Beyond Light - Katy J. Michels - E-Book

Beyond Light E-Book

Katy J. Michels

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Freundschaft alle Grenzen überwinden könnte, wie weit würdest du gehen? Als ihre beste Freundin Hazel stirbt, bricht Lexis Welt zusammen. Und dann erscheint ihr auch noch Hazels Geist! Lexi beschließt, ihr in die Geisterwelt zu folgen, um sich endgültig zu verabschieden. Doch als Lebende hat sie dort wenig verloren. Ihr Seelenlicht zieht schnell die Aufmerksamkeit dunkler Mächte auf sich. Plötzlich steht nicht nur ihre Freundschaft auf dem Spiel, sondern das Schicksal beider Welten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Summer
Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Hazel
Summer
Lexi
Hazel
Summer
Lexi
Hazel
Summer
Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Summer
Hazel
Lexi
Hazel
Summer
Hazel
Summer
Lexi
Summer
Hazel
Lexi
Hazel
Lexi
Schriften der Geisterwelt

 

HYBRID VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

03/2025

 

BEYOND LIGHT

Welt im Schatten

 

 

© by Katy J. Michels

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

 

Umschlaggestaltung: © 2025 by Magical Cover Design

Lektorat: Emilia LaForge

Korrektorat: Senta Herrmann

Buchsatz: Nadine Engel

Autorenfoto: Rainer Laumann

Illustrationen: Katy J. Michels

 

 

ISBN 9783967412857

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Printed in Germany

 

 

 

 

 

Katy J. Michels

 

 

Beyond Light

 

Welt im Schatten

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

Wahre Freundschaft ist wie der Flug eines Adlers: ungezwungen und frei. Versuchst du sie zu binden, so entzieht sie sich dir. Sie findet einen Weg über alle Grenzen hinaus, denn ihre Seele schlummert dort, wo nichts sie zerstören kann –

nicht einmal der Tod.

(Kathrin Michels)

 

 

 

Diese Geschichte ist für dich. Für alle, die jemanden gehen lassen mussten – und in der Welt zwischen Schatten und Sternen die Hoffnung nicht verlieren.

 

 

 

Für Evi, Sarah und Flo. Danke, dass ihr mein Leben bereichert habt. Ihr seid diejenigen, für die auch ich diesen Weg gegangen wäre. Irgendwann sehen wir uns wieder! ♥

 

 

 

Die Content Notes findest du am Ende des Buches.

 

Playlist

Warriors – League of Legends, 2WEI, Edda Hayes

The Baddest – K/DA, (G)I-DLE, Wolftyla, Bea Miller, League of Legends

Cut – Plumb

Ghost – Justin Bieber

Nur zu Besuch – Die Toten Hosen

10.000 Fragen – Jeanette Biedermann

Shot in the Dark – Within Temptation

Exit Alive – GEN.KLOUD

The Call – League of Legends, 2WEI, Edda Hayes, Louis Leibfried

Goodbye (from the series Arcane) – League of Legends, Ramsey, Arcane

Lanternlight – Nightwish

Let It Burn – Nemesea

The Dark Gift – Satyrian

The Heart of the Raven – Mono Inc.

Wenn die Engel fallen – Lyriel

It’s Over – Nemesea

Hold My Hand – Lady Gaga

Deadlocked – Tristania

Winter Is Coming – Beyond The Black

Heart of the Hurricane – Beyond The Black

Ich lebe – Christina Stürmer

Light of Hope – Vanilla Ninja

Fear Not This Night – Malukah, Taylor Davis, Lara de Wit

Fire – Floor Jansen

We’ll Be Free – Moonlight Haze

Remember Me – Michael Schulte

Space Between – Dover Cameron, Sofia Carson, Disney

Perseverance – Michelle McLaughlin

 

 

Hazel

London, Greenwich

 

 

»Jetzt macht schon!«

Der warnende Piepton schnitt in ihre Ohren, als ihr Finger das falsche Feld drückte. Das Display flackerte rot auf und Hazel zuckte zusammen. »Verdammt, Jake! Hör auf, mich zu stressen! Ich kann das nicht, wenn du mir auf der Pelle hängst. Wegen dir löse ich noch den Alarm aus.«

»Aber er hat recht«, erklang es neben ihr.

Hazel hob den Kopf. Sie warf ihrer besten Freundin, die sich in einer eleganten Bewegung von der Wand abstieß und einen Schritt auf sie zumachte, einen finsteren Blick zu. Na wunderbar! Jetzt fiel Lexi ihr auch noch in den Rücken. Das blasse Gesicht, das von langen haselnussbraunen Haarsträhnen eingerahmt wurde, wirkte angespannt. Missmutig schaute Hazel ihr entgegen. Ein Starren, dem Lexi mit dem herausfordernden Funkeln ihrer sturmblauen Augen und dem vielsagenden Anheben ihres Smartphones begegnete, auf dem ein Timer rücksichtslos heruntertickte. So wenig Zeit blieb ihr noch? Hazel schluckte und sah von den Zahlen weg, die viel zu schnell davoneilten.

Plötzlich zitterten ihre Finger. Wie sollte sie das nur schaffen? Vor allem, wenn alle anderen offenbar an ihr zweifelten, bevor sie es überhaupt richtig versucht hatte? War ja nicht so, dass sie nicht schon ihr Bestes gab. Nur mühsam gewann Hazel ihre Ruhe zurück. Bloß nicht zeigen, wie sehr sie diese Erkenntnis in Panik versetzte. Wenn das hier schiefging … Hör auf! Daran denken, heißt scheitern. Also lass es und konzentrier dich, verdammt noch mal! »Je mehr ihr mich unter Druck setzt, desto weniger werde ich dieses Schloss knacken.« Ihre Stimme klang dünn. So elendig dünn.

Lexis Mundwinkel zuckte, ehe sie unmerklich nickte und einen kurzen Blick mit Fin, dem Anführer ihrer Gang, tauschte. Dann drehte sie ihren Kopf wieder, um den Flur zu beobachten, aus dem sie gekommen waren.

Sicher bereuten Lexi und Fin es, sie als jüngstes Teammitglied mit dieser Aufgabe betraut zu haben. Dabei hatte sie so viel geübt.

Hazel biss sich auf die Lippen und straffte sich. Keine Schwäche zeigen. Sie schaffte das. Das Vertrauen in sie war gerechtfertigt.Also musste sie diesen bescheuerten Zugang endlich öffnen.

Betont lässig strich sich Hazel eine Haarsträhne, die ihr immer wieder die Sicht raubte, aus der Stirn.

Erneut wandte sie sich dem Sicherheitsschloss zu und blies langsam die Luft aus den Lungen. Nur die Ruhe.

Vergeblich versuchte sie, ihre Finger unter Kontrolle zu bekommen. Es konnte doch nicht so schwer sein, diese achtstellige PIN einzugeben.

Hazel starrte das Tastaturfeld an, klemmte die Zunge an die obere Zahnreihe und hielt den Atem an. Jetzt nur keine Bewegung zu viel. Das war ihr letzter Versuch, bevor das System automatisch den Alarm auslöste. Ihre Hand schwebte über den Zahlen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, tippte sie die Kombination ein. Ihr Herz hämmerte im Takt dazu.

7-1-3-5-6-3-4-7.

Nichts. Das Bedienfeld glühte noch immer in diesem unheilvollen Rot. Hazel spannte sich an, während ihr Magen rebellierte. Als sie die Sirene beinahe schon in ihren Ohren schrillen hörte, sprang das Bedienfeld doch noch auf Grün und es klickte. Der Bolzen im Inneren des Mechanismus schnappte zur Seite. Ein leises Summen gab die Tür frei und Hazel atmete erleichtert aus. Vor ihren Augen tanzten schwarze Flecken. Noch eine Sekunde länger und sie wäre vor Angst gestorben. Ganz sicher!

»Gut gemacht.« Ein roter Haarschopf schob sich neben sie. Zwischen den halblangen Strähnen, die wirr in das Gesicht hingen, zwinkerte Fin sie anerkennend an.

Hitze breitete sich auf Hazels Wangen aus. Verlegen lächelte sie und rieb sich den Nacken. Dass das jetzt ausgerechnet von ihm kam. Normalerweise war er der Letzte, der ein nettes Wort für die Leistung anderer übrighatte – vor allem für ihre. »Danke …«

Ihre Stimme war kaum zu hören. Hazel räusperte sich und wischte das Haar hinter ihre Ohren, um sich zu sammeln.

Wenn sie Glück hatte, dann bemerkte niemand, wie sehr sie dieses Lob gerade aus dem Konzept brachte. Das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Jake suchte sowieso schon ständig neue Möglichkeiten, sie bloßzustellen. Da durfte sie nicht zeigen, dass sie mit zu viel Aufmerksamkeit nicht gut umgehen konnte.

Fin trat an Hazel vorbei und stieß die Tür auf. Hazels Glieder bebten mittlerweile unkontrolliert. Das hier war eine Nummer zu groß für sie. Wieso hatte sie sich darauf eingelassen? Weil sie unbedingt mitwollte? Weil sie ihre Freunde so lange genervt hatte, bis sie endlich Ja gesagt hatten, und dazugehören wollte? Jetzt im Nachhinein kam ihr dieser Wunsch vollkommen bescheuert vor.

Noch einmal starrte sie auf das Schloss. Irgendjemand drängte sie durch die Tür ins Innere.

Drinnen! Sie waren wirklich drin!

Fin zögerte, ehe er sich umdrehte und jeden von ihnen ernst musterte. »Wir haben zehn Minuten, bis unser Zeitfenster für den Auftrag endet. Ihr wisst, was das bedeutet.«

Hinter ihr schnalzte jemand. Der Laut klang eindeutig unwillig. Fast stolperte Hazel über ihre eigenen Füße, als eine schmale Gestalt sie unsanft zur Seite schob und sich an ihr vorbeizwängte. Jakes Mimik wirkte genauso blasiert wie immer, als er sich in dem vollgestellten Lagerraum umblickte. Auch Hazel schaute sich um. Drei lange Regalreihen standen dicht an dicht bis zum hinteren Ende aneinander. Die Metallfächer quollen über vor sperrigen Kisten in allerlei Größen. Bis unter die Decke reichte dieser Wald aus Pappe. Der Warenwert musste in die Zehntausende gehen. Wieder schnaufte Jake übertrieben laut. »Können wir jetzt endlich anfangen? Sie hat eh schon zu viel Zeit verschwendet. Ich hätte halb so lang gebraucht.«

Hazel biss sich auf die Lippe. Sie hatte sich doch so bemüht. »Wir schaffen das schon. Es ist noch genügend Zeit übrig.«

Jakes ungewöhnlich weite Pupillen fixierten sie ungnädig. »Ach, halt doch die Klappe, Brownie! Du weißt genau, dass wir die nicht haben. Wenn wir auffliegen, dann nur deinetwegen! Wegen deiner Unfähigkeit sind wir so langsam vorangekommen. Du hast es nicht drauf und jetzt haben wir den Salat.«

Hazel zuckte zurück. Aus seinem Mund taten die Worte umso mehr weh und sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen.

Ein Schatten schnellte nach vorn. Lexis Finger gruben sich in Jakes hellen Zopf und sie riss seinen Kopf grob zurück. »Entschuldige dich! Sofort! Sie hat ihre Zeit vom letzten Mal fast um eine halbe Minute unterboten. Also hör auf, deinen Frust an ihr auszulassen. Wenn du mit deinem armseligen Leben unzufrieden bist, dann such dir jemanden, dem du gewachsen bist. Nenn sie noch einmal so und ich sorg dafür, dass dein nächster Trip dein letzter war, verstanden?«

Jake funkelte erst Lexi und danach Hazel hasserfüllt an. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Ein Zeichen dafür, dass seine Dosis Amphetamine zu lange her war. Abwehrend hob er die Hände, lächelte dünn und riss sich los. »Ja, schon gut. War nich’ so gemeint.«

Hazel fühlte sich plötzlich müde. »Lass gut sein, Lexi.« Hatte sie wirklich geglaubt, dass Jakes Verhalten sich ihr gegenüber ändern würde, wenn sie das hier hinbekäme?

Mit einem Mal flog hinter ihnen die Tür auf und knallte mit einem Krachen gegen die Wand.

»Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unsere kleine Versagertruppe aus Lewisham ist!«

Hazel zuckte zusammen. Voller Angst blickte sie dem hochgewachsenen Jungen entgegen. Seine halblangen schwarzen Haare lugten unter einem Käppi hervor und umrahmten sein bulliges Gesicht wie ein Wischmob. Auf seiner Bomberjacke war eine sich aufbäumende Schlange mit aufgerissenem Maul abgebildet, die den Betrachter anzugreifen schien.

Aber die Schlange jagte ihr keinen Schreck ein. Sie prangte als Erkennungszeichen überall in diesem Viertel. Für das Klappmesser, das gerade in seiner Hand aufschnappte, galt das allerdings nicht. Eine Geste, die nicht bedrohlicher wirken konnte, vor allem, weil hinter ihm weitere seiner Freunde in den Raum strömten. »Wie oft haben wir euch gesagt, ihr sollt in eurem mickrigen Teil der Stadt bleiben, eh?«

»Oh, scheiße! Die Razors!«, rief Lexi.

»Haut ab! Raus hier! Raus!« Das kam von Fin.

Jakes Karomantel flatterte durch Hazels Sichtfeld, als er hinter irgendeinem der Regale verschwand. Auch Lexi und Fin machten sich aus dem Staub.

Nur Hazel stand wie angewurzelt am Fleck.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Die anderen konnten sie nicht hier allein lassen! Ein Mädel mit Nasenpiercing ließ die Fäuste unmissverständlich gegeneinanderprallen und kam auf sie zu. Ein Schlagring blitzte auf. Erst in diesem Moment kehrte der Tatendrang in Hazels Glieder zurück. Sie musste hier weg – und zwar sofort!

Blindlings rannte sie los. So schnell sie konnte, stob sie durch die engen Gassen aus Elektronik- und Computerzubehör, das sie hatten stehlen wollen. Vielleicht konnte sie sich irgendwo verstecken.

Neben und hinter ihr erklangen polternde Schritte. Viel zu nah!

»Komm spielen, Süße! Wenn du dich stellst, drücken wir vielleicht ein Auge zu.«

Hazel gab einen wimmernden Laut von sich. Das war eine Lüge. Sie konnte froh sein, wenn die sie nur verprügelten. Ihr wurde eiskalt. Was, wenn sie genauso endete wie das Mädchen, das sie vor zwei Wochen aus der Themse gefischt hatten? Nackt und … Hazel beschleunigte ihre Schritte, versuchte die Schlagzeilen aus der Zeitung, die in ihrer Erinnerung emporkrochen, aus ihrem Kopf zu verbannen. Folter. Vergewaltigung. Am Ende Tod. Die Angst wurde mit einem Mal übermächtig. Sie hätte sich nicht für diese Aktion melden sollen!

Schluchzend rannte Hazel um die nächste Ecke und prallte zurück. Eine Betonwand versperrte ihr den Weg. Ihr blieb nur der Weg nach rechts oder links. Wohin jetzt? Kurzerhand wandte sie sich nach links.

Eine Hand packte ihren Oberarm. »Hab ich dich!«

Mit einem Aufschrei versuchte Hazel, sich loszureißen. Vergeblich. Der Junge mit dem Käppi hielt sie eisern fest. Schmerz bohrte sich in die Stelle, an der schwielige Finger sie wie ein Schraubstock umklammerten.

»Lass mich los!« Immer wieder schlug sie auf ihr Gegenüber ein, dessen unnachgiebiger Griff sich nicht lösen wollte. Ein Hieb in den Magen trieb ihr die Tränen in die Augen und Hazel krümmte sich. In ihren Ohren rauschte es und sie hatte Mühe, nicht gänzlich zusammenzusacken. Wieso tat das so weh? Irgendwo entfernt klapperte etwas.

»Schnappt euch die Loser!«

Unerwartet lockerte sich die Umklammerung um ihren Oberarm, während sie zur Seite geschoben wurde. Ihr Überlebensinstinkt meldete sich mit aller Macht zurück. Jetzt oder nie. Mit einem Ruck riss Hazel sich los und sprang zurück.

Etwas Hartes rammte sich in ihre Hüfte, als sie gegen ein unerwartetes Hindernis stieß. Zum Schmerz in ihrem Bauch gesellte sich ein weiterer und Hazel presste stöhnend die Hände an ihre Seite. Ein Luftzug strich über ihre erhitzte Wange. Blindlings tastete sie sich vor und suchte Halt an der glatten Wand. Wieder streichelte eine kühle Brise über ihre Haut und trocknete die Tränen, die darüber rannen. Blinzelnd versuchte Hazel, mehr zu erkennen. Eine helle Öffnung befand sich wenige Schritte neben ihr. Ein Fenster! Vielleicht konnte sie so entkommen. Hastig bewegte sie sich in die Richtung und griff nach dem Fenstersims, der sich wie ein Rettungsanker unter ihre Finger schmiegte.

Die Angst verlieh ihr Flügel und sie beugte sich nach vorn, stieß die Glasflügel auf. Irgendwo musste es weitergehen. Das durfte nicht das Ende sein!

Ein Arm schloss sich um ihre Hüfte und zog sie zurück. »Du kleine Schlampe. Dich mach ich fertig!«

Verzweifelt klammerte Hazel sich an das Holz unter ihren Fingern und trat um sich. Sie sah die blitzende Klinge kommen, ohne etwas dagegen tun zu können. Ein ruckartiger Stoß traf sie in der Rippengegend, als das Messer unterhalb ihres Herzens in ihren Körper stach. Ein unsagbarer Schmerz explodierte an dieser Stelle und ließ sie zur Seite taumeln.

Ihre Welt kippte und sie prallte blind vor Qual gegen die Kante des geöffneten Fensters. Ihre Bewegung wurde ungnädig abgebremst. Orientierungslos verlor sie das Gleichgewicht und spürte eine Hand, die ihr einen weiteren Schubs zwischen die Schulterblätter gab. »Guten Flug.«

Kühle Luft empfing sie. Es ging alles rasend schnell. Benommen registrierte sie das Gefühl des freien Falls, das sie erfasste. Wieso?

Aus der Ferne hörte sie einen gellenden Schrei.

»Hazel! Nein!«

Die Worte hallten in ihren Ohren nach und verstummten erst, als sie zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden aufprallte.

 

 

 

 

Lexi

London, Greenwich

 

 

»Hazel! Nein!« Lexis Stimme überschlug sich und sie schoss neben der Palette, hinter der sie kauerte, in die Höhe.

»Bleib hier! Spinnst du?«, zischte Fin und hielt sie fest. Seine Hand legte sich über ihre Lippen. Hastig zog er sie hinter den Gabelstapler zurück und drückte sie nach unten. Vor ihnen, kaum drei Meter entfernt, fuhren gleich zwei der Razors herum. Starr verfolgte Lexi durch die Holzlatten, wie sie in ihre Richtung sahen, doch ihre Gedanken schweiften ab. Das Bild von Hazel, die aus dem Fenster stürzte, brannte sich unweigerlich in ihre Erinnerung ein.

»Du kannst ihr nicht helfen, wenn du auch stirbst.« Fin schüttelte sie unsanft, doch seine Worte drangen kaum zu ihr durch.

Ein Zittern durchlief ihren Körper. Allein der Gedanke … »Sie ist nicht …«

Das Messer, der Sturz. Mit einem gequälten Stöhnen schloss Lexi die Lider und hob die Hand, um sie sich auf die Augen zu pressen. Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle und Fin zog sie an sich.

»Du musst hier weg.«

Bildete sie sich das ein oder klang seine Stimme belegt?

»Verschwinde von hier! Los!« Wie die Klinge sich zuvor in Hazel gegraben hatte, stachen Fins Worte nun in Lexi – nur tiefer. Sie schnitten in ihre Seele.

Fliehen? Aber dann ließ sie die anderen im Stich – und Hazel endgültig allein.

Kraftlos hob sie den Blick, sah Fin an. »Und du? Was ist mit dir?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich um Hazel. Geh!« Erneut packte er ihre Schultern, doch dieses Mal hatte die Berührung nichts Beruhigendes mehr. Im Gegenteil. Er schob sie von sich in Richtung eines Lüftungsgitters, das sich nicht sehr weit entfernt befand. Lexi riss die Augen auf.

Das konnte doch nicht sein Ernst sein? Wusste er denn nicht, was ihm blühte, wenn die Razors ihn schnappten? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nein! Nein, ich lass dich nicht auch noch allein. Dann bringen sie dich um!«

»Mit Vergnügen sogar.« Ein Schatten fiel über sie und Lexi schrie auf.

Fins Hände lösten sich von ihren Schultern. Abrupt und endgültig. Er verpasste ihr einen rüden Stoß weg von sich und der drohenden Gefahr. »Hau ab! Los, mach schon!« Im nächsten Augenblick schnellte er empor und stürzte sich auf den hochgewachsenen Hünen, schlug mit der Faust auf ihn ein. Blind vor Angst fuhr Lexi herum und sprintete auf die rettende Öffnung zu. Verzweifelt packten ihre Finger das rostige Gitter und rüttelten daran. Nichts. Das Scheißteil bewegte sich einfach nicht. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück und rechnete damit, gleich geschnappt zu werden. Unerwartet tauchte Fin neben ihr auf und half ihr, das Gitter zu lösen. An seiner Stirn prangte eine üble Platzwunde, Blut rann in roten Schlieren an seinem Kinn herab. »Fin …«

Er warf ihr einen finsteren Blick zu und hantierte weiter am Verschluss des Gitters. Mit einem Wutschrei riss er es schließlich zur Seite und warf es scheppernd davon. »Rein mit dir! Los!«

Nein! Nicht! »Fin!«

Die Dunkelheit umfing sie gnadenlos, als er sie, ohne Rücksicht auf ihren Protest, kurzerhand in das Loch schob. Alles in ihr schrie danach, das hier zu verhindern, doch seiner Kraft hatte sie nichts entgegenzusetzen. Stein schabte über ihre Wange und sie stieß sich den Kopf an einer Kante. Trotzdem ließ er nicht von ihr ab und gab sich erst zufrieden, als sie vollkommen im Lüftungsschacht steckte. Und plötzlich verschwanden seine Finger. Lexi hörte ihn aufstöhnen, doch sie konnte nicht sehen, was passierte. Was sie jedoch fühlte, waren Hände, die ihre Knöchel umfassten. Hart und endgültig. Jemand versuchte, sie zurückzuziehen. Wie von Sinnen trat Lexi zu, ignorierte den erbosten Fluch und schob sich weiter. Ihr keuchender Atem, der viel zu laut in dieser Umgebung erklang, schmeckte nach Staub und Moder. Noch einmal trat sie zu, so fest sie konnte, und war frei. Immer tiefer zog sie sich in den Schacht, weiter nach vorn, wo auch immer er hinführte. Weg von der Öffnung. Weg von ihren Häschern. Weg von Fin.

Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer und sie würgte. Fin. Sie hatten ihn, würden auch ihn töten. Schluchzend bewegte Lexi sich vorwärts. Um sie herum wurde es immer stickiger.

Luft! Sie brauchte Luft! Sonst erstickte sie!

Keuchend lehnte sich Lexi an eine Stahlstrebe. Die Kontrolle über ihren pfeifenden Atem entglitt ihr immer mehr.

Um sie herum herrschte diese bedrückende Enge, die sich immer unbarmherziger wie eine Schlinge enger zog. Die Kabelstränge, die an den Wänden entlangliefen, bohrten sich in ihre Seiten.

Wieso tat das Atmen auf einmal so verdammt weh? Gierig sog Lexi den wenigen Sauerstoff ein. Der Geschmack von abgestandener Luft und Trockenheit schlich sich in ihren Mund und ließ sie würgen. Hustend krümmte sie sich. Sie legte den Kopf auf ihrem schmutzigen Handrücken ab. Jedes Mal, wenn sie sich überwand, erneut nach Atem zu ringen, kam es ihr vor, als bestünde die Luft aus glühenden Kohlen, die sie ungnädig von innen heraus verbrannten.

Der Schacht, der ihren Körper umschloss, wirkte auf einmal noch unüberwindbarer und bedrohlicher, und Lexi spürte, wie die Auswirkungen der Panikattacke über ihr zusammenbrachen, sie unter sich begruben.

Wieder war sie fünf Jahre alt und saß in dem Brunnenschacht, in den ihr Bruder sie gesperrt hatte. Wieder versagte ihre Fähigkeit zu atmen und sie hatte das Gefühl, qualvoll zu ersticken. Wie damals. Mühsam rang sie um ihre Fassung. Das hier war der denkbar schlechteste Moment, um in Panik zu verfallen, und trotzdem konnte sie nichts dagegen tun.

Sie musste sich beruhigen und ruhig weiteratmen. Ein! Aus! Ein! Aus! Schön langsam. So wie immer. Das half doch sonst auch.

Keuchend presste sie die Hand gegen ihre Lippen und krümmte sich. Der Hustenreiz brachte sie schier um den Verstand. Genau wie die Klammer um ihre Brust, die sich bei jedem Atemzug enger zog und sie nach Luft japsen ließ.

Das alles war so verdammt schiefgegangen.

Wieder sah sie Hazel fallen. Ihre weit aufgerissenen Augen, bevor sie rückwärts aus dem Fenster kippte. Konnte sie das überlebt haben?

Lexi schluckte. Die Schuldgefühle schlugen wie eine Woge kalten Wassers über ihr zusammen. Sie hatte ihre beste Freundin im Stich gelassen. Wenn sie bei ihr geblieben wäre …

Ja, was dann? Hätte sie etwas von dem, was passiert war, verhindern können? Lexi wusste darauf keine zufriedenstellende Antwort.

Nur langsam ließen die Enge in ihrer Brust und das Stechen in ihrer Seite nach. Ihre Kehle fühlte sich zwar weiterhin an, als hätte jemand einen Knoten hineingemacht, aber wenigstens konnte sie wieder sehen, ohne dass Punkte vor ihren Augen tanzten.

Lexi verzog das Gesicht, schob sich vorwärts und quetschte sich durch die Enge des Schachtes.

Wie zur Hölle sollte sie hier jemals unbeschadet rauskommen?

Die Ungewissheit, was gerade mit ihren Freunden passierte, grub mit reißenden Klauen in ihrem Inneren. Sie presste die Hände gegen die Schläfen.

Irgendetwas klapperte in ihrer Nähe. Ein Schwall stickiger, heißer Luft fegte über sie hinweg, sodass Lexi die Augen fest zusammenpresste. Gedämpft erklangen Rufe. Angespannt lauschte Lexi in die Dunkelheit. Ob ihre Verfolger sie entdeckt hatten? Sie war so weit gekommen, aber wenn sie hier nicht endlich rauskam, dann war sie geliefert.

Unschlüssig starrte Lexi vor sich ins Halbdunkel des Tunnels, der endlos schien. Sie biss sich auf die Unterlippe und nagte an ihr, wie immer, wenn sie nicht weiterwusste.

In ihrem Kopf arbeitete es. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte.

Irgendwo musste es eine Versteckmöglichkeit geben und einen Ort, wo sie auf die anderen warten konnte. Die Razors hatten sie in ihrem Gebiet erwischt.

Das bedeutete Krieg.

Die alte Baracke am Ravensbourne River kam ihr in den Sinn. Ein grober Holzverschlag, mehr eine Bruchbude unter einer Brücke. Dafür versteckt zwischen Sträuchern. Oder sollte sie es wagen, ins Hauptquartier der Sticky Fingers im alten Pub zurückzukehren? Im Greyhounds würden die Razors sie vielleicht als Erstes suchen und Rich ihr den Hals umdrehen, wenn sie den Rest der Gang ebenfalls in alles reinzog. Aber hatten sie das nicht eh schon? Spätestens jetzt würden die Razors alles in Bewegung setzen, um sich zu rächen. Das hieß: weitere Straßenkämpfe, Attacken auf befreundete Läden und eine Menge Probleme. Vielleicht sollte Lexi sich gleich ergeben. Wenn Rich sie in die Finger bekam und erfuhr, dass sie ihren Bruch versaut hatten … Lexi benetzte ihre Lippen. Egal wie. Sie war ziemlich am Arsch. Dabei hatte alles so gut begonnen.

Aber vielleicht kam Jake auf dieselbe Idee. Er kannte den Ort am Fluss genauso wie die anderen beiden. Gemeinsam könnten sie überlegen, wie sie aus der ganzen Misere wieder rauskamen. Ob es wenigstens ihm gut ging? Was sollte Lexi tun, wenn nur noch sie selbst übrig war? Wer würde sie schützen? Wenn man sie bei den Sticky Fingers ausschloss, wohin sollte sie gehen? Nach Hause? Kam nicht infrage. Nein, wenn sie ehrlich war, dann gab es nicht viele Möglichkeiten. Besser, sie schob das Problem auf später. Erst einmal galt es, Jake zu finden … wenn er noch lebte. Daher zwang sie sich vorwärts, schob sich durch das Dickicht aus Dreck, sauerstoffarmer Luft und Metall. Irgendwann musste dieser Schacht ein Ende haben und sie schwor sich, sich nicht unterkriegen zu lassen, bis sie den Deckel außerhalb des Firmenkomplexes öffnete.

Das war sie Fin und Hazel schuldig.

 

Hazel

?,?

 

 

Um Hazel herum herrschte Zwielicht, als sie die Augen aufschlug. Für einen Moment blieb sie liegen, wo sie war. Mit ihren Fingerspitzen tastete sie umher. Der Untergrund fühlte sich rissig und fest an.Verwirrt setzte sie sich auf und sah sich um. Über ihr spannte sich ein purpurfarbener Himmel, dem etwas Unwirkliches anhaftete. Silberne Wolkenfetzen, die sich wie Berge aus Watte am Horizont auftürmten, zogen gemächlich dahin. Wunderschön anzusehen und doch irgendwie verstörend, denn es wirkte nicht echt.

Hazel riss sich von dem Anblick los und drehte den Kopf. Neben ihr erhob sich ein imposantes Backsteinhaus mit drei Stockwerken und einem hohen Giebeldach. Irgendein Gedanke drängte an die Oberfläche, verschwand allerdings, bevor sie ihn greifen konnte.

Wo war sie hier? Dieser Ort kam ihr bekannt vor und erschien ihr doch fremd. Hazel konnte den Finger nicht darauflegen, woran es lag. Sie fühlte sich desorientiert, ihre Gedanken flossen träge wie Sirup. Ihr Körper kribbelte, so als wanderten überall Käfer auf ihr herum, die sie kitzelten.

Wie sie hierhergekommen war, daran konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Warum lag sie auf dem Betonboden? Wo waren die anderen? Ihre Erinnerungen wollten ihr nicht gehorchen.

Insgeheim wusste Hazel, dass irgendetwas geschehen war, etwas Wichtiges. Etwas, das sie betraf und das sie auf keinen Fall vergessen durfte.

Aber immer, wenn sie versuchte, diesen Gedanken zu fassen, entschlüpfte er ihr wieder.

Ungelenk stemmte sie sich auf die Beine und drehte sich um ihre eigene Achse. Prüfend blickte sie an sich hinunter, betastete ihre Arme.

Hatten die vorher nicht anders ausgesehen? Hazel hob die Hände vor die Augen und betrachtete sie eingehend. Ihre Haut wirkte blasser, beinahe durchsichtig, als ob sie gar nicht richtig da wäre.

Unpassenderweise musste sie lachen. Sie registrierte den hysterischen Unterton, der in diesem Laut mitschwang. Selbst dieser Klang wirkte hohl. Surreal. Was war hier los? Vielleicht träumte sie und musste nur aufwachen?

Energisch schloss sie die Augen und atmete mehrmals tief durch. Laut zählte sie bis zehn.

»Eins, zwei, drei … neun, zehn.«

Hastig öffnete sie ihre Lider und sah erneut an sich hinab. Es hatte sich nichts geändert. Ihren Körper umgab ein heller Silberschimmer. Jetzt fielen ihr auch weitere Veränderungen ihrer Umgebung auf. Die Konturen schienen förmlich zu tanzen. Hazel rieb sich die Augen, aber ihr Eindruck änderte sich nicht. Kein Umriss blieb, wo er war. Alles bewegte sich stetig. Nicht viel, nur leicht – als würde es vor ihrem Blick zurückweichen.

»Lexi? Fin? Seid ihr da?« Ihre Stimme verlor sich in der Stille, die sie umgab. Okay. Langsam wurde das hier wirklich unheimlich! »Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist das nicht lustig. Kommt raus! Bitte … Bitte! Wo seid ihr?«

Die Lautlosigkeit um sie herum beunruhigte sie. London schlief nie. Es herrschte immer irgendwo reger Betrieb, sei es das Gejohle von Passanten, Motorengeräusche, das Gluckern von Wasser oder Musik.

Aber hier, hier gab es nur diese Totenstille. Erneut rief sie nach den anderen, doch sooft sie es auch tat, niemand antwortete ihr.

Unentschlossen setzte sich Hazel in Bewegung. Wohin sollte sie gehen?

Wo in aller Welt steckten die ganzen Leute, die London bevölkerten? »Hallo?«

Um sie herum herrschte eine gähnende Leere, selbst dann noch, als sie aus einem Torbogen auf die Straße trat. Normalerweise hätte sie einen Sprung zur Seite machen müssen, um nicht von einem Auto oder durchgedrehten Fahrradfahrer überfahren zu werden.

Es durfte nicht so leer sein. Das war grundlegend falsch.

Erneut sah sie zurück zum Gebäude, das sich hinter der mit Graffiti beschmierten Mauer stumm wie ein Mahnmal erhob. Ob sie dort noch einmal hineingehen sollte? Aber was glaubte sie zu finden? Wen?

Alles wirkte, als lebte hier niemand mehr. Als wäre das Ganze eine Erinnerung, ein Abbild. Hazel schauderte. Was auch immer sie dachte, sie sollte damit aufhören. Das war gruselig!

 

Mit einem mulmigen Gefühl kehrte Hazel in die engen Gassen der Stadt zurück in der Hoffnung, dort auf Bekanntes zu treffen. Aber je weiter sie vordrang, desto gespenstischer erschien ihr alles. Die Backsteinmauern, die Straßen voller Schlaglöcher, die flackernden Laternen, überall beherrschte das silberne Leuchten die Umgebung. Und nun, da sie genauer hinschaute, stellte sie fest, dass Abermillionen von Sternenlichtern den Himmel überfluteten. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Nicht am Tag. Oder doch?

»Und ich habe dir schon einmal gesagt, das hier ist kein Sonntagsausflug.«

»Ich weiß, aber so ein kleiner Umweg, nur ein klitzekleiner …«

»Harvey, hör endlich auf, meine Geduld zu strapazieren. Ich habe Nein gesagt.«

Abrupt fuhr Hazel herum. Wo kamen die denn so plötzlich her? Der Kleinere, ein untersetzter Kerl mit Schlapphut, Hängebacken und dickem Bauch, der sich über stämmige, kurze Beine wölbte, sah in ihre Richtung. Seine Augen wurden noch runder, sofern das überhaupt möglich war.

»Du, Arthur?«

»Fängst du schon wieder an?«, fuhr sein Gegenüber ihn an, aber der kleine Mann deutete stumm mit dem Finger auf Hazel, die den Impuls unterdrückte, davonzulaufen.

