Der Commissario und ein altes Geheimnis - Dino Minardi - E-Book

Der Commissario und ein altes Geheimnis E-Book

Dino Minardi

0,0

Beschreibung

Ja, er ist abgehauen, einfach weggelaufen. Als sein bester Freund Luca tödlich verunglückte, wollte Marco Pellegrini die gut gemeinten Ratschläge seiner Familie und Freunde nicht hören, die besorgten Blicke nicht sehen. Der Mann, den er sein ganzes Leben lang gekannt hat, mit dem er aufgewachsen ist, soll in Drogengeschäfte verstrickt gewesen sein. Hat Pellegrini sich so in Luca getäuscht? Sieben Jahre später wird der Fall neu aufgerollt. Plötzlich geht es nicht mehr nur um Drogenhandel, von Zwangsprostitution, ja von Mord ist die Rede. Pellegrini, der inzwischen bei der Polizia di Stato in Como Karriere gemacht hat, sitzt plötzlich die Guardia di Finanza aus Mailand im Nacken. Und er wird Zeuge in einem Fall, der viel bedeutsamer ist, als er für möglich gehalten hat – vor allem für ihn persönlich. Der Commissario wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert und beginnt zu verstehen, dass er nicht immer der Einzelkämpfer sein muss, der er vorgibt zu sein – vor allem nicht in der Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 283

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Dino Minardi

Der Commissario und ein altes Geheimnis

Pellegrinis dritter Fall

Kampa

Für Lars

– endlich

Dienstag, 2. Juni

1

Dottoressa Emmanuela Alberttina, Maggiore der Guar- dia di Finanza, hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit glatter Haut und hohen Wangenknochen. Die perfekt geschwungenen Brauen und das dezente Make-up betonten ihre braunen Augen mit den langen Wimpern. Sinnliche Lippen, dazu ein Grübchen, das ihr angedeutetes überhebliches Lächeln hervorhob. Ebenso unterstrich das dunkle mittellange Haar den energischen Zug ihrer Kinnpartie.

Überflüssig zu bemerken, dass Alberttinas Figur ebenso makellos war. Eine weiße Bluse, deren obere Knöpfe so weit geöffnet waren, dass sie einen wohlgeformten Busen erahnen ließ. Im Ausschnitt ein kleines goldenes Kreuz an einer Kette. Der Rock ihres Kostüms endete exakt auf der richtigen Länge kurz über den Knien, sodass ihre anmutigen Waden und die schmalen Fesseln betont wurden. Die Blockabsätze ihrer Pumps würden es ihr ermöglichen, gefahrlos über Kopfsteinpflaster zu rennen, falls es nottat – und zwar elegant.

Kurz: Dottoressa Emmanuela Alberttina war Marco Pellegrinis personifizierter Albtraum.

Er räusperte sich, bevor er sich zu einem freundlichen Lächeln zwang und die Hand ausstreckte. »Commissario Marco Pellegrini, Polizia di Stato, Como. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Commissario Pellegrini.« Alberttinas Lächeln erinnerte Pellegrini an eine Schlange, unmittelbar bevor sie zubiss.

»Maggiore Alberttina steht einem Sonderermittlungsteam aus Mailand vor, dem Nucleo Speciale Polizia Valutaria«, erklärte Andrea Lorenzo.

Der Abteilung für Geldwäsche, Kapitalverkehr, Terrorfinanzierung. Unwillkürlich wurde Pellegrini nervös und fragte sich, was er auf dem Kerbholz haben sollte, dass sich gleich die Chefin für ihn interessierte. In solchen Momenten ging es ihm nicht anders als anderen Zivilpersonen. Er warf Lorenzo einen hilfesuchenden Blick zu. Der Capitano der Guardia di Finanza glich in Statur und Auftreten einem römischen Feldherrn, doch er war auch Pellegrinis Freund. Heute war er allerdings in offiziellem Auftrag unterwegs. Das hielt ihn zum Glück nicht von einem kaum merklichen aufmunternden Nicken ab.

»Nun, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Alberttinas Lächeln hielt sich auf ihrem perfekten Gesicht. »Ich ermittle in einem Mordfall dreier Personen vergangene Woche in Mailand. Zwei Frauen, vermutlich gebürtig aus einem osteuropäischen Land, vermutlich Zwangsprostituierte. Und ein Mann, der mutmaßlich der Zuhälter der beiden war. Es gibt Hinweise, dass eine der Frauen Kontakt zu einem Mann namens Luca Camerone nach Como hatte.«

Pellegrini starrte sie an. Er versuchte etwas zu sagen, doch sein Kopf war wie leer gefegt. Bis jetzt hatte er gedacht, alle Geschehnisse um Lucas Tod wären das Schlimmste, was ihm jemals in seinem Leben widerfahren würde. Jetzt kam da so ein milde lächelnder Drache aus Mailand und wollte ihm allen Ernstes erzählen … Ja, was?

»Zwangsprostitution.« Mehr brachte er nicht hervor.

»Sie wollte damit nicht sagen, dass Luca etwas damit zu tun hatte.« Lorenzo machte eine beschwichtigende Geste. Doch es war mehr der vertraute Klang seiner tiefen Stimme, der Pellegrini wieder etwas zu sich kommen ließ.

Er atmete tief durch. »Gut. Ich nehme an, Sie wollen von mir etwas über Luca erfahren. War ja klar, dass es einmal so weit kommen würde. Ich kann Ihnen schon jetzt versichern, dass ich nichts von seinen kriminellen Handlungen wusste. Nicht einmal etwas geahnt habe.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.«

Am liebsten hätte Pellegrini ihr für diesen süffisanten Tonfall vor die Füße gespuckt.

»Was halten Sie davon, wenn wir runter zum Seeufer gehen?«, schlug er stattdessen vor. »Ich zeige Ihnen unseren Bootsschuppen. Unterwegs können Sie Fragen stellen.«

Alberttina schaute fragend zu Lorenzo auf, der eifrig nickte. »Das halte ich für eine ganz ausgezeichnete Idee. Gehen wir.«

Sie traten aus dem Haupteingang der Questura hinaus und überquerten die Straße. Pellegrini spürte die warme Sonne, er hatte ganz vergessen, dass hier draußen ein frühsommerlicher Tag angebrochen war. Normalerweise hätte er sein Jackett ausgezogen, doch das verkniff er sich. Er kam sich ohnehin neben Alberttina gerade noch angemessen gekleidet vor, obwohl er einen neuen dunkelblauen Anzug trug.

Er schwieg, suchte mehrmals vergeblich nach den richtigen Worten, um die Geschichte zu beginnen. Nach ein paar Minuten hoffte er inständig, dass seine Besucherin endlich Fragen stellen würde.

Stattdessen begann Andrea Lorenzo zu erzählen. Sein unaufgeregter Bass führte Pellegrini direkt zurück in die Vergangenheit.

»Marco und Luca kannten sich seit vielen Jahren. Sie sind zusammen zur Schule gegangen, machten gemeinsam den Abschluss, leisteten danach ihren Wehrdienst bei den Alpini.«

Marco Pellegrini war zehn Jahre alt gewesen, als seine Familie nach über dreißig Jahren in Deutschland nach Italien zurückgekehrt war. Sein Nonno Carlo war in den Fünfzigern als Gastarbeiter nach Köln gegangen. Er hatte sich vorgenommen, nur fünf Jahre zu bleiben und Geld zu verdienen, um das marode Familienhotel oben in Brunate wieder aufzubauen. Nach sieben oder acht Jahren holte er seine Familie nach. Sein Sohn Amerigo schaffte mit Ach und Krach den Volksschulabschluss, machte eine Ausbildung als Koch im Excelsior Hotel am Dom, lernte in der örtlichen italienischen Gemeinschaft eine Sizilianerin kennen, heiratete. Marco und seine Schwester Alessandra waren die dritte Generation, zweisprachig aufgewachsen, dennoch nicht wirklich vertraut mit der italienischen Muttersprache. Und so hatte ein kleiner Junge namens Marco sich nach der Rückkehr nach Como auf dem Platz vor dem Dom herumgetrieben, allein zwischen den Säulen des Broletto gespielt, krank vor Heimweh und ohne Verständnis für das Leben um ihn herum. Bis Luca ihn so fand, ein schwarzäugiger Bursche mit dreckigen Knien, so alt wie er, aber gut einen Kopf kleiner.

»Woher kannten Sie die beiden, Capitano?«

»Ich war lange Zeit Jugendtrainer im Ruderclub. Mitte der Neunziger habe ich sie auf einem Sommerfest kennengelernt und rekrutiert. Wie alt wart ihr, Marco?«

»Vierzehn? Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Das kommt hin. Sie haben zu viert ein Team gebildet und waren einige Jahre im Jugendbereich ziemlich erfolgreich.« In Lorenzos Stimme schwang Stolz mit. »I quattro scombri nannten sie sich.«

»Vier Jungs, die sich Makrelen nennen.« Alberttina verzog spöttisch die Mundwinkel. Pellegrini schwieg wütend. Er hatte den Namen damals selbst dämlich gefunden, aber das war Sinn der Sache, denn es ging auch um den Spaß. Sie hatte kein Recht, sich darüber lustig zu machen.

Lorenzo ignorierte den Einwurf. »Der Name kam von Luca, weil er so albern klingt. Nach der Schule haben die Jungs unterschiedliche Wege eingeschlagen, und es blieb zu wenig Zeit für ein ernsthaftes Training. Als Hobbyteam ruderten sie noch viele Jahre zusammen, nahmen regelmäßig an der Vogalonga in Venedig teil.«

Alberttina nickte. »Und was haben Sie nach der Schule gemacht, Signore?«

Jetzt war er also für die Maggiore kein Commissario mehr, sondern Zivilist. Pellegrini tat, als bemerkte er die falsche Anrede nicht. »Meine Eltern haben einen Hotelbetrieb. Ich ging in die Schweiz zu Les Roches, wenn Ihnen das etwas sagt.«

»Sofern Sie die international renommierte Hotelfachschule meinen, selbstverständlich.« Sie bedachte Pellegrini mit einem Blick, den er nicht zu deuten wusste. Taxierte sie ihn? Unterstellte sie ihm im Geiste bereits illegale Geldtransfers und widerrechtliche Finanzgeschäfte, weil er seine Ausbildung in der Schweiz absolviert hatte?

»Luca ist zunächst beim Militär geblieben. Er hatte gute Aussichten, ins Nationalteam der Ruderer aufgenommen zu werden und bei den Olympischen Spielen zu starten.«

In Wahrheit hatte Luca Stuntman werden wollen. Es war sein größter Traum gewesen, sich von Dächern zu stürzen oder durchs Feuer zu laufen. Dabei ging es ihm um den Adrenalinkick, nie um Ruhm oder Geld.

»Ein Skiunfall machte dann seine Ambitionen zunichte und beendete seine Profisportkarriere.«

»Was hat er dann gemacht?«

»Dies und das«, brummte Pellegrini. »Rettungsschwimmer und Bademeister im Sommer, Skilehrer im Winter. Drüben in Sankt Moritz.«

»Bei den Reichen und Schönen, wo sonst?«

Pellegrini verkniff sich eine bissige Erwiderung. Natürlich machte so ein unsteter Lebenswandel Luca verdächtig. Und nicht zu Unrecht, wie sie herausgestellt hatte: Er war des Drogenschmuggels in großem Stil überführt, und er war tot. Ende der Geschichte.

Sie durchquerten die Giardini del Tempio Voltiano und waren am Seeufer angekommen. Pellegrini ließ sich auf eine Parkbank fallen, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen aneinander. Er starrte auf das Wasser und versuchte, sich an Lucas Gesicht zu erinnern, an sein Lächeln, an die lebendig blitzenden kohlschwarzen Augen.

»Vor sieben Jahren wurde Luca bei einer Routinekontrolle angehalten und floh. Seine Fahrt endete an einem Steilhang runter zum Luganer See. Das Auto landete zwischen den Felsen und ging in Flammen auf. Die Drogen waren unter gebrauchtem Frittierfett versteckt.«

»Darüber bin ich gemäß der Akten im Bilde, Capitano Lorenzo.«

Es war nicht die Tatsache, dass in dem Auto kiloweise Haschisch und Kokain versteckt waren, die Luca offenbar zu schmuggeln beabsichtigt hatte. Es war nicht die Tatsache, dass Luca kriminell geworden war. Beides war zweifelsohne schrecklich, nicht zu entschuldigen. Aber für Pellegrini war das Schlimmste, dass er nach dem Unfall hatte einsehen müssen, dass er den Menschen, an dessen Seite er über zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, nicht gekannt hatte. Dass Luca Camerone am Ende ein ganz anderer war, als er vorgegeben hatte. Seinen angeblich besten Freund, Kameraden, Blutsbruder hatte er irgendwann auf dem Weg ins Erwachsenenleben verloren. Vielleicht hatte es ihn sogar nie gegeben.

Er bekam nur am Rande mit, dass Alberttina noch ein paar Fragen stellte, die Lorenzo weitschweifig beantwortete. Pellegrini dachte nach. Er musste mit Sandro und Umberto sprechen, sie vorwarnen. Es stand außer Zweifel, dass Alberttina den beiden ebenfalls einen Besuch abstatten würde. Er überlegte, wie er Lorenzo davon abhalten konnte, seine Vorgesetzte auf direktem Wