Biblioteca criminale - Dino Minardi - E-Book

Biblioteca criminale E-Book

Dino Minardi

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Beschreibung

Die Tagung der Vereinigung Hominis et Tigris findet in diesem Jahr in der altehrwürdigen Bibliothek in der Città Alta von Bergamo statt. Kriminalistisch Interessierte aus ganz Europa kommen zusammen, unter ihnen auch Commissario Marco Pellegrini von der Polizia di Stato in Como. Doch noch vor dem ersten Vortrag wird klar, dass die Konferenz nicht wie ge­plant stattfinden kann. Der Archivar der Biblio­thek, Bertoldo Novarese, ein schmächtiger Mann mit Brille und grauen Locken, wurde mitten in der Nacht erschlagen. Ausgerechnet mit einem Folianten! Niemand hatte zu dieser Uhrzeit Zutritt zur Bibliothek – außer den Konferenzteilnehmenden, die im Lesesaal zu einer nächtlichen Gesprächsrunde zusammengekommen waren. Zwar wurde der Archivar von vielen für seine Pedanterie belächelt, aber ein Mordmotiv gibt das nicht her. Oder sind die Schätze, die Novarese hütete, kostbarer, als die meisten meinen? Pellegrini übernimmt den Fall und muss in den eigenen Reihen ermitteln. Auch privat kommt er nicht zur Ruhe: Franca ist ihm noch eine Antwort schuldig, und die wird sein ganzes Leben verändern.

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Dino Minardi

Biblioteca criminale

Pellegrinis vierter Fall

Roman

Kampa

Samstag, 15. Mai

1

Ein feines Klirren, als die Tasse auf den Untersetzer gestellt wird. Das Rascheln des Zuckerbeutelchens, gefolgt vom Klicken des Kaffeelöffels gegen die Tassenwand. Das Aroma des caffè, der erste Schluck, der zweite. Der Nachgeschmack von Kakao mit einer leichten Bitternote …

»Pass doch auf, wo du hinrennst, Idiot!«

Der Ruf weckte Marco Pellegrini unsanft aus seinem Tagtraum. Ein Rempeln folgte, und der Läufer in grellpinken Leggings, die unangenehme Erinnerungen an die neunziger Jahre weckte, sprintete an ihm vorbei.

»Du mich auch«, knurrte Pellegrini. Es war Platz genug auf dem Weg. Diese wandelnde Leuchtboje wollte einfach nur schneller am Steg sein, der über den Gebirgsbach führte. Dahinter, das wussten alle, die den Trail del Viandante mal gelaufen waren, folgte ein unwegsames Stück steil bergauf, bevor der Weg wieder breiter und ebener wurde. Bis dahin war ein Überholen nur sehr schwer möglich, aber die überambitionierten Hobbysportler, denen es auf eine gute Platzierung ankam, ließen keine der wenigen Gelegenheiten aus.

Pellegrini trabte in einem Tempo weiter, von dem er wusste, dass er es ewig halten könnte. Er wollte sich nur an sich selbst messen. Der Zeit nach, die seine Pulsuhr angab, musste er sich noch im ersten Viertel seiner Altersgruppe befinden. Das war mehr, als er erwartet hatte.

Er erreichte den Gebirgsbach und ignorierte den Steg. Stattdessen lief er über die breiten Steine direkt durch das flache Wasser, das hier mitten über die Straße floss. Er verlangsamte ein wenig und nahm dann die Steigung in Angriff. Bäume drängten von beiden Seiten an den schmalen Pfad. Pellegrini blinzelte einige Momente, bis seine Augen sich an das grünliche Dämmerlicht gewöhnt hatten. Kleine Steine rollten über den Pfad, klickten aneinander. Eine Läuferin um die sechzig, in knöchelhohen Wanderschuhen und mit Laufstöcken, kraxelte seitlich des Pfades bergan. Auch solche Leute gab es unter den Teilnehmenden, und vor denen hatte Pellegrini wesentlich mehr Respekt als vor athletischen Mittzwanzigern.

»Salve!«, grüßte er im Vorbeilaufen.

»Bravo, forza!« Die alte Signora bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Auf den zweiten Blick mochte sie sogar noch viel älter sein, als er zunächst gedacht hatte. Wann musste sie gestartet sein, wenn sie schon hier oben war?

Pellegrini winkte noch einmal und bewältigte die Steigung mit einigen letzten Sprüngen. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Dankbar erblickte er den breiten Waldweg vor sich. Die Konkurrenz in der bunten Funktionskleidung zeichnete sich wie leuchtende Punkte vor den Bäumen ab. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur nächsten Versorgungsstelle nahe der Chiesa San Rocco.

Er fand erneut ein gleichmäßiges Tempo und genoss den federnden Untergrund, nachdem er bis zum Gebirgsbach eine längere Strecke auf Asphalt zurückgelegt hatte. Er wollte sich ein paar Reserven für das letzte Stück bis ins Ziel aufheben. So ein Lauf über einen Trail mit felsigen Stücken war nicht mit einem Marathon auf ebener Strecke zu vergleichen. Neben der erforderlichen Trittsicherheit brauchte es Erfahrung, sich die Kräfte klug einzuteilen, sonst konnte einem beim letzten Anstieg die Puste ausgehen. Umso mehr wunderte es Pellegrini, dass er die pinken Leggings plötzlich wieder vor sich hatte. Der Mann hatte nicht so ausgesehen, als würde er die Tücken der Strecke nicht kennen. Außerdem war gerade dieses Stück bis zur Kirche nicht sehr anspruchsvoll.

Doch der junge Mann taumelte, wurde langsamer und blieb dann sogar stehen. Er beugte sich vornüber und stützte sich auf die Knie. Sein ganzer Oberkörper bewegte sich bei seinen heftigen Atemstößen. Pellegrini stutzte. Er war nur noch wenige Meter hinter ihm. Da stimmte doch etwas nicht?

Als wollte der Mann diese Vermutung bestätigen, kippte er nach vorne und brach zusammen.

»Bloß jetzt das nicht.« Pellegrini beschleunigte und fiel auf die Knie, sobald er den anderen erreicht hatte. Mit zitternden Fingern hob er dessen Hand, schaute auf die Pulsuhr am Handgelenk und tastete zugleich nach der Halsschlagader. Kein Puls, weder angezeigt auf der Uhr noch spürbar unter den Fingerkuppen. Pellegrini fluchte und drehte den Mann auf den Rücken. Er öffnete den Reißverschluss des Trikots und zerrte ihm den Pulsgurt von der Brust. Dabei schaute er sich hektisch nach allen Seiten um. In der Ferne wurde die alte Läuferin gerade von drei Männern überholt.

Pellegrini winkte ihnen aufgeregt zu. »Rufen Sie einen Krankenwagen!« Dann atmete er einmal tief durch, um sich zu konzentrieren. Er legte die Hände auf die Brust des Liegenden und begann mit einer Herzdruckmassage. Pellegrini zählte die Stöße. Er nahm nichts mehr wahr, bis sich plötzlich um ihn herum mehrere Stimmen erhoben. Jemand tastete nach dem Puls des Ohnmächtigen, eine andere Person hob die Beine des Mannes an und massierte seine Waden. Das brachte Pellegrini beinahe aus dem Takt. Er schüttelte nur den Kopf, machte weiter, bis sich eine knallrote Jacke in sein Sichtfeld schob.

»Schon gut, wir übernehmen. Lassen Sie mich mal ran, bitte.« Eine stämmige Sanitäterin mit einem schwarzen Pferdeschwanz schob ihn sanft zur Seite. Pellegrini nickte und erhob sich. Zu schnell für seinen Kreislauf. Kraftlos sank er zurück auf die Knie. Er keuchte, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.

»Momento, ragazzo. Werd mir jetzt nicht auch noch ohnmächtig. Nino!« Die Sanitäterin stützte ihn mit der einen Hand an der Schulter, während sie dem Liegenden eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht hielt.

»Signore?«

Pellegrini schaute auf. Ein Sanitäter musterte ihn eingehend. Wortlos reichte Pellegrini ihm die Hand und ließ sich aufhelfen. Schwindel erfasste ihn. »Haben Sie etwas zu trinken?«

»Na klar. Kommen Sie. Ist Ihnen kalt?«

»Nein.« Noch nicht.

Der Sanitäter führte ihn zum Krankenwagen, der auf dem Waldweg aus Richtung Chiesa San Rocco stand. Die hinteren Türen waren offen, und die linken Reifen befanden sich gefährlich nahe am Abgrund. Die Tatsache, dass die Sanitäter offensichtlich rückwärts bis zur Unglücksstelle gefahren waren, bewies, dass dies nicht ihr erster Einsatz dieser Art war. Hinter dem Krankenwagen hielt gerade – ebenfalls rückwärts – das Auto eines Notarztes. Noch bevor die Räder stillstanden, sprang ein Mann von ungefähr fünfzig mit einem Koffer auf der Beifahrerseite hinaus. Auf der Fahrerseite wäre er auch den Abhang hinuntergepurzelt, dachte Pellegrini mit einem Anflug von Galgenhumor. Er setzte sich auf die Kante des Rettungswagens.

»Hier.« Der Sanitäter öffnete eine Dose Coca-Cola und reichte sie Pellegrini.

»Sehr medizinisch.«

Der Sanitäter zuckte mit den Schultern. »Zucker und Koffein ist auf solchen Veranstaltungen meistens ausreichend. Wenn Sie was Stärkeres brauchen, kann ich Ihnen später immer noch was geben.«

»Nino! Wir müssen den hier mitnehmen. Schnell.«

»Ich komme. Soll ich einen Hubschrauber anfordern?«

»Dottore?«

»Ja, unbedingt.«

Pellegrini umklammerte die Dose. Er stand auf und hielt sich an der Tür des Krankenwagens fest. Allmählich ging es ihm besser. Um ihn herum sammelte sich eine Traube von Läuferinnen und Läufern, die inzwischen herangekommen waren.

»Was ist denn passiert?«

»Der hat sich doch bestimmt was eingeworfen.«

»Sagen Sie mal.« Ein Mann tippte Pellegrini auf die Schulter. Wenn er sich nicht irrte, war es der, der die Beine des Zusammengebrochenen angehoben hatte. »Haben Sie da vorhin wirklich gesummt?«

»Gesummt?«

»Gesummt. Ein Lied. Während Sie den da versorgt haben.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.

Pellegrini runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Doch, haben Sie«, sagte jetzt ein Zweiter. »Wie auf einer Party.«

»Das war ›Staying alive‹ von den Bee Gees. Lief in den Discos, lange vor Ihrer Zeit, raggazzi«, erklärte die alte Signora, die sich auf ihre Laufstöcke gestützt hatte und das Treiben aufmerksam beobachtete.

Der erste junge Mann schnaubte empört. »›Staying alive‹? Das ist ja abgeschmackt. Wie sind Sie denn drauf?«

»Sachte.« Pellegrini hob die Hand. »Das war nicht bewusst. Das ist …«

»… um den Takt bei der Massage zu halten«, fiel ihm die Signora ins Wort. »Sie sollten besser mal einen Erste-Hilfe-Kurs belegen. Ich bevorzuge ja ›I will survive‹ von Gloria Gaynor.«

»Sie wollen mich doch verarschen!«

»Keineswegs. Aber es findet sich auch bestimmt etwas Modernes. Hauptsache ist, Sie tun etwas und versuchen es mit der Herzdruckmassage, anstatt dumm herumzustehen und zu gaffen.«

»Hey, ich habe doch …«

»Aus dem Weg jetzt!« Das Sanitätsteam schob sich an der Menge vorbei und verfrachtete die Liege mit dem Patienten ins Innere des Autos. Der Arzt stand hinter ihnen und gab dem Fahrer des Notarztwagens ein Zeichen, loszufahren. Er selbst stieg hinten in den Krankenwagen ein.

Pellegrini trank die Cola aus und schaute sich unschlüssig um, ob er die Dose irgendwie loswurde. Die Sanitäterin sprang aus dem Laderaum und knallte die Türen zu.

»Steigen Sie ein, wir nehmen Sie mit.«

»Was? Mich?« Pellegrini wandte abermals den Kopf in alle Richtungen.

»Wen denn sonst?« Die Sanitäterin packte ihn am Oberarm und schob ihn vor sich her zur Beifahrertür.

»Mir geht es gut!«

»Sie sind leichenblass. Ich will nicht gleich noch mal diesen scheißschmalen Weg fahren, weil Sie erst einem das Leben retten und dann selbst gerettet werden müssen.«

»Aber ich …«

»Wollen Sie das jetzt ernsthaft mit mir diskutieren? Steigen Sie ein!«

Pellegrini schaute in die entschlossene Miene der Frau und gab nach. Er kannte solche Momente. Die Sanitäterin konnte ihn nicht guten Gewissens hier stehen lassen, und zugleich zählte für den wahren Patienten jede Minute. Dann würde er eben mit dem Taxi vom Krankenhaus zum Ziel fahren. Nicht gerade ein glorreiches Ende seiner ersten Teilnahme am Trail del Viandante nach so vielen Jahren. Immerhin hatte er so die Chance zu erfahren, ob er bei seiner Herzdruckmassage den richtigen Rhythmus gefunden hatte. Mit ›Staying Alive‹ in seinem Kopf, das sich als Ohrwurm festgesetzt hatte, stieg er in den Wagen.

2

Krankenhausflure waren in der Lombardei alle gleich. Oder sogar in ganz Italien oder europaweit? Pellegrini war nicht scharf darauf, es herauszufinden. Unruhig rutschte er auf dem unbequemen orangefarbenen Plastikstuhl hin und her.

Nachdem der Krankenwagen aus dem Waldstück oberhalb des Dörfchens Villatico herausgefahren und auf den größeren Straßen schneller vorangekommen war, hatte der Notarzt den Zustand des Patienten so weit stabilisiert, dass der Einsatz des Hubschraubers doch nicht notwendig war. So waren sie mit Blaulicht direkt ins Krankenhaus nach Morbegno gefahren. Pellegrini wurde einer jungen Ärztin in der Notfallambulanz vorgestellt und, nachdem die sich davon überzeugt hatte, dass es ihm gut ging, sich selbst überlassen. Genau das hatte er befürchtet. Jetzt saß er in diesem kahlen weiß gestrichenen Flur und langweilte sich. Er hatte versucht, Umberto Cantù anzurufen, damit der ihn abholte. Doch da sein Freund sich vermutlich gerade auf der Zielgeraden des Laufes befand, konnte er ihm nur eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Pellegrini und Umberto hatten sich während des Laufes getrennt, da sie beide ein zu unterschiedliches Tempo liefen. Die Ankunft im Ziel hatten sie aber gemeinsam feiern wollen.

Pellegrini fröstelte, das Krankenhaus war klimatisiert und nicht darauf ausgelegt, dass verschwitzte Menschen in kurzärmeliger Funktionskleidung lange herumsaßen. Er entschied sich, nach draußen zu gehen und auf dem Parkplatz noch einmal zu telefonieren. Wenn er Umberto dann immer noch nicht erreichte, würde er nach einem Taxi Ausschau halten.

Er seufzte genervt. Das mit dem Taxi würde kompliziert. Er hatte sein Portemonnaie samt Kreditkarten in Umbertos Auto gelassen, und den Schlüssel hatte natürlich sein Freund. Mit den zehn Euro in seiner Trikottasche würde er nicht weit kommen, die waren nur für den Notfall gedacht – oder um einen caffè und ein cornetto bezahlen zu können, was ja strenggenommen ein solcher Notfall wäre. Er entschied, zunächst nach einer Kantine zu suchen. So hatte Umberto ein wenig mehr Zeit, es bis ins Ziel zu schaffen.

Pellegrini stand auf. Über ihm knackte ein Lautsprecher, es folgte eine Durchsage, in der ein Arzt auf die Intensivstation gerufen wurde. Pellegrini wandte sich um. Die Schleuse war direkt hinter ihm. Er hatte noch beobachten können, wie der Läufer durch die Glastüren geschoben worden war, bevor er selbst in ein Untersuchungszimmer geführt wurde. Die Türen wurden von innen aufgestoßen. Eine Krankenschwester in einem grünen Overall rief etwas. Der Motor, der die Türen normalerweise automatisch öffnete, brummte unwirsch. Im Flur konnte Pellegrini weitere Menschen hin und her laufen sehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Pellegrini setzte sich wieder und beobachtete, wie ein Arzt auf der Station eintraf, kurz darauf gefolgt von zwei weiteren Ärzten. Dann wurde es ruhig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit summte es, und die Türen schwangen auf. Zwei Ärzte kamen hindurch. Pellegrini sprang auf und ging auf sie zu.

»Verzeihung, darf ich fragen, wie es dem jungen Mann geht, der vorhin mit dem Krankenwagen von einem Sportwettbewerb eingeliefert wurde?«

Der jüngere Arzt winkte und ging weiter, ohne ein Wort zu sagen. Der ältere, ein grauhaariger Mann mit Hornbrille, musterte Pellegrini durchdringend.

»Und wer sind Sie? Ein Angehöriger?«

»Nein. Ich bin ebenfalls ein Teilnehmer des Trail del Viandante. Ich habe gesehen, wie der Mann zusammengebrochen ist, und Erste Hilfe geleistet.« Er zögerte kurz, weil ihn eine dumpfe Vorahnung erfasste. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, den der Arzt aufgesetzt hatte: Er gab sich kühl und unnahbar. Professionelle Distanz. Wer schlechte Nachrichten zu nah an sich heranließ, konnte auf Dauer in einem Beruf, in dem es auch um Leid und Tod ging, nicht bestehen.

»Außerdem«, fuhr er fort. »bin ich Commissario der Polizia di Stato in Como. Marco Pellegrini ist mein Name. Leider kann ich mich nicht ausweisen, da mein Portemonnaie im Zielbereich auf mich wartet.«

Offenbar sah Pellegrini trotz des verschwitzten Laufshirts glaubwürdig genug aus, um eine Antwort zu bekommen. Oder auch gerade wegen des Shirts, besser gesagt der Aufschrift Team Maratona, Como 2018 und darunter dem Emblem der Staatspolizei.

»Dann können Sie sicherlich dabei behilflich sein, die Identität des Mannes festzustellen. Sollte mit der Teilnahmenummer nicht allzu schwer sein. Er ist soeben verstorben. Herzstillstand.«

»Madonna mia.« Obwohl er getan hatte, was er konnte, überkam Pellegrini das Gefühl, versagt zu haben. Zu langsam gewesen zu sein.

Der Arzt senkte seine Stimme. »Die Obduktion wird Genaueres ergeben. Aber ich vermute stark, dass sich der Bursche einiges eingeworfen hat. Seine Puls- und EKG-Werte waren jenseits von allem, was ich seit Langem gesehen habe.« Er schüttelte den Kopf. »Doping ist im Hobbysport mindestens ebenso verbreitet wie unter Profis. Und teilweise sogar noch gefährlicher, denn viele wissen überhaupt nicht, was sie ihrem Köper antun. Nach dem Motto ›Viel hilft viel‹ nehmen sie völlig unkontrolliert zu häufig und zu große Mengen ein. Das ist das Ergebnis.«

»Sind Sie sicher?«

»Nein, es ist nur meine persönliche Vermutung. Behalten Sie das für sich. Ich wäre froh, wenn ich nicht recht habe.« Er verstummte.

Auf Pellegrini wirkte der Arzt zu erfahren, um einen haltlosen Verdacht zu äußern. Er nickte wortlos. Was als sportlicher Ausflug mit einem Freund begonnen hatte, könnte sehr bald als ein neuer Fall enden.

Freitag, 21. Mai

1

Pellegrini ließ die Tür der Questura von Lecco hinter sich zufallen und blinzelte in die Sonne. Er freute sich sehr auf die kommenden Tage in Bergamo, aber dieser Frühsommertag war so schön, dass er sich wünschte, nicht die nächste Stunde im Auto verbringen zu müssen.

»Marco, hier bin ich! Ist alles in Ordnung?« Ispettrice Claudia Spagnoli hatte auf einer hüfthohen Backsteinmauer gesessen. Jetzt sprang sie hinunter und kam auf ihn zu.

»Ja, natürlich, was sollte nicht in Ordnung sein?«

»Du ziehst so ein Gesicht.«

»Ich dachte gerade an die bevorstehende Autofahrt bei diesem Wetter. Aber solange das Beamen nicht erfunden ist, bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«

Sie grinste. »Wir hätten mit meinem Motorrad fahren können.«

Pellegrini sparte sich eine Antwort. Seine Ispettrice wusste nur zu gut, dass er sich auf ihrem Sozius alles anderes als wohlfühlte. Wobei sie keine schlechte Fahrerin war, das musste er ihr zugestehen.

Er winkte ihr zu. »Komm, essen wir noch etwas und fahren danach los. Am Palazzo delle Paure lässt sich recht nett sitzen.«

»Recht nett klingt verheißungsvoll.«

»Es ist sehr touristisch, aber bei einem Brioche oder Cappuccino sollten sie nicht allzu viel falsch machen. Es ist nicht weit.«

»Also gut.«

Gemeinsam schlenderten sie über die vormittäglich ruhige Straße.

»Was hat denn jetzt der Kollege gesagt?«

»Kollegin. Melissa Tarsia heißt die Commissaria, die die Ermittlung zum Tod des jungen Sportlers aufgenommen hat.«

»Also doch kein neuer Fall für dich? Bleibt es bei deiner Zeugenaussage?«

»Da sich das alles hier in der Provinz Lecco ereignet hat, wären wir ohnehin nicht zuständig. Aber es gibt auch keine Anzeichen von Fremdeinwirkung.«

»Also keine weitere Ermittlung. Es war ein Unfall.«

»Nun, aber einer mit Ansage. Dieser Sportler hatte, wie der Arzt im Krankenhaus schon vermutet hat, einiges an Substanzen im Blut, deren Zusammenspiel zu seinem Tod geführt hat. Die hat er sich nach allem, was sie herausgefunden haben, selbst zugeführt. Damit ist die Sache erledigt.«

Zumindest offiziell war der Fall abgeschlossen. Pellegrinis Aussage aufzunehmen, war der letzte Baustein, der Commissaria Tarsia noch gefehlt hatte. Sie hatten in den letzten Tagen mehrmals telefoniert und vereinbart, dass er auf dem Weg nach Bergamo einen Zwischenstopp einlegen würde, um die Protokolle persönlich zu unterschreiben. Soweit er das beurteilen konnte, hatte die Kollegin aus Lecco gute Arbeit geleistet. Er hatte keine Zweifel an dem Ergebnis der Ermittlung.

Pellegrini ging der Tod des Läufers nur schwer aus dem Kopf. Es war eine Sache, im Falles eines Todes zu ermitteln, und eine ganz andere, unmittelbar mitzuerleben, wie jemand verstarb, den er noch versucht hatte wiederzubeleben. Sein Verstand sagte ihm, dass ihn keine Schuld traf. Doch die Frage, ob er mehr hätte tun können, ließ ihn nicht los.

»Du solltest dir keine Vorwürfe machen«, meinte Spagnoli erstaunlich sanft. Sie fuhr mit der Hand in ihre Handtasche und zog sie sofort leer wieder hervor. Dabei machte sie ein zerknirschtes Gesicht.

Pellegrini nickte beifällig. Sich das Rauchen abzugewöhnen, war keine einfache Sache. »Ich mache mir keine Vorwürfe, aber abschütteln lässt sich die Sache dennoch nicht so einfach«, gab er zu. »Es ist ganz gut, dass uns jetzt ein Wochenende voller Ablenkung erwartet.«

Die Jahrestagung der Vereinigung Hominis et Tigris in Bergamo stand an, in der Pellegrini seit vielen Jahren Mitglied war. Vor einiger Zeit hatte er seine Ispettrice eingeladen, mitzukommen. Ihre erste Teilnahme wurde dann von dem grausigen Tod des Carabiniere Salvatore Bianchi überschattet, der am Morgen ihres Aufbruchs auf den Schienen der funicolare von Brunate nach Como aufgefunden worden war.

Spagnoli setzte sich die Sonnenbrille auf, die sie in den Ausschnitt ihrer weißen Bluse gehängt hatte. »Ich bin schon sehr gespannt. Immerhin werden wir dieses Mal pünktlich zur Eröffnungsrede kommen. Gibt es für heute Abend schon ein Programm?«

»Nichts Offizielles. Normalerweise treffe ich mich am ersten Abend mit Tito Matteoti, einem Capitano der Guardia di Finanza aus Rom. Aber er hat kurzfristig abgesagt, eine Familienangelegenheit. Wir sind völlig frei.«

»Von der Guardia sind auch welche dabei?«

»Grundsätzlich können alle mitmachen, die an den Themen Kriminologie und Aufklärung von Gewaltverbrechen interessiert sind. Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, wer der Gründer ist?«

»Ein Juraprofessor aus Bergamo.«

»Richtig. Professore Ferro, inzwischen im Ruhestand, aber der Versammlung steht er immer noch vor.«

»Schon seltsam, dass du Andrea nie dazu gebracht hast, mitzukommen.«

»Vermisst du ihn etwa jetzt schon?«

Spagnoli machte eine wegwerfende Handbewegung. »Im Gegenteil, ich bin froh, mal wieder ein Wochenende für mich zu haben. Er ist im Moment sehr … einnehmend.«

»Aber zwischen euch beiden ist alles in Ordnung, oder?«

Spagnoli warf ihm einen verwunderten Blick zu, was Pellegrini ihr nicht verdenken konnte. Nicht nur, dass er sich private Nachfragen in der Regel verbat, auch verkniff er sich meistens, bei anderen nachzuhorchen. Aber seit Claudia Spagnoli mit seinem langjährigen Freund Andrea Lorenzo zusammen war, ließ es sich kaum noch vermeiden, dass sich Berufliches mit Privatem mischte.

Sie lächelte und nickte dann nachdrücklich. »Tutto bene, du musst dir weder Sorgen um mich noch um ihn machen. Ich glaube, er hat einfach sehr viel zu tun und versucht dann, die Zeit mit mir optimal zu nutzen. Er will ständig etwas unternehmen, während es mir meistens genügt, dass wir zusammen sind.«

»Capito. Nun, Andrea ist das Treffen der HeT zu theoretisch. Du kennst ihn, er sagt ja von sich, er ist eher der Mann fürs Grobe. Er sieht sich selbst nicht als Ermittler.«

»Ja, das passt zu ihm.«

Sie hatten den Platz vor dem Palazzo delle Paure erreicht, in dem sich ein Museum befand. Zwei Frauen – vermutlich Grundschullehrerinnen – versuchten gerade, Ordnung in eine Horde Kinder zu bringen, damit sie das Gebäude betreten konnten.

Pellegrini und Spagnoli setzten sich an einen Tisch neben vier jungen Männern in Jeans und T-Shirts, die sich in einem Mischmasch aus Englisch und Spanisch unterhielten. Möglicherweise Touristen aus den USA oder Südamerika. Sie waren alle um die dreißig. Einer stach besonders hervor, ein bulliger Mann mit fast weißer Haut, Sommersprossen und feuerrotem Kurzhaarschnitt. Er sprach Englisch, wobei sein Akzent nicht klang, als wäre es seine Heimatsprache. Dazu wirkte er angespannt, schaute ständig auf seine Armbanduhr, als wartete er auf einen wichtigen Termin. Die anderen neckten ihn deswegen, so viel bekam Pellegrini mit. Besonders der direkte Sitznachbar, ein hoch aufgeschossener Mann mit dunklen Locken, klopfte ihm immer wieder mit übertriebenen Gesten auf den Unterarm oder die Schulter.

Spagnoli warf dem Rothaarigen einen mitleidigen Blick zu. »Was der wohl vorhat?«

»Vielleicht heiratet er.«

»Wenn, dann den Latino, der neben ihm sitzt. Aber der ist wiederum zu entspannt.«

Der Kellner kam, und sie bestellten beide Cappuccino und ein Brioche.

Pellegrini blickte abermals zu den vier jungen Männern und musste Spagnoli recht geben. Die beiden waren ein Paar. Er hätte nicht sagen können, woran er das konkret festmachte, aber dennoch erschien es ihm offensichtlich. Der Umgang miteinander wirkte vertraut. Eine zarte Berührung mit den Fingerspitzen, ein verstohlenes Lächeln, das wenig war und doch viel sagte.

Pellegrini unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen. Um ihn herum schien es nur glückliche Paare zu geben. Er selbst war dagegen allein. Dabei hatte er gedacht, er hätte endlich verstanden, dass Franca Segnieri die Frau war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Und dass sie genauso empfand. Nachdem nach vielen Jahren des Haderns und Zweifels unverhofft der mysteriöse Unfalltod seines besten Freundes Luca Camerone aufgeklärt worden war, hatte Pellegrini Franca einen Heiratsantrag gemacht.

Sie hatte um Zeit gebeten. Es war unvermeidlich gewesen, dass sie wieder abreiste, nachdem sie ihm während dieser nervenaufreibenden Ermittlung beigestanden hatte. Sein Hilferuf hatte sie mitten aus einem Projekt in Süditalien gerissen. Daher hatte Pellegrini nicht erwartet, dass sie bleiben konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber aus Tagen waren Wochen und schließlich Monate geworden. Erst war Pellegrini bis weit in den Winter hinein von einer anspruchsvollen – aber immerhin erfolgreichen – internationalen Ermittlung vereinnahmt worden, kurz darauf brach die Pandemie aus. Die Reisebeschränkungen erwischten Franca auf Sizilien, wo sie lange Zeit mehr oder weniger festsaß. Seitdem hatten sie sich nicht mehr persönlich gesehen, und nichts hatte sich zwischen ihnen geklärt. Sie standen telefonisch in Kontakt, und so nüchtern, wie Pellegrini das gedanklich formulierte, war ihr Umgang miteinander derzeit auch. Er hatte versucht, ihr zu zeigen, wie viel sie ihm bedeutete – alles! –, aber er hatte sie auch nicht emotional unter Druck setzen wollen. Wenn Franca sich für ein Leben an seiner Seite entschied, dann nicht aus Mitleid oder gar einem falschen Pflichtgefühl.

Je länger dieser Zustand nun andauerte, umso schwieriger schien es zu werden, das alles entscheidende Gespräch herbeizuführen. Franca hatte sich in den letzten Wochen wieder häufiger gemeldet und freute sich scheinbar aufrichtig, wenn er von sich hören ließ. Aber sie wirkte noch distanzierter, als wäre sie mit den Gedanken woanders. Kein Wort darüber, ob es eine gemeinsame Zukunft für sie beide gäbe. Pellegrini hatte längst aufgegeben, darüber nachzugrübeln, was dahintersteckte. Eigentlich konnte es ja nur ein anderer Mann sein. Vielleicht lebte sie in einer Beziehung und brachte es nicht über sich, ihm das zu sagen. Und er wagte nicht, sie danach zu fragen. Dabei wäre er selbst schuld. Er hatte Franca aufgegeben. Es wäre ihr gutes Recht, ihr Leben ohne Marco Pellegrini zu gestalten.

Die Bestellung kam. Spagnoli biss in das Brioche und verzog den Mund. »Von wegen, da könnten sie nicht viel falsch machen. Staubtrocken.«

Pellegrini schielte auf den Cappuccino mit merkwürdig beigefarbener Milchhaube und musste ihr recht geben. »Lass uns zahlen, und dann fahren wir. Ich kenne in Bergamo eine gute gelateria, da kommen wir auf unsere Kosten.«

2

Spagnoli blieb auf der knarzenden Holztreppe stehen und lauschte der Stimme der vortragenden Kriminalbiologin, die aus dem Saal zu ihr heraufklang. Sie war nicht die Einzige, die die Präsentation verlassen hatte. Diese Biologin erzählte sehr anschaulich, und vielleicht war genau das die Herausforderung für das Publikum. Sie hatte mit sichtlicher Freude angekündigt, dass sie Bilder von Fleischteilen in verschiedenen Verwesungsstadien zeigen würde, die nicht für empfindliche Charaktere geeignet wären. Da hatten die meisten Zuhörenden noch gelacht, waren sie doch beruflich so einiges gewöhnt. Doch die Rednerin hatte nicht zu viel versprochen. Die Ersten gingen bereits nach wenigen Bildern.

Normalerweise war Spagnoli hart im Nehmen, sie konnte es selbst nicht recht erklären, warum sie unruhig wurde. Vielleicht lag es an der Luft und den vielen Menschen im Raum. Sie mochte es nicht, so dicht an dicht zu sitzen und sämtliche Geräusche oder Gerüche unmittelbar mitzubekommen. Das war schon immer so gewesen. Lange bevor sie alt genug war, um die Fahrprüfung abzulegen, hatte sie auf einen Führerschein und eine gebrauchte Vespa gespart, nicht zuletzt, um den überfüllten Schulbussen zu entkommen. Gut möglich, dass diese Bilder von einer dichten Masse wimmelnder Maden und Fliegenlarven noch andere Assoziationen geweckt hatten.

Die meisten Flüchtenden gingen nach draußen, auf den alten Marktplatz der Città Alta von Bergamo, an dessen Kopfende sich die Biblioteca Civica Angelo Mai befand, in der das Treffen stattfand. Spagnoli hatte entschieden, sich in der Bibliothek, von der Pellegrini so geschwärmt hatte, ein wenig umzusehen. Im ersten Stock befand sich laut Beschilderung der öffentlich zugängliche Lesesaal.

Auf Zehenspitzen pirschte Spagnoli näher, drückte die mächtige Holztür einen Spaltbreit auf und lugte hinein. Der Anblick des Raumes verschlug ihr die Sprache. Leise trat sie ein. Ringsum befanden sich alte Bücher in dunklen Regalen, von gläsernen Türen geschützt. Darüber wölbte sich eine mit Malereien und Stuck verzierte Kuppeldecke, in der Luft der Geruch nach altem Wissen.

Ehrfürchtig ging Spagnoli an den Regalen entlang, ohne etwas zu berühren. Sie war keine große Buchliebhaberin und kam viel zu selten zum Lesen, aber der Raum verzauberte sogar sie. Der Wert von Wissen, die Kunst, es zu bewahren, die Freude, es jederzeit wiederentdecken zu können, all das strahlten diese Bücher aus.

Sie drehte sich um und sah einen menschengroßen Globus in einem Glaszylinder vor sich.

»Der Erdglobus, gefertigt vom venezianischen Xylographen Vincenzo Coronelli im Jahr 1688 für das Augustinerkloster von Bergamo. Beeindruckend, nicht wahr?«

Spagnoli wandte sich der Stimme zu. »Xylograph?«

Vor ihr stand ein schmaler Mann, der beinahe einen halben Kopf kleiner war als sie und zu ihr auf lächelte.

»Xylographie ist eine besondere Form der Holschnitzkunst. In eine flache Platte werden Texte oder Bilder geritzt. Mit der so entstehenden Vorlage wird gedruckt.«

Er nahm seine Brille ab und wischte sich dabei einige graue Locken aus der Stirn, die sofort wieder an ihren Platz zurückfielen. Er blinzelte und begann, die Brille umständlich mit einem Zipfel seines Karohemdes zu putzen. »Bitte entschuldigen Sie, Signora. Ich weiß ja gar nicht, ob Sie das interessiert.«

»Doch, schon. Dieser Globus ist wirklich beeindruckend. Vor allem, wenn er so alt ist.« Spagnoli trat näher und konnte jetzt kleine Bilder und Schriftzüge erkennen.

Der Fremde stellte sich neben sie. »Die Schiffsrouten sind nach Maß eingezeichnet und entsprechen dem damaligen Kenntnisstand. Eine perfekte Symbiose aus Ästhetik und Wissenschaft.«

Spagnoli verkniff sich bei dieser pathetischen Beschreibung ein Lachen.

Der Mann schien es dennoch bemerkt zu haben, denn jetzt grinste er breit. »Ich nehme nicht an, dass Sie Literaturwissenschaftlerin sind oder aus der Kunstgeschichte kommen?«

»Ich beschäftige mich eher ganz praktisch mit den Abgründen der menschlichen Natur. Ich bin Polizistin. Claudia Spagnoli aus Como.«

»Dann sind Sie auf dem Kongress von Professore Ferro. Das ist gut, Sie werden viel lernen.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Sofern Sie nicht zugunsten der Bibliotheksbesichtigung die Vorträge und Diskussionen schwänzen.«

»Werde ich nicht, versprochen. Der Vortrag dieser Biologin ist auch sehr interessant. Allerdings etwas zu … explizit und detailreich.«

»Ich verstehe schon, ich habe vorhin einmal kurz reingeschaut, das ist mir schon auf den Magen geschlagen. Verzeihen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt: Bertoldo Novarese, ich bin der Archivar.«

Spagnoli nickte erfreut. »Und dieser Globus ist Ihre heimliche Leidenschaft.«

»In der Tat. Und ich setze mich seit Jahren dafür ein, dass er und sein Kollege, ein Himmelsglobus, der dort drüben steht, entsprechend gewürdigt werden. Er ist ein unschätzbar wertvolles Zeugnis unserer Vergangenheit. Schauen Sie mal hier, diese Jagdszene, oder dort, die Darstellung der Tiere Afrikas. Möchten Sie hinter den Glaszylinder schauen? Ausnahmsweise? Nur Anfassen ist verboten.«

Von der Begeisterung des Archivars mitgerissen, nickte Spagnoli. Bertoldo Novarese ließ sich vor dem Sockel der Ausstellungsvitrine auf ein Knie nieder, öffnete ein Schloss und schwenkte einen Teil des Zylinders zurück. Gemeinsam beugten sie sich über den mächtigen Globus, und Spagnoli erhielt eine Geschichtsstunde über die Kartierung der Welt im siebzehnten Jahrhundert.

»Als Xylograph kannte Coronelli sein Material, die Kugeln sind aus einem stabilen Holzgerüst. Er hat zwei Globen für Ludwig XIV. von Frankreich gefertigt. Sie wissen schon, der Sonnenkönig. Danach konnte er sich vor Aufträgen nicht mehr retten.« Novarese seufzte tief. »Und während sie in Wien oder Trier diesen Meisterwerken jegliche Aufmerksamkeit zukommen lassen, sind diese hier ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Tourismusverband könnte viel mehr daraus machen. Nun ja, sie sehen das Potenzial nicht.«

Spagnoli trat einen Schritt zurück, damit Bertoldo Novarese die Vitrine wieder verschließen konnte. Sie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Dieser Globus war beeindruckend, aber dass er als touristische Attraktion Menschen aus aller Welt anzog, die ausgerechnet dafür nach Bergamo kamen, erschien ihr doch etwas zu optimistisch gedacht. Aber letzten Endes konnte sie das kaum beurteilen.