Aus der Kehle des zweiten Fremden drang ein unwirsches Brummen. Im Gegensatz zu seinem Begleiter wirkte er hager und beinahe asketisch – und was bitte trug er da? Einen Rüschenschlafanzug? Auch seine Augen weiteten sich und ein überraschter Ausdruck zeigte sich in ihnen. Kurz, dann verschwand der Zug und er wirkte auf irgendeine Art und Weise zufrieden. »Ah, das erleichtert unsere Aufgabe tatsächlich erheblich.« Er setzte ein väterliches Lächeln auf, was Hazels Vertrauen in die Unbekannten nicht unbedingt steigerte. Solche wie ihn kannte sie genug. Die tauchten immer nur auf, wenn es Ärger gab, und taten so, als wären sie guter Gesinnung. Polizei, Jugendamt, Sozialarbeiter. Irgendwie so was.

Hazel sah mit wachsender Unruhe zwischen den beiden hin und her. Sie konnte sich nicht erinnern, ihnen schon einmal begegnet zu sein. »Aufgabe?«

»Richtig.« Der dünne Mann lächelte. »Unsere Aufgabe war es, dich zu finden, meine liebe Hazel. Und das haben wir dann wohl geschafft.«

Instinktiv wich Hazel etwas zurück. »Mich? Warum ausgerechnet mich? Und woher kennt ihr meinen Namen?« Ihr Blick zuckte zwischen ihnen hin und her.

Der kleine, dickliche Mann gab ein Kieksen von sich. »Sie weiß es noch nicht.«

»Was soll ich wissen?« Nun schwang in ihrer Stimme Ungeduld mit.

»Du bist tot, liebes Kind.« Der Lange musterte sie durchdringend. So als wartete er auf eine Reaktion ihrerseits, doch Hazel versuchte sein Gesagtes einzuordnen. War der verrückt geworden?

Entgeistert starrte sie ihn an. Das war vollkommen absurd und Hazel brach in schallendes Gelächter aus.

»Ihr … seid … wirklich komisch …« Diese beiden Männer schienen eindeutig den Verstand verloren zu haben. »Tot. Sehr witzig. Ich laufe doch hier herum. Wie kann ich da nicht mehr am Leben sein?«

Der Mundwinkel des hageren Mannes zuckte. Ein strenger Zug grub sich in die Falten um seine Lippen. Ja, jetzt wirkte er nicht mehr so freundlich.

Der Kleinere von beiden trat hinter ihm hervor, steuerte auf Hazel zu und schaute sie dabei mit solch einem seltsamen Blick an, dass ihr Magen ins Schleudern geriet. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie den Ausdruck als Mitleid interpretieren. Was natürlich Unsinn war.

»Aber Arthur hat recht.« Eindeutig nervös rang der kleine Mann die Hände. »Woher sollten wir sonst wissen, wer du bist? Warum hast du deine Freunde nicht schon längst wiedergefunden? Warum keine anderen Menschen in dieser übervölkerten Stadt getroffen?«

Hazel öffnete den Mund, um zu antworten, und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder. Unsicherheit nagte an ihr, doch ihr Verstand weigerte sich, dem Glauben zu schenken. Das musste ein Scherz sein, mehr nicht. Schon allein, weil sie, wenn sie tot wäre … Ja, was eigentlich? Ihre Stirn legte sich in Falten. Was kam nach dem Tod?

»Was soll ich denn dann sein? Ein Geist? Die gibt es doch gar nicht.« Ihre Stimme klang nicht halb so scherzend, wie sie wollte.

»Doch, Hazel«, sagte der hochgewachsene Mann. Wie hatte der andere ihn genannt? Arthur? Sein schmales Gesicht neigte sich leicht zur Seite. »Es gibt sie. Aber wir verstehen, dass du erst einen Beweis brauchst. Komm! Ich werde dir eine Sache zeigen.« Einladend streckte er die Hand nach Hazel aus und lächelte ihr aufmunternd zu.

Klar! Ihm würde sie jetzt natürlich vertrauen. Für wie dumm hielt er sie?

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination bemerkte Hazel, wie sie sich ungewollt in Bewegung setzte. Was passierte hier? Ihr stockender Schritt brachte sie näher zu ihm, so sehr sie sich auch dagegen sträubte. Als hätte sie keine Kontrolle mehr über ihr eigenes Tun. Seine kühle Hand griff nach ihr und umschloss sie fest. Ihre Welt kam ins Trudeln, drehte sich immer schneller und riss sie mit sich, ohne dass sie auch nur das Geringste dagegen tun konnte.

 

 

Lexi

London, Lewisham, Kanalisation

 

 

Das Geräusch von Wasser klang in Lexis Ohren, als sie sich durch das Halbdunkel des unterirdischen Ganges tastete. Wie sie es bis hierher geschafft hatte, war ihr ein Rätsel. Ihre Sneaker rieben unangenehm an den Knöcheln und die Socken hielten alles ab, aber nicht das kalte Nass, das durch die Lücken in ihre abgetragenen Schuhe strömte. Bei jedem ihrer Schritte schmatzte es laut. Ihre Fingerspitzen streiften über die linke Kanalmauer und glitten zwischen den Rillen der Steine entlang. In der Finsternis waren sie der Freund, den sie brauchte, denn sie halfen ihr, die Orientierung nicht zu verlieren.

An einigen Stellen ragten kleine Spitzen aus den Ritzen, die von Unkundigen meist übersehen wurden. Ihr aber wiesen sie den Weg, denn sie ertastete die Ecken und Kanten mühelos. Dieser Weg war eines der Geheimnisse der Sticky Fingers und er hatte ihnen nicht nur einmal den Arsch gerettet.

Bisher klappte die heimliche Wanderung gut, sah man von dem Rattenbesuch ab, der immer wieder über und unter ihren Füßen herumhuschte. Aber wenigstens würde sie in diesem Teil der Kanalisation nicht diese Monsterratten treffen, die es angeblich in der Londoner Kanalisation gab. So groß wie Katzen, hieß es. Schaudernd schob Lexi sich weiter. Vor ihr verzweigte sich der Tunnel in drei Arme. Kurz zögerte sie, wählte dann aber den mittleren Weg aus. Gerade als sie ihn betrat, wurde ein Schatten im Gang lebendig und stürmte auf sie zu.

Schneller als sie reagieren konnte, gelangte er zu ihr und ragte vor ihr auf.

Ohne zu zögern, trat Lexi zu. Kampflos ergab sie sich nicht.

»Lexi, hör auf mit dem Unsinn! Ich bins!«

Jakes Stimme drang durch den Schleier ihrer Panik. »Jake?« Irritiert versuchte sie, in der Dunkelheit mehr zu erkennen. Eine Taschenlampe flackerte auf und blendete sie. Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, schrak sie zurück, denn er sah furchtbar aus. Über seine Wange zog sich ein langer, verschorfter Schnitt, der sich an den Rändern bläulich verfärbt hatte, und an seinem übergroßen Karomantel fehlte ein Stück des Kragens. Auf dem Shirt darunter zeichnete sich ein Fleck ab. Etwa Blut?

»Was ist denn mit dir passiert?« Lexi zog ihn an sich und vergrub den Kopf an seiner Schulter, doch er schob sie von sich weg. Die Augenringe unter seinen Lidern wirkten wie tiefe Schluchten.

»Wo sind Fin und Hazel?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Hast du es nicht mitbekommen? Die Razors haben sie erwischt. Und Hazel …« Lexi verstummte. Das, was sie hätte aussprechen müssen, wollte einfach nicht über ihre Lippen, aber Jake schien es nicht zu bemerken.

»Nein. Ich hab zugesehen, dass ich da wegkomme. Hättet ihr auch tun sollen.« Unsanft fasste er sie bei den Schultern und seine Fingernägel bohrten sich unangenehm durch den Stoff ihrer Jeansjacke. »Also spucks schon aus! Was hat das Dummchen jetzt wieder vermasselt? Ist sie schuld, dass Fin mit reingezogen wurde?«

Einen Augenblick starrte Lexi ihn sprachlos an. Wieso musste er manchmal so ein Arsch sein? »Hazel konnte nichts dafür. Aber die haben sie erwischt. Ich hab sie aus dem Fenster fallen sehen.«

Urplötzlich lockerte sich Jakes Griff. »Bitte? Wie? Ich meine, warum?« Er schüttelte den Kopf. »Wir hätten sie nicht mitnehmen dürfen. Sie war nicht bereit dafür. Ich habs vorher gesagt.«

Lexi senkte den Kopf und versuchte, sich vor diesen Worten zu verschließen. Es gelang ihr nicht. Aber sie wollte das nicht hören. Hazel war ein vollwertiges Mitglied der Sticky Fingers. Klar, sie war mit ihren 17 Jahren die Jüngste. Zwar nur um drei Monate, aber immerhin. Jake hatte sie nie wirklich dabeihaben wollen. Immer wieder hatte er ihren fehlenden Kampfgeist bemängelt, die Risikobereitschaft und vor allem ihre Weigerung, Gewalt anzuwenden, wenn es nötig war. Für ihn blieb sie eine Last. Er hatte nie verstanden, warum Fin ihr erlaubte zu bleiben.

»Dich will ich sehen, wie du gegen die Razors bestehst. Jeder von uns hätte da Probleme gehabt«, murmelte Lexi und zwang den Drang nieder, ihm für sein Verhalten eine runterzuhauen. Allerdings half das gerade nicht weiter, so sehr sie ihre Freundin auch verteidigen wollte.

Er schnaubte abfällig und polterte los: »Nein, ganz sicher nicht. Wenn Hazel ihre verdammten Beine in die Hand genommen hätte, dann wäre das nicht passiert. Aber sie hat zu viel Angst! Das macht sie zum perfekten Opfer. Ohne sie hätten wirs geschafft. Und sag jetzt nicht, es wäre nicht so.«

Ein vernichtender Blick aus dem Halbdunkel traf Lexi und ihre Abwehr zerbrach. Er hatte recht.

Ihr die Schuld an dem Geschehenen zu geben, war dennoch … unfair. »Letztendlich ist es egal, wer es verbockt hat. Fakt ist, sie haben sehr wahrscheinlich Hazel und Fin.«

Wenn Hazel noch lebte.

Ihre Stimme klang müde. »Also, was machen wir jetzt?«

Jake schnaubte. »Erst einmal halten wir die Füße still und lassen uns so wenig wie möglich da oben blicken. Und deshalb ziehen wir uns jetzt auch zum Ravensbourne zurück. Dort müssten noch Vorräte und Schlafsäcke in unserer Baracke liegen. Zwei Tage können wir da untertauchen. Wenn die beiden bis dahin nicht aufkreuzen, haben wir eh ganz andere Probleme.«

Lexi nickte nur. Als hätte ihr jemand jegliche Energie aus dem Körper gezogen, fehlte ihr mit einem Mal die Kraft. Ihr war kalt und ihre Füße vollkommen durchgeweicht. Da kam ihr Jakes Führung ganz gelegen.

 

Ohne weitere Zwischenfälle gelangten sie zurück an die Oberfläche der Stadt. Mittlerweile türmten sich hohe Gewitterwolken auf und es wirkte, als wollte der Himmel seine Schleusen öffnen.

Und wirklich, als sie endlich in den baufälligen Verschlag unter der Brücke am Kanal krochen, prasselten dicke Tropfen auf das Dach, begleitet vom fernen Grollen des Donners. Es passte zu Lexis Stimmung. Wenigstens gab es hier Decken, in die sich Lexi wortlos einhüllte. Ihre Zähne klapperten. Die aus morschen Holzüberresten zusammengeschobene Baracke war eben nicht das Hyatt.

Schweigend setzte sie sich auf eines der Sitzkissen, mit denen sie versucht hatten, hier ein wenig Gemütlichkeit reinzubringen. Jake lehnte den Kopf gegen das Holz und schloss die Augen.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend legte Lexi die Arme um ihre Knie und bettete den Kopf darauf. Sie fühlte sich elend. Die Wärme der Decke lullte sie ein und sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Als etwas sie am Fuß traf, schreckte sie hoch. Fragend sah sie zu Jake, der sein Bein zurückzog und ihrem Blick angespannt begegnete. Dann deutete er zum Eingang. Nun hörte auch Lexi die Schritte, die herangeeilt kamen. Eindeutig mehr als eine Person. Hastig streifte Lexi die Decke von den Schultern.

Doch der schwarze Haarschopf, der sich durch die Stofffetzen schob, gehörte nicht Fin, sondern Yussuf, dem Besitzer des Obst- und Gemüseladens an der Ecke. Ihre Hoffnung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind.

Was tat er hier? Normalerweise verließ er sein Geschäft nie, denn er hatte eine kleine Tochter, die wegen einer Krankheit ans Bett gefesselt war. Die Sticky Fingers erledigten für ihn manchmal kleinere Botengänge. Meistens war es Hazel gewesen, die mit seiner Tochter gespielt hatte. Sein Blick begegnete Lexis und sie wusste im selben Moment, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Seid ihr vollkommen bescheuert geworden?« Er schlüpfte vollends in die Hütte. Seine gedrungene Gestalt wirkte trotz seiner geringen Körpergröße wie ein Eber auf Angriffskurs.

Lexi fiel keine sinnvolle Antwort ein. Passend wäre wohl ein lautes »Ja!«, aber das brachte sie nicht über sich.

Jake fand als Erstes seine Sprache wieder. »Wieso?«

Allein schon für den provokanten Tonfall hätte ihm Yussuf wohl gern eine Ohrfeige gegeben, so finster, wie er ihn anschaute. Stattdessen beschränkte er sich auf ein ungehaltenes Fauchen. »Stell dich nicht noch blöder an, als du es sowieso bist!«

Mit blitzenden Augen stand Jake auf und funkelte den Älteren an. »Es ist halt schiefgegangen. Kann mal passieren, oder nicht?«

»Schiefgegangen? Das ist ja mal die Untertreibung des Jahrhunderts!« Yussuf spuckte aus und fixierte nun auch Lexi mit den dunklen Augen. »Wisst ihr eigentlich, was eure Aktion für unser Viertel bedeutet? Wenn ihr unbedingt ’nen Krieg anzetteln wollt, dann bringt euch in die Schusslinie, aber nicht uns! Ich hab ’ne Frau und ’ne kleine Tochter.«

An Jakes Schläfe pochte eine Ader. Ein Schweißfilm bedeckte seine Stirn. »Dann bedank dich bei Hazel! Sie hats vermasselt.«

»Was?« Nun stand auch Lexi auf. »Spinnst du jetzt vollkommen? Was soll der Mist?«

»Ach, halt doch die Klappe! Dass du sie verteidigst, war ja klar. Aber wenn sie nicht so viel Zeit verplempert hätte mit ihrer Schlossknack-Aktion, dann wären wir längst über alle Berge gewesen und die Razors hätten uns da nicht auf frischer Tat ertappt.«

Yussuf seufzte resigniert. »Ihr habt uns alle in Gefahr gebracht durch eure Aktion. Ihr wisst, dass ich euch mag, Kinners, aber …« Zitternd holte er Luft, guckte über die Schulter zurück und wirkte plötzlich eine Spur blasser. Lexi verstand. Er war nicht allein. Hatte er sie mitgebracht? Ihre Knie drohten nachzugeben. Aufmerksam suchte sie in seiner Mimik einen Hinweis und als er ihrem Starren begegnete, verwandelte sich die Vermutung in Gewissheit. Er hatte die Razors zu ihnen geführt. Sie mussten draußen warten. Wie viele waren gekommen? »Letztendlich seid ihr alle gleich schuld! Ich … Ihr zieht uns alle da mit rein. Das ist nicht länger nur etwas zwischen euch und den Razors. Und deshalb kann ich nicht anders. Es tut mir leid.« Abwechselnd schaute er sie an und es schien ihm schwerzufallen, weiterzusprechen.

»Und was heißt das jetzt? Was hast du gemacht?« Die missmutige Miene Jakes unterstrich den abfälligen Tonfall noch einmal mehr und Lexi verspürte das Bedürfnis, ihn zu würgen. Das Schweigen zwischen den beiden dehnte sich aus und Lexi hatte das Gefühl, innerlich zu platzen. Jetzt sag schon!

Yussuf presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.

»Ich soll euch Folgendes ausrichten: Wenn ihr euren rothaarigen Schönling lebend wiederhaben wollt, dann bringt ihr 15.000 Pfund in bar vorbei und überlasst den Norden von Lewisham den Razors. Ihr habt Zeit bis Sonnenuntergang, eurer Gang dieses Ultimatum zu überbringen.«

Er schwieg kurz und wandte sich Lexi zu. »Wünschte, es ginge anders. Tut mir leid, Kleines! Aber sie haben gedroht, meiner Tochter wehzutun.« Abrupt wandte er sich um. Seine hastige Bewegung kam einer Flucht gleich.

Eine kalte Faust grub sich in Lexis Eingeweide. Ihre Gedanken überschlugen sich. Irgendjemand schien den Boden, auf dem sie stand, langsam unter ihren Füßen fortzureißen. Sie hatte das Gefühl zu fallen und schaute zu Jake, der sie schweigend musterte. Dann war es jetzt also zu Ende?

Neben ihr wurde mit lautem Getöse gegen die hölzerne Außenwand des Unterschlupfs geschlagen, sodass Lexi herumfuhr. »Hey, Sticky, Sticky Fingers. Bereit für einen kleinen Vorgeschmack eurer Niederlage?«

Lexi starrte zu dem Glatzkopf, der sich ins Innere schob und breit grinste. Die schiefe Nase inmitten des pickeligen Gesichtes rümpfte sich abfällig, als sich der Kerl umblickte – vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Der Schock darüber, dass die Gang nun ihrerseits in ihr Territorium eindrang, saß tief. Andererseits hatten sie ihnen die perfekte Vorlage geliefert und wahrscheinlich hätten sie genauso gehandelt. Würden die sie nur verprügeln oder was meinte er? Lexi konnte nicht verhindern, dass sie zitterte.

Der Mann vor ihr entblößte faulige Zahnstümpfe und grinste hässlich. »Euer fetter Freund war so freundlich, uns zu eurem kleinen Versteck zu führen. War erstaunlich gesprächig, als wir seine Prinzessin mitgenommen haben. Also, wer möchte eurem Anführer von eurer Niederlage berichten? Derjenige wird hiernach noch laufen können. Freiwillige vor!« Der Glatzkopf machte einen Satz nach vorn.

Holz splitterte, Jake brüllte auf und Lexi hob schützend die Hände vor den Kopf. Als niemand nach ihr griff, traute sie sich, wieder hinzugucken.

Hustend versuchte sie, den Überblick in dem staubigen Chaos zu gewinnen. Jake und der Razor rangen miteinander und Jake zog eindeutig den Kürzeren. Mit wachsender Sorge beobachtete sie den ungleichen Kampf und wusste nicht, was sie tun sollte.

»Hau endlich ab!« Jake fuchtelte mit der Hand und japste nach Luft, als ein Arm sich um seine Kehle legte und ihn zurückriss. »Nun mach schon.« Seine Stimme klang mehr wie ein Krächzen.

Lexi gab sich einen Ruck und bewegte sich an der Wand entlang in Richtung Ausgang.

Hier drin hatten sie keine Chance, aber draußen …? Was mochte sie dort erwarten und vor allem, wie viele? Der Verschlag hatte sich als Falle entpuppt. Keine Ruhe, sondern eine erneute Flucht.

Bevor sie gänzlich aus dem Versteck schlüpfte, ließ ein schmerzerfülltes Aufjaulen sie noch einmal zurückblicken. Hinter ihr versenkte Jake seine Zähne im haarigen Arm des Glatzkopfs. Wäre dies eine andere Zeit und ein anderer Ort, hätte das Bild komisch wirken können. So aber tat Lexi das einzig Richtige und verschwand durch den löchrigen Vorhang nach draußen, nur um sich drei weiteren Gangmitgliedern gegenüberzusehen, die sie mit einem unheilvollen Grinsen erwarteten.

 

 

Hazel

?, ?

 

 

Sie fiel. Bilder rauschten an ihren Augen vorbei. Heruntergekommene Straßenzüge, Hausfassaden, Wasser, Möwen … Die Eindrücke wollten einfach kein Ende nehmen. Längst hatte sie die Orientierung verloren. Als die rasenden Schemen langsamer wurden und schließlich stoppten, sackte Hazel auf die Knie. Für einen Moment hielt sie ihre Lider krampfhaft geschlossen und versuchte, ihre Empfindungen wieder unter Kontrolle zu bekommen. In ihrem Bauch rumorte es unangenehm und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Langsam öffnete sie die Augen und sah sich um. Diesen Ort kannte sie!

Gleich da vorn lag das Versteck, das sie sich mit ihren Freunden teilte. Wenn sie Glück hatte, dann warteten die anderen dort.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Ihre Augen huschten zu Arthur und Harvey, die sie schweigend beobachteten. Das trug nicht unbedingt dazu bei, ihre Verwirrung zu verringern.

»Was ist?«

Keine Antwort. Nur ein stummer Blick. Nervös wandte Hazel sich in Richtung des Flussufers, das von Bäumen gesäumt wurde.

---ENDE DER LESEPROBE---