Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit - Friedrich Maximilian Klinger - E-Book

Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit E-Book

Friedrich Maximilian Klinger

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Beschreibung

Dieser zeitgenössische Entwicklungs- und Bildungsroman gehört zu Klingers Hauptwerken. Sein Drama Sturm und Drang wurde namensgebend für eine ganze literarische Strömung und gehört zu seinen bekanntesten Werken.

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Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit

Friedrich Maximilian Klinger

Inhalt:

Friedrich Maximilian von Klinger – Biografie und Bibliografie

Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit, F. M. Klinger

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849629557

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Friedrich Maximilian von Klinger – Biografie und Bibliografie

Deutscher Dichter, geb. 17. Febr. 1752 (nicht 1753) in Frankfurt a. M. als Sohn eines Stadtartilleristen, gest. 25. Febr. 1831 in Dorpat, verlor früh seinen Vater, der die Seinigen in den dürftigsten Umständen zurückließ, half sich durch eignen Fleiß und Energie weiter, besuchte bis 1772 das Frankfurter Gymnasium und trat in Beziehung zu Goethe und dessen Freundeskreise. 1774 ging er nach Gießen, um die Rechte zu studieren. Viel eifriger als mit diesen beschäftigte er sich indes mit schöner Literatur. Im Sommer 1776 ging er zu Goethe nach Weimar, im Oktober nach Leipzig als Theaterdichter der Seilerschen Truppe, mit der er bis Februar 1778 umherreiste. Alsdann lebte er einige Zeit auf Reisen durch Deutschland, machte als österreichischer Leutnant den Bayrischen Erbfolgekrieg mit und ging 1780 in russische Dienste nach Petersburg. Er erhielt 1780 eine Offizierstelle und zugleich den Adelsrang, ward bald darauf Hofmeister bei dem damaligen Großfürsten Paul und begleitete denselben auf einer Reise durch fast ganz Europa. Er stieg unter den Kaisern Paul und Alexander I. in militärischen Würden rasch empor, verheiratete sich 1790 mit einer natürlichen Tochter der Kaiserin Katharina und wurde 1798 Generalmajor, 1811 Generalleutnant. 1803 wurde er zum Kurator der Universität Dorpat ernannt, welche Stelle er bis 1817 bekleidete. 1820 suchte er um Enthebung von allen seinen Ämtern nach, zog sich aber erst 1830 ganz zurück. Von Klingers zahlreichen dramatischen Werken, die meist in die erste Hälfte seines Lebens fallen, heben wir hervor das Trauerspiel: »Die Zwillinge« (verfaßt 1775), in dem, wie in so vielen Dramen der Geniezeit, ein feindliches Brüderpaar im Mittelpunkte der Handlung steht, und das 1776 bei dem sogen. Schröderschen Preisausschreiben den Vorzug vor Leisewitzens »Julius von Tarent« erhielt. Von dem wild verworrenen renommistischen Schauspiel »Sturm und Drang« empfing die ganze Epoche, in der es entstand, den Namen (s. Deutsche Literatur, S. 703 f.). Außer den Dramen (gesammelt als »Theater«, Riga 1786–87, 4 Bde., und »Neues Theater«, Leipz. 1790, 2 Bde.) veröffentlichle K. eine Anzahl meist derb-realistischer Romane, in deren ausgedehnten Reflexionen seine Verehrung für Rousseau stark zur Geltung kommt: »Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt« (Petersb. 1791), »Geschichte Giafars, des Barmeciden« (das. 1792), »Geschichte Raphaels de Aquilas« (das. 1793), »Reisen vor der Sündflut« (Riga 1795), »Geschichte eines Deutschen der neuesten Zeit« (Leipz. 1798), »Der Faust der Morgenländer« (Riga 1797), »Der Weltmann und der Dichter«, sein bestes Werk, eine Leistung voll Kraft und psychologischer Feinheit (Leipz. 1798), und »Sahir, Evas Erstgeborner im Paradies« (das. 1798). Die Summe seiner Welt- und Lebenserfahrung hat er in aphoristischer Form niedergelegt in den inhaltschweren »Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und Literatur« (1803–05). Eine Sammlung des Besten seiner Werke hat K. selbst veranstaltet (Königsb. 1809–15, lu Bde.; neue Ausg., Stuttg. 1842, 12 Bde.); eine andre Auswahl erschien in 8 Bänden (Stuttg. 1878–80). Vgl. Erdmann, Über F. M. Klingers dramatische Dichtungen (Königsberg 1877); E. Schmidt, Lenz und K., zwei Dichter der Geniezeit (Berl. 1878); M. Rieger, Friedr. Maxim. K. Leben und Werke (Darmst. 1880–97, 2 Bde.); L. Jacobowski, K. und Shakespeare (Dissertation, Freiburg 1891).

Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit

Erstes Buch

1.

Der teutsche Mann, dessen Geschichte ich, aus mir selbst aufgelegter Pflicht, zu schreiben unternommen habe, ist durch seine ihm eigne Denkungsart und besondre Stimmung des Herzens ebenso merkwürdig als durch sein Schicksal. Für mich war er eine Erscheinung in der moralischen Welt, einem Luftzeichen ähnlich, das durch seinen strahlenden Ausfluß die Augen so lange ergötzt, als es sich noch am fernen Horizont bildet; zieht es aber im düstern Dunstkreise den Bogen des Himmels herauf, so fliehet der Haufen vor der ihm zweideutigen Erscheinung, und nur der Kundige freut sich, wenn auch unter kleinem Schauder, eine nicht alltägliche Wirkung der Natur gesehen zu haben. Unter diesem Bilde stelle ich euch Ernst von Falkenburg als Jüngling und Mann dar. Als er in blühender Jugend die Bahn des tätigen Lebens betrat, zog er die Blicke der Menschen auf sich; als er aber die Mitte derselben kaum erreicht hatte und Bosheit und Wahnsinn seinen Glanz verdunkelten, ward er eben diesen Menschen ein Gegenstand des Schreckens, des Abscheus. Was er dem Kundigen werden wird, hängt von dieser Geschichte ab. Hier, wo nur Wahrheit spricht, wo nur sie Zweck ist, zieht sich der Schriftsteller zurück.

Von ihr allein geleitet, soll und muß ich dartun, warum, wie und wodurch Ernst von Falkenburg aus dem mildesten, freundlichsten und edelsten Jüngling ein Mann geworden ist, den man in den Gegenden seines Aufenthalts nur zu nennen braucht, um die Herzen erkalten oder ergrimmen zu sehen; den man nie nennt, ohne daß eben die Lippen, welche einst nie ermüdeten ihn lobzupreisen, den Spruch des Hasses und der Verwerfung über ihn aussprechen.

Ich muß der Welt zeigen, warum ihn seine Lästrer verkennen, und es soll aus seiner Geschichte hervorgehen, daß keiner der ihn so schnöde und schonungslos Richtenden je nur das erhabene Gefühl geahndet hat, das sein Führer im Leben war, welches ihn nun auf einen Punkt des moralischen Daseins geführt hat, worauf ich ihn zwar mit ängstlichem Schauder, aber mit dem Schauder, den Bewunderung erzeugt, stehen sehe. Seine Lästrer sollen einsehen, daß er sich selbst nie untreu ward, daß er sich noch jetzt treu ist und daß sie in dem Verdammungsspruch über ihn nur sich, ihrem Wahne und ihrem gesamten Wesen, Denken und Tun das Urteil sprechen. Doch diejenigen, mit welchen er nie etwas gemein hatte als die Erde, die sein Fuß nur betrat, sie, deren Weg von dem seinen so weit entfernt liegt als die Heerstraße, die der Karrnführer im nassen Herbste durchackert, von der Sonnenbahn, auf welcher der Gott des Lichts seinen fliegenden, feurigen Wagen lenkt, werde ich ihm schwerlich zuführen. Auch kümmert mich ihr Urteil ebenso wenig als den Mann, von dem ich zu euch rede, und ich halte mich für belohnt genug, wenn ich für ihn die Teilnahme, das Mitleiden, die richtige Erkenntnis seines Zustands einiger Edlen unseres Volks gewinne. Mit ihnen war er immer verwandt und ist es jetzt noch, da er, getragen von dem Gefühl, wodurch er ihnen gleicht, über der Brandstätte seines herrlichen jugendlichen Gebäudes emporgehalten schwebt und sein düstrer männlicher Geist über die Leiche des Jünglings stille klagt, der unter dem dampfenden Moder in Asche zerfiel. Nie konnte er ganz fallen, weil er fühlte, was er als Jüngling war, was ihn als Jüngling beglückte, weil er über den Schauplatz von seinem einsamen Schlosse hinsieht, auf welchem seine schönen blühenden Jugendträume, seine edlen Entwürfe und die versprechenden Keime uneigennütziger Tugenden entstanden, sich bildeten und entwickelten.

In diesen muß ich euch führen; denn der Schauplatz der Jugend hat auf Menschen der Art, wie der Mann ist, dessen Seele ich euch nun zu enthüllen beginne, nicht mindern Einfluß als die Felsenklippen in der Einöde, zwischen welchen der Adler nistet, und der Myrtenbusch im geselligen Rosengarten, auf welchem die Nachtigall den jungen Sänger der Liebe erzieht, auf die Brut des Königs der Luft und die Brut des Sängers der zärtlichen Gefühle.

2.

Nicht weit von den Ufern des *** Flusses lag auf einer Anhöhe das Schloß der Herren von Falkenburg, seit Jahrhunderten im Besitze dieses edlen Geschlechts. Ein biedrer, treuer teutscher Sinn hatte mit dem alten, festen Felsenschlosse in diesem Geschlechte fortgeerbt und wurde vermutlich dadurch so unverfälscht erhalten, daß sie den größten Teil ihres Lebens hier zubrachten. Ein dichter Eichenwald, der unsern Urvätern, den alten Germaniern, Schatten verliehen zu haben schien, empfing den Knaben in seinem kühlen feierlichen Dunkel. Felsen, mit der Erde geboren, lockten ihn auf ihre Höhe, daß er von ihren Spitzen die Anmut, den Reichtum, die Herrlichkeit und Macht, womit die Natur die Gegend so schön und erhaben geschmückt hatte, in einem Überblicke genösse. Eine Höhle in dem nahen Gebirge, zu deren düsterem, weitklaffenden Schlunde man durch Felsenkrümmungen mühsam gelangte, in deren Mitte die Natur ein kühnes wunderbares Werk gebildet hatte, indem sie einen großen Raum zu einem Riesensaale wölbte und die ganze Masse des Gebirges auf ungeheure wild und regellos geformte und geordnete Säulen stellte, die verschlungen in labyrinthischen Gängen endlich zu einem Abgrunde führten, welcher sich, der Sage nach, weit unter dem Flusse weg verlor, lud die Seele des Jünglings zum Nachsinnen über die dunkeln Geheimnisse der Ober- und Unterwelt und ihre mächtigen, unfaßlichen Kräfte ein. Fleiß und Kunst hatten die wilden Striche der Gegend mit Wiesen, Feldern und anmutigen Gärten durchschnitten. Betriebsame, gesunde und ruhige Bewohner belebten diesen großen und lieblichen Schauplatz und prägten dem heranwachsenden Jünglinge früh ein reines, sanftes, durch die glückliche Beschränktheit einfaches und leicht zu fassendes Bild des menschlichen Lebens in das zarte Herz.

Glückliche Bewohner dieses Bezirks! Ihr kanntet keine Klagen über die Menschheit und ihr Elend, da ihr ihre Torheiten, ihre Laster, ihren Wahn, die Quellen dieses Elends, nicht ahndetet. Euer froher Sinn, eure Genügsamkeit, eure Geduld und eure Hoffnungen, bei dem unabänderlichen Leiden, das uns die Notwendigkeit aufgebürdet hat, um ihre geheimen Zwecke zu befördern, bewahrten selbst die Bewohner des Schlosses vor dem Mißbehagen, dem Mißmut, dem grämlichen Nachsinnen, nicht selten dem einzigen Gewinn des verfeinerten Teils der Bewohner der Erde. Ja selbst der Städter, der Welt- und der Hofmann vergaßen, wenn eure reine Luft sie anwehte, der große Schauplatz eures Wirkens sie in Erstaunen setzte und eure gesunden Kinder sie anlächelten, was sie Bittres in der Welt erfahren, was sie sich durch Wahn und rastloses Jagen nach Glück zugezogen und was sie der leicht- und tiefsinnige Philosoph über das Menschengeschlecht und seine Bestimmung gelehrt hatte. So ist das Leben auf dieser unsrer Mutter, der Erde, nur denen kein Rätsel, die sie im Schweiße ihres Angesichts bebauen.

Hier nun erblickte Ernst von Falkenburg das Licht der Welt, hier empfing seine Seele die ersten lebendigen und kräftigen Eindrücke der Natur und nahm für immer die Farbe der Gegenstände an, die ihn umgaben. Unter solchen Menschen keimten die ersten, einfachen, reinen, moralischen Gefühle und Gesinnungen in seinem Herzen auf. Sein Vater, der im *** Dienste beim Anfange des Siebenjährigen Kriegs so schwer verwundet ward, daß er jahrelang darnieder lag, erwählte nach seiner Wiedergenesung den ruhigern Reichsdienst, um wenigstens etwas für eine Verfassung zu tun, die er aus Vaterlandsliebe schätzte und als unmittelbarer Reichsritter, als Herr solcher Untertanen zu schützen alle Ursach hatte. Seinem Ernst gesellte er einen Jüngling zu, den ihm sein Jugendfreund und Dienstgefährte nach der blutigen Schlacht bei Zorndorf als Erbschaft hinterlassen hatte; und er erfüllte dessen Pflicht mit so vieler Treue und Zärtlichkeit, daß er das Glück genoß, Vater zweier hoffnungsvoller Söhne zu sein.

Diesen beiden Jünglingen gab er Hadem, den Feldprediger seines ehemaligen Regiments, zum Führer, den er wegen einiger nicht gewöhnlichen Taten nie vergessen konnte und den er für ebenso bescheiden, klug und rechtschaffen als unterrichtet hielt. Er machte ihm Bedingungen, wie sie der teutsche Adel selten macht, und nahm ihn auf, wie der teutsche Adel selten Männer aufnimmt, denen sie so viel anvertrauen.

Hadem trat zu seinen Zöglingen mit Offenheit und Vertrauen und ward von ihnen in eben dem Geiste aufgenommen, mit welchem er sich ihnen nahte. Er faßte dadurch ein gutes Vorurteil für seinen Beruf und entdeckte bald mehr als er erwartete.

3.

Hadem ward früh gewahr, daß Ernstens Dasein und Wirken mehr in seinem Innern ruhte, sich mehr gegen dieses richtete als nach außen und um sich her. Er bemerkte schon in den ersten Tagen, daß er ohne Aufwand und Geräusche höher und tiefer empfand und dachte als Ferdinand von *** mit dem lebendigsten Ausguß und Gebrause einer feurigen Einbildungskraft; mit einem Worte, er sah, daß sich die Welt in der Seele Ernstens abspiegelte und Ferdinands Seele in der Welt. Er hielt diese Entdeckung für so wichtig, daß er seine Erziehung darauf bauen zu müssen glaubte. Fragen und Proben überzeugten ihn in kurzer Zeit, daß in Ernsten vermöge seiner moralischen Kraft der Stoff zu einem Manne verborgen läge, der einstens wohl das Wagestück mit seinen Sinnen, der Welt und dem Schicksale bestehen könnte; daß Ferdinand, mehr auf den Flügeln einer warmen Phantasie getragen, zwar kühnere Dinge unternehmen möchte, das Maß seiner moralischen Kraft aber sehr schwer mit der Leichtigkeit und Kühnheit seines Wollens und Begehrens in ein richtiges Verhältnis treten würde. Nach diesen Beobachtungen fürchtete er nur für den letztern. Er strebte nun, die moralische Kraft in Ernsten zu entwickeln, ihn durch dieselbe über alle Ereignisse des Schicksals zu erheben und in Ferdinand die Einbildungskraft mehr in Einverständnis mit der seinigen zu bringen, ihn so fest daran zu knüpfen, daß er bei den feurigen Aufwallungen der Begierden und den ersten Schlägen des Schicksals nicht erläge, jenen nicht auf Kosten seines bessern Werts nachgäbe oder vor diesen, um denselben hohen Preis, sich zu bergen suchte.

In diesem Sinne unternahm Hadem die Bildung der Jünglinge; und da er mehr entwickelte als lehrte und nichts lehrte, was nicht mit seinem Hauptzwecke in Verbindung stand, so bildete sich der Geist aus der moralischen Kraft des Herzens, und jede neue Kenntnis und Anschauung dienten nur dazu, diese zu verstärken, zu erheben und zu veredeln. Durch den milden und schimmernden Glanz guter und großer Taten des Altertums und der neuern Zeit führte er sie mit der Erlernung der Sprachen zur Kenntnis der Welt und der Geschichte. Ferdinands lebhafte Einbildungskraft folgte der Bahn der Helden. Er erkämpfte ihre Siege mit ihnen, zog mit ihnen die Augen der Menschen auf sich, genoß ihres Ruhms, sprang an das Ziel, pflückte mit ihnen den Lorbeer, und, trunken von dem Siegesgeschrei, verblendet von dem Glanze der Taten, übersprang sein feuriger Geist die Mühe und Aufopferungen, die sie erforderten, übersah er die Mittel und die Folgen dieser täuschenden Taten für ihre Urheber, ihr Glück und das Glück ihrer Zeitgenossen. Nur auf dem Siegeswagen erblickte er die Helden der Vorwelt, und ihr schimmernder Glanz verbarg ihm sowohl ihr wahres Bild, als das Bild der echten Menschengröße.

In tiefer Stille aber betrat Ernstens Geist jenes Land der reinen, erhabenen Tugend, das die Menschen idealisch nennen, weil sie, versunken im Schlamme des Eigennutzes und der niedrigen Begierden, das Gefühl bis zur Ahndung verloren haben, daß der Mensch sich nur als Bewohner dieses Landes von den Tieren unterscheidet, daß wir dieses unsichtbare Land nicht nur ahnden, daß wir uns bis in sein innerstes Heiligtum schwingen können. Wer es erreicht hat, ist über das Schicksal erhaben, ihn tragen für immer die Fittiche der hohen und echten Begeistrung der Dichtkunst, die nur aus jenem Lande die Farben und die Kraft zu ihren Darstellungen erhält. Es eröffnet sich den Geistern der Geweihten in dem Augenblicke, da die moralische Kraft ihres Herzens die Wolken durchdringt und dort ihr Dasein mit höhern Zwecken verknüpft. Die dieses Land betreten, werden von der Beherrscherin desselben mit hohen Gesinnungen, mit unüberwindlichen Waffen zum Kampfe ausgerüstet, und ihre Taten, ihre Gedanken und ihre Empfindungen tragen das unnachahmliche Merkzeichen ihres wiedererrungenen Vaterlands an sich. So sind alle großen und edlen Menschen, die von dem Wege des Haufens abtraten und Gutes, Wahres, Edles denken, tun und laut sagen, die Bewohner jenes unsichtbaren Landes, das die Menge nicht ahndet und durch dessen Einfluß gleichwohl auch sie von diesen unter sich verwandten Geistern zu den Zwecken geführt werden, welche der erhabenste Geist dem Menschengeschlecht dort aufgestellt hat. Daher entspringt das Eigentümliche, Kräftige, Feste und Sichre jener Dichter, tätiger Menschen und Helden, und umsonst bemühen sich alle andern, die sich über die Erde, ihre Verhältnisse und die Vorteile, die sie gewährt, nicht erheben, den sichern Schwung, die feste Haltung in Wort und Tat nachzuschweben oder nachzuahmen; ihre Handlungen, wie ihre Darstellung, sind nur Abdrücke ihres eignen, um sich besorgten Selbsts. Ihre kalte, berechnende Vernunft, die über Tat und Darstellung wuchernd und künstelnd dasitzt, entfernt den Geist jener Geweihten. Ernst drang in die Mitte dieses Heiligtums und ward da zum Dichter für dieses Leben eingeweiht. Ungern setze ich zur Erläuterung dieses Worts hinzu, daß er seine Gefühle weder in Versen noch in Prosa der Welt mitgeteilt hat, daß er Dichter in einem Sinne war, den ich nicht nötig hätte anzudeuten, wenn Dichter dieser Art so gemein wären, als es diejenigen sind, die sich darum Dichter nennen, weil sie die Spiele ihres Witzes und ihrer Phantasie in wohlklingenden Versen zur Schau ausstellen. Die Spuren der Theorie der Dichtkunst, von welcher ich rede, findet man ebenso selten in geistigen Darstellungen als in Taten und Handlungen; denn ich rede von der hohen moralischen Kraft, die allein den Helden und den Dichter macht und ohne welche es zwar mancher durch Talente und glückliche Umstände scheinen, aber nie es wirklich in seinem Innern sein kann.

Gleich der Tochter Jupiters, mit Schild und Speer bewaffnet, sprang die Göttin, welcher sich Ernst im stillen weihte, plötzlich aus seinem Herzen: mit dem Speer, um die niedrigen Ungeheuer, die Feinde des Lichts und der Wahrheit, zu bekriegen, mit dem Schild, um den Liebling gegen die Pfeile des Schicksals, gegen die Angriffe des Neides und der Bosheit zu decken. So schwebte sie vor ihm, so wandelte er, ein anderer Telemach, an der Seite der unsichtbaren, erhabenen Führerin: von ihr war Hadem ihm zugesellt. Selbst in reifern Jahren verließ ihn dieses über ihm schwebende jugendliche Bild nicht; und oft, wenn ihn alles verließ, wenn er in Gefahr war, sich selbst zu verlassen, trat es in seiner ganzen Klarheit aus den verdunkelten Wolken hervor.

Schon lange war Ernst in dieses idealische Land gedrungen, schon hatte er sich dort angepflanzt, es gleich den Gärten der Hesperiden ausgeschmückt und mit den Geistern bevölkert, deren Asche um ihn her zu lebendigen Wesen wurde, ehe Hadem bemerkte, daß der Jüngling das Irdische übersprungen, das Land seines Ursprungs erobert hätte und sich dort an der Tafel der Unsterblichen labte.

Ein besondrer Vorfall mußte ihm dieses entdecken. Oft gingen die Jünglinge durch den Eichenwald, in welchem ihre Phantasie die vergangenen Zeiten träumte, sie mit den jetzigen verband, wieder trennte und alle tätig im Geiste durchlebte, nach der Höhle im nahen Gebirge. In dem Riesensaale der Höhle überfiel sie das erhabene Erstaunen, der gedankenvolle geheime Schauder, der uns bei den mächtigen Gegenständen der Natur ergreift; und aus diesen Gefühlen erwachten in der Seele der Jünglinge das Nachsinnen und Ahnden über die Höhe, Tiefe, den Zweck, die Mittel alles Geschaffenen, der denkenden, der fühllos scheinenden Wesen, die diese Schöpfung beleben und darstellen.

Ferdinand nannte den Riesensaal den Tempel des Ruhms, weil ihn keine menschliche Kraft zerstören könnte, weil er so alt wäre als die Welt und so lange als sie dauern müßte. Ernst nannte ihn den stillen Tempel der Tugend, weil ihn Menschenhände nicht gebaut hätten. Ferdinand schuf die Säulen um sich her zu Denkmälern der von ihm bewunderten Helden und nannte sie nach ihnen. Ernst behielt sich, fern von den Denkmälern seines Gespielens, nur eine Blende in der Felsenwand des Bergs nahe bei dem Abgrund vor, deren Mitte zu einer Stunde des Tags ein Lichtstrahl traf und erleuchtete.

Eines Tages drangen die Jünglinge weiter in dieses unterirdische Labyrinth als sie bisher noch gekommen waren. Ihre Schritte und abgebrochenen Worte hallten dumpf an den Felsen. Ohne Verabredung schien jeder von ihnen das schwere Rätsel der Natur in ihrem düstern, geheimnisvollen Schoße auflösen zu wollen. Hand in Hand wandten sie sich forschend aus einem Gang in den andern. Auf einmal standen sie beide vor dem ihnen bekannten Abgrund, der sich der Sage nach in einem Gange unter dem Fluß weg endet und nach einem Gebäude führt, von dem die Bewohner der Gegend viele wunderbare Geschichten zu erzählen wußten. Und eben dieses Wunderbare entflammte Ferdinands Phantasie; seine aufkeimende Ehrbegierde sah in diesem Dunkel seine erste Heldentat vergraben. Zuckend drückte er Ernstens Hand, und sein kühner Vorsatz sprang durch die Adern in Ernstens Herz über. Er erwiderte den Druck und zog ihn sanft zurück. Nun erst erglühte Ferdinands Einbildungskraft, und er rief in einem starken Tone:

»Ernst, ich will hinunter, das Geheimnis enthüllen und aus dieser Finsternis an das Licht bringen. Herkules stieg in den Schlund des Orkus, um den Höllenhund herauszuziehen – ich muß der erste sein, über dessen Haupte der Strom hinrollt!« Ernst bewies ihm das Verwegene und Unsinnige des Unternehmens, die Unmöglichkeit der Tat und der Rückkehr, die unvermeidliche Gefahr des Todes und reizte durch den Widerspruch Ferdinands stolze Kühnheit nur um so mehr. Schon machte er Anstalten, den Abgrund hinabzugleiten, als Ernst vor ihn trat und entschlossen zu ihm sagte:

»Du willst? Wohlan! so warte nur eine Sekunde. Den Weg der Gefahr muß man nicht so langsam kriechen, wie du tun willst, man muß ihn überspringen. Dieses will ich nun tun. Tritt zurück.«

Ernst war im Begriff den Sprung zu wagen, als ihn Ferdinand umfaßte, an sein Herz drückte, seine Wangen und Lippen küßte und, vor Freude bebend, rief:

»Ernst! ich weiß, warum du es tun wolltest! Mich, der eine Tollheit begehen wollte, durch eine wahre Heldentat zu retten!« »Eine Heldentat?« erwiderte Ernst ruhig.

FERDINAND: Wäre sie es nicht, da der Tod, wie du selbst sagtest, bei der Tat unvermeidlich ist?

ERNST: Könnte sie es sonst sein? Aber daran dachte ich gar nicht. Würde ich dir nicht ohnedies gefolgt sein, wenn du die Tollheit, wie du es nun selbst nennst, begangen hättest? Sollte ich ohne dich zurückkehren? Freilich hätten vielleicht mein guter Vater und der gute Hadem nie erfahren, was aus uns geworden wäre. – Und, Ferdinand, sprang ich allein hinein, so hatte ich auch mehr Hoffnung als du, an das Licht zurückzukehren. – Dein Führer war ja nur die Ruhmbegierde, aber ich – ich trat unter den Schild einer Göttin, die mich nicht verlassen, die mich in diesen Schlund begleitet hätte.

FERDINAND: Und wer ist diese Göttin?

ERNST: Die Tugend, die, wie Hadem sagt, ruhig und prunklos einhergeht, die denen immer zur Seite steht, welche den Pfad nach ihrem erhabenen Tempel wandeln. Erinnerst du dich, wie uns Hadem vor einiger Zeit die Fabel von Minerva erklärte? Freilich nannte er es eine Fabel, aber er erklärte sie sehr schön. Auch ich deutete sie, und zwar nach meinem Sinne; und seit dieser Zeit schwebt diese Tochter Jupiters immer vor mir – und ich sah sie in dem tiefen Abgrund, wie ich sie in der lichten Höhe sehe.

FERDINAND: Was du sagst, begreife ich nicht ganz, aber ich bewundre dich jetzt mehr als Alexandern, der allein über die Mauern der feindlichen Stadt sprang. Du wolltest für mich Toren aus Liebe tun, was er um seines Ruhmes willen tat, und darum nenne ich die ihm geweihte Säule meines Tempels nach deinem Namen. Er sprang in die Stadt wie ich in den Abgrund, aber du! du!

Ferdinands ganzes Herz war in seinen Umarmungen; zum erstenmal nannten sich die Jünglinge Freunde und schworen an dem gefährlichen, dunkeln Abgrund, der ihnen wie ein Bild des Lebens vorschwebte, den Bund der Liebe, und jeder von ihnen verpfändete der Seele des andern sein Leben und Dasein.

Hadem, der die Jünglinge nie aus den Augen verlor und ihnen oft, unbemerkt von ihnen, folgte, um die Früchte seines Unterrichts in ihren Reden, ihrem Tun und den freien Ergießungen ihres Herzens zu beobachten, hatte hinter einem Felsen die ganze Szene angehört. Als Ernst den gefährlichen Sprung zu wagen unternahm, wollte er schon hinzuspringen, als er aber gewahr wurde, daß Ferdinand ihm zuvorgekommen war, zog er sich leise zurück. Auf den Schrecken und den Schauder, die ihn bei dem Wagestück der Jünglinge überfielen, erfolgte Staunen und Bewundrung, und bei den letzten Worten Ernstens, die den Grund seines Entschlusses so klar enthüllten, erglühte sein Herz in sanfter Wonne. Er blickte gegen das Gewölbe der Höhle und lispelte leise:

»Braucht dieser mich noch, da du ihm zur Seite stehest?«

Die Jünglinge eilten aus der Höhle. Als Ferdinand an Alexanders Denkmal vorüberging, rief er: »Du heißest Ernst!«

Hadem folgte ihnen und erreichte sie in dem Eichenwald, Sie hatten sich unter dem größten Baum gelagert; noch glühten ihre Wangen sanft von der vergangenen Szene, und der Abendwind spielte in ihren Locken.

Hadem setzte sich nicht weit von ihnen auf eine Anhöhe, noch tief über das bewegt, was er vernommen hatte. Er sah die Jünglinge nah bei dem Abgrunde stehen. Plötzlich stellte sich ihm das menschliche Leben, in Rücksicht ihrer, unter diesem düstern Bilde vor, und unter diesem Gesichtspunkt fühlte er nun den ganzen Vorgang. Ferdinands Kühnheit, die ihn um des Wahns willen zu der Erforschung des Abgrunds trieb, erregte Sorge und Angst in seinem Busen. Selbst Ernstens Entschluß, der ihn in dem ersten Augenblick des Vorgangs dahinriß, erschien ihm nun unter düstrer erhabener Gestalt, und er konnte seine Gedanken lange von der Zukunft nicht ablenken, die sich ihm hier in weissagendem Gesichte enthüllt zu haben schien. Die Geschichte und seine Erfahrung hatten ihn gelehrt, was den Mann in der Welt erwartet, was das Schicksal von dem fordert, der sich der Göttin weiht, unter deren Schutze sich sein Zögling für so sicher hielt. Er kannte die Gefahr der Proben, die ihre Verehrer zu bestehen haben, er wußte, daß man selten mit dem Geist und Herzen aus ihnen hervortritt, mit denen man sie beginnt. Der rastlose Kampf mit den Menschen, ihren Verfassungen, ihren wirbelnden Leidenschaften, ihrem Wahne und Eigennutze malte sich in wilder Gärung vor seinen Augen. Auf dem Schlachtfelde stand endlich der ermüdete Kämpfer zwischen nagenden Zweifeln, grämlichem Mißmut, der kalten Selbstigkeit, dem bittern Menschenhaß, und statt des Triumphgesangs hört er zischendes Hohngelächter und die frostigen, erstarrenden, giftigen Sarkasmen der Vernünftler. Sein Herz rief ihm zu, so könne sein Ernst nicht enden, aber ob er ihn gleich am Ziele der Laufbahn in sich selbst unbesiegt sah, so faßte er doch den festen Entschluß, seines Zöglings Begriffe über die Tugend in Rücksicht auf die Menschen und ihre Verhältnisse so zu berichtigen, daß sie nicht in schimärische Überspannung ausarteten: eine Stimmung der Seele, in welcher sich nur die Edelsten der Erde befinden können und die gewiß die glücklichste, beneidungswürdigste wäre und bliebe, wenn nur diejenigen, zu deren Bestem diese Stimmung immer wirkt, sie nicht auf Tod und Leben davon zu heilen suchten. Ernsten dachte er nun dahin zu leiten, daß ihm zwar die Höhe und Reinheit seines Geistes und Herzens verblieben, seine Begriffe aber sich so berichtigten, daß ihn die Widersprüche und Mißverhältnisse von außen mit seinem Gefühl weder irre machen, noch zerrütten möchten. Vorzüglich sollte er das, was ihn belebte, in den Menschen nicht mit der Kraft suchen, noch von ihnen erwarten, wie er es zu empfinden schien; und zu dieser gefährlichen Erkenntnis wollte er ihn durch Nachsicht und schonende milde Menschlichkeit führen. Ferdinands eitle Ruhmsucht hoffte er durch Ernstens milden Geist und seine eignen, absichtslos scheinenden Lehren zu läutern.

Nach diesen Betrachtungen nahte er sich den Jünglingen.

Das Abendrot glühte an dem Horizont, und der Eichenwald glänzte in seinem goldnen Feuer. Ferdinand stand heftig redend vor Ernsten, und dieser blickte ihn soeben mit sanfter Begeistrung an und sagte: »Ferdinand, ich habe es gefunden.«

Hadem trat hinzu: »Was hat Ernst gefunden?«

FERDINAND: Den Stoff zu einem Heldengedicht über unsre Altväter, die Cherusker, Chatten und Sveven.

HADEM: Und wie kommt ihr darauf?

ERNST: Der Strom, die Abendröte, die Vergangenheit, Homer, der Eichenwald – die Schatten unsrer Vorfahren traten herein, wir träumten sie lebend, mit den Römern im Kampfe um ihre Tugenden.

HADEM: Wie das? Ernst, wie das?

ERNST: Dies ist eben der Sinn des Heldengedichts, das wir dachten oder träumten, als Sie kamen. Der Teutsche kriegt mit den ihn angreifenden Römern um seine Tugenden, seine Sitten, seine Freiheit. Hermann ist der Held. Der Kampf wird nun geführt zwischen den unverdorbenen Söhnen der Natur und den durch Glück, Kunst und Üppigkeit ausgearteten Römern. Spott, List, Betrug, Biederkeit, Aufrichtigkeit und Treue stehen gegeneinander auf. Es ist der Krieg der edlen, einfachen Natur mit der Ausartung der Kultur. Die römisch-griechischen Götter schweben über dem Schauplatz im Kampfe für ihr Volk mit den Göttern unsrer Väter, die Sie uns bekanntgemacht haben. –

HADEM: Gut, recht gut, aber ich fürchte für die Götter des Nordens.

ERNST: Fürchten Sie nichts, Hadem; jedem der griechisch-römischen Götter haben wir einen kühnern und mächtigern entgegenzustellen.

HADEM: Und doch fehlt eine Göttin, die leicht den Ausschlag zum Vorteil der Götter des griechisch-römischen Himmels geben könnte.

ERNST: Und diese?

HADEM: Wer anders als Minerva, die erhabene Tochter Jupiters, die Göttin der Weisheit und Klugheit.

ERNST: Oh, auch sie war unter den Göttern des Nordens, unsre Väter kannten sie recht gut und unter einem viel reinern und kräftigern Bilde.

HADEM: Sagen Sie doch! Unter welchem?

ERNST: Unter dem Bilde der männlichen Tugend, um deren Besitz sie eben mit den Römern stritten, von denen sie sich die griechisch-römische Göttin nicht aufdringen lassen wollten, weil die Klugheit derselben ihrem geraden, aufrichtigen Sinne zuwider war, weil Klugheit so gern in List ausartet, sich so leicht in List gefällt. Unsre Väter dachten sich ihre Götter wie sie selbst waren: ohne alle List, Betrug und Feinheit. Und siegten sie nicht unter dem Schilde ihrer Göttin über die Zöglinge der Kunst? Ja, eben diese Göttin müßte die Muse des Heldengedichts sein, den Dichter begeistern und die Helden so beleben, daß sie sich selbst in ihnen kräftig darstellte.

Hadem sagte lächelnd: »Ernst, Sie sprechen ja selbst wie ein Dichter.«

Ernst erwiderte: »Macht dieses, was ich empfinde, den Menschen zum Dichter, Hadem, so soll mein ganzes Leben unter ihrer Leitung ein Heldengedicht werden; denn auch ich will unter dem Schilde dieser erhabenen Göttin stehen. Die Tugend der Helden blüht nicht allein auf dem Schlachtfelde, dieses haben unsre Vorfahren gezeigt.«

HADEM: Wozu auch immer Heldentugend? Warum ein so großes, ein so schallendes Wort?

ERNST: Nicht wahr? Denn ist nicht Ausübung der Pflicht, wenn ein Sieg über uns, unsre Leidenschaften, unsern Eigennutz vorausgeht, eine Heldentat? Lehrten Sie uns dieses nicht?

HADEM: Freilich, wenn wir sie ohne Rücksicht auf uns selbst, mit Gefahr für uns, zum Besten andrer ausüben. Ich wünschte nur dem schönen, guten Gefühl ein bescheidneres Beiwort. Ich kenne zum Beispiel einen Mann, der sich keiner Heldentugend und Heldentat bewußt ist, sich wenigstens keinen Helden nennt und gleichwohl, nach meiner Meinung, ein reinerer Held ist als euer Mazedonier.

FERDINAND: Als Alexander? Oh, lassen Sie uns geschwind seine Taten hören!

HADEM: Taten? Ich sagte ja, er weiß nichts von Taten. – Ich rede nur von dem Kammerrat Kalkheim. Lachen Sie immer, Ferdinand; Sie werden dessenungeachtet sehen, daß dieses Mannes Geschichte, in dem Herzen einer großen Anzahl von Mensehen im stillen gefühlt, einen Wert hat, um den ihn wohl mancher große Held beim letzten Überblick seiner Taten beneiden möchte.

Dieser Kalkheim hatte früh einen großen Teil seines Vermögens zu einer Reise angewendet, um die Entdeckungen zur Verbesserung der Landwirtschaft praktisch ausüben zu sehen. Mit diesem Zwecke, den er sich zur künftigen Bestimmung machte, allein beschäftigt, versagte er sich allen andern Genuß, den sonst junge Leute auf Reisen suchen. Als ihm bei seiner Rückkehr ins Vaterland der Fürst diese Stelle anvertraute, machte er viele Versuche der gesehenen Neuerungen auf seinem eignen Lande nach; er hoffte, die Aufmerksamkeit andrer dadurch zu reizen. Aber die Vorliebe oder das Vorurteil für das Alte schien unüberwindlich, und ob er es gleich über sich nahm, den aus seinen Versuchen entstehenden Schaden zu ersetzen, so konnte er doch nur mit großer Mühe einige Landleute dahin bringen, sie nachzuahmen. So erreichte er seinen Zweck nur nach und nach, nur unter Streit, Kampf und Mühe. Durch den nähern Umgang mit den Landleuten lernte er so viel Elend und Armut kennen und sah die Quellen davon so genau ein, daß er sich bald mit der fürstlichen Kammer in eine Fehde einließ; aber da er hier nichts ausrichten konnte und doch helfen wollte, so war er in kurzem dahin gebracht, von seinem beträchtlichen Vermögen nichts mehr übrig zu behalten als ein kleines Haus und ein kleines Gärtchen, in welchem er Gesäme zieht. Seinen Sold teilt er mit den Dürftigen. Der Verlust seines Vermögens zog den Verlust der Freundschaft eines Mannes nach sich, der ihm ohne alle Schonung seine versprochene Tochter, in welcher der Kammerrat den Lohn für alles hoffte, versagte. Dieses verwundete sein Herz, und doch ist er glücklich; denn er sieht seine Taten auf den Feldern der einst Armen blühen, und die ganze Gegend unter seiner Aufsicht gleicht einem von ihm gebauten Paradiese, in welchem ihn der reinste Segen und Dank von den Lippen und Augen der Bewohner empfängt, wenn er es betritt.

ERNST: Hadem, lassen Sie uns diesen Mann, diesen Glücklichen in seinem Paradiese besuchen.

FERDINAND: Wäre der Mazedonier ein Kammerrat gewesen, er hätte dies auch getan; denn Gold achtete er nicht.

ERNST: Ich fürchte, Ferdinand, um die Herrschaft über dieses Paradies hätte er es im Kampf zerstört.

FERDINAND: Um es schöner wieder aufzubauen.

ERNST: Führen Sie uns zu ihm, Hadem?

HADEM: Gern und bald. Ihr Herr Vater will ohnedies, daß wir uns in der Residenz bei Ihrem Oheim aufhalten sollen, während er nach den Bädern reist.

4.

In der Residenz *** wohnte nun Hadem mit seinen Zöglingen in dem Hause des Präsidenten von ***, Ernstens mütterlichem Oheim. Hier fanden sie alle die feine Höflichkeit und allen den kalten Anstand, wodurch sich die Vornehmen von dem Volke unterscheiden und womit sie ihre Genüsse zu veredeln glauben. Hadem hatte die Jünglinge hierzu weder vorbereitet, noch ihnen Regeln des Betragens vorgeschrieben; er wollte auch hier ruhiger Beobachter sein und bleiben. Ernst schien ihm in den ersten Tagen einer Pflanze zu gleichen, die, durch Versetzung, in dem einheimischen Boden ihre Lebenskraft gelassen hat; aber Hadems Gegenwart wurde auch ihm bald, was dieser der erste Morgentau und die wiederkehrende Sonne sind. Er drang sich hier noch fester, noch inniger an ihn, und in ihren Blicken drückte sich ohne weitere Erklärung ein Verständnis über alles Neue und Besondre aus. Bald ging auch Ernst so sicher und fest einher wie in seinem Eichenwalde. Ferdinand ward in kurzem der Liebling des ganzen Hauses. Die neuen Gegenstände belebten seine Einbildungskraft, reizten seine Ehrbegierde, seinen Stolz, seine Eitelkeit: und durch die Aufregung dieser Empfindungen wurden ihm die Verhältnisse der Menschen untereinander so deutlich, daß er, gleichsam aus natürlichem Triebe, ohne weiteres Nachsinnen und weiteren Vorsatz, jedem gab, was er zu wünschen schien; denn es war das, was er selbst von ihm erwartete. Dem Oheim, der die Jünglinge von seinem Schwager auf einige Zeit gefordert hatte, um zu sehen, was sie versprächen, gefiel zwar Ernstens festes Betragen, weil er es dem Bewußtsein zuschrieb, das der junge Mensch von seinem Range und seiner künftigen Rolle in der Welt empfände; aber ihm gefiel auch das Lob, das jeder dem muntern, artigen und gewandten Ferdinand erteilte.

Er sprach hierüber mit Hadem, doch bevor ihm dieser seine Gedanken sagen konnte, fiel er ihm ins Wort:

»Verstehen Sie nur! Ich will darum gar nicht, daß Ernst eigentlich so wie dieser arme Ferdinand werden soll. Ernst soll fühlen, was er ist, was aus ihm wird, was ihn erwartet. Ferdinand ist ein armer Waise, der sein Glück machen muß; und ein solcher Mensch kann nie artig genug sein. Was ich eigentlich wollte, wäre, daß Ernst zuzeiten zeigte, auch er könnte es sein, wenn es ihm so gefiele. Dadurch, lieber Herr Hadem, unterscheidet sich der Mann von Stande, dessen Glück und Ansehen gewiß ist, von dem, der beides noch suchen muß: der eine tut alles, weil es ihm so gefällt, und der andere, weil er muß. Hätte Ferdinand zu hoffen, was mein Neffe zu hoffen hat, so sagte ich, er tut zu viel; und nun sage ich, er kann nicht genug tun.

Und sehen Sie doch nur! Die Natur hat das, was ich sage, selbst in den beiden jungen Leuten angedeutet. Bemerken Sie nur den schönen, schlanken, kühnen Wuchs Ferdinands! seine feurigen schwarzen Augen! seine anlockende Gesichtsfarbe! sein Feuer, seine Lebhaftigkeit, sein einschmeichelndes, immer zuvorkommendes, lächelndes Wesen! Da steht der Abenteurer, der Wagehals, ganz ausgerüstet zum Kampfe mit der Glücksgöttin. Es wird ihm nicht fehlen, glauben Sie mir. Und nun mein Neffe – man kann eigentlich nicht sagen, daß er schön sei; aber er ist mehr als schön, er hat etwas Feierliches, etwas Eignes, ihn von allen Unterscheidendes an sich, etwas, das mehr auf die Seele als auf die Augen wirkt – und da liegt ja der Unterschied, den ich bemerkte. Ferdinand wird den Weibern gefallen, und das kann ihm nützlich sein; Ernst verständigen Männern – und den Weibern, wenn er will!«

Hadem schwieg nach diesen ihm unerwarteten Äußerungen, und der Präsident legte ihm sein Schweigen als Bescheidenheit aus, in seinen Augen das Hauptverdienst an Leuten ohne Stand.

Hadem ließ Ernsten gehen und nutzte jede sich darbietende Gelegenheit, Ferdinands gereizte Eitelkeit zu mäßigen.

In dem Hause des Präsidenten versammelten sich der Hof und die Angesehensten der Stadt. Seine zwei Töchter und sein Sohn empfingen von ihrer Seite die Fräulein und jungen Herren mit ihren Gouvernanten und Gouverneuren und übten sich in ihren Zimmern in den Rollen, die in dem großen Gesellschaftssaale gespielt wurden. Natürlich mußte Hadem mit seinen Zöglingen dieser Versammlung beiwohnen. Ernst hörte und sah zwar, aber er schien nur zu träumen bei dem, was er hörte und sah; Ferdinand hingegen war hier ganz in seinem Elemente.

Zum erstenmal hörten sie jetzt von Romanen und wunderbaren Begebenheiten reden; und als die junge Gesellschaft ihre Unwissenheit in einer so wichtigen Sache entdeckte, erstaunte man, bedauerte und ließ es sich sehr angelegen sein, sie mit dieser nötigen Kenntnis zu bereichern. Hadem sah die Unmöglichkeit ein, seine Zöglinge vor einem Übel zu bewahren, das alle Stände unsers Zeitalters ergriffen hat. Man gab den Jünglingen die Romane des Tages. Ferdinand verschlang sie; Ernst, dem ein Wunderbares andrer und höherer Art vorschwebte, konnte das Wesen, Leben, Handeln und Denken der Menschen in denselben gar nicht begreifen und würde von aller weiteren Neugierde auf immer geheilt worden sein, wenn ihm die Tochter des Präsidenten nicht einen gegeben hätte, der sein Herz zerriß, ausdehnte und seine Seele folterte, spannte, erhob, niederdrückte und zermalmte. Wer kennt nicht die feurigste, vollendetste Darstellung des heutigen Genius?

Auch Ferdinand las diesen Roman, und seine Einbildungskraft entbrannte so gewaltig, daß er von diesem Augenblick nichts Größeres, Erhabneres und Nachahmungswürdigeres kannte als die Lage dieses jungen Helden, sein pathetisches Ende, das er als ein Opfer hoher Tugend für ein Geschlecht ansah, für welches man nach seiner jetzigen Stimmung nichts weniger tun könnte. Alles, was sonst so tief, stark und schön Gedachtes und Gefühltes über Menschen, Schicksal und Natur darin lag und was einen so mächtigen Eindruck auf Ernsten machte, entwischte ihm.

Natürlich ward nun dieses der Hauptgegenstand der ersten Unterhaltung in dem jugendlichen Kreise. Ferdinand malte seine Gefühle mit den stärksten und lebhaftesten Farben und fand in den jungen Fräulein um sich her, die sich als den Gegenstand seiner Begeistrung und seines Heldenmuts ansahen, sehr aufmerksame und gespannte Zuhörerinnen. Begeistert rief er, indem er seine feurigen schwarzen Augen gegen Amalien, die dreizehnjährige Tochter des Ministers ***, eins der reizendsten Geschöpfe, wendete: »Oh, es muß ein süßer, erhabener Tod sein, für seine Geliebte zu sterben! Ich wünsche mir ihn!«

Keine der Zuhörerinnen widersprach, und nur einige Junker, die schon weiter in der Erfahrung gekommen waren, lächelten. Amalie errötete sanft, und die Tochter des Präsidenten fragte Ernsten, in dessen Augen sie ein ihr fremdes Gefühl zu bemerken glaubte, was er davon dächte. Er antwortete gelassen, indem sein Blick auf eben diese reizende Amalie fiel: »Ich schlage des Mannes Bestimmung höher an.«

Alles schwieg, und Amaliens Wangen färbten sich höher. Ein Blick schoß unter ihren langen Augenwimpern auf Ernsten hervor, dann sah sie gegen den Boden.

Hadem trat nun näher und sprach:

»Ich höre Ihnen wirklich mit Verwunderung zu und kann gar nicht begreifen, wie junge Leute, die weder den Wert des Lebens noch die Bestimmung des Menschen kennen, sich anmaßen, über Dinge zu reden, die ihnen ebenso fremd als dunkel sein sollten. Da es aber nun einmal so ist, so will ich Ihnen doch sagen, was mein Zögling unter den Worten gedacht hat, die Ihnen so sonderbar vorzukommen scheinen. Er meint, der Mann habe höhere und bedeutendere Pflichten, als für ein Mädchen zu seufzen oder zu sterben; und ich hoffe, er soll auch dann noch so denken, wenn er erfährt, was dies ist, von dem Sie so früh vor der Zeit reden. Jetzt weiß er es gewiß nicht; aber sollte er es einmal empfinden, so bin ich gewiß, er würde für die Person, für die er es empfände, noch weit größre Übel ertragen, als das ist, welches man sich unter dem Tode denkt; und doch würde er leben und eben durch sein Leben beweisen, wie würdig er ihrer sei. Die Liebe, um das Wort nur zu nennen, das Sie so leicht aussprechen, soll den Mann erhöhen, nicht niederwerfen; und derjenige, welcher darum stirbt, weil ihm das Schicksal den Gegenstand seiner Leidenschaft vorenthält, ist ein Kranker, der vermutlich an der Versagung jedes andern heißen Wunsches gestorben wäre: denn er wollte über seine Kräfte. Des jungen Menschen Schicksal, das dieses Buch so meisterhaft darstellt, lag ebenso sehr in seiner ihm eignen Denkungsart, der düstern, forschenden Stimmung seiner Seele, seinen Begriffen über die Natur und die Verhältnisse der Menschen gegeneinander als in seiner leidenschaftlichen Lage; ja sie gaben eigentlich seiner leidenschaftlichen Lage die auszeichnende Farbe und mußten endlich die Katastrophe hervorbringen, die schon so früh in ihm vorbereitet war, gegen die er auch so wenig kämpfet, daß er ihr vielmehr langsamen Schritts und mit einer Art innern Genusses entgegengeht. Er gleicht einem seltnen, lieblichen, interessanten Kinde, das einen düster erhabenen dichterischen Traum schwärmt, bevor seine Vernunft ganz erwacht ist. Ich bewundre das Buch als dichterische Darstellung der Wirkung dieser gefährlichen Leidenschaft gewiß mehr als Sie; aber ich bewundre nicht den Helden, den es uns darstellt. Ich könnte ihn zuzeiten sogar hassen, weil er den Mut unsrer Jünglinge erschlafft und die Köpfe unsrer Mädchen so verwirrt, daß sie beide das zu einem übertriebenen, romantischen Spiele machen, was doch die Natur und die Gesellschaft zum wichtigsten und ernsthaftesten Geschäfte des Lebens gemacht haben. Die Männer sind in der Welt, um Beweise ihres Verstandes und Mutes zu geben; und die Weiber, wenn ihr Verstand und ihr Herz nicht durch Romane verdorben sind, achten nur die Männer, welche dieses tun. So war es bei den Völkern, die wir noch jetzt bewundern, die wir nur so lange zu bewundern Ursache finden, als dieses dauerte. Welche seelenkranke, erbärmliche und niedergedrückte Männer müssen die nicht sein, die in solchen Spielen der Phantasie Ersatz für Tätigkeit und Mut finden können, die ihre Weiber und Töchter schon bis dahin gebracht zu haben scheinen, daß sie ihnen solche Erschlaffung, Weichlichkeit und Feigheit für die einzigen Heldentugenden anrechnen, deren sie noch fähig sind! Glauben Sie darum ja nicht, daß ich dieses dem Dichter zuschreibe. Er denkt weder der Toren noch der Schwachen, noch weniger will er ihnen Bilder zur Nachahmung in seinem Helden aufstellen. Ihn ergreift die Liebe zu einem Gegenstand, die Begeistrung übt ihre Gewalt an ihm aus. Sein entflammter Genius tut dasselbe an euch, indem er euch durch Angst, Staunen, Furcht, Grausen und alle menschliche Gefühle in seinen magischen Kreis bannet, in welchem eine Gottheit ihn gefesselt hält und aus dem er selbst nicht eher treten kann, als bis ihn seine mächtige Beherrscherin entläßt.

Ich sehe wohl, daß ich Ihnen lästig falle; mein Rock mag es entschuldigen. Eigentlich spreche ich hier nur um eines einzigen willen, und dieser versteht mich. Um Ihnen übrigens den Unterschied zwischen meinen beiden Zöglingen zu zeigen, will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, dann mögen Sie selbst urteilen, wer von ihnen im Fall der Not für Freundin und Freund mehr zu tun fähig wäre.«

Er erzählte hierauf den Vorfall in der Höhle, beschrieb den furchtbaren Abgrund, seine Angst, den Ausgang des Vorfalls und endigte mit den Worten:

»Wer war nun hier der mutigste? Er, der in die Höhle gleiten wollte, um der erste zu sein, der uns sagen könnte, ob die einfältigen Märchen des Volks gegründet wären; oder der, welcher, um den törichten Freund zu retten, hineinzuspringen drohte, hineingesprungen wäre?«

Keiner der Gesellschaft schien das Edle des Zuges zu fühlen, den ihnen Hadem von Ernsten mitteilte, und aller Augen, außer Amaliens Augen, wendeten sich jetzt nach Ferdinand. Sein Vorsatz schien ihnen größer, kühner, obgleich seine eigne jetzige Beschämung so laut gegen ihn sprach. Hadem bemerkte hier die gewöhnliche Wirkung des Romanenlesens auf die alltäglichen Menschen, das alle einfache, natürliche Gefühle in ihnen verzerrt und verdunkelt und an deren Stelle einen erkünstelten Kitzel der Phantasie und der Eitelkeit setzt.

Ernst schien in diesem Augenblick ein Verbrechen begangen zu haben. Er atmete kaum, und nur die sichtbare Verwirrung seines Freundes erweckte ihn aus seiner Betäubung. Er eilte auf ihn zu; die glühenden Wangen der Jünglinge berührten sich, und einige Tränen, von verschiednem Gefühl erzeugt, drängten sich zwischen ihre Küsse.

Amalie allein sah gerührt dieser Umarmung zu. Sie sah immer auf Ernsten, aber nun verweilte ihr begeisterter Blick länger auf Ferdinand. Dieser bemerkte es und drängte sich zu ihr, von ihrem Blicke angezogen. Noch ganz von dem vorigen Gefühle belebt, das jetzt unter dem Rosenschimmer der Scham, von Beleidigung der jugendlichen Eitelkeit hervorgebracht, sanfter auf seinen Wangen und in seinen Augen glühte, stand er schweigend vor ihr. Sie sah ihn lächelad an und sagte:

»Sein Sie froh, daß die Fräulein in der Residenz zu mitleidig oder zu klug sind, Sie bei dem Worte zu nehmen, das Sie so rasch ausgesprochen haben. Wir würden sonst bald über Ihre Leiche weinen müssen, und das wäre doch zu früh.« Ferdinand erwiderte, und ein Flammenblick begleitete seine Worte:

»Für eine einzige Träne aus solchen Augen wollte ich es schon wagen.«

Und noch kühner setzte er hinzu:

»Spotten Sie nur; aber hüten Sie sich, diesem Fenster hinauszuwinken; denn ginge auch der Sprung durch die Erde, ich folgte dem Winke doch.«

Nun zog sich Amalie sanft von ihm weg, faßte eine Gespielin unter dem Arme und ging an das Klavier im Nebenzimmer.

5.

Beim Niederlegen sagte Hadem zu seinen Zöglingen:

»Morgen besuchen wir den Kammerrat Kalkheim; aber ihr müßt früh aufstehen, damit wir durch seine blühenden Felder wandeln, bevor die Sonne den Morgentau ganz aufgetrocknet hat. Die Lerche erhebt sich dann mit schmetterndem Gesange.«

Sie brachen früh auf, und nach einigen Stunden sagte Hadem zu den Jünglingen: