Between Love and Death - Vanessa M. J. Dicke - E-Book

Between Love and Death E-Book

Vanessa M. J. Dicke

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Beschreibung

»Verlieb dich bloß nicht in sie.« »Keine Sorge, das werde ich nicht.« Amy führt ein ganz normales Leben, bis eines Nachts zwei Todesengel in ihrem Schlafzimmer auftauchen und ihr verkünden, dass sie bald sterben wird. Ihr letzter Wunsch: ihren Vater wiederzufinden. Schon bald begibt sie sich mit ihren zwei ungewöhnlichen Begleitern auf eine Reise, um die letzten bekannten Spuren ihres Vaters zu verfolgen. Die Todesengel wachsen Amy ans Herz, einer der beiden ganz besonders. Wäre da nur nicht die Bestimmung, ihre Seele zur gegebenen Zeit ins Jenseits schicken zu müssen. Gefühle lassen sich nicht steuern, denn die Umstände sind egal, wenn man liebt. Oder? Eine Reise zwischen Freundschaft, Verrat, Liebe und Tod im Land der aufgehenden Sonne. Findet Amy dort die Antworten, die sie sucht?

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kapitel 1: Der verlorene Vater
Kapitel 2: Einen Versuch ist es wert
Kapitel 3: Das Wohnheim
Kapitel 4: Der Wettbewerb
Kapitel 5: Das Gericht der Ehrwürdigen
Kapitel 6: Die Schikane
Kapitel 7: Der Auftakt zur neuen Reise
Kapitel 8 Auf zur neuen Reise
Kapitel 9: Im Land der aufgehenden Sonne
Kapitel 10: Verbotene Gefühle
Kapitel 11: Das Hier und Jetzt
Kapitel 12: Weiterreise nach Hakone
Kapitel 13: Die letzte Spur
Kapitel 14: Bis ganz zum Schluss
Kapitel 15: Der weitere Schritt
Kapitel 16: Die Auktion
Kapitel 17: Der letzte Plan
Kapitel 19: Die schreckliche Erinnerung
Kapitel 20: Ein gescheiterter Versuch
Kapitel 21: Geschwisterliebe
Kapitel 22. Die zwei Schwerter
Kapitel 23: Raus aus der dunklen Dimension
Kapitel 24: Die Klingen kreuzen sich
Kapitel 25: Der finale Kampf
Kapitel 26: Alles vorbei
Kapitel 27: Wieder ins alte Leben
Epilog

Content Note:

Das Buch enthält sensible Themen, die potentiell triggern können.

Diese Themen sind:

Mobbing

Tod und Trauer

Suizid

»Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast.« - Albert Einstein

Impressum

Text: © Vanessa M. J. Dicke

Covergestaltung: Ria Raven von Ria Raven Coverdesing

https://riaraven.de

Lektorat: Selina Krystofiak von Zeilenflug Lektorat

https://zeilenflug.de

Korrektorat: Sabine Wagner von Kolibri Lektorat

https://bookloververlag.lima-city.de

Kapitelverzierungen/Illustration:

Ina; Instagram: @taktmeinesherzens / @silakreativ

Herausgeberin:

Vanessa M. J. Dicke

c/o T. Dietrich

buchversum.de

Erich-Kästner-Str. 2

21629 Neu Wulmstorf

Herstellung: epubli- ein Service der neopubli GmbH, Köpincker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

produktionssicherheit@epubli.com

Für Kerstin. Weil wir bis ganz zum Schluss und für immer die besten Freundinnen sind.

Kapitel 1: Der verlorene Vater

Amy

»Du wirst bald sterben.« Das waren die ersten Worte, die Amy wahrnahm, als sie Vincent begegnete. Sie wusste nicht, was sie fühlen oder denken sollte. Es war sicherlich nicht normal, dass ein dunkelhaariger Mann einfach so in ihrem Schlafzimmer auftauchte und ihr Einzelheiten über ihren eigenen Tod erzählte.

Innerhalb eines Herzschlags war Amy aufgesprungen und hatte sich ihre Nachttischlampe geschnappt. Die Augen des Mannes wurden groß, als sie mit ihrer improvisierten Waffe herumfuchtelte. Gleichzeitig huschte ihr Blick zu ihrem Handy. Die Polizei zu rufen oder um Hilfe zu schreien, kam ihr in den Sinn. Ob sie es wohl schaffte, das Telefonat zu tätigen, bevor der Eindringling sie überwältigen konnte? Vielleicht hätte sie auch nach Hilfe schreien können. Die Wände waren zwar dick und es befand sich niemand sonst zu Hause, da sie alleine lebte, aber mit viel Glück würde einer der Nachbarn sie hören.

Der Mann hob abwehrend die Hände. »Woah! Stell das Ding wieder hin! Ich tu dir nichts.«

»Du tust mir nichts?«, gab sie schnaubend von sich. »Du tauchst aus dem Nichts auf und kündigst mir meinen Tod an!«

Vielleicht wollte er sie ermorden? Woher sonst sollte er wissen, dass sie bald sterben würde?

»Und ich soll dir glauben, dass du mir nichts tun willst?« Ihre Stimme glich der einer Sirene. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie spürte deutlich, wie sich ihr Puls beschleunigte.

Sie war so außer sich, dass sie nicht mitbekam, wie der Mann die Lippen bewegte.

»Sam. Ich brauche deine Hilfe«, wisperte er mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck.

Ein blonder Mann erschien und Amy ließ vor Schreck die Lampe fallen. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie auf den Boden.

Sie taumelte ein paar Schritte zurück. Ihre Gedanken rasten.

Was zur Hölle passiert hier gerade? Zwei Männer befinden sich in meinem Zimmer! Das ist nicht real, oder?

Amy griff mit zittrigen Fingern nach ihrem Handy und drückte so panisch darauf herum, dass eine wilde Zahlenkombination auf dem Display aufleuchtete, die keinen Sinn ergab. »Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!«

Ein amüsiertes Schmunzeln breitete sich auf den Lippen des Blondschopfs aus. »Nur zu, es wird dir nichts nutzen. Darf ich gestatten? Mein Name ist Sam. Ich bin ebenfalls ein Todesengel und Vincents Mentor.«

Amy starrte ihn mit offenem Mund an.

Wovon redet er da? Was zum Teufel ist ein Todesengel?

»Ich bin hier, um meinem Schützling beizubringen, dass man ein Gespräch nicht mit ›Du wirst bald sterben‹ eröffnet.«

Er zwinkerte ihr zu.

Amy sah ihn verdattert an. Also hieß der Blonde Sam und war Vincents Mentor, dem Dunkelhaarigen? Doch Mentor wofür? Was waren das für Männer, die wie aus dem Nichts erschienen?

Wollen sie mich auf den Arm nehmen? Denken diese Männer ernsthaft, ich glaube all das, was sie mir weismachen wollen?

Amy schnaubte. Das war einfach krank. Sie würde sich hier und heute nicht von ihnen abschlachten lassen!

»W-wer seid ihr? Das ist nicht real, oder?«

Die beiden Männer wechselten einen Blick, ehe der Dunkelhaarige die Hände in seine Hüften stemmte.

»Wir sind Todesengel.« Mit den Worten streckte er seine schwarzen Flügel aus, und Amy stockte der Atem.

»Todes… Was?« Sie kniff sich in die Wange und spürte das Zwicken auf ihrer Haut. Das hier war real und alles andere als ein Traum. Gleichzeitig handelte es sich um etwas Unfassbares. Amys Knie wurden weich und sie musste sich aufs Bett setzen. Ihre Finger krallten sich in die Laken.

Wenn das kein Traum ist, heißt das, dass ich bald sterbe?

Ihre Augen wurden feucht. Sie war noch viel zu jung, um den Löffel abzugeben. »Was wollt ihr von mir?«

»Wir sind hier, um dir einen Herzenswunsch zu erfüllen. Das ist unser Job. Du kannst dir alles wünschen, was du möchtest, und wir versuchen, es zu ermöglichen.«

»Ihr erfüllt mir einen Wunsch?« Amy starrte sie ungläubig an.

Wie können sie mir Wünsche erfüllen? Das ist unmöglich.

Doch dann ging Vincent auf sie zu, langsam und vorsichtig, ehe er seine Hand auf ihre legte. Die Hand, die das Handy umklammerte. Wollte er sie davon abhalten, die Polizei zu rufen? Amy beabsichtigte, sich gerade zu wehren, als sie ihm in die Augen blickte. Auch wenn sie Angst hatte, war da noch etwas anderes. Ihre Knie wurden weich.

»Jeden Wunsch.« Seine Stimme klang samtig weich in ihren Ohren.

Amy nahm einen langen Atemzug, bevor sie ihre Sprache wiederfand. »Das ist nicht real.«

»Dann wird es Zeit, dass wir es dir beweisen.« Sam hatte eine Hand auf Vincents Schulter gelegt und ihn bestimmt von Amy weggezogen. Er schnippte mit den Fingern und ihr Schlafzimmer verwandelte sich in eine gigantische Bibliothek. Der Raum war trotz der hohen Regale sehr hell gestaltet. Eine runde Glaswölbung überdachte den Raum, durch die die Sonnenstrahlen schienen und die Bücher in ein warmes Licht tauchten. In den mittleren Gängen waren schwere Holztische drapiert, die mit weich gepolsterten Stühlen bestückt waren. Die Regale, die bis zur Decke ragten, waren vollgestopft mit alten Büchern.

Amy sah sich bewundernd um. »Oh, wow!«

Sie fragte sich, wie Sam dies mit einem einzigen Fingerschnippen vollbracht hatte. Wozu die beiden Todesengel wohl noch fähig waren?

»Das ist eine unserer Fähigkeiten«, gab Sam mit einem zufriedenen Lächeln zurück.

Sie überlegte, wie ihr diese Kräfte helfen konnten, sollte sie ihren Wunsch aussprechen.

Amy ließ ihre Finger über die dicken Buchrücken gleiten. Im nächsten Moment stand sie wieder in ihrem Zimmer.

Ihr wurde schwindelig und sie setzte sich aufs Bett.

Es war kaum zu fassen, aber offensichtlich handelte sich es doch nicht um einen Traum.

»Ihr erfüllt mir wirklich einen Wunsch?«

Sam nickte ihr zu.

Diese Worte entfachten in ihr ein Verlangen, das sie lange verdrängt hatte. Neue Hoffnung keimte in ihr auf.

»Ich würde gerne meinen Vater finden. Seitdem ich volljährig bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Sam legte sich nachdenklich die Hand an sein Kinn.

»Das können wir gern in die Wege leiten, doch dazu müssen wir zunächst Nachforschungen anstellen.«

»Wie lange dauern eure Nachforschungen?«

Auf Amys Frage hin hob Sam seine Schultern. »Tut mir leid, das kann ich nicht genau sagen.«

Amy schürzte die Lippen. Vielleicht waren das doch alles nur leere Worte.

»Um was für Nachforschungen handelt es sich, wenn ich fragen darf?«

»Nun, wir werden die unmittelbare Umgebung erkunden. Manches, was für euch unzugänglich ist, können wir mit unseren Mitteln knacken. Zudem besitzen wir Todesengel unser eigenes Archiv. Dort versuchen wir zuerst unser Glück.«

Vincent schnaubte. »Das kann etwas länger dauern, denn unsere Auftraggeber sind nicht sehr auskunftsfreudig. Wir sind auf uns allein gestellt.«

Sam stieß Vincent mit dem Ellenbogen in die Seite. »Nun, wir sollten aufbrechen. Je eher wir anfangen, desto besser.«

Mit diesen Worten packte Sam Vincent am Handgelenk und zog ihn durch die Wand zurück in die Stadt der Todesengel.

Vincent

Die Stadt der Todesengel, auch Schattenwelt genannt, war eine Welt, die in Grau- und Schwarztönen gehalten war und mehr als triste erschien. Sam und Vincent standen in einem Park vor dem Spiegel, durch den sie geschritten waren, um Amys Zimmer zu betreten. Der Spiegel war die Verbindung zwischen der Stadt der Todesengel und dem Menschen, den sie in den Tod begleiten sollten.

»Du hast dich ihr genähert.«

Das war eine klare Feststellung. Sam sah Vincent durchdringend an. »Sag mir nicht, du stehst auf sie?«

Vincent zuckte mit den Schultern. »Hässlich ist sie ja nicht gerade.«

»Ich war auch mal in einen Menschen verliebt, und es endete nicht gut. Deswegen gebe ich dir einen Ratschlag, als dein Mentor, aber auch als Freund: Verlieb dich bloß nicht in sie.«

Vincent gab ein ungläubiges Schnauben von sich.

»Keine Sorge. Das werde ich nicht.«

Amy

Wo steckte Henri Christ? Er war ein begnadeter Künstler gewesen, der reichlich herumgekommen war, bekannt dafür, Kunst und Literatur miteinander zu verbinden. Und er war Amys Vater, der die Familie im Jahr 2010 verlassen hatte. Jetzt war Anfang 2019 und Amy hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört.

Wo war er? Ob die beiden Todesengel ihr helfen konnten, ihren Vater zu finden? Wenn sie denn todsicher existierten. Es kam ihr immer noch wie ein Traum vor, dass zwei Männer in ihr Schlafzimmer eingedrungen waren und behauptet hatten, dass ihre Lebenszeit bald ablaufen würde. Wie konnte es sein, dass sie sterben würde? Amy war nicht todkrank, und Bonn-Ückesdorf, die Umgebung, in der sie wohnte, wirkte nicht allzu gefährlich. Sie aß nicht übermäßig ungesund und Rauchen hielt sie für eklig.

Zweimal in der Woche trieb sie Sport und ihre Arbeit in der örtlichen Bibliothek war nicht bedrohlich. Ihre Gedanken kreisten, als sie nach jener verrückten Nacht, die sie vom Schlaf abgehalten hatte, aus dem Bett kroch und ins Bad stakste. Sie hatte die Gedanken an ihren Vater oft verdrängt. Was für ein Mann verließ seine Familie? Und das ausgerechnet dann, als Amelia die Schule beendet hatte und sich in der Orientierungsphase ihres Lebens befand? Sie erinnerte sich an ihr Abitur. Sie hatte gehofft, dass ihr Vater zur Feier ihres bestandenen Abschlusses erscheinen würde, aber dem war nicht so. Und seitdem hatte sie gelernt, ohne ihn klarzukommen - genauso wie ihre Mutter Elena, die immer noch in dem Reihenhaus wohnte, in dem Amy aufgewachsen war. Es befand sich nur einen Block entfernt von Amys Wohnung. Ob ihre Mutter wusste, wo sich ihr Vater aufhielt? Oder wollte sie es nicht wissen? Bis jetzt hatte Amy ihren Vater erfolgreich aus ihren Gedanken verdrängen können - bis die Todesengel aufgetaucht waren. Durch ihr Versprechen, Amy ihren letzten Wunsch vor ihrem Tod zu erfüllen, waren die Gedanken an ihren Vater wieder entfacht worden wie eine lodernde Flamme. Sie sehnte sich danach, ihren Vater ein letztes Mal zu sehen und ihn zu fragen, weshalb er sie verlassen hatte. Auch wollte sie ihm sagen, dass sie ihn trotz allem liebte.

Nachdem sie aufgestanden war, ging sie ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.

Amy spuckte den Schaum der Zahnpasta ins Becken, ehe sie nachdenklich in den Spiegel blickte. Sie dachte an ihren Vater, der so braunrote Haare hatte wie sie selbst. Wie würde er reagieren, wenn sie sich wiedersehen würden?

Amy trottete in die Küche, um ihr Essen für die Arbeit zusammenzupacken. Möglicherweise sollte sie ein gemütliches Frühstück in ihren morgendlichen Zeitplan einbauen. Immerhin handelte es sich um die wichtigste Mahlzeit des Tages und könnte ihr Leben um einiges verlängern.

Na super, jetzt denke ich schon darüber nach, wie ich meinen bevorstehenden Tod verhindern kann.

Die Worte der Todesengel hatten sich wahrlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Amy hielt für einen Moment inne, ehe sie noch einen Apfel einpackte. Sicher war sicher. Verrückt, was so eine Begegnung - oder ein Traum? - zu erwecken vermochte.

Der Weg zu ihrer Arbeit war nicht weit, gerade einmal zehn Minuten zu Fuß. Was für ein Glück Amy doch hatte, dass sie die Anstellung in der Bibliothek bekommen hatte, die sie als Kind so gern aufsuchte. Dank ihres Vaters hatte sie gelernt, Bücher zu lieben. Amy war immer wieder fasziniert davon, wie Worte eine Geschichte zum Leben erwecken, sogar ganze Welten erschaffen konnten. Sie erinnerte sich daran, dass sie oft neben ihrem Vater gesessen und ihm dabei zugesehen hatte, wie er Bilder malte und Texte dazu verfasste. Die Art, wie er geschrieben und Farben benutzt hatte, ließ alles so lebendig, gar real erscheinen. Es war, als würde sie in einer anderen Welt versinken. Und dank ihres Vaters hatte sie es angestrebt, in noch mehr Welten abtauchen zu können, weshalb sie des Öfteren die Bibliothek aufgesucht hatte. Jetzt hier arbeiten zu dürfen, glich einem wahr gewordenen Traum. Mit einem Lächeln schloss Amy die Türen zur Bücherei auf und der vertraute Duft von gedrucktem Papier wehte ihr entgegen.

Amy stand gern früh auf. Die Ruhe des Morgens hinterließ in ihr jeden Tag aufs Neue ein friedliches Gefühl. Beinahe, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt. Selbst wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, begegnete sie selten jemand anderem. Und so wunderte es sie nicht, dass sie die erste in der Bibliothek war, als sie die schweren Türen aufschob und ihr Refugium betrat. Hier zu sein, fühlte sich nicht wie Arbeiten an, sondern glich einem zweiten Zuhause. Die neu gelieferten Bücher sowie alte Exemplare gingen eine Symbiose miteinander ein. Es war das Paradies, wenn man Bücher so sehr liebte, wie sie es tat.

»Guten Morgen, Amy.« Ihre Kollegin Sofia traf ein. Sie war etwas älter als Amy und lebte mit ihrer Ehefrau sowie elfjährigen Tochter in der Bonner Altstadt.

»Guten Morgen, Sofia. Alles klar bei dir? Du siehst gestresst aus.« Amy legte den Kopf schief, als sie ihre Kollegin betrachtete.

Sofia trug ihr dunkelblondes Haar sonst immer in einem perfekten Dutt, doch heute waren sie wirr zusammengebunden und einige Haare standen sogar ab. Zudem waren deutliche Augenringe zu erkennen und ihre Bluse hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.

»Es war ein stressiger Morgen. Jane wollte einfach nicht aufstehen. Wir hätten die Nacht nicht durchmachen sollen. Und Lucy war nicht aus dem Bett zu bekommen. Ich musste sie beide rausscheuchen. Ich sag dir, das Leben mit einer Elfjährigen ist kein Zuckerschlecken.«

Sofia seufzte, ging zum Schließfach und schob ihre Tasche rein.

»Sei froh, dass du allein lebst.«

Amys Mundwinkel hoben sich. Sie wusste, dass ihre Kollegin es nicht so meinte. Im Grunde liebte sie ihre Familie von ganzem Herzen.

»Ich habe die Plakate für die kommende Lesung schon aufgehängt«, informierte Amy sie.

»Das ist ausgezeichnet, dann kümmere ich mich um die Bestellungen.«

Nach der Mittagspause half sie Sofia dabei, die neuen Bücher in Schutzhüllen zu packen.

»Ist es okay, wenn ich heute früher gehe?« Amy schnappte sich das erste Buch und legte die transparente Hülle drum herum. »Ich habe nachher noch einen Arzttermin. Obwohl ich deutlich gesagt hatte, dass ich bis sechzehn Uhr arbeiten muss …« Sofia hielt abrupt inne, eine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn. »Ist alles in Ordnung? Oder warum brauchst du so dringend einen Arzttermin, dass du dafür sogar früher von der Arbeit verschwindest?«

Mist. Schnell winkte Amy ab, stets darauf bedacht, Sofias Blick zu meiden. »Natürlich, alles in Ordnung. Ist einfach nur ein Check-up.«

Sie konnte ihr schlecht erzählen, dass zwei Todesengel in ihrem Schlafzimmer erschienen waren und ihren baldigen Tod vorausgesagt hatten. Selbst in ihrem Kopf klang das nach einem abgefahrenen Traum. Dann würde man sie direkt in die Psychiatrie einweisen.

Amy bereute sofort, den Termin wahrgenommen zu haben, als sie einen Fuß in die Praxis gesetzt hatte.

Der Geruch von Desinfektionsmittel biss unangenehm in ihrer Nase und im stickigen Wartezimmer wurde es nicht besser. Es barst vor kranker, schniefender und hustender Patienten. Die Zeitschriften, die vor ihr auf dem Tisch auslagen, wagte sie nicht einmal, auch nur mit dem kleinen Finger zu berühren. Wer wusste schon, welche Keime daran klebten? Stattdessen holte sie ihr Handy hervor und scrollte durch Instagram, bis ein Foto der Todesengel erschien. Ihr Herz begann zu rasen und sie blinzelte ein paarmal, als würde dadurch das Bild verschwinden - dies geschah jedoch nicht.

Jetzt leide ich echt an Verfolgungswahn.

In der Textbeschreibung stand: »Du gehst ernsthaft zum Check-up? Der Arzt wird dir nicht mehr helfen können.«

Amy starrte für einen Moment auf den Beitrag, ehe sie den Kopf schüttelte und schnell die App schloss. War das denn möglich? Jetzt verfolgten die Todesengel sie nicht bis in die Wohnung, sondern auch in den sozialen Medien? War sie die Einzige, die dieses Bild zu Gesicht bekam?

Im nächsten Moment klingelte ihr Handy. Eine unterdrückte Nummer.

Ihr Herz machte einen Satz. Konnte es denn wirklich sein? Wurde sie von den Todesengeln verfolgt, bis sie auf die beiden einging? Auf der einen Seite nagte das gruselige Gefühl an ihr, über den baldigen Tod informiert zu werden. Auf der anderen Seite war da die Hoffnung, den Verbleib ihres Vaters zu erfahren.

Ignorier den Anruf!

Ihre Intuition betrug sie selten. Schnell packte Amy ihr Telefon in die Handtasche und fokussierte sich auf die Informationstafel im Raum.

»Wie unhöflich. Wenn du angerufen wirst, solltest du schon rangehen.«

Vincent stand plötzlich vor ihr. Er strich sich durch die dunklen Locken und seine Augenbrauen fuhren in die Höhe, als er Amy ansah. Amy rutschte indes unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Unter seinem undurchdringlichen Blick fühlte sie sich beinahe nackt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er nicht - wie bei ihrer ersten Begegnung - in schwarze Gewänder gehüllt und mit Flügeln ausgestattet war. Stattdessen trug er eine Jeansjacke über seinem weißen Shirt und dazu eine zerschlissene Jeans. Das Outfit rundete er mit Sneakers ab. Vincent hätte irgendein Mensch sein können, wenn er nicht ohne Weiteres aus dem Nichts erschienen wäre. Amy wunderte sich, dass die anderen Menschen im Warteraum nicht reagierten. Keiner erschrak oder wurde panisch bei der plötzlichen Erscheinung eines jungen Mannes.

»Ich reagiere nicht auf eine unterdrückte Nummer!«, fuhr sie ihn an. Im nächsten Moment spürte sie alle Blicke auf sich gerichtet. Die Schamesröte schoss ihr in die Wangen. Peinlich berührt, fixierte sie Vincent.

»Ich bin für die anderen im Raum unsichtbar. Für sie sieht es aus, als würdest du die Luft anschnauzen«, erklärte Vincent und sein Mund verzog sich zu einem durchtriebenen Lächeln. Amy konnte nicht umhin, zuzugeben, dass sie es irgendwie … anziehend fand?

Stopp! Was waren das denn für Gedanken?! Da stand ein Mann vor ihr, der ihren Tod vorausgesagt hatte, wenn er denn wahrhaft real und nicht irgendein Hirngespinst war.

»Wenn das so ist, dann rede erst mit mir, wenn ich zu Hause bin!«, zischte sie.

Nach diesem Gespräch verschwand Vincent wieder und sie war erleichtert, dass er weg war. Trotz Termin kam es ihr vor wie Stunden, die sie im Wartezimmer saß, bis der Arzt sie endlich in Empfang nahm. Die Untersuchung verlief reibungslos und ihr wurde Blut abgenommen. Jetzt mussten sie nur noch ein paar Tage auf das Ergebnis warten. Doch noch während sie sich auf den Heimweg machte, war sie sich bereits sicher, dass ihre Blutwerte unauffällig sein würden.

Aber wieso waren ihr die zwei Todesengel erschienen? War es doch nur Einbildung gewesen? Oder ein Traum? Ja, das war es ganz sicher gewesen. Doch was hatte es dann mit dieser abstrusen Situation im Wartezimmer auf sich gehabt? Der Nachricht auf ihrem Handy? Und die erneute Erscheinung dieses Vincents? Vermutlich war sie schlichtweg übermüdet. Durch die Erscheinung der Todesengel hatte sie Albträume bekommen und war in der Nacht mehrfach aufgewacht. Sie musste sich mal entspannen. Gleich, wenn Amy zu Hause war, würde sie sich ein Bad einlassen und abschalten.

Sie kramte nach ihrem Schlüssel und öffnete die Wohnungstür. Gerade als sie die Pforte zu ihrer Wohnung aufstieß, hielt sie inne. Irgendetwas war anders als sonst. Amy spürte es einfach. Vorsichtig schloss sie die Tür und schlich die Diele entlang. Vincent und Sam standen im Flur. Scheinbar hatten sie nur gewartet, dass sie nach Hause kam. Bei dem sich ihr bietenden Anblick klappte ihr der Mund auf, während sich ihre Augen weiteten und sie instinktiv einen Schritt zurücktrat.

Scheiße! Die verfolgen mich ernsthaft!

»Hallo«, begrüßte Sam sie mit einem warmen Lächeln, das ihr deutlich lieber war als die vorwurfsvollen Blicke, die ihr im Wartezimmer zugeworfen wurden waren. »Es tut mir leid, dass Vincent dich in der Arztpraxis belästigt hat. Ich habe ihm gleich erklärt, dass sich so etwas nicht gehört.«

Langsam konnte sie es nicht mehr leugnen. Sie waren zum dritten Mal erschienen. Die Todesengel existierten. Musste sie also wirklich bald sterben? Diesen Gedanken wollte sie nicht zulassen. Sam stieß Vincent mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Tut mir leid, was eben passiert ist. Aber ich kann dir versichern, dass dir der Bluttest keinen Grund zur Sorge bereiten muss. Du bist nicht krank«, murmelte Vincent.

Nach seinen Worten atmete Amy tief durch und fühlte sich leichter ums Herz.

Doch woran werde ich sterben, wenn ich nicht krank bin?

Die Gedanken schossen durch ihren Kopf.Bevor sie etwas sagen konnte, hielt Vincent ihr einen Flyer unter die Nase.

»Nach längerem Suchen haben wir das hier gefunden.«

Amy nahm ihm den Flyer ab. Die Überschrift war in großen Buchstaben gehalten.

»Einladung zum umfassenden Kunst-Literatur-Wettbewerb. Zu Ehren: Henri Christ« Darunter waren Ort und Datum verfasst.

Schon bald würde es nach Berlin gehen.

Diese Nachricht löste etwas in Amy aus. Sobald die Todesengel sie allein gelassen hatten, ging sie ins Wohnzimmer und suchte alte Fotoalben aus ihrem Schrank heraus.

Während sie sich die Fotos ihrer Kindheit ansah, traten Tränen in ihre Augen und ihre Hände zitterten, als sie die Seiten einzeln umblätterte. Auf den meisten waren sie zu dritt zu sehen. Ein Schleier aus Tränen machte es ihr kaum möglich, die Bilder zu betrachten. »Scheiße!«

Amy pfefferte das Album aufs Sofa. Die Todesengel, die Bilder, das alles erinnerte sie daran, dass ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hatte. Wie hatte er es wagen können?

Sie erinnerte sich daran, dass sie ihren Vater von klein auf wegen seiner Kunstwerke bewundert und sie ihm immer mehr nachgeeifert hatte, je älter sie wurde. Sie belegte Malkurse, bekam hohes Lob von verschiedenen Kunstlehrern, aber Amy war nie wirklich zufrieden mit sich selbst gewesen, es genügte ihren Ansprüchen nicht. Ihr Vater meinte, sie solle nicht so streng mit sich selbst sein, einfach jedes Gefühl, das sie tief in sich spürte, festhalten. Diesen Ratschlag hatte sie damals verinnerlicht und rief ihn sich immer ins Gedächtnis, sobald sie einen Stift berührte. Er war so ein guter Vater gewesen, war immer für sie und ihre Mutter da gewesen. Immer wenn Amy daran dachte, wurde ihr heiß und kalt zugleich.

Weshalb und wohin er gegangen war, wusste sie nicht.

Immer wenn Amy ihre Mutter danach fragte, blockte sie ab oder wechselte das Thema. Es war mehr als deutlich, dass es sie gebrochen hatte. Als sie ihren Ehering abgenommen hatte, war dies der finale Akt gewesen.

Amy hatte über die Jahre hinweg gelernt, Henri Christ aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie hatte die Wut als auch die Sehnsucht nach ihrem Vater unterdrückt, doch dann tauchten die zwei Todesengel auf. Sollte sie wirklich das Zeitliche segnen, war es ihr sehnlichster Wunsch, ihn wiederzutreffen, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermisste. Auch wenn Jahre vergangen waren, fühlte sie eine tiefe Verbundenheit zu ihrem Vater. Und all diese Gefühle steckte sie in jedes Gemälde, das sie malte, wenn sie Zeit fand, so wie ihr Vater es gesagt hatte.

Nachdem Vincent ihr von dem Wettbewerb berichtet hatte, war Amys Neugier gegenüber dieser Reise, der Suche nach ihrem Vater aufgeblüht. Vielleicht trug der Wind sie irgendwohin?

Kapitel 2: Einen Versuch ist es wert

Vincent

Wer war sie bloß? Diese Frage schwirrte Vincent durch den Kopf, als er wieder zu Hause war und sich die Fotos aus seinem vergangenen Leben ansah. In der Stadt der Todesengel hatte jeder sein eigenes Haus, welches wie alles andere in dieser Welt grau und schwarz gehalten war, mit Ausnahme von Fotos, die erschienen, wenn sie sich an etwas erinnerten.

Das Mädchen auf dem Bild sah zierlich aus, schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht. Vincent schloss seine Lider und versuchte, sich zu erinnern. Welche Beziehung hatten sie zueinander gehabt? Doch ihm vermochte, nichts einzufallen, nicht einmal eine kleine Eingebung.

»Und? Kommen Erinnerungen hoch?« Sams Stimme erklang aus Richtung der Haustür. Warum musste er gerade jetzt herkommen? »Nein, nichts.« Vincent seufzte, ehe er die Lider wieder öffnete. »Es ist echt frustrierend, dass unsere Erinnerungen geradezu ausgelöscht werden. Ich meine, wir hatten Menschen in unseren Leben, die uns etwas bedeutet haben, und jetzt ist es so, als hätten sie nicht existiert.«

»Mach dir keine Sorgen, Vincent. Sie kommen nach und nach wieder.«

Er ging auf Vincent zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Erinnerungen waren auch weg, als ich aufwachte. Alles, was ich wusste, war meinen Namen und dass ich Selbstmord begangen hatte, weshalb ich mein Dasein als Todesengel fristen muss. Mittlerweile weiß ich, dass meine Mutter sich hatte scheiden lassen, weil mein Vater sie misshandelt hatte. Keine Ahnung, ob ich das erfahren wollte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich nichts davon wüsste, dann müsste ich nicht an meine leidvolle Vergangenheit denken. Wie sieht es mit dir aus?«

Sams Stimme war ruhig, während er erzählte, auch sonst rührte er sich kaum, aber Vincent konnte eine tiefe Trauer in seinen Iriden ablesen.

Eine Gänsehaut zog sich über seinen Körper. Sams Vergangenheit klang so furchtbar, dass er sich nicht sicher war, ob er seine eigene in vollem Umfang kennen wollte. Was war, wenn sich Abgründe auftaten, mit denen er nicht umgehen konnte?

»Willst du in allem über deine Vergangenheit informiert sein?«, wollte Sam wissen.

Vincent dachte über seine Frage nach.

»Ehrlich gesagt, schon«, erwiderte er und knetete seine Hände im Schoß. Trotz der potenziellen Gefahr, schlimme Dinge zu erfahren, waren bestimmt Menschen in seinem Leben gewesen, von denen er wissen wollte. »Ich würde mich gern an die Menschen erinnern können, die mir mal etwas bedeutet haben. Aber ich habe Angst, herauszufinden, weshalb ich Selbstmord beging. Was ist, wenn mir bewusst wird, dass mich niemand geliebt hat?«

»Es ist manchmal besser, nicht die ganze Geschichte zu kennen«, erwiderte Sam.

Vincent sah ihn an und biss sich auf die Unterlippe. An seinen Worten war etwas Wahres dran. Sie beide waren nicht grundlos zu Todesengeln geworden.

»Aber egal, was in deinem vorherigen Leben geschehen ist, du darfst dir sicher sein, dass ich dein Freund bin.«

»Danke.« Ein kleines Lächeln huschte über Vincents Lippen. Er war froh, dass Sam sein Mentor war. Eine Zeit lang hatte er sich verlassen gefühlt. Vollkommen auf sich allein gestellt, war er verpflichtet gewesen, den Menschen zu sagen, dass sie bald sterben würden, und war hilflos ihrer Verzweiflung ausgesetzt gewesen, bis Sam kam und Licht ins Dunkel brachte. Er erinnerte sich, wie Sam ein schwerkrankes Mädchen in ein zauberhaftes Paradies geführt hatte, damit sie keine Angst vor dem Sterben bekam. Sie waren auf einer hellen Lichtung gewesen, auf der ein Pegasus stand, mit dem das Mädchen reiten durfte und durch fluffige Wolken glitt. Sam verstand es, den Menschen soweit ihre Furcht zu nehmen, wie es in seiner Macht stand. Nach dieser ersten Begegnung hatte Sam erklärt, dass er eigentlich von Anfang an bei ihm hatte sein sollen, aber er hatte es damals für besser gehalten, ihn zu beobachten, um zu sehen, wie er zurechtkam. Auf die Art war Sams Mentor damals auch mit ihm vorgegangen und geschadet hatte es ihm nicht, im Gegenteil. Er war dadurch nur gestärkt hervorgegangen und das wollte er auch für Vincent, bis er gemerkt hatte, dass es besser war, ihm direkt zur Seite zu stehen.

»Und jetzt komm, lass uns Amy aufsuchen. Wir haben ihr versprochen, ihren Vater zu finden.«

Amy

Am Abend durchsuchte Amy ihre Vorratskammer nach einer gebrauchten Box, in der sie die alten Fotos ihres Vaters aufbewahrt hatte. Während sie herumkramte, erschienen die beiden Männer wie aus dem Nichts.

»Wonach suchst du?«, erkundigte sich Vincent und verfolgte mit seinen Augen, wie Amy sämtliche Kartons durchwühlte.

»Alte Fotos von meinem Vater. Vielleicht gibt es einen Hinweis.«

Sam hockte sich neben sie, zog eine besonders ramponierte Kiste hervor und pustete die dicke Staubschicht von dem Deckel runter.

»Du hast die hier offensichtlich lange nicht mehr angefasst.«

Amy nahm ihm die Kiste ab und öffnete sie. Für einen Moment hielt sie inne.

»Da sind sie.«

Ihre Worte waren fast gehaucht, während sie spürte, wie ihr Herz unkontrolliert schneller gegen ihre Brust klopfte. Wie lange hatte sie diese Fotos nicht mehr betrachtet? Jetzt hielt sie diese Box wie einen kleinen Schatz in ihren Armen, während sie ins Wohnzimmer wanderte und sich aufs Sofa niederließ. Ein Bild nach dem anderen sah sie sich an und gemischte Gefühle wie Trauer und Wut über sein Wegbleiben stiegen in ihr auf. Gefühle, die sie seit Jahren unterdrückt hatte und die jetzt wieder aufkeimten. Ein Bild von ihm und ihrer Mutter, die Amy als Baby im Arm hielt, war abgebildet. Sie wirkten wie eine glückliche Familie, die sich im Leben nie trennen würde. Wie seltsam, dass ein Foto so trügerisch sein konnte. Amy spürte, wie der Gedanke an ihren Vater ihr die Kehle zuschnürte und ihre Augen feucht wurden. Sie hätte den Tränen freien Lauf gelassen, wenn ihr nicht eingefallen wäre, dass zwei Männer sie beobachteten, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, legte die Fotos zurück in die Kiste und drehte sich zu den beiden um.

»Hey, wenn ihr sagt, ihr könnt mir helfen, meinen Vater zu finden … Wie genau ist das gemeint?«, fragte sie.

»Wir haben … Spezialfähigkeiten.«

»Von welchen Spezialfähigkeit redet ihr?«

Sie sah die beiden neugierig an.

»Zum Beispiel den Umgebungszauber, und wir können fliegen.«

Vincent klappte dafür demonstrativ seine Flügel auf.

»Dann könnt ihr meinen Vater aufspüren und mich zu ihm teleportieren?«

Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Stirn.

»Von Teleportation war nie die Rede. Hör richtig zu!«

»Tut mir leid, dazu sind wir nicht berechtigt«, antwortete Sam.

Ein leichtes Seufzen entwich ihm, während sein Blick auf ihr ruhte, als ob er noch etwas sagen wollte, aber keine Worte fand.

»Wir sind in der Lage, den Menschen aufzuspüren, den wir in den Tod begleiten, aber dich vom einen zum anderen Ort zu teleportieren, gehört nicht dazu. Ich kann allerdings Gedanken lesen.«

Amys Magen zog sich zusammen.

Habe ich richtig gehört? Er kann Gedanken lesen? Das ist echt gruselig. Aber wenn die beiden meine einzige Chance sind, meinen Vater zu finden, sollte ich mich trotzdem anschließen. Wenn sie es überhaupt schaffen, ihn aufzuspüren. Momentan waren ihre Informationen nicht sonderlich hilfreich.

»Jetzt zum Beispiel ärgerst du dich darüber, dass wir dir nicht so helfen können, wie du es dir erhofft hast.«

»Und was sind deine Fähigkeiten?«, fragte Amy an Vincent gewandt.

»Ich kann meine Gestalt in Tiere oder Stofftiere wandeln. Es ist nützlich, wenn man auf kleine Kinder trifft. Aber dir kann ich ansehen, dass dir meine Fähigkeit nichts nutzt«, sagte Vincent trocken, woraufhin er sich einen Stoß in die Rippen seitens Sam einfing.

»Ach, wenn wir schon über meinen Tod reden: Woran sterbe ich, wenn nicht an einer Krankheit?«

Amy war überrascht, dass ihre Stimme klang, als wolle sie übers Wetter plaudern. In Wirklichkeit kroch Panik durch ihre Knochen.

»Unsere Auftraggeber haben gesagt, durch einen Unfall. Was genau passiert und wann, haben sie uns nicht mitgeteilt.«

Vincent hob die Schultern und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

Für einen Moment lag ein unangenehmes Schweigen in der Luft.

»Pass auf, mach dir um die Zukunft keine Gedanken«, durchbrach Sam die Stille. »Es ist wichtig, im Hier und Jetzt zu leben. Nun kümmern wir uns darum, deinen Vater zu finden, und das kannst du, wenn du dich in den Wettbewerb einschreibst.«

»Ja, ich wollte mich anmelden, aber es gibt einen Haken …« Sie nahm den Flyer aus ihrer Schublade, legte ihn auf den Tisch und deutete auf eine Stelle im Text. »Voraussetzung ist eine Mitgliedschaft in der High Arts Society.«

»Was bedeutet das?«

Vincent hob den Flyer vom Tisch und sah ihn sich genauer an.

»Das bedeutet, dass es zwingend notwendig ist, diesem elitären Club anzugehören, um überhaupt teilnehmen zu dürfen.«

Amys Schultern sanken, als sie sprach, und ihre Stimme klang leise, beinahe erstickt. Sie vermied den Blickkontakt und starrte stattdessen auf den Boden.

»Das ist doch kein Problem! Wir erstellen dir einen gefälschten Ausweis und schleusen dich ein«, sagte Vincent mit einem schelmischen Lächeln.

»Aber das wäre Betrug. Was ist, wenn sie auffliegt?«, warf Sam skeptisch ein.

»Na und? Wir haben nichts zu verlieren.«

»Wenn Amy disqualifiziert wird, bevor sie ihren Vater trifft, war das Ganze reine Zeitverschwendung.«

»Aber einen Versuch ist es wert.«

»Ist schon gut«, unterbrach Amy ihren Streit. »Wie wahrscheinlich ist es, dass mein Vater auftaucht? Es heißt ja nur ›zu seinen Ehren‹.«

Vincent

Vincent dachte nicht daran, aufzugeben. Er setzte am nächsten Tag seine Erkundungen fort und durchsuchte Amys Box, als sie arbeiten war. Dabei stieß er auf einen Artikel über die High Arts Society. Es war ein Gruppenfoto mit mehreren Frauen und Männern, und er erkannte an ihren überlegenen Gesichtsausdrücken, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Vincent las sich den Artikel durch und sein Verdacht bestätigte sich, als er die folgenden ersten Zeilen betrachtete:

»Die High Arts Society ist eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die nur die Elite unter ihnen duldet, nachdem diese sich bewiesen hat …«

Weiter wollte er nicht lesen, sonst würde er sich nur übergeben.

Sein Blick verharrte auf dem Foto, die Stirn krausgezogen und die Mundwinkel leicht verzogen, als würde ihm ein bitterer Geschmack auf der Zunge liegen. Seine Augen verengten sich, und er schnaubte leise, bevor er den Blick ruckartig vom Bild abwand, als hätte er etwas Ekliges gesehen. Anscheinend handelte es sich bei dieser Society um einen Club, dem nur die Elite in der Kunstwelt beitreten durfte. Ein ausgewählter Kreis von Personen, die hohe Kunst und Literatur zu schätzen wussten. Diese Menschen dachten wirklich, dass man Kunst nur genießen und verstehen konnte, wenn man an einer Eliteuniversität war und Papa mindestens sechsstellig verdiente. Vincent verdrehte die Augen. Er kannte Amy nicht, aber bis jetzt hatte er den Eindruck, dass sie sich in so einem Kreis nicht wohlfühlen würde. Dennoch würde sie durch die Teilnahme an dem Wettbewerb bestimmt dem Wiedersehen mit ihrem Vater näher kommen. Sam hatte recht, es wäre Betrug, wenn sie Amy einschleusen würden, aber es fühlte sich falsch an, es nicht zu versuchen. Sein Blick fiel wieder auf das Foto und blieb bei einem Mann hängen, dessen Ausweis an einem Anhänger aus seiner Tasche baumelte. Wenn er diesen Ausweis nur nachstellen konnte … Plötzlich wusste er, was zu tun war.

Mit dem Artikel kehrte er in die Schattenwelt zurück.

Er lief mit verschränkten Armen durch den Park, betrachtete die Bäume und dachte über den Wettbewerb nach. Gehörte es nicht zu seiner Aufgabe, alles Erdenkliche zu versuchen, um den Wunsch seines Auftrags zu erledigen?

Sam würde das auch so sehen, oder? Aber jetzt muss ich ohne seine Hilfe auskommen.

Vincent ging weiter und sah von Weitem Kyle.

O nein. Bei seinem Anblick verengten sich seine Augen. Am liebsten wäre er auf der Stelle wieder umgekehrt. Dieser Typ war einer dieser Todesengel, die sich für wichtiger hielten, als sie waren. Vincent machte auf dem Absatz kehrt und lief in die entgegensetzte Richtung. Doch da erschien Kyle vor seiner Nase und sein spitzbübisches Gesicht veranlasste Vincent beinahe dazu, seine Faust darin zu versenken.

»Hey, Vincent!«

Innerlich flehte er schon um Geduld.

»Hallo, Kyle«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Was machst du hier? Ich dachte, du hättest einen Auftrag? Und wo hast du Sam gelassen, oder hat er keine Lust auf dich?«

»Ja, den habe ich, und ich bin hier, um etwas zu erledigen. Sam brauche ich dafür nicht.«

Vincent ging weiter in der Hoffnung, Kyle loszuwerden. Doch der folgte ihm schneller als sein eigener Schatten.

»Ist das so? Na, ich hoffe, es ist nichts Unlauteres. Sonst bist du deinen Auftrag gleich los und Sam wäre bestimmt ziemlich ungehalten, wenn du es vermasselst.«

Vincent blieb stehen.

»Es geht dich nichts an, wie ich meinen Auftrag erledige«, zischte er. »Und jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe!«

»Dann habe ich recht? Du bist dabei, etwas zu tun, was dein Mentor nicht will? Ist doch schon mal vorgekommen, wie ich hörte.«

Vincent zog es vor, nicht zu antworten. Es handelte sich nur um dumme Gerüchte, die er preisgab. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kyle seinen Mentor nicht besonders leiden konnte und es nur darauf absah, Sam für sich zu gewinnen. Es war besser, diese Unterhaltung einfach abzubrechen und ihm nicht noch mehr Spielraum für Provokationen zu lassen.

Vincent breitete seine Flügel aus und flog davon. Er nahm einige Kurven, um sicherzugehen, dass Kyle ihm nicht mehr folgte, und landete vor seinem Haus. Seufzend öffnete er seine Haustür und schleppte sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf seine Couch niederfallen ließ. Vincent war genervt, doch das, was Kyle gesagt hatte, brachte ihm zum Nachdenken.

Gehörte das Fälschen eines Ausweises wirklich zu unlauteren Dingen? Klar, als Mensch war es verboten, aber was besagten die Gesetze der Todesengel? Heiligte der Zweck nicht die Mittel? Was würde passieren, wenn der Betrug aufflog? Vielleicht wäre es besser, wenn er es sein ließ. Seine Gedanken rasten. Er kannte Amy nicht wirklich und wenn sie ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Trauer ansah, konnte es ihm doch egal sein, oder? Wenn sich ihre wunderschönen blauen Augen mit Tränen füllten, dann war das doch … Ach, verdammt! Es war sein Auftrag und Vincent sah nicht ein, sich ausgerechnet von Kyle etwas einreden zu lassen. Er musste es probieren. Wozu waren seine Fähigkeiten sonst gut?

Er tippte mit dem Finger auf den Tisch und stellte sich vor, wie die Karte erstellt wurde. Er dachte an den Ausweis, den er auf dem Foto der High Arts Society erblickt hatte. Nichts passierte. Vincent knirschte mit den Zähnen. Immer und immer wieder versuchte er es, doch ohne Erfolg.

»Du bist ganz schön hartnäckig, weißt du das?« Sam war plötzlich und lautlos neben ihm aufgetaucht. Vincent war daraufhin zusammengezuckt und drehte sich zu seinem Mentor. »Ich habe dir gesagt, dass es Betrug wäre, wenn wir den Ausweis fälschen, aber ich habe über deine Worte nachgedacht. Einen Versuch ist es wert.«

Ein süffisantes Lächeln zog sich über Vincents Lippen.

»Wieso hast du dich anders entschieden?«

Er versuchte, den amüsierten Tonfall zu unterdrücken, was ihm aber nicht so recht gelang.

»Was wäre ich für ein Mentor, wenn ich dich vor dieser Hürde allein lasse? Außerdem sehe ich auch keinen anderen Ausweg.«

Er legte Vincent einen perfekt gefälschten Ausweis auf den Tisch. Alles stimmte: die Abbildung der zwei gekreuzten Stifte, die das Wappen der High Arts Society darstellte, bis hin zu Amys Foto und ihrem Namen. Sogar ein Wasserzeichen war auszumachen.

»Vielen Dank, Sam!« Er wusste, dass auf Sam Verlass war.

»Na, geh schon zu Amy und bring ihr den Ausweis und sei diesmal höflich zu ihr.«

»Ich bin doch immer höflich.«

Sam erwiderte dies nur mit einem vielsagenden Schmunzeln.

Vincent fand sie in ihrem Zimmer, als Amy sich einen Pullover über den Kopf zog. Sie schrie, als sie ihn erblickte. Sie trug nur einen BH. Schnell schlang sie ihre Arme um ihre Brüste. »Du perverser Spanner! Raus aus meinem Schlafzimmer!«

»Beruhige dich mal.« Vincent musterte sie von oben bis unten. Ein durchtriebenes Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Es gibt sowieso nichts zu sehen.«

Amy packte ihr Kissen und warf es nach ihm. Vincent wich mit einer geschmeidigen Bewegung zur Seite aus.

»Na gut, dann gehe ich. Ich wollte dir nur den hier überreichen.« Vincent legte Amys neuen Ausweis auf den Nachttisch. Sie sah sich ihn genau an und fuhr mit dem Finger darüber.

Kurz darauf nahm sie ihn in die Hand und starrte ihn fassungslos an.

»Du hast …«

»Nun ja, ursprünglich war es Sam. Bedank dich bei ihm. Ich möchte, dass du dich bei dem Wettbewerb anmeldest. Ich habe das Gefühl, dass dies der richtige Weg ist. Na? Was sagst du?«

Amy schenkte ihm ein entzücktes Lächeln. »Einen Versuch ist es wert.«

Kapitel 3: Das Wohnheim

Amy

»Du willst nach Berlin, um an einem Wettbewerb teilzunehmen?«

Es hatte geklappt. Amy hatte die Anmeldung zusammen mit einer Kopie ihres Ausweises zu der Adresse geschickt, die auf dem Flyer angegeben gewesen war. Wenige Tage später kam per Post eine positive Rückmeldung. Sie war angenommen worden. Alle Teilnehmer sollten sich in einem Wohnheim einfinden, welches sich in der Nähe der Halle befand, in der der Wettbewerb stattfinden würde. Amy suchte, nachdem sie die erfreuliche Nachricht erhalten hatte, ihre Mutter zu Hause auf. Doch sie verriet ihr nicht, dass sie nur an der ganzen Sache teilnahm, um ihren Vater ausfindig zu machen. Sie hatte ihr gesagt, dass sie die Herausforderung als Künstlerin suchte. Die Diskussion, die daraufhin folgen würde, wäre zu anstrengend und möglicherweise würde es so weit gehen, dass ihre Mutter ihr ein schlechtes Gewissen einredete.

»Ja, es ist ein Kunstwettbewerb. Ich werde so lange bleiben, bis es für mich vorbei ist.« Amy knetete ihre Hände im Schoß.

Eine tiefe Sorgenfalte bildete sich auf der Stirn ihrer Mutter. »Und wann kehrst du wieder zurück?«

Amy nahm ihre Brille ab und putzte die Gläser mit ihrem Shirt, nur um etwas zu tun zu haben.

»Wenn ich Glück habe, in drei Wochen - vorausgesetzt, ich komme ins Finale. Ansonsten bin ich schon früher wieder da.«

»Drei Wochen? Das ist ganz schön lang.« Ihre Mutter biss sich auf die Unterlippe. Ein hörbares Seufzen entwich ihr, während sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihre Tochter mit hochgezogenen Brauen ansah.

»Ja, aber ich habe alles auf der Arbeit abgeklärt. Versteh doch, es ist mir wichtig. Du weißt doch, wie sehr ich Kunst liebe.«

»Ich weiß. Deinen Vater hätte dieser Wettbewerb ebenfalls sehr gereizt - und das macht mir Sorgen.«

Auch wenn sie sich direkt gegenübersaßen, fühlte es sich an, als würde sich eine Kluft zwischen ihnen bilden.

»Tu das nicht. Ich bin nicht wie mein Vater, ich kehre zurück. Versprochen.«

Nein, nie würde sie ihre Mutter so im Stich lassen, wie es ihr Vater getan hatte. Dass ihre Mutter überhaupt annahm, dass sie so sein könnte wie ihr Vater, verletzte sie, doch sie zog es vor, nichts zu sagen.

Natürlich konnte sie ihre Mutter verstehen, doch hier musste sie ihren eigenen Gefühlen folgen. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb, aber eines war sicher: Sie wollte nicht untätig zu Hause rumsitzen und auf ihren Tod warten. Dennoch galt es momentan, ihre Mutter zu beruhigen. Sie nahm ihre Hand, die trotz der Wärme des Raumes eiskalt war, und strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken.

»Ich nehme dich beim Wort. Na gut, dann wünsche ich dir viel Erfolg.«

Amy war erleichtert, dass sie nicht mehr auf ihre Mutter einreden musste. Lange Diskussionen konnte sie nicht ausstehen und noch weniger mochte sie es, wenn man ihr ein schlechtes Gewissen einredete. Wie gut, dass dies ihr erspart blieb.

»Hast du alles gepackt, was du brauchst? Denk daran, genug Proviant für unterwegs mitzunehmen und ausreichend Pullover einzupacken, es kann kalt werden«, riet ihre Mutter.

»Jaja … Ich habe an alles gedacht.« Auch wenn sie schon siebenundzwanzig Jahre alt war und allein lebte, hörte ihre Mutter nicht auf, sie zu umsorgen.

Einige Tage später befand sich Amy am Kölner Hauptbahnhof, um den ICE nach Berlin zu nehmen. Die Anzeigetafeln auf dem Gleis kündeten neunzig Minuten Verspätung an.

Na, das hätte schlimmer sein können, dachte sich Amy.

»Falls du es nicht mitbekommen hast, der Zug hat neunzig Minuten Verspätung - und du denkst, das hätte schlimmer sein können?«, fragte Sam genervt und blickte zur Tafel. Vincent ließ den Blick über das leere Gleis schweifen. Er wickelte den Zeigefinger um eine seiner Locken, atmete hörbar aus und starrte mit angespanntem Gesichtsausdruck auf die Uhr über den Bahnsteigen, als könne er die Zeit schneller vergehen lassen. Die Todesengel standen links und rechts neben Amy.

»Für deutsche Verhältnisse ist das in Ordnung. Die Bahn hätte auch ausfallen können, und ihr wollt mich ja nicht teleportieren.« Wegen der Verspätung der Bahn hatten sich die meisten Menschen in die Warteräume zurückgezogen, das Gleis war so gut wie leer.

»Wir haben dir schon erklärt, dass es nicht in unserer Macht steht, dich irgendwohin zu teleportieren«, maulte Vincent sie an. »Hast du uns überhaupt zugehört?« Amy verschränkte die Arme vor der Brust und gab ein genervtes Schnauben von sich.



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