sein ganzes Äußere trug die Spuren davon in sich. Meine Betrachtungen wurden jetzt ernster in diesem Menschengewühle; wohin ich blickte, sah ich Gesichter bedeutender Leute, deren jedes mir eine Reihe neuer, sonderbarer Ideenverbindungen aufdrang. Hoffen, Furcht, Freude, Angst, Ungewißheit, Besorglichkeit, gutes Bewußtsein, unruhiges Gewissen drückten sich nach den verschiedenen Lagen und Verhältnissen auf den Gesichtern der bedeutenden Männer aus, die hier gedrängt zusammenstanden und von welchen jeder sein Schicksal dem kaiserlichen Jüngling abzufragen schien. Ich kannte seine ganze moralische Würde, seine Milde, seine Güte, seine Gerechtigkeitsliebe, seinen feinen, schonenden Sinn; aber die seltne Tugend, die allen diesen schönen Eigenschaften die Krone aufsetzt, die sie erst zu königlichen Tugenden macht, der feste Wille, die unerschütterliche Stärke in der Ausübung dieses moralischen Sinnes und der anerkannten Pflichten waren noch nicht erprobt. Erst jetzt trat er in die Schranken, diesen gefährlichen Kampf mit sich und den noch weit gefährlichern mit denen, welchen er einen Teil seiner Macht anvertrauen mußte und die jede seiner Leidenschaften jede seiner Schwächen so gern zu benutzen suchen werden, zu beginnen. Ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren an der Spitze von vierzig Millionen! Ich sah diese vierzig Millionen in diesem Augenblick in Scharen von Geistern um ihn her versammelt, die ein plötzlicher Aufruf hervorgerufen und die nun alle voller zweifelhafter Erwartung ihres Loses auf den schönen Genius blickten, dem der Endausspruch anvertraut ward. Dieses Bild schwebte den ganzen Tag vor meinen Augen, und ich schlief ruhig unter den Fittichen dieses Genius ein.

Aber nun sind alle meine Besorgnisse verschwunden, und ich lebe in dem schönsten Genusse für einen Mann, dem das Schicksal der Menschen am Herzen liegt. Ich sehe diesen sanften, edlen Charakter sich täglich mehr und kraftvoller zu allen Pflichten seines so erhabenen als schweren Standes entwickeln. Er weiß, daß Festigkeit, aus wahren Grundsätzen entsprungen, die erste der Herrschertugenden ist, und er übt sie aus. Vor dem Entschluß untersucht, erwägt und prüft er jedes Geschäft mit Kälte, Klugheit, Weisheit und Gerechtigkeit, und jeder aus diesen reinen Quellen entsprungene Entschluß trägt das Gepräge seines edlen Geistes und Herzens, das die Tat und den Ausspruch ganz als die seinigen bezeichnet. Durch sein so feines als kluges Betragen verloschen ohne Geräusch und ohne merkliches Entgegenstreben alle Parteien, die sich unter schwachen, leidenschaftlichen, schnellwollenden und schnellausführenden Herrschern zum Nachteil des Regenten und des ihm anvertrauten Staats bilden, sich untereinander um Einfluß bekämpfen, stürzen und durch ihren rastlosen Kampf, ihr Emporsteigen und Fallen unaufhörlich die Schwäche des Regenten und den Mißbrauch der ihm listig entwandten Macht dem Reiche zur Schau ausstellen. Jeder große Beamte, der die Ehre hat, ihm zu nahen, ist nur dies in seinen Augen und nur nach dem Maße der Erfüllung seiner Pflicht von ihm geachtet. Sein Herz öffnet sich der Freundschaft; er liebt geprüfte Freunde, aber sein Verstand, seine Erfahrung, die ihm das Nachteilige, Gefährliche des Lieblingswesens für sich und seine Freunde zeigen, weisen jedem nur dieses reine Verhältnis als das einzige mögliche an, mit ihm vertraut zu leben. Nur er regiert, und der spähende, auflauernde Hofmann weiß keinen zu nennen, der in Sachen des Staats und dadurch auf das Schicksal der Menschen einen leitenden Einfluß hätte. Bescheiden und liebreich im Umgang, wie kein junger Mann von seinen Jahren, scheint er nur Regent in Erfüllung seiner Pflichten während seines rastlosen Arbeitens zu sein. Hier zeigt er es, daß er sich für den ersten Staatsdiener des ihm anvertrauten Reichs ansieht, daß ihm die schwerste Bürde und die größte Verantwortung zugleich vor allen aufgelegt ist. Das, was der unwissende Haufen der Menschen bewundert und beneidet: der die Majestät umstrahlende Glanz, das Blendende und Ermüdende des Zeremoniells, der trügliche Schimmer einer nur von dieser unwissenden, sinnlichen Menge geträumten Glückseligkeit, die Zeichen der Unterwerfung, in denen sich die Getäuschten und Betrognen seines Standes so wohl gefallen, nur dieses allein fühlt sein Geist, der edlere Genüsse kennt, als eine Last; und nur der Gedanke, sein Stand mache ihm auch dieses Äußere zur notwendigen Pflicht, verhindert ihn, die darauf verwendeten Stunden als ganz verloren zu betrachten.

Um dem Staate Sicherheit und Unabhängigkeit von seinen Nachbarn – und dies auf ihre Kosten – zu verschaffen, mit entfernten Grenzen den alten wahren Kern des Reichs zu decken, haben seine Vorfahren seit einem Jahrhundert mehr nach außen als aufs Innere gewirkt. Die Geschichte spricht von ihren Eroberungen und von dem Ruhm ihrer Krieger; aber jetzt kann man von Rußland sagen: Es arbeitet an seiner Größe, nicht an seiner Schwäche, und ihm [Alexander] ist der Ruhm vorbehalten, die innern Staatskräfte ganz zu entwickeln. Rußland bedarf jetzt keines Eroberers mehr; es bedarf eines weisen Beschützers, Erhalters und Beförderers, eines Regenten für das Innere. Das, was er besitzt, wird ihm keiner rauben, und schwerlich wird man den Versuch wagen. Ein Regent, der auf die Entwickelung der innern Staatskräfte arbeitet, der die Staatsökonomie von sich selbst anfängt, für den Tand und Pracht keinen Reiz haben, der sich hierin nicht einmal etwas versagt, weil es seines Geistes unwürdige Genüsse sind; ein Regent, der überzeugt ist, daß die große Summe, welche der arbeitende Teil seines Volks in so kleinen und für ebendiesen so bedeutenden Zahlen zur Erhaltung und Beschützung des Staats zusammenträgt, auch nur zur Erhaltung und Beschützung dieses Staats bestimmt sei, erwirbt eine Macht und ein Übergewicht gegen seine Nachbarn, die nie die glänzendsten Siege, welche die Schlachtfelder mit Leichen der Untertanen bedecken und die Staatskräfte erschöpfen, verleihen. Dies ist der feste Grund, auf den wahre Macht gebaut werden muß. Mochte der mazedonische Alexander immer nach Indien ziehen; dem unsern wird sich das innerste Heiligtum des Tempels der Menschheit öffnen, dessen Stufen er schon betreten hat. Ein Schmeichler würde sagen: »Er wird Rußlands Alexander sein, wenn man ihn nötigt, das Schwert zu ziehen!« Ich sage: »Er wird dann nur Rußlands Verteidiger sein!« Der strenge Philosoph kann nicht mehr fordern, als er bisher geleistet hat; er sieht, daß der junge, edle Mann seines erhabnen Standes würdig ist, daß er ihn ehrt und zu diesen kritischen Zeiten selbst über freche Äußerungen erhebt. Der Menschenkenner ist überzeugt, daß er auf dieser schweren Bahn als ein starker Mann vorwärtsschreiten wird; denn er ringt nach dem wahren Ruhm, er achtet den Menschen und setzt Wert auf die Achtung der Menschen. Er hat schon die erste der königlichen Tugenden so jung errungen: das Gute zu wollen und, nach Prüfung anerkannt, es voll Mut und Kraft zu vollziehen.

Ob Rußland die Tugenden seines Regenten recht zu erkennen und zu schätzen weiß? Europas kultivierte Völker richten jetzt ihre Blicke auf Rußlands glückliche Söhne, um über ihren politischen und moralischen Wert das Urteil zu sprechen. Ich hoffe, es soll zu ihrem Ruhm ausfallen.

Vor allen Herrschern Europas ist dem Regenten Rußlands das schwerste Los geworden; denn von allen Völkern Europas fielen auf das ihm anvertraute zuletzt die Strahlen jener Kultur, welche die Menschen zur reinen Moralität führt. Nur noch in seinem Reiche waltet durchaus eine politische Verschiedenheit zwischen den Menschen, welche die Quelle vieler Übel und schwer zu besiegender Hindernisse ist; aber die jetzt Lebenden haben so wenig als ihre nächsten Voreltern diese Lage der Dinge geschaffen, und ihnen kann dadurch kein Vorwurf gemacht werden. Die Aufgeklärten des Landes bedauern diese Lage; und Weisheit, Menschlichkeit, mehr ausgebreitete Kultur werden auch hier das ihrige wirken und dieses durch so viele gute Eigenschaften und Tapferkeit merkwürdige Volk durch leise abgemessene Schritte einem.dem Menschen würdigern Verhältnisse zuführen.

Ich habe nie über einen Regenten ein Wort geschrieben, nie einem geschmeichelt. Werde ich es nun, nach meiner Erfahrung, in meinen Jahren, gegen den zu tun wagen, den ich für den Edelsten der jetzt Lebenden seines Standes halte? der meine stillste, innerste Glückseligkeit ausmacht? Und warum sollte ich nicht sagen: den ich innigst liebe?

Ich danke dem schönen Genius, der jetzt so menschlich gut über Rußland herrscht – oder besser und wahrer: der es zu edlen Zwecken leitet –, den reinsten Genuß meines Geistes im stillen Beschauen seines Wirkens; und er ist der einzige Regent, dessen Geschichtschreiber ich sein will, wenn ich so lange lebe, bis das Werk, das er begonnen, etwas vollendeter dasteht. Mein Glaube an seinen Geist und sein Herz ist so fest, daß ich überzeugt bin: Ich werde dann nur nötig haben, alles oben Gesagte durch eine Reihe schöner, weiser und zweckmäßiger Taten zu belegen. 

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KEIN Mensch hat noch – im bürgerlichen Leben wenigstens – seinen ganzen Verstand und seine ganze Vernunft gebraucht; und ich weiß nicht, ob einem derselben dieser Vorzug zu wünschen wäre. Ohne das Kissen der Sinnlichkeit lägen wir zwar auf einem sehr reinen, aber sehr kalten Marmor, und wahrscheinlich würden wir darauf erstarren. 

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ICH erröte jedesmal, wenn ich einen Menschen, indem er von seinesgleichen redet – es sei von einem Manne oder Weibe –, die Beiwörter »heilig« und »göttlich« gebrauchen höre. Meine eigne Tierheit erinnert mich sogleich an die Tierheit des Mannes oder Weibes, von welchem man redet, und meiner Einbildungskraft erscheint der schmutzige Zug aller dieser Tierheiten, die uns anhängen und durch welche wir bestehen, noch schmutziger, als er ist. Vom Menschen kann man nichts Bessers sagen, als daß er ein Mensch im rechten und natürlich guten Sinn des Worts ist. Ich fühle so gut als ein andrer, daß man ein biedrer, wackrer, mutiger, auch zuzeiten ein edler Mann sein kann; aber »heilig« und »göttlich«? Was für Worte! Und wie leer in Beziehung auf das Menschentier! Dieser Schnickschnack ist seit einigen Zeiten in Deutschland sehr gebräuchlich. Beweist es etwa, daß wir uns dem Gegenteil mehr nahen, daß wir dieser Schminke bedürfen, unsre durchschimmernde Immoralität mehr zu bedecken? Oder ist es Ziererei, die doch einem sonst ernsten Volke am wenigsten kleidet? Die Philosophen sprechen uns sogar von Heiligkeit des Willens und der Menschenrechte vor; sie beweisen dieses alles a priori. Die Natur und das bürgerliche Wesen gehen indessen ihren gewöhnlichen Gang fort, ohne welchen alles Spekulieren der Philosophen ein Ende hätte. Ich möchte ebenso gern einen Bären, der auf zwei Beinen nach dem Dudelsack einher sich spreizt, einen Vestris nennen als einen Menschen »heilig«, »göttlich«, er sei auch, wer er wolle. Diese Wörter sind aber nur Phrasen und Schriftzeichen, die das Publikum dem Buchhändler und der Buchhändler dem Autor bezahlt. 

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SELBST diejenigen, die unsre Tugend »göttlich« nennen, sagen etwas Einfältiges. Recht menschlich muß die Tugend sein, wenn sie Menschen nutzen soll. Die »göttlich« Tugendhaften lassen gewöhnlich die Welt gehen, wie sie geht, seufzen und verhalten sich ganz ruhig in ihrem »göttlichen« Gefühl. Sie zahlen ihre Schuld an andre und die Welt mit Wohlgefallen an sich selbst ab. 

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»SCHÖNE SEELE« – ein Weib, das von Vapeurs gewisser Art geplagt wird und keinen Appetit hat; ein Dichterling ohne Einbildungskraft, in deren leerem Raume Phantasmata statt Bilder und Farben schwimmen und schweben, dem es an wahrer physischer und moralischer Kraft, etwas zu erschaffen, gebricht! Sieht man zwei solcher Wesen sich in wechselseitiger Entzückung aneinander reiben, so glaubt man einen Frosch zu sehen, der seiner Gattin die Eier am Paternoster (wie die Naturkündiger das Gewächs nennen) mit allem Eifer des Instinkts herauszieht, ob ihm gleich ein Spallanzani die befruchtenden Teile herausgeschnitten hat. Die »schönen Seelen« sind auch vorzüglich in Deutschland – nein, in deutschen Büchern! – zu Hause. Ich wünschte wackre, tätige, kräftige, mutige Seelen zu sehen. Für diese arbeiten aber *** und mehrere nicht. Die Tränen, welche uns diese und besonders der erste krugweis dahingießt, gleichen den unecht silbernen Tränen, die auf den Leichentüchern der Großen in Flittern schimmern. 

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ALS Samuel sein jakobinisch-maratisches Gemälde von der königlichen Regierung mit so grellen Farben aufstellte, sprach doch wohl der Priester aus ihm, der durch Sauls Salbung die weltliche Herrschaft über die Juden verlor! Warum vergaß ihn der Abt Barruel in seiner berüchtigten Liste der Jakobiner? Weil kein Priester den andern einer Sünde zeiht. Darum stehen sie auch so ungern unter weltlichem Gericht. Doch kenne ich einen Fall, wo keiner des andern schont: Wenn nämlich die Beichte bezahlt wird wie in einigen protestantischen Städten und besonders bei reichen Gemeinden. Man müßte dieses abzuschaffen suchen; wäre es auch nur darum, den esprit du corps dieses Standes rein zu erhalten. 

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KÄME Christus heute zur Welt und predigte seine Religion in dem reinen Geist und Sinn, wie er sie einst gepredigt hat, in Rom, die Inquisition würde ihn schnell als Ketzer ergreifen, ihn in die Engelsburg festsetzen, wenn sie nicht, um dem Greuel schneller zuvorzukommen, etwas Ärgeres täte. In protestantischen Ländern könnte er weder Pfarrer noch Schulmeister werden, denn schwerlich würde er die Symbolischen Bücher unterschreiben wollen. Und wie sehr würde er sich wundern, wenn man ihm sagte, er müßte erst nach Halle ziehen, seine Religion zu studieren, wenn er sie predigen oder lehren wollte. 

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JEDER schimpft auf die Eigenliebe des andern als einen Feind aller uneigennützigen und edlen Handlungen, und jeder weist der seinigen den ersten Platz in seinem Innern an. Da sie also der Hauptgötze eines jeden wird, so wandelt auch jeden der Pfaffengeist an: Alle andern sollen nur den seinigen allein anerkennen und ihn als Priester vorzüglich ehren. 

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DIE Metaphysiker rechnen die Einbildungskraft zu den niedern Seelenkräften, um sie von den reinern, edlern, geistigern zu unterscheiden. Ich habe nichts dagegen; nur ist es sonderbar, daß sich diese ohne jene ihres Daseins gar nicht bewußt wären. 

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MAN sagt gewöhnlich, der Umgang mit den Menschen schleife den Charakter ab. Spräche man nicht bestimmter, wenn man sagte: »Die Furcht, unserm Interesse zu schaden, macht uns so behutsam, daß wir uns auf das sorgfältigste hüten, etwas Rauhes, Starkes, Wahres, Kühnes zu sagen und zu tun, daß wir fein geschmeidig, nachgebend werden, nicht um andern [nicht] zu mißfallen und sie zu schonen, sondern weil uns der allergeliebteste Freund näher an dem Herzen liegt?« Nicht die Welt, der Egoismus um der Vorteile in der Welt ist der Schleifstein, an dem sich die rauhen Ecken der meisten abreiben, weil sich sonst die scharfe Seite gegen sie selbst wenden würde. 

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MAN gewöhnt sich in der Gesellschaft an alles; selbst an das Lächerlichste, Erbärmlichste, Plattste des Geistes, an Mangel und Mißbrauch des Verstandes, an die häßlichsten Gesichter, die widrigsten Fehler des Körpers. Man bemerkt diese Gebrechen am Ende kaum mehr; aber noch nie hat man sich an die Energie eines Mannes gewöhnt oder sie erträglich gefunden, der sich in Taten und Worten immer als ein Mann zeigt, der durch Tun und Betragen die Schwäche, Schlechtigkeit, Erbärmlichkeit und Dummheit der so Gebrechlichen in ein zu grelles Licht setzt. 

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DIE Menschen verzeihen einem wohl noch, gerade und ehrlich zu sein; aber sie fordern tiefes Stillschweigen darüber von dem, der es ist. Auf Kosten andrer nur erlauben sie ihm, sich frei und laut auszudrücken. 

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ES gibt Länder, wo es Herkommen ist, den Staat zu bestehlen. Man erlaubt es wohl einem, ein Dummkopf oder ehrlicher Mann zu bleiben; er hüte sich aber nur, daß dieses Verletzen des Herkommens nicht allzu ruchbar werde. Bei dem Rückzuge der ersten aus dem Dienste sieht man recht, daß sie im Geiste dieses Herkommens gehandelt haben; denn seine Verehrer lassen keinen dieser unbelohnt abtreten – aber weh' den andern! Diesem wird als Warnungszeichen einer solchen Tugend ein schöner – aber schlecht nährender! – Lorbeerzweig zugeteilt, den er, wenn es ihm beliebt, sogar in seiner einsamen Schlafkammer tragen darf (in der Einbildung nämlich!). 

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WER einen Ziegenbock melken will, gehe nach Europas, Asiens usw. Hauptstädten und predige die Tugend. Gleichwohl finden sich in jeder derselben rechtschaffene und tugendhafte Leute: ein Beweis, daß etwas in dem Menschen liegt, welches weder Beispiele, Gewohnheit noch Erziehung durchaus ausrotten können. Zugleich auch ein Beweis, wie wenig wahrhafter Tugend dazu gehört, die Menschen in Gesellschaft zusammenzuhalten. Not, Bedürfnis und Eigenschaften ganz andrer Art wirken dieses Wunder. Das wenige echte Gute ist auch da, aber wie der Probierstein in der Werkstätte des Goldschmieds: Man braucht ihn zur Prüfung, und wenn man den Wert des Goldes erkannt hat, legt man ihn beiseite, arbeitet mit schlechterm wie mit besserm Golde – Gefäße kommen immer hervor. Die Regenten müssen es ebenso mit den Menschen machen; nur daß hier der echte Strich von dem falschen schwer zu unterscheiden ist.

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EIN Mann auf einem wichtigen Posten, der gern auf seinen Grundsätzen und bei seinen Pflichten verbleiben, der seine Untergebenen ebenso streng zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten will, sollte so wenig als möglich mit Hofleuten und Weibern umgehen. In ihrer Gesellschaft nimmt man, um nicht immer zu mißfallen, nach und nach soviel Schonendes und Schwaches an, daß man ihnen in ihrer Handlungsart gleicht, ehe man sich's versieht. Die Zufriedenheit dieser mit ihm macht einem solchen Manne den Prozeß, ehe noch ein Kläger auftritt. 

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WER an einem bedeutenden Posten steht und seiner würdig handeln will, sollte sich des Tages mehr als einmal sagen: »Wer in den Wald gehen will, muß sich nicht vor Bären und Wölfen fürchten. Geschmeidigkeit und Furcht machen noch geschwinder zum Schurken als Habsucht.« Die letzte berechnet doch noch; und ein Mann, der von ihr besessen ist, hat es nur mit einem Schurken – mit sich selbst – zu tun. 

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DIE Weiber kann man nie zu sich heraufziehen, am wenigsten, wenn von großen, wichtigen Dingen, besonders von Gefahren und Aufopferungen, die Rede ist. Ich nehme den Fall aus, wenn sie in den Mann verliebt sind, der so etwas fordert; aber nicht immer, wenn sie ihn nur lieben. Ihr ganzes Bestreben geht vielmehr dahin, die Männer zu sich herunterzuziehen und sie mit ihren eignen Liebenswürdigkeiten auszustatten. Der, den sie so ausgestattet haben, der Liebenswürdige in ihrem Sinne, ist selten ernst und streng mit sich und andern Männern. 

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EIN französischer Schriftsteller hat sehr gut gesagt: »Ein Mensch ohne Charakter ist ein Ding!« Da aber die Leute, welche den Geschäften des Staats vorstehen, gefunden haben, daß es sich leichter mit Sachen, Dingen oder Werkzeugen arbeiten lasse als mit einem Menschen von Charakter – das heißt: von bestimmtem Willen, von geordneter Neigung und festen Grundsätzen –, so gebrauchen sie die Menschen lieber und vorteilhafter als Dinge. Und da die Menschen von Charakter von ihrer Seite auch gefunden haben, daß man mit den daraus fließenden schönlautenden Eigenschaften verhungern könne, so verbergen sie ihren Charakter solange, bis er sich von selbst verliert, und lassen sich, um zu essen und weiterzukommen, als Dinge gebrauchen. 

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ES ist unmöglich, den Menschen nach einer bestimmten moralischen Form zu bilden und ihn in dieser Bildung zu erhalten, wenn er nur etwas von seinen wenigen natürlichen Rechten beibehalten soll. Dem Despoten mag es durch Furcht im Äußern bis auf einen gewissen Punkt gelingen. Hier erhebt sich aber auch das Unnatürliche gegeneinander so hoch, bis es zusammenstürzt. Daher treffen alle Klagen, die man über die Menschen insgesamt anstimmt, weniger sie als das Zusammensein in der Gesellschaft und die Verhältnisse, die notwendig daraus entspringen müssen, wenn das Ding fortgehen soll. So wenig man nun dem Tier seine Tierheit zum Vorwurf machen kann, ebensowenig kann man dem Menschen das zum Vorwurf machen, was sich aus ihm in der Gesellschaft entwickelt. 

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JEDERMANN haßt die Heuchelei, und mit Recht; gleichwohl muß jeder mehr oder weniger eine Maske tragen. Diejenigen, für welche sie die natürliche Bekleidung geworden ist, hassen sie am meisten, weil sie sich nicht gern mit gleicher falscher Münze wollen bezahlen lassen.

Ich möchte indessen wohl einige Zeit in einer Stadt leben, wo man übereingekommen wäre, jeder sollte und müßte so gerade, offen im Denken, Wünschen, Reden und Handeln verfahren, als er sich gestimmt fühlte. Ich wette, man würde sich bald gezwungen sehen, die so verhaßte Heuchelei (wahrscheinlich unter einem feinern Namen) von der Kanzel dem Volke als Pflicht zu predigen. Die Erzieher tun dieses täglich, ohne es vielleicht zu wissen, wenigstens ohne es zu gestehen, und bereiten dadurch ihre Zöglinge zur Gesellschaft vor. Man nennt dieses höflicher:dem jungen Menschen einen Firnis des Anstands, des Gefallens geben und ihm den rauhen Weg, der zum Glück führt, ebnen. Gäbe es einen Philosophen, der seinen Schüler unbedingt lehrte, gerade, offen im Handeln zu sein, das Schlechte nicht allein zu hassen und zu vermeiden, sondern auch laut zu mißbilligen, die Wahrheit nicht für sich zu behalten, sondern sie auch ohne allen Vorbehalt mitzuteilen – so möchte ich die Antwort seines Schülers hören, wenn der Philosoph ihn eine Zeitlang nach seinem Eintritt in die Welt fragte, wie er gefahren, was er gefunden, ob er ihm für seine Lehren dankbar sei. Dafür empfiehlt man gewöhnlich feines, schonendes Betragen, Weltklugheit; und das Evangelium selbst sagt ja: »Seid klug wie die Schlangen!«

Und ebendiese Klugheit, dieser Firnis, der, so nötig er auch sein mag, so allgemein sie auch nur unter diesem feinern Namen einherschleicht, sich gar Kultur nennen läßt, ist doch nichts anders als die feinere Maske der Heuchelei, die nicht einmal für Verkappung gehalten wird. Verzeiht man sich nicht alle Heuchelei, sobald sie wie Weltklugheit aussieht? Nennt man den nicht einen rohen, unerzognen Menschen, der sich ohne diese Schminke zeigt, er mag es auch noch so ehrlich mit uns meinen? 

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CHARAKTER darf beinahe niemand zeigen als ein armer biedrer Teufel, der nicht mit uns teilen will, der keinen Anspruch auf das Glück macht, dem wir nachjagen; auch ein dichterischer Mensch, dem das Land der Ideale und schlechte Kost g[e]nügen. Solche Leute können sogar Klügern zum Zeitvertreib dienen, und man erlaubt ihnen das, solange sie bescheiden und bloß mit ihrer Narrheit zufrieden sind. 

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MAN findet nirgends einen biedern, rechtschaffenen Mann ohne ein Merkzeichen, das ihm Leute von der Gegenseite angehängt haben. Dieses Merkzeichen hängen sie ihm an, damit sich Leute ihresgleichen an dem Manne nicht irren. So bindet der kluge Hirt dem stößigen Ochsen Heu an die Hörner; und jene klugen Leute rufen durch das Merkzeichen ihren Gesellen zu: »Trau ihm nicht, er ist ein Pedant! Ein Reformator! Ein Be-ekler! Ein moralischer Schwärmer!« Freilich ist die Tugend immer etwas trotzig; sie nimmt durch den ewigen Kampf, den immer wachsenden Widerstand, das Gefühl ihres Werts etwas Kühnes, ich möchte sagen: die Mienen und Gebärden eines Soldaten an, der sich in Scharmützeln und Schlachten immer brav gehalten hat. Ihr erlaubt dem rüstigen Rosse zu wiehern, warum nicht dem Manne, der doch weiter nichts gegen euch vermag? Bedenkt nur, daß, wenn solche Leute gar nicht wären, euch eure Heuchelei und Klugheit gegeneinander zu nichts nützten! Und damit ihr euch untereinander überlisten könnt, müßt ihr doch nach dem Äußern jener, ihren Ausdrücken, ihrem Ton, ihrem Handeln die Maske zusammensetzen, die euch so gut forthilft. Ohne sie dienet nur ihr euch zum Muster, und ihr trüget dann wohl eine scheußliche Fratze, aber wahrlich keine gefällige Maske. 

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MAN sagt sehr weise und mit vielem Rechte: »Der, welcher sein Glück machen will, muß früh aufstehen!« Es ist aber nicht genug, man muß ihm auch noch folgende Regeln mitgeben: »Du mußt ertragen können wie ein Esel, unermüdet sein wie ein Postpferd, glatt wie ein Aal; mußt allem entsagen, was dich zum Menschen macht, mußt gar kein Bedürfnis kennen; für dich muß es weder Scham noch Schande geben! Nun geh' hin! Das Praktische wirst du in den Vorzimmern der Großen und in ihrer Gesellschaft lernen. Wenn du dann so einige Jahre auf deine Bildung verwandt hast, so fällt dir wohl etwas zu.«

Man sollte sagen, gewisse Staatsleute hätten diesen langwährenden Bildungsplan für ihre Untergebnen geflissentlich ausgedacht, um sie in ihrem Sinn zu erziehen oder die sich Hinzudrängenden zu proben, ob sie fähig wären, den wahren Geist des Geschäft[s]lebens zu fassen. Ihr scharfes Aug' entdeckt schnell den zur Bildung Untauglichen, und an dem verlieren sie gewiß keine Zeit; er wird ebensobald einen Toten aus dem Grabe herausklopfen als das Glück aus dem Kabinett eines solchen Staatsmannes. Aber sagen wird er es ihm nicht, das muß er selbst ausfinden. 

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ES ist lustig und zugleich traurig anzusehen, wie sich die Hofleute und Staatsbeamten beim Antritt einer neuen Regierung zerarbeiten, um dem Fürsten, der Charakter und Willen zeigt, diese ihnen lästigen, ihm nach ihrer Meinung ganz überflüssigen Eigenschaften geschwind zu nehmen. Ein der Erde drohender Komet kann auf das Volk nicht mehr Eindruck machen als eine solche Erscheinung auf diese Herren. Sie scheinen steif und fest zu glauben, daß jeder Fürst, um es recht nach ihrem Sinn zu sein, moralisch kastriert sein müsse. Die Verschneidung nehmen sie, wenn sie können, so früh als möglich über sich und sind des Lohns gewiß. 

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IN England spricht man jetzt nur vom Handel; gewisse andre Wörter, die man dort wohl ehemals aussprechen hörte, sind ganz verschollen. Ich erwarte, daß man das Handelswesen dort bald als die einzige Glücks- und Seligkeitslehre auf den Kanzeln predigen wird. Wenn sie das Moralsystem ihres Landsmanns Mandeville beweisen wollen, so sind sie gewiß auf dem rechten Wege. 

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DIE meisten Gemütsbewegungen der fein erzogenen Weiber, besonders der Romanenleserinnen und »schönen Seelen« – ihre Liebe, ihre Andacht, ihr Lachen, ihr Zorn, ihre Freude, ihre Betrübnis – sind hysterisch. Was können sie dafür, daß sie ein Organ haben, das eine materielle Seele zu sein scheint, die sich in alles mischt? 

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ALLE Systeme der Moral – von Sokrates, Plato, Epikur, Seneca usw. bis zu Mandeville, Lamettrie und Helvetius – schildern eine wahre Seite des Menschen; auch alle künftige[n] Systemenschöpfer, sie mögen den Menschen noch erhabener oder niedriger als alle Verstorbenen und Lebenden vorstellen, werden eine richtige Seite von ihm treffen. Ein so sonderbares Wesen ist der Mensch in seinem praktischen Tun. Die moralische Welt berührt sich in den entferntesten Punkten, in dem Allerentgegengesetztesten und stellt dem beobachtenden Geist ein Ganzes dar, dessen wilde, unharmonische, durch- und gegeneinanderwirkende Bewegungen und Stöße keinem erlauben, einen Ausspruch über dieses Ganze zu tun, der nicht durchs einzelne widerlegt würde. Der Mann, der dieses wilde Gewühl, das an Verwirrung und Kampf der ungleichartigen Materie das düstre Bild des Chaos der Dichter weit übertrifft, nach den Wirkungen der Erscheinungen auf sein Herz durchs Gefühl beurteilen will, findet sich, eh' er sich's versieht, auf eine Klippe getrieben, wo ihn ein Abgrund erwartet, in den ich nicht mehr blicken mag. Die Vernunft setzt einen Kanon fest und sagt: »So soll es sein! So muß es sein!«, hängt dann die Regeln und Maximen hintenan und glaubt, ihr Werk getan zu haben..Kants eherner, rhodischer Koloß von Imperativ – oder sein ungeheurer, über der moralischen Welt an einem Haar hängend, schwebender Probierstein – oder auch der seiner Sonne entwichene, erstarrte, unfruchtbare Trabant, der kalt und ohne Rolle am Himmel hängt, tut ebendasselbe. Indessen geht diese sogenannte moralische Welt in allen diesen Irrgängen und Durchkreuzungen immer nach dem Alten fort und setzt niemanden in Erstaunen als den Beobachter. Die handelnden Personen denken nur an ihre Rollen, achten des Zuschauers nicht und kümmern sich während des Spiels nicht einmal um den Verfasser, der ihnen das Stück zum Abspielen so zugeschnitten hat. Die Hauptintrige des Stücks ist übrigens sehr einfach, so verwirrt es auch aussieht, und jedem Spielenden durchaus bekannt;

denn jeder spielt im rechten Sinn des Stücks, das heißt: Er arbeitet, die Katastrophe der Komödie oder Tragödie zu seinem Vorteil zu wenden, unbekümmert, wie es den Mitspielenden ergehe. Und welches ist nun das Zauberwort, der Talisman, der die in den Ohren des erhabenen Moralisten gellende und schnarrende Disharmonie gleichwohl zu einem ganz erträglichen, einzig möglichen Einklang stimmt, den alle kennen, der durch und auf alle wirkt und den doch keiner während der Handlung laut ausspricht? Man hat dieses Zauberwort oder diesen Talisman in allen alten und neuen Sprachen ausgesprochen und Helvetius im klärsten Französischen und im Geiste seiner Zeit; aber da diese Art von Moralisten dadurch eine Seite des Menschen ohne Schonung aufgedeckt haben, welche er so ungern wie alle Wahrheiten sieht, so ist ihnen ebender Dank geworden, den wir dem gewähren, der unser Geheimnis verrät. Was ich ihnen zum Vorwurf mache, ist nicht diese Wahrheit, sondern: daß sie nicht gefühlt haben, daß ebendieses eine höhere Moralität beweist, daß über diesem düstern, empörenden Gewühl reine, lichte Gestirne schweben, nach welchen die von diesem Talisman getäuschten Wanderer zuzeiten aufblicken müssen, wenn sie sich nicht ganz auf ihrem gefährlichen Wege verirren und in dem Morast, den sie als festen Boden betreten haben, untergehen wollen. Die Moralisten ihrer Art hätten nicht vergessen sollen, daß alle diese widrigen Erscheinungen, diese Abartungen ebendas Wahrhafte einer höhern Moralität, die immer den Menschen zu sich zurückzuziehen strebt, aufs strengste und praktisch beweisen. Hätte nicht ohne sie die Ausartung immer zunehmen müssen? Erkennen wir nicht durch die alte und neue Geschichte, durch die ganz neuen Ereignisse, die wir alle erlebt haben, daß, wenn diese Ausartung zu einer drohenden Krisis gestiegen ist, der verirrte Haufe, um sich zu retten, wieder zu jenen leitenden Gestirnen aufblickt? Ein Moralist dieser Art wird freilich mit seinem Talisman hervortreten und uns zurufen: »Nur er wirkt dieses Wunder!« Freilich ist es ein Wunder, und ein recht großes Wunder, um ein leeres Wort zu gebrauchen, daß ebendieser Talisman zur moralischen Ordnung zurückführen muß; aber ich zweifle, daß dieser Talisman das Wunder in diesem Sinne zu bewirken fähig wäre, so kräftig er auch ist, wenn er nicht, gebildet von einem reinern Genius, mit einem edlern Urstoff ursprünglich gemischt, in die Brust eines jeden gelegt worden wäre. Er erlaubt den Gebrauch desselben einem jeden nach seinen Kräften und konnte darum den Mißbrauch nicht hindern; aber keiner kann den seinigen so ganz verdunkeln, um nicht an dem besser erhaltenen Lichte des andern zu entdecken, daß der seinige wirklich verfinstert ist. Beweist es nicht seine Überzeugung von der Verfälschung seines Talismans, daß er, um im Verkehr des Lebens nicht ganz durchzufallen, das Licht des echten Talismans durch Firnis und andre Kunststücke an dem seinigen nachzupfuschen suchen muß? Ein elender, schlechter Mensch – ein Heuchler – kann sich von allen Vorurteilen losmachen; aber das einzige wird ihm bleiben und ihn zwingen, sich zuzeiten zu gestehen – hätte er es auch so fein angelegt, daß alle andre[n] schwiegen –, er sei ein elender, schlechter Kerl. Würden die Menschen, die sich von so vielen Vorurteilen losgemacht haben, sich nicht auch von diesem zu entfesseln suchen, wenn der Talisman bloß aus dem groben, sinnlichen Stoff gebildet wäre? 

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