Geschichte Giafars des Barmeciden (Philosophischer Roman der Spätaufklärung) - Friedrich Maximilian Klinger - E-Book
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Geschichte Giafars des Barmeciden (Philosophischer Roman der Spätaufklärung) E-Book

Friedrich Maximilian Klinger

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Beschreibung

Dieses eBook: "Geschichte Giafars des Barmeciden (Philosophischer Roman der Spätaufklärung)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Friedrich Maximilian von Klinger (1752-1831), war ein deutscher Dichter und Dramatiker. Sein Drama Sturm und Drang wurde namensgebend für eine ganze literarische Strömung.In seinen Werken knüpfte er an dramaturgische Eigenheiten William Shakespeares und an philosophische Ansichten Jean-Jacques Rousseaus an. Sie beinhalten sowohl gesellschaftskritische als auch starke gefühlsorientierte Momente. Aus dem Buch: "Damit hat es noch lange Zeit, und geschieht es einst, so wird es damit gehen, wie mit Allem, was die Menschen thun. Sei ruhig, mein Sohn, über diesen Punkt. Der Faden ist für die groben Sinne viel zu fein gesponnen, das Licht viel zu helle, als daß es die bloß an Helldunkel gewöhnten Augen der Menschen ertragen könnten. Und wagt sich einst dieser Denker hervor, so werden die Schüler meiner Weisheit ein solches Geschrei erheben, daß man die Stimme der Wahrheit nicht vernehmen wird. Meine Schüler, Leviathan, schreien für die Ehre, das Brod, das Handwerk, und ihre Zunft ist groß, wie du weißt. - Alles Das ist nur für die Hörsäle, allenfalls noch für die Wolkenritter, wie dein Barmende einer war."

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Friedrich Maximilian Klinger

Geschichte Giafars des Barmeciden (Philosophischer Roman der Spätaufklärung)

e-artnow, 2015
ISBN 978-80-268-4395-5

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Fünftes Buch

Erstes Buch

Inhaltsverzeichnis
1.
2.
3.
4.
5.
6.

1.

Inhaltsverzeichnis

Giafar war der geliebteste Sohn des berühmten Vizirs Jahiah Saffahs, den der Khalife Hadi durch einen Machtspruch erdrosseln ließ, weil er es zu oft wagte, ihm mit Vorstellungen über das Glück seiner Unterthanen Langeweile zu machen. Besonders fiel er ihm mit dieser Zudringlichkeit in Persien, wo damals der Khalife sein Hoflager hielt, beschwerlich, weil er sich als Perser und Minister und, was noch unerhörter ist, als Abkömmling der alten Herrscher dieses Landes, dreifach dazu verpflichtet glaubte. Natürlich beförderte er dadurch nur schneller seinen Fall. Sollte dieses unpolitische und ungewöhnliche Betragen eines Staatsministers gleich Anfangs dieser so wahrhaften Geschichte das Ansehen eines morgenländischen Märchens geben, so mögen es unsre hohe Kultur und verfeinerte Denkungsart entschuldigen. Mit allem Recht gibt der Umstand: daß Jahiah Saffah für das Glück eines Throns arbeitete, auf welchem einst seine Vorfahren mit großem Ruhm gesessen hatten, daß er sich, zufrieden mit dem Guten, welches er thun durfte, der Ansprüche seines Hauses auf denselben kaum erinnerte, dieser Meinung bei uns verfeinerten Europäern viel Gewicht. Der Vizir empfing den Befehl zu seiner Hinrichtung, als er sich eben mit seinem Sohne über die dunkeln Geheimnisse des Schicksals und der Bestimmung der Menschen unterhielt. Ein Gegenstand, wovon die Sterblichen um so mehr und um so lieber reden, je unbegreiflicher er ihnen ist; auch lassen es ihnen die Beherrscher der Erde selten an Stoff zu solchen traurigen Unterhaltungen fehlen. Giafars Vater stand einige Augenblicke, in seinem Innern tief bewegt, vor seinem Sohne, dann hob er die Augen gen Himmel, umarmte ihn und sagte:

»Giafar, in einem Nu wird diese Finsternis; verschwinden, alle Zweifel werden mir hoffentlich gelöst werden, und ich werde erfahren, woher, warum und wozu der dümmste und grausamste Mensch das Recht hat, deinen Vater, den seine Unterthanen den Gerechten nennen, ungestraft durch einen Wink zu vernichten. Ich werde erfahren, ob es zur Ordnung der moralischen Welt gehört, daß unsre edlen Väter von Persiens Thron gestoßen werden mußten; daß ich, ein eifriger und treuer Diener der Verdränger unsers Hauses, einem Andern gewaltsam Platz machen muß, damit er das wenige Gute zerstöre, welches ich auf Kosten meiner Ruhe, auf Gefahr meines Lebens bewirkt habe. Sei ein Mann und vergiß nicht, daß du ein Barmecide bist – sieh hier einen derselben,« setzte er mit edler Begeisterung hinzu, »um der Tugend willen, ohne Murren gewaltsam sterben.«

Nach diesen Worten verhüllte er sein Haupt, die Sklaven des Khalifen traten näher, zogen ihm den seidenen Strick um den Hals, und Giafar sank auf die Leiche seines Vaters. Als seine Lebensgeister wiederum erwachten, schoß wilder Unwillen in seine Seele; er sagte in glühender Wuth:

»Bei Ahermen, dem Urheber des Bösen, dem Beherrscher dieser Welt, ich will dir folgen, mein Vater, um mit dir zu erfahren, ob und warum dies der Lohn der Tugend ist!«

Schon griff er nach einem Dolche, als seine Mutter mit den übrigen Weibern und der kleinen Nichte Fatime hereindrangen, den Leichnam mit ihren Thränen benetzten und Giafars Herz mit Klagen und Jammern zerrissen. Ihre Lobeserhebungen des ermordeten Gerechten drangen tief in seine Seele. Die kleine Fatime war auf ihre Knie gesunken, hielt ihre Hände auf ihrer Brust über einander geschlagen, sah auf Giafar, und die in ihren unschuldigen Augen glänzenden Thränen stimmten seinen bittern Schmerz zu sanfterm Leiden.

Ein Verschnittener vom Hofe trat ein und verkündigte Giafarn: der Khalife überließe ihm aus besonderer Gnade den dritten Theil der Reichthümer seines Vaters! Giafar ward in der Betäubung von der Gewohnheit so hingerissen, daß er niederfiel und dem Khalifen, nach Hofsgebrauch, für die besondere Gnade dankte. In dem nämlichen Augenblicke fühlte er das Scheußliche seiner That, er stand auf und schlug sich ergrimmt vor die Stirne:

»Sind wir unsers Schicksals nicht werth, da wir es so tragen? Was ist der Mensch und was machen Diejenigen aus ihm, welche Armozd, der Geist des Guten, zu seinen Herrschern bestellt haben soll.«

Es war ein Glück für ihn, daß sich der Verschnittene schnell entfernt und ihn die Gewohnheit so weit bemeistert hatte, sonst möchte er ihre Verabsäumung oder seine Bemerkung mit seinem Kopfe bezahlt haben. Indessen brachte ihn die Sorge für seine Mutter und die kleine Nichte von dem Entschlusse, seinem Vater zu folgen, zurück, um so leichter, da er in dem entscheidenden Augenblicke in der Vollziehung gestört ward.

2.

Inhaltsverzeichnis

Für Giafar war der Eindruck, den das grausame Ende seines Vaters auf ihn machte, von schrecklichen Folgen. Längst war er düster und ernst, denn früh hatten Nachdenken und Betrachtungen über das Leiden der Menschen unter dem Tyrannen und seinen gebietenden Sklaven Furchen in seine jugendliche Stirne gegraben, seine Augenbraunen heruntergedrückt und dicke Falten zwischen dieselben gezogen. Das seltene Lächeln um seinen Mund glich eher einer schmerzlichen Zuckung als dem Ausdruck des Gefallens. Nun erst überließ er sich seinem Hange, traurige Gedanken zu verfolgen, über widrigen Empfindungen zu brüten, ohne den geringsten Gegenkampf: er fühlte ihn gerechtfertigt und hielt dafür, Schmerz sei das einzige Gefühl, welches einem über diese Welt nachdenkenden Wesen zukomme. Um sich indessen dem Khalifen nicht verdächtig zu machen, blieb er noch einige Zeit in der Hauptstadt, erschien öffentlich und ließ sein Herz durch die Geißel der Tyrannei, die beständig um ihn her zischte, so lange zerfleischen, bis sein Verstand durch das peinliche Leiden so verwirrt und verdunkelt ward, daß er sich vor den Schreckbildern, die seine verwilderte Phantasie zusammensetzte, nicht mehr zu retten wußte. Zweifel, Groll und Wuth hatten seine Seele gefaßt, wie blutgierige Hunde das erjagte Wild, und bald schien ihm das Loos der Menschen das scheußlichste, welches nur immer eine feindliche Hand im Grimm über sie werfen konnte. Endlich wagte er sich laut zu gestehen, was er so tief in seinem gepeinigten Innern empfand:

»Die Hand der Gottheit gleiche der Hand des tyrannischen Khalifen, die nur die Gerechten zerschlüge und der Bösen schonte. Der Mensch sei geschaffen, beiden zum Spiel zu dienen, und es sei auf dem ganzen Erdenrunde nicht mehr Ordnung und moralischer Zusammenhang, als an dem Hofe des Khalifen. Alles, was wir von edlem Ursprunge, hoher Bestimmung, angeborenen Rechten auf Glück und Wohl träumten, sei ein Netz, das unsre Verfolger gesponnen hätten, uns leichter und ohne Gefahr für sie zu verstricken.«

So sah er bald das ganze Menschengeschlecht an die einzige, ungeheure Kette der Nothwendigkeit gefesselt, an welcher Jeder von uns bei dem ersten Besinnen sein Dasein zerschlagen würde, wenn jenes Wesen, das uns daran geschmiedet, nicht das erste Glied derselben an die Furcht vor dem Tod in den Abgrund, und das letzte, in die glänzende Ferne, an die betrügerische Hoffnung geknüpft und geschmiedet hätte. Sein Geist empörte sich gegen diesen Zwang und sprang von diesem erdrückenden Gedanken zu einem noch gefährlichern über, nämlich:

»Nur die Fabeln der Indier, die gleichwohl von tiefdenkenden Köpfen herrührten, lösten diesen verschlungenen Knoten. Armozd, der Geist und Schöpfer der Welt, hätte entweder aus Unvermögen oder Unwillen gegen die Menschen (den sie doch als sein eignes Werk nicht verdienten), ihr Schicksal dem Ahermen oder Geist und Schöpfer des Bösen überlassen, der auch seine Tücke besonders durch seine Gesellen, die Khalifen, Shahe, Pashahe und Vizire, auf das grausamste an ihnen ausübte. Und da er keinen der Guten gegen die Bösen schützte oder schützen wollte, so schien es, daß dieser böse Geist sein Wesen auf der Welt als unumschränkter Herr triebe und immer treiben würde.«

So sah nun Giafar die Welt als ein ungeheures, von Blut triefendes, von Brüllen und Gestöhn' erschallendes Schlachthaus an, in welchem ein unersättlicher Dämon herumwüthet und würget, vor dem ein noch gefährlicherer und schrecklicherer Geist einherschwebt, der mit süßen Träumen, täuschenden Gaukeleien die unschuldigen Opferthiere auf die lachende beblümte Wiese des Lebens lockt, damit sie sich da, als künftige Beute des Würgers, mästen, um nur reifer und empfindlicher gegen die nahe Qual zu werden. Nur Geschrei des Jammers tönte in seinen Ohren, nur Dampf der Vernichtung stieg in seine Nase, nur zerrissene Fäden aller moralischen Verbindung und Harmonie schwebten vor seinem düstren Geiste; er verlor das Ganze aus den Augen und saugte gierig aus jedem einzelnen Umstand alle das Gift, das er mit sich führte, oder das ihm sein eigner, schwarzer Groll beilegte. Sein edles, krankes Herz, das an dem Leiden der Geplagten den heißesten Antheil nahm, machte seinen Zustand noch grausamer, und oft entbrannte seine Wuth, daß er sich aufmachen wollte, mit den Unterdrückern der Menschen zu kämpfen, um lieber sein peinvolles Leben im edeln Kampfe für ihr Bestes auszubluten. Das schaudervolle Ende seines Vaters dämpfte die Gluth der Rache: er hatte den Mann fallen sehen, den Asien vergötterte und dessen gewaltsamer Tod selbst auf Die, für welche er sich geopfert hatte, nicht mehr Eindruck zu machen schien, als der Fall eines Sperlings. Sein Nachfolger, der jeden Tag mit Grausamkeiten und neuen Thorheiten bezeichnete, war eben dadurch der Liebling des Khalifen geworden, und am Hofe fand man bald, daß ein Mann, der, weil er leben wollte, leben ließ, sich viel besser zum Vizir schicke, als ein strenger, karger Barmecide, der es immer nur mit dem Volke halten wollte. Ja, selbst dieses Volk ward von dem Glanze, den prächtigen Thorheiten des neuen Vizirs und seinen unsinnigen Anschlägen und Thaten zu Vergrößerungen verblendet und vergaß, daß es das Opfer davon war.

Giafar rief: »Es ist eine sinn- und zwecklose Menge, ihrer dunkeln Bestimmung werth, die man ihrem Schicksal überlassen muß. Keiner kann so weit ihr Meister werden, um sie zu ihrem Besten zu lenken; sie bewaffnet die Hand, die sie zertrümmert, und betet den Götzen an, der sie verschlingt. Ich will sie fliehen, über ihr und mein Schicksal weinen, bis Finsterniß mich umschließt und die Verwesung die Fasern aussaugt, die nur zu meiner Qual fühlend sind.«

Und da er obendrein in jedem stolzen Sklaven des Khalifen einen Henker zu erblicken glaubte, der nur auf den Befehl lauerte, ihm, wie seinem Vater, einen Strick um den Hals zu ziehen, so schlich er sich mit seiner Familie, den geretteten Schätzen und der Sammlung von Büchern seines Vaters aus der Residenz des Khalifen. Alle Barmeciden, seine Verwandten, folgten seinem Beispiel.

So bilden sich unsre Begriffe über Gott, die Welt und die Menschen, die moralischen und physischen Erscheinungen nach unsern ersten Erfahrungen, der Stimmung unsrer Seele, der Macht unsrer Vernunft über unsre Leidenschaften, und vorzüglich, nach der Kraft unsers Herzens, der Quelle des moralischen Sinns. Daher kommt es, daß ein Theil der Menschen diese unübersehbare Masse, wo man nur Erscheinungen sieht, deren Ursache und Zweck unbegreiflich sind, mit Ungeheuern anfüllt, während sie der glücklichere oder weisere Theil mit einem freudigen Glanze umzieht. Keiner kann dem Gefühle, das aus den ersten Eindrücken fließt, ganz entfliehen, und auch der hellste und kälteste Kopf nimmt einen Anstrich von ihnen an, den er nie ganz verbergen kann.

3.

Inhaltsverzeichnis

Mit solchen Gesinnungen, unter solcher Marter des Geistes begab sich nun Giafar an den Euphrat und kaufte an dessen Ufern in einem wilden entfernten Striche eine große Strecke Landes. Jeder Wirthschaftsverständige wird Giafarn für einen Thoren halten, wenn ich sage, daß in dem Bezirk, den er gekauft hatte, die Natur erst vor kurzem aus dem Chaos hervorgedrungen zu sein schien. Der urbaren Felder waren so wenige, daß sie kaum seine Familie nähren konnten, hingegen waren Wald, Felsen, Gebüsche, Höhlen, Schlünde, Abgründe, Berg und Thal so graus, wild phantastisch unter einander geworfen, daß das Auge nirgends ein Ganzes fassen und die Seele sich überall, wie in einen engen, schaudervollen Zauberkreis eingeschlossen fühlte. Er ließ auf der mittlern Höhe ein geräumiges Haus für seine Familie bauen und für sich einen kleinen Pavillon zwischen die höchsten Felsen einklemmen, von dessen Dache er auf eine nach dem Flusse sich senkende Klippe steigen konnte. Nur hier hatte er einen weiten Horizont vor sich, den das weit entfernte Gebirge unterbrach.

Die wilden, verworrenen und düstern Gegenstände der Natur beschäftigten eine Zeitlang seine kranke Phantasie, und er gefiel sich in dem Schaudervollen, ohne doch das Erhabene zu fühlen, das in diesen kräftigen Auswürfen der jungen, von keines Menschen Hand unterjochten Natur lag. Dieser Ort schien ihm der schicklichste Aufenthalt für seinen Geist zu sein, und die Bilder, die seine Einbildungskraft aus diesem Chaos zog, schmolzen so schnell mit seiner Erfahrung aus der Welt in einander, daß er in dieser wilden Masse das verworrne, unfaßliche Ganze im Kleinen vor sich zu haben glaubte. Sein innerer Zustand ward bald noch schlimmer, da nun seine von großen und düstern Gegenständen erfüllte Phantasie Alles über die wirklichen Grenzen hinüberrückte. Er kroch zwischen den Felsen herum, wie ein gebannter Geist, und noch wäre es ein Glück für ihn gewesen, wenn er den Kampf bloß mit seinen Kräften auszufechten gehabt hätte. Die Ruhe, die Einsamkeit, die Entfernung von den moralischen Zerrüttungen der Gesellschaft, die er, sein Inneres ausgenommen, überall zu sehen glaubte, hätten vielleicht sein wundes Gefühl geheilt; aber Langeweile und Begierde, zu wissen, trieben ihn zu den Büchern seines Vaters. Er durchblätterte die Weisen, Geschichtsschreiber, die Lehrbücher seiner und andrer Religionen und wollte nun durch sie die Räthsel enthüllen, an deren Auflösung er für sich zu verzweifeln anfing. Alles, was er dabei gewann, waren noch giftigere Zweifel, Erweiterung seiner Einbildungskraft über das Vermögen des Verstandes, und ängstliches, fruchtloses Bestreben, das Unfaßliche zu denken und zu begreifen. Der Wahn trug ein lockres Gebäude nach dem andern zusammen, neue Zweifel zertrümmerten sie im Werden, bis sich endlich diese unermüdete Anstrengung in Gleichgültigkeit gegen Alles, Kälte und philosophische Apathie endigte, die nur Murren über die Beschränktheit der Kräfte des Menschen unterbrach. Entstand vorher sein Unwillen aus Güte des Herzens, aus Mitleiden, das er für die Geplagten empfand, so entsprang er nun aus einer unreinen Quelle, aus seinem beleidigten Stolze, das nicht ergründen zu können, wozu ihn sein heller Verstand und seine rastlose Anstrengung zu berechtigen schienen. Ehemals litt er und vergoß Thränen bei dem Leiden der Einzelnen, verlor das Ganze aus den Augen, und jetzt, da er das Ganze umspannen wollte, achtete er des Einzelnen nicht. Seine traurigen Nachforschungen trockneten sein Herz auf, ihm lächelte die Sonne nicht, kein goldnes Abendroth entzückte ihn mehr, und kein Vogel sang ihm Töne der Liebe. Kein Bach murmelte für ihn und lud seinen Geist zu sanfter Ruhe ein. Der hellgestirnte Himmel, der silberne Schein des Monds, die Ruhe der Natur rührten seine Seele nicht; er sah in Allem nur Täuschung, Genuß der Einbildung für wirkliche Qual. So nutzte er nun die Wissenschaften als Waffen, Krieg mit dem Urheber der Dinge zu führen, und bevölkerte Erde und Himmel mit Mißgeburten, die er mit den verschiednen Systemen der Weisen zeugte. Auch erntete er bald die übrigen gefährlichen Früchte der Einsamkeit und des tiefen Nachdenkens über den Menschen und seine Bestimmung in vollem Maße ein. Er sah sich auf einmal für ein besondres und höheres Wesen in Vergleichung aller andrer Menschen an, fand nun in seiner Natur und in seiner erhabenen moralischen Stimmung den Grund, warum er sich nicht mit ihnen vermischen konnte. Es dünkte ihm wohlgethan zu sein, daß er sich von einer durch niedrige Leidenschaften getriebenen wilden Heerde entfernt hätte, die ihn nicht fassen könnte und seine aus feinerem Stoffe gebildete Seele nur verunreinigen würde. So bläht Wahn den Denker noch dann oft auf, wenn er auch mit bittrem Unwillen fühlt, sein ganzes Wissen sei nichts anders, als Vermehrung seines Sprachvorraths, wodurch er Dinge benennen lernt, die seinem Ohr zwar Schall sind, aber seinem Geiste nie Wesen werden. Da nun der Stolz die Wage hielt, worauf sich Giafar gegen Andere abwog, so spannte er endlich sein Selbst zu einem so hohen Ideal von Tugend hinauf, daß entweder seine Natur zertrümmern, oder seine Seele zu dem wildesten Kampfplatz dieser sich widersprechenden Dinge werden mußte. Als er noch allein ging und seine Gedanken aus seinen eigenen Empfindungen flossen, war er wenigstens bescheiden und seufzte über das Elend, das er nicht hindern konnte; jetzt aber, da er bei den Weisen in die Schule gegangen war, floh diese schöne Tugend von ihm, und er glaubte sich durch das, was er aufgefaßt hatte, berechtigt, den Himmel zu mustern und, vermöge der Geschichte und seiner Erfahrung, das Menschengeschlecht zu verdammen.

4.

Inhaltsverzeichnis

Die kleine Nichte Fatime gab Giafarn öfters Gelegenheit, seine Weisheit, die nun einmal in Apathie zerfrieren sollte, zu prüfen; aber immer mußte die sanfte Gluth, welche sie seinem Herzen einflößte und die allein vermögend gewesen wäre, sein verworrenes Denken zu glücklicher Harmonie zu stimmen, von den Dunstwolken, die sein Gehirn zusammentrieb und sein idealischer Sinn vergoldete, erstickt werden. Nur seit kurzem war sie in den Zeitpunkt getreten, worin das Dasein eines Mädchens bedeutend wird, das Herz anfängt, sich zu öffnen, und sprechende Blicke, liebliche Scham die Veränderung des innern Zustands andeuten. Dann zaubert die Einbildungskraft die flüchtigen Gedanken zu sinnlichen Bildern, und die gereizte Phantasie strebt, den Schleier, der vor der Zukunft hängt, zu durchblicken. Leise und zaghaft zieht ihn die Neugierde weg, bis es ihr endlich gelingt, die Gottheit, welche er verbirgt, in ihrem Glanze zu entdecken. Fatime glich ganz dem ätherischen Bilde, das wir uns unter Psyche, der Braut Amors, denken, und ihr schönes Körperchen floß so sanft um ihre schöne Seele, als seien sie aus einem Stoffe geschaffen. Giafar fühlte dies in seinem Innersten, wenn er sie zu Zeiten über das Moos der Felsen dahin schweben oder unter dunkeln Bäumen am rauschenden Wassersturz ruhen sah. Oft zeigte ihm ihr unbefangener Sinn, der nur Gutes sah und ahnete, ihre Heiterkeit, die nichts trübte, als Giafars Stirne, den wahren Pfad des Glücks. Noch öfter verwirrten ihn ihre naiven Fragen und ihre glückliche Auslegung der ihm so dunkel scheinenden Dinge: er war aber nun einmal ein Philosoph geworden, und sein denkender Geist hatte es darauf angelegt, nichts leicht zu finden und nach natürlichem Maße zu messen; er lächelte und sann dann über Fatimens Auflösungen so lange nach, bis sie so philosophisch dunkel wurden, als die Auflösungen seiner Weisen. So stand es mit Giafarn, als er eines Tags, nachdem er sich lange den düstern Betrachtungen über das moralische Uebel überlassen hatte, von seinem Dache auf die Klippe stieg, um sein erhitztes Gehirn abzukühlen. Tief unter ihm rauschte der Euphrat dahin; lange sah er dem hinfließenden Wasser nach, bis er endlich aufwärts blickte und am fernen Horizont einen fürchterlichen, schwarzen Sturm entdeckte. Noch trieben die schweren und dunkeln Wolken leise herauf; aber bald rauschten sie unter dem Gesause der Winde heran, thürmten und schoben sich auf und über einander, als drohten sie der stillen Erde Vernichtung. Die Heerden, die Thiere des Waldes, die Bewohner der Luft suchten Schutz ohne Blöcken und Geräusche. Der Donner rollte dumpf in der Ferne – rollte näher – die Blitze schossen durch die Luft, die Felsenwohnung Giafars erbebte in ihrem tiefen Grunde bei dem fürchterlichen Schall; die Eichen, Fichten, Cedern und Pappeln zerbrachen und stürzten von Klippe zu Klippe. Giafar sah und hörte dieses große Schauspiel mit ängstlicher und schaudervoller Bewundrung an. Unter dem Gesause, unter dem Beben vor möglicher Vernichtung seines Selbsts vergaß er seine Philosophen und fand es natürlich, daß der Mensch in dieser fürchterlichen Erscheinung das nähere Dasein eines Wesens vermuthe, das dem verwegnen Geschlecht der Sterblichen seine Macht, Gewalt, Zorn und Rache sinnlich machen wollte. Auf einmal ertönte es durch die Atmosphäre, als zerrissen die Himmel, als zerberste die Kraft, die den Erdball im Schweben erhält. Der Sturm hatte eine ungeheure Wolke an das ferne Gebirg getrieben, sie zerriß an den Felsen und goß eine Fluth herunter, die den Strom über seine Ufer drängte und den ganzen Erdstrich unter Wasser setzte.

Giafar sank betäubt nieder, ohne zu begreifen, was geschehen war. Die Sonne drang wieder hervor, das dunkle Gewölke zerfloß vor ihrem Glanze, und der herrliche Bogen des Himmels dehnte sich ihr gegenüber in seinem sanften Schimmer aus. Wer fühlt nicht nach einem wilden Sturme, der durch Schall, Krachen, Zerstörung, schaudervolle Verfinsterung, plötzliches drohendes Feuer die fürchterlichste Sprache eines erzürnten Gewaltigen zu sein scheint, wie natürlich die rohen Söhne der Natur in dieser lieblichen Erscheinung ein Zeichen der Gnade, Versöhnung und neuer Hoffnung erblicken mußten. Giafar wollte sich nun diesen Empfindungen überlassen, als er auf einmal den aufgeschwollnen Fluß wahrnahm, der fürchterlich einherrauschte und Menschen, Thiere, Häuser, Geräthe und Bäume mit sich fortriß. Er sah die Unglücklichen mit der Fluth kämpfen und dann verschwinden. Bei diesem Anblick brach er in folgende Klagen aus:

»Welche tyrannische Macht gebot diesem Sturme, zu zerstören und ganze Geschlechter zu verschlingen? In einem Augenblick zu vernichten, was Jahrhunderte erfordert, um zu werden, was es war! Ein Theil der Erdbewohner wird von den Fluthen dahingerissen, und Keiner rettet, Keiner kann retten! Wozu? Warum dieser Sturm? Daß er in einem Nu die Früchte der Vergangenheit mit dem Keim der Zukunft aufreibe, eine schaudervolle Lücke im Ganzen mache, die nun Geheul und Jammergeschrei der Verlaßnen ausfüllt! Unbegreifliches Loos der Menschen! Ich vergieße Thränen über euch und knirsche in Wuth, mit euch verwandt zu sein, da ich nichts als euch beklagen kann. Wohin ihr auch flieht, bleibt ihr Sklaven der Furcht und der Nothwendigkeit, seid nirgends eures Daseins und der Verhältnisse, die ihr zu euerm Glück entwerft, gewiß. Floh ich darum die Gräuel der Verwüstung eines grausamen und tollen Khalifen, um in der Einöde die Natur mit noch grimmigerer Wuth Tausende ihrer Kinder auf einmal zerstören zu sehen? Wer leitet die Herrscher der Welt, die Blitze, die Fluthen, die Winde zum Verderben der Menschen? Sklav deiner innern und der äußern Natur, des Windes, der dich umsaust, der Luft, die dich in deinem Gleichgewicht erhält, der Erde, die dich trägt! Sklav alles Dessen, was dich umgibt und dich mit den Klauen der Gewalt umfaßt! – Selbst aus der fernen, unfaßlichen Zukunft schießen die Ungeheuer deiner Einbildungskraft hervor, zermalmen deine Kräfte und erschüttern deine Sinne, daß dem Bebenden der Genuß des Augenblicks nicht werde! So lange du athmest, sollst du gewaltsam leiden, jede Widersetzung heißt Empörung, und fliehst du endlich in den Schooß der Natur, so umfaßt sie dich zwar mit mütterlichen Armen, aber um dich zu erwürgen, wenn du am sichersten zu ruhen glaubst. – Im Grabe soll Ruhe sein – und wenn sich dann ein Faden zu neuer Dauer anspinnt, wer steht dir dafür, ob es nicht darum geschieht, um dich an ein neues Joch zu knüpfen?«

Seine Klagen wurden auf einige Augenblicke von einer Begebenheit unterbrochen, die ihm trotz seinen Augen unglaublich schien. Ein einzelner Mann warf sich in die Fluth, faßte der Unglücklichen, so viel er ihrer ergreifen konnte, rettete sie auf die nächste Klippe, Kind, Mutter und Greis. Dieses wiederholte er, ohne zu ermüden, und hielt sie über dem brausenden Strome, als trüge ihn eine nur ihm eigene oder eine göttliche Kraft. Giafar erstaunte und fuhr fort: »Vortrefflich, du Edler! aber du kämpfest vergebens mit der zerstörenden Gewalt, die ihr Spiel mit uns treibt. Diesen und Jenen rettest du – Tausende verschlingt er – doch glücklich ist dein Loos, auch nur Einen gerettet zu haben; du findest hohen Lohn in deiner That; aber ob er dir es danken wird, daß du ihn zu neuen Qualen erweckst –«

So verfiel er in neue Klagen, als auf einmal eine feierliche Stimme erscholl:

»Barmecide! du würdest besser gethan und menschlicher gehandelt haben, diesen Unglücklichen beizustehen, als hier über Gott und die Natur zu klagen, die du beide nicht begreifst. Hätte ich's, wie du gemacht, so könntest du nun deine Mutter und deine Nichte beweinen. Leichter ist es, dem Ursprunge der Uebel der Welt nachzusinnen, als die uns verliehene Kraft anzuwenden, eines derselben zu heilen.«

Der Retter der Unglücklichen war es, der den engen, steilen Pfad zu Giafars Pavillon erstiegen hatte, ohne daß er es gewahr wurde; ein Mann in voller Kraft des Lebens, auf dessen Stirne tiefes Denken und jene Erhabenheit ausgedrückt waren, die nur aus dem Gleichgewicht unsrer Seele mit allem Aeußern, aus der Gewißheit entspringen, die Wage, worauf man die Dinge der Welt abwägt, am rechten Punkt gefaßt zu haben. Sanftmuth lächelte um seinen Mund; aber der Ernst und das Feuer seines Blickes überwältigten und unterjochten den Verstand und das Herz.

Giafar staunte ihn an und konnte keine Worte finden. In demselben Augenblick sprang Fatime herein, seine Mutter folgte ihr und sprang in seine Arme. Ihre nassen Gewänder, ihr Beben, ihre Freude zeugten von ihrer Gefahr. Fatimens nasses, dünnes Gewand schmiegte sich an ihren schlanken Leib, an ihre jungfräuliche Brust, welche hindurch schimmerte und ihren lieblichen Umriß enthüllte. Ihre goldnen Locken träufelten, und so hing auch sie an dem Erstaunten und rief mit froher, bebender Stimme:

Wir sind gerettet, leben und können dich noch lieben!

Die Mutter. Dieser edle Unbekannte hat uns gerettet. Der Sturm überfiel uns in der Grotte. Wir wollten fliehen, die Fluth rollte hinter uns her, ergriff uns –

Giafar fiel dem Retter zu Füßen: Ich verdiene, daß dein gerechter Tadel den glücklichsten Augenblick meines Lebens verfinstert. – O, sage mir, wem danke ich mein und dieser Geliebten Leben?

Der Retter erwiederte: Fragst du mich, um mir zu danken, so erlass' ich dir die Mühe. Ich habe meinen Lohn in dem Augenblick geerntet und genossen, als sie dich umfaßten.

Giafar. Sei, wer du wollest; ich sah dich über den Fluthen schweben, ihnen trotzen; nach deinen Thaten, nach dem Geiste, der auf deiner hohen Stirne ruht, zu urtheilen, bist du keiner der Menschen, wie ich sie bisher gesehen habe. Entreiße nicht deiner schönen That die Frucht, die sie nun eben in meinem Herzen aufzutreiben beginnt. Sage, wie soll ich dich nennen? Wie dich halten? Wo dich wieder finden?

Retter. Du willst es; nun, so nenne mich Ahmet, Halems Sohn. Ich bin ein Mensch gleich andern – komme – gehe – wirke und bereue. Fange an und vollende nicht. Helfe die allgemeine Zerstörung befördern und beschleunige die meinige. Wähle und verwerfe, wünsche und genieße nicht, was mir gewährt ist. Verschwinde dann und hinterlasse nichts, als die Folgen meiner guten und bösen Thaten. Gerne spüre ich dem Grund meiner und andrer Menschen Handlungen nach, aber selten entdecke ich etwas, das mich erfreut. Die Stirne des Denkers reizt mich zu Gesprächen; doch lieber seh' ich Wärme des Herzens, Wohlgefallen an dem Menschen und der Natur in den Blicken des Weisen. Giafar, wenn zwei Menschen sich nahen und vertraulich werden, so spinnet sich für Beide ein neues Dasein an; dauert es auch nur eine kurze Zeit, so erweitert es doch die Grenzen unsers Geistes um etwas und legt unsere moralische Kraft auf eine neue Probe. Laß mich nun zu jenen Unglücklichen eilen; hat die Fluth auch meine einsame Wohnung verschlungen, so kehre ich wieder und bitte dich um Schutz. Er verschwand.

Giafar horchte mit gespannter Seele auf die Worte Ahmets, und als dieser verschwand, überließ er sich zum erstenmal, nach seines Vaters Tode, dem reinen Entzücken, das jetzt sein Herz empfand. Er drückte die Hände seiner Mutter, sein Blick sank auf Fatime – ihr frohes Lächeln erweckte seine innigsten Empfindungen. Der düstre Nebel rollte einen Augenblick vor seinem Geiste weg. Er faßte sie in seine Arme, drückte einige Küsse auf ihre Lippen und fühlte ein ihm unbekanntes Glück des Lebens. Hierauf begleitete er sie in ihre Wohnung; sie wechselten ihre Kleider. Ahmet überraschte sie bei dem Abendessen, welches die Freude würzte, und der Retter nahm darauf ein Zimmer in Giafars Pavillon ein.

5.

Inhaltsverzeichnis

Giafar war nach und nach mit Ahmet so vertraut geworden, als es dessen Ernst und ihn durchdringender Blick erlauben wollten. Er fühlte seinen Verstand von ihm unterjocht, ohne daß es jetzt sein Herz beschwerte, dunkel ahnte er aus seinem Betragen, daß sein Schicksal durch ihn eine andere Wendung nehmen müßte, und erwartete den Augenblick mit Sehnsucht. Als sie eines Tages auf der Klippe saßen und das von den Trümmern der Verwüstung bedeckte Thal vor sich liegen sahen, sagte Giafar mit einem tiefen Seufzer:

Aber wozu dieser Sturm? Warum dieser Wolkenbruch?

Ahmet (kalt). Vielleicht um ein fern wohnend, aus Durst verschmachtend Volk zu tränken, einen Boden zu wässern und zu befruchten, dessen Quellen die Sonne vertrocknet hatte.

Giafar. Diese Antwort ist mir nicht neu, und das, was sie in sich faßt, hat mich nur zu oft empört. Mußte er Diese ersäufen, um Jene zu tränken? Hier Weiber zu Wittwen, Kinder zu Waisen machen, damit das Blut Jener gekühlt werde? Wird es ein Trost für diese Unglücklichen sein, daß nun Jene, die ihnen nichts sind und sein können, auf ihre Kosten gerettet worden?

Ahmet. Sie leiden, seufzen, vergessen und bauen wieder auf, was der Sturm zerstört hat; sie können die ewigen Gesetze der Nothwendigkeit nicht, denen sie unterworfen sind, empfangen das Gute aus den Händen der Natur ohne Dank und das Böse ohne Groll.

Giafar. Beim Propheten, auch ich habe das sogenannte Glück der thierischen Stumpfheit in Persien bemerkt, und wenn du damit die Grausamkeiten des Khalifen rechtfertigen willst, so muß es dir freilich unbedeutend scheinen, ob ein Wolkenbruch, der mit der Verwüstung einer Sündfluth herunterstürzt, dasjenige bewirkt, was ein wohlthätiger, unschädlicher Regen eben so wohl hätte thun können. Gehe nun hin, Mensch, und nenne die Natur deine Mutter! Ahmet. Hast du die Wasser gegen die Bedürfnisse der Erde abgewogen und weißt du bestimmt, ob ein sanfter Regen das bewirken konnte, was der Sturm bewirkte?

Giafar. Bei dem Gefühl des Menschen, es ist scheußlich zu denken, daß hier ein Erdstrich mit seinen Bewohnern aufgefressen werde, damit ein ferner, uns unbekannter blühe! Dies ist es, was ich empfinde und was meinen Verstand erdrückt. Wenigstens ist es dem Menschen zu verzeihen, wenn er gegen Den murret, den er sich so mächtig denken soll und den er gleichwohl handeln sieht, wie die beschränkten Sterblichen, die nicht selten gezwungen sind, ein vermeintes und zwar sehr kleines Gute durch ein großes Uebel für sich oder andre zu erkaufen.

Ahmet. So scheint es freilich.

Giafar. Scheint es nur? und dies wäre alles, was ein Mann wie du mir antworten könnte oder wollte? Gleichwohl weißt du, daß dem Menschen Alles nur Schein ist, daß er sich leider damit begnügen muß. – Wenn aber nun einer diesen Schein oder Schleier gewaltsam wegzureißen strebte, um zuzusehen, was er uns verbirgt? Und wenn er nun, indem er das trügerische Gewebe seines Scheinglücks zerstört, die Anordnungen eines Wesens mit zu frechem Blicke musterte, in dessen Macht es stand, unser Glück etwas fester zu gründen, und das sich uns ohne Zweideutigkeit enthüllen konnte!

Ahmet. Mit gleichem Rechte magst du hadern, daß dir die Materie des Lichts ein Geheimniß sei. Ziehe die Sonne dem Erdball näher, das wohlthätige Licht, das dich erwärmte, dir leuchtete und die Saat des Feldes zur Reife trieb, wird Gluth werden und dich und ihn zerschmelzen.

Giafar. Das Bild ist treffend, vielleicht schön; aber es läßt mich kalt, denn ich sehe dieses Thal vor mir.

Ahmet. Wie, und wenn dieses Wesen alles Dieses nun gethan hätte, was du forderst? Wenn es sich nun mir und dir und Jedem offenbart hätte, der mehr auf die innere Stimme, als auf die üppigen Verirrungen eines verdorbenen Verstandes hören will?

Giafar. Ahmet, der Verstand kann hier nicht entscheiden, das Gefühl, das diesen vergleichen lehrt und uns von unserem Elende jeden Augenblick so schmerzlich überzeugt, scheint mir dazu allein berechtigt. Ich habe den Khalifen und seine Sklaven Dinge begehen sehen, die mir die Welt zur Hölle machten. Vor meinen Augen wurde mein edler Vater erdrosselt, weil er es mit der Tugend hielt, und ich Elender fiel in Betäubung vor dem Verschnittenen nieder, der mir im Namen des Tyrannen den dritten Theil seines Vermögens zusagte. Noch glühe ich vor Scham, und nie werde ich diesen Stachel aus meinem Herzen ziehen können. Ich floh und rettete mich in diese wilde, unzugängliche Einsamkeit, wie der bebende Vogel vor dem Geier. Hier glaubte ich mich sicher in Ruhe und hoffte, die Wunden meines Herzens sollten heilen; plötzlich verwüstet ein Wolkenbruch meine Einsamkeit, ertränkt Tausende vor meinen Augen, damit, wie du sagst, ein fernes Volk, das mir und ihnen nichts ist, gerettet werde – es sei so; aber ich sehe hierbei nichts als Unordnung, Mangel und Gebrechen in dem Ganzen und weiß nicht, warum ich vor allen Thieren die so hoch gepriesene Fähigkeit erhalten mußte, dieses recht tief zu fühlen und recht klar zu denken.

Ahmet. Ich begreife es, daß ein fühlender Mensch, der von früher Jugend ein Zeuge der Gräuel der Tyrannei war, der einen so edlen Vater durch sie verlor, und den der Egoismus gegen diese Frevel weder verkälten noch zum Mitschuldigen machen konnte, oft vor diesen Verbrechen zurück starren mußte, fasse es, daß ein solches Schauspiel, worin weder Zweck noch Verstand zu erblicken ist, deine sich eben entwickelnde Vernunft verwirren mußte, und daß du in dieser Betäubung nicht mehr wußtest, ob du den Menschen allein anklagen, oder ob du außer seiner Sphäre die Ursache dieser Uebel suchen solltest. In so weit rechtfertigt dich mein eigenes Herz, und es macht sogar dem deinigen in einem gewissen Sinne Ehre.

Giafar. Ahmet, wer sein Herz einmal gefühlt hat, kann Der kalter Zuschauer dieser Verwüstungen bleiben? Wie kochte es in meinem Busen, wenn ich mein Unvermögen empfand, diesen Gewalthätigkeiten Einhalt zu thun. Oft trieb mich das Nachdenken über die Unvernunft der Tyrannen, die durch ihre Grausamkeiten gegen sich selbst wüthen, bis zum Wahnsinn. Wenn ich dann die Augen aufschlug und den Himmel heiter über diesen schwarzen Gräueln hängen sah, mußte ich nicht denken, er achte unsers Daseins nicht und habe das schreckliche Loos über uns geworfen, noch mehr von der Gewalt unsers Gleichen, als der Gewalt der Natur zu leiden? Kann unser Verstand, der jeden Augenblick durch eine neue peinliche Erscheinung zerrüttet wird, die Wunden des Herzens heilen? Ich spürte den Ursachen dieser Uebel aus allen Kräften nach; aber nur zu geschwind entdeckte ich, daß eben über dem, was der Mensch am begierigsten zu wissen wünscht, und wozu ihn ein innerer, unwiderstehlicher Trieb zu berechtigen scheint, das schwärzeste Dunkel liegt. Da ich nun diesen verworrenen Knäuel nicht selbst loswickeln konnte, versuchte ich es durch die Weisesten der Menschen der alten und neuen Zeit, las ihre Schriften –

Ahmet. Und fandest in dem stolzen Gewebe ihrer Systeme die Beweise der Armuth, der Pein ihres Geistes, das Unerforschliche nicht erforschen zu können. Dein Verstand verwirrte sich von nun an noch mehr, und deine Zweifel wurden stechender.

Giafar. Ach, wie ekelhaft wird uns die Menschheit durch diese Demüthigung, wenn wir sehen, daß Männer, ausgerüstet mit dem feinsten Verstand, mit dem schärfsten Blick, die Alles wissen, was der Mensch durch Erfahrung, Fleiß und Anstrengung erhaschen kann, die Alles durchforscht haben, uns gerade darüber, worüber wir sie fragen, keine befriedigende Antwort geben können.

Ahmet. Dies ist nun freilich demüthigend und sollte uns, deucht mich, von dem Wahn heilen, das erforschen zu wollen, was man uns so geflissentlich verbirgt; aber hast du dich auch je gefragt, ob es zu unserm Glücke so nöthig ist? Ob eine entscheidende Antwort auf die kühne Frage vielleicht nicht das wenige Glück, das wir, wie du selbst nicht leugnen wirst, genießen, gänzlich zerstören würde? So unsinnig wirst du doch nicht sein, den Schleier von dem ungeheuren All, wovon du nur einen unausdrückbaren kleinen Theil umspannen kannst, ganz wegziehen zu wollen? Denn eben so leicht möchtest du die Gewässer des Weltmeers mit deinem Trinkbecher messen wollen. Würdest du nicht über die Ameise, die hier im Moose vor uns kriecht, lachen, wenn sie mit dem Schöpfer haderte, daß sie nicht jenes Gebirge, so wie wir, übersehen kann? Gelänge es uns nun auch, einen Zipfel von diesem Schleier aufzuheben, würden wir mehr als ein kleines Theilchen von einem ungeheuren Ganzen sehen können? Würden wir, da das Ganze über unsere Fassung geht und wir die Theilchen nirgends einzupassen wissen, mehr damit unternehmen können, als mit den übrigen Bruchstücken?

Giafar. Macht diese Ueberzeugung unsere Lage besser? Warum mußten wir einen Theil fassen und begreifen können, da das Ganze über unsre Vorstellung geht? Geschah es darum, um uns lüsterner auf das zu machen, was uns vorenthalten ist? Oder sollten wir darum den unbedeutendsten Theil begreifen, um unsere Beschränktheit, unsere Stumpfheit desto peinlicher zu fühlen?

Ahmet. Vielleicht weil Befriedigung hierüber durch einen einzigen Schlag das ganze moralische Wesen des Menschen vernichten und das edelste Geschöpf des Unnennbaren zwar zu einer vollendeten, aber auch zu einer sehr langweiligen und sich selbst sehr lästigen Maschine machen würde. Barmecide, du hast bisher nach nichts gestrebt und weißt nicht, in wie weit uns der rechte Gebrauch unsrer Kräfte veredeln und weiser machen kann.

Giafar. Weiser?

Ahmet. Ich sage weiser und in eben den Dingen, die dir so dunkel scheinen.

Giafar. (ward ernsthaft und schwieg einige Augenblicke). Ich glaube dich zu verstehen – indessen ist es die Schuld des Blinden nicht, wenn er von den Farben falsch urtheilt. Wozu nützte uns die Dämmerung, wenn wir in Finsternis; wandeln sollen, ohne je das Licht zu sehen.

Ahmet. In deinem Herzen ist Licht, warum löscht es dein Verstand aus?

Giafar. Nach meiner Erfahrung war es das Herz, das den Verstand auslöschte.

Ahmet. Weil beide eine Uebereinstimmung voraussetzen, die nur der Lohn der wahren Weisheit ist. Würden die Menschen mehr auf dieses arbeiten, so würde es mir ein Leichtes sein, dich von dem zu überzeugen, was ich dir nun sagen will. Ich bin nicht so verwegen, es dir für Wahrheit zu geben; welcher Sterbliche vermag dies von Dingen zu sagen, die, wie ich glaube, zu unserm Glück verborgen bleiben mußten. Denn entweder würde durch ihre Entdeckung unsre Kraft stehen bleiben oder sich daran zerschlagen. Ich gebe dir meine Meinung, und dies ist Alles, was über diese Gegenstände der größte und hellste Kopf vermag. Auch bin ich weit entfernt, sie dir aufzudrängen, und noch weniger geneigt, mit dir darüber zu streiten – nur bitte ich dich, spanne deine Erwartung nicht zu hoch; Alles, was ich kann, ist, vielleicht den Zweifeln, die dich quälen, den giftigen Stachel auszureißen, und gelingt mir dieses, so habe ich genug gewonnen.

Giafar. Du hast sie schon durch deine That erschüttert, und das, was ich auf deiner Stirne, in deinen Augen lese, verspricht mir die Heilung der Wunden, die sie hier gerissen haben.

Ahmet. So mag nun mein Gefühl zu dem deinen reden. Mich deucht, man kann, nach Allem, was wir um uns vorgehen sehen, mit Recht behaupten, daß die meisten Plagen der Menschen aus Wahn, Unwissenheit, Stolz und Eitelkeit entspringen, und daß sie eben dadurch die Herrschaft und Politik ihrer listigen Mitbrüder, wo nicht ganz geschaffen, doch wenigstens befördert haben und sie noch in Kraft erhalten. Daraus folgte denn, daß wir den Hauptkampf, den wir im Leben zu bestehen haben, meistens mit Phantomen kämpften, die wir selbst geschaffen haben und durch Feigheit und Gewohnheit unterhalten. Der denkende Mensch fühlt sich zugleich der Natur unterworfen, und je mehr er beobachtet, je stärker überzeugt er sich von dieser zwiefachen Abhängigkeit, dieser seinen Stolz demüthigenden Beschränktheit, und will alsdann das Wiefern und Warum erkennen: will wissen, zu welchem Zwecke er da ist, und kann er keine Antwort erzwingen, so möchte er wenigstens erfahren, warum die Natur, so zu sagen, mit ihm auf halbem Wege stehen geblieben ist und ihn da nur ahnen läßt, wo er Gewißheit fordert.

Aus deinen Aeußerungen vernahm ich, daß dieses dein Fall ist. –

Giafar. Völlig; möchtest du mir doch diese Räthsel lösen!

Ahmet. Umschließt doch auch meinen Geist die Hülle des Fleisches, wie den deinen! Doch laß uns immer weiter in dieser Finsternis herumtasten, vielleicht daß wir hier oder da etwas ergreifen, woran wir uns halten können. Da die Natur immer fortwirkte und immer schwieg, und der Mensch keine bestimmte Antwort auf seine Fragen erhalten konnte, so nahmen endlich sein Stolz und seine Eigenliebe die Auflösung über sich. Auch war er mit dieser Auflösung so wohl zufrieden, daß er sie bald zu Glaubenslehren machte, und so entstanden die Worte Schicksal, Verhängniß, Vorsehung und Leitung höherer, unsichtbarer Wesen. Verstehst du sie?

Giafar. So weit, daß ich die ersten als ein lästiges Joch abschüttle, und was jene höhere Wesen betrifft, so denke ich von ihnen zu erhaben, als daß ich sie zur Ursache oder zu Mitschuldigen unserer Thorheiten machen sollte.

Ahmet. Und doch geschieht dieses, sobald du den Damm mit Gewalt durchbrechen willst, der dich einengt, sobald du dich von deiner Mutter, der Erde, losreißest und in der Höhe suchest, was du nur in dir und nirgends anders finden kannst. – Laßt uns wiederum einlenken. –

Da diese Worte nun einmal da waren, so fanden sich bald Köpfe, die sie mit so viel Schrecken, Furcht und Hoffnung zu umspinnen wußten, daß es ihnen leicht fiel, den Geist und die trotzenden Kräfte ihrer übrigen Brüder in unauflösliche Ketten zu schmieden. Der Mensch, Giafar, konnte nur durch seinen edelsten Theil, auf den er auch noch unterm Joche so stolz ist, zum Sklaven werden, und damit er der Freiheit ganz vergesse, mußte er über den wahren Gebrauch desselben irre geführt werden und ihn nie anerkennen lernen. Er mag nun erst gemeldeten Worten eine Bedeutung geben, welche er will, so ist es doch, wie du selbst äußerst, unmöglich, daß er den Unnennbaren nicht auf die eine oder die andre Art zum Mitschuldigen oder zur Ursache seiner Handlungen mache, da dieser, nach der frömmsten Meinung, die Gräuel, welche dich in der moralischen und physischen Welt so sehr empören, voraussieht, die Macht hat, sie zu hindern, die Gewalt hatte, uns und die Natur anders zu bilden, und nun gleichwohl alle moralische Gräuel zuläßt und der Materie den Samen zu solchen dir mißfallenden physischen Ereignissen beimischte. Du siehst, wie ich mich deiner Meinung nahe.

Giafar. Ich sehe es wohl, aber ich fühle auch den Stachel meiner Zweifel um so schärfer. Ahmet, was würde man wohl von einem König sagen, der die Gabe hatte, die Verbrechen seiner Unterthanen vorauszusehen, und sie darum nicht daran verhinderte, um das Vergnügen zu haben, sie erdrosseln und spießen zu lassen! Dieses gliche so ziemlich unserm Khalifen, wie denn seine Haushaltung überhaupt sich der Haushaltung der Natur zu nahen scheint. Ich sehe voraus, was du darauf antworten wirst; aber eben Das, was man darauf antwortet, verwirrt den Knoten; der Mensch urtheilt nur mit und durch die Sinne, die Kanäle seiner Begriffe und alle metaphysischen Grübeleien führen am Ende dahin, daß man diesen Knoten in Verzweiflung zerhaut.

Ahmet (sehr ernst). Darf dies der Mann, der sich und seinen Werth, sein Gutes und Böses, mit dem Werth, dem Guten und Bösen, Andrer noch nicht abgewogen hat?

Der kalte und ernste Ton, womit Ahmet dieses sagte, verwirrte Giafarn. Er erröthete und sah vor sich hin.

Ahmet. Vielleicht werde ich das nicht antworten, was du zu erwarten scheinst. Ich gestehe dir vielmehr ein, daß du mit Recht dem Meister die Fehler seines Werks zuschreibst und folglich mit gleichem Rechte dem Urheber der Welt, den du hier unter dem menschlichen Begriff von Werk- und Baumeister denkst, die vermeinten oder wirklichen Gebrechen dieser Welt –

Giafar. O Ahmet, beinahe fürchte ich, du nimmst deine Zuflucht zu den zwei berühmten, sich entgegenstrebenden Geistern und suchst den Samen des Nebels in der Materie, den Ahermen hineingepfuscht haben soll. Wahrlich eine so unsinnige Meinung, daß sie den Schöpfer der Welt mehr herabwürdigt, als die verwegensten Zweifel.

Ein kaltes, spöttisches Lächeln bildete sich um den Mund Ahmets; er blickte scharf in die Augen Giafars, der sein Herz in diesem Augenblicke von einer sonderbaren Empfindung zusammengedrängt fühlte.

Ahmet fuhr fort:

Wenn wir nur diesen Ahermen oder Geist des Bösen schon gefunden hätten?

Giafar. Wie das? Wo?

Ahmet. Ich hätte vielleicht vor allen Dingen fragen sollen, ob denn dieses so geradezu Gebrechen sind, und ob es nöthig ist, eine entfernte Ursache aufzusuchen, da uns die wahre so nahe liegt.

Giafar. So nahe – nun –

Ahmet. Du sollst sie aus dem Folgenden selbst herausnehmen. Höre dann, was Ahmet über den Menschen, seinen Zweck und über die Hebel denkt, die dich so empören, daß du deiner Kraft zum Guten selbst vergißt.

So wie das ganze Geheimniß der Natur in dem Menschen, Ideen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, nur darin besteht, daß sie ihn empfindlich für Schmerz und Vergnügen machte, so scheint seine moralische Entwicklung bloß davon abzuhängen, daß sich in der Gesellschaft sein Sinn für Ordnung, das Gute, ihm und andern Nützliche, entfalte. Der Unbegreifliche hat diesen Sinn von moralisch Gutem und moralisch Bösem in unsern Busen an Selbstliebe und Selbsterhaltung geknüpft, dem Menschen Vernunft zu unterscheiden. Verstand zu erwägen, Willen zu wählen gegeben und ihn dadurch von allen uns bekannten Geschöpfen abgesondert. Dieser Sinn ist zugleich mit seiner physischen Natur aufs innigste verwebt und hängt mit ihr, so sein, geistig und erhaben du auch deine moralischen Verhältnisse betrachten magst, aufs genaueste zusammen. Nie würden die moralischen Empfindungen (denn dieses sind sie mehr, als Räsonnements) haben Wurzel fassen können, wenn sie mit unserem physischen Wohlsein nicht verknüpft wären, so aber wird das Wohlbehagen unsers zwiefachen Daseins nur durch die reine Verbindung beider befördert, oder durch den Mißbrauch des einen oder des andern gestört und oft ganz zerrissen.

Diese moralischen Pflichten und Verhältnisse entstehen, sobald die Menschen in Gesellschaft zusammentreten. Der Samen dazu liegt in ihrer Natur, entwickelt sich durch das Streben, ihren Zustand immer zu verbessern, aus dem Gefühl der Selbsterhaltung, der Sorge für sich und Andere, und es erfordert weiter keine höhere Macht, diesen Keim herauszutreiben. In dem Fortlauf der Zeit entwickelt sich Dieses alles in das Feinere, wird endlich von spekulativen Köpfen aufgefaßt und in Systeme von Recht und Unrecht, moralischen und politischen Pflichten und Verhältnissen geformt. Da nun dieses auf verschiedene Art und nur gradweise geschieht, so sind darum die moralischen Begriffe eines Volkes die bestimmten Zeichen seiner Rohheit, Kultur, Regierungsverfassung, seines edlen Zustands und seiner Verderbniß. Hier arbeitet also die politische Verfassung entweder gleichförmig mit der moralischen Stimmung des Menschen, oder gegen dieselbe, nach ihr angemessenen oder widerstrebenden Gesetzen und bestimmt den Begriff vom moralisch Guten und moralisch Bösen, veredelt oder zerrüttet die menschliche Natur. – Um es noch sinnlicher zu machen: so wie der Unnennbare in Steine, Pflanzen und Metalle den Druck und Stoß zu ihrer Entwicklung gelegt hat, daß sie durch fest bestimmte und dem Zweck gemäße Veränderungen gehen müssen, um Marmor, Ceder oder Gold zu werden, ebenso hat er das Streben, sich zu vervollkommnen und seine verschiedenen Kräfte auf dem Wege dahin zu äußern, in den Menschen gelegt. – Scheint dir dieses anders?

Giafar. Die Erfahrung spricht dafür; indessen dünkt mich, dieser Satz ließe sich auf jeden Gegenstand der Natur eher anwenden, als den Menschen, der, wenn er einen gewissen Punkt der Verfeinerung erhalten hat, seinen Originalcharakter ganz auszuziehen scheint und alsdann seine moralischen Verhältnisse so zernagt, daß es oft zum Räthsel wird, wie die Bande noch zusammenhalten.

Ahmet. Und wer kann die Grenzen des Menschen bestimmen? Wer kann sagen, er überschreitet seine Natur, sobald er über diese oder jene Linie tritt? Wo ist seine Natur? Ist er nicht Alles, was er ist, vermöge seiner Natur, er befinde sich, wo er wolle, unter den Horden der Wilden oder in dem Gewühle üppiger Städte? Glaubt nicht Jeder, da wo er sei, sei auch des Menschen wahre Lage? Das moralische Element des Menschen, wenn ich es so nennen darf, ist grenzenlos wie seine Einbildungskraft. Er mußte Alles werden können, wenn der Mächtige ein Wesen aus ihm machen wollte, das sich selbst Quelle seiner Selbstständigkeit und Bewirker seiner moralischen Schöpfung sein sollte. Und eben dieses ist es, was ich Entwicklung seiner Kräfte nenne.

Giafar. Ein stolzer Gedanke, der stark in meinem Herzen faßt.

Ahmet. Vielleicht, daß er Licht in deinem Geiste anzündet. – Nur dadurch konnte ihm die Pflicht auferlegt werden, den Gebrauch seiner Kräfte zu verantworten. Dadurch wird der Sklave von seiner drückenden Kette befreit, und er darf es nicht mehr wagen, seine Laster mit seinem niedrigen Zustand zu entschuldigen.

Giafar. Und was hinderte den Mächtigen, uns gleich vollkommener zu machen? Warum legte er den Funken zu gefährlichen Leidenschaften in unser Blut, der, sobald er Flamme wird, das Streben nach dem Guten so schnell und leicht aufzehrt? Sind wir nicht ihr Sklav? Ist unser Leben nicht ein rastloser Kampf mit den uns aufgedrungenen Tyrannen?

Ahmet. Frage dein Herz, Giafar, ob es sich der Ketten nicht schämt, womit es deine Verirrungen fesselt? Hat er dir nicht einen warnenden Geist in den Busen zum Wächter bestellt, den du erst einschläfern, dessen Stimme du erst betäuben mußt, wenn du von dem Wege weichen willst, den er dir zeigt? Und wo bliebe alsdann dein eignes Verdienst, das Werk deines Herzens, der Lohn des Kampfes, des Sieges deiner Vernunft über diese gefährlichen Leidenschaften? die Wahl zwischen Guten und Bösen, deine Freiheit, der Ursprung deiner Große, deines Stolzes, wenn auch oft deines Elends! Wo das erhabene Vorrecht, das dich von allen Geschöpfen der Erde unterscheidet, deine Kräfte zu nutzen, wie es dir gefällt, und dein Wirken als Folge deiner freien Entschließungen anzusehen? Du kannst den Drang deiner innern Natur bemeistern, wenn du willst. Gute Thaten läßt sich Keiner nehmen, und Jeder sieht sich nur dann nach Mitschuldigen um, wenn er vor seinem Gewissen erschrickt oder schlechte laut verantworten soll. Vollkommen wäre der Mensch ohne Verdienst, weil es ohne Kampf wäre; frei und nur fähig, vollkommner zu werden, wird jede seiner Tugenden und edlen Handlungen sein Werk, die er zwischen sich und seinen Schöpfer als Beweise seines Werths hinstellt.

Giafar. Ahmet, du erhebst meine Seele aus dem Staube und gibst meinem Geiste die Freiheit! O daß ich nie mehr von dieser stolzen Höhe heruntersänke, die ich an deiner Seite zu ersteigen strebe!

Ahmet. Du wirst dich in dieser Höhe erhalten, wenn du dich davon ganz überzeugest, daß der Mensch, durch seinen innern Sinn und freien Willen, Herr und Schöpfer seines Schicksals, Vollender seiner Bestimmung ist. Er kann durch seine Thaten, durch sein Wirken den Gang der moralischen Welt stören, zerreißen oder befördern. Nach seiner Lage und seinem Wirkungskreise ganze Völker glücklich oder unglücklich machen, und das ganze Menschengeschlecht zusammen von dem Bettler bis zu dem König, jedoch nach seinem Einfluß, ist der Werkmeister der sogenannten moralischen Welt. Ueberzeugt von dieser einfachen Lehre, wirst du bei jeder deiner Handlungen auf ihre Folgen sehen. Und wird sie nicht deinen Geist erheben, da sie dich von allem Zwang, allem Druck jener eisernen Nothwendigkeit befreit? Nur sie macht dich zu einem selbstständigen Wesen und setzt dich mit deinem Urheber in die innigste und reinste Verbindung, wenn du seinen Zweck erfüllst und die Harmonie der Welt befördern hilfst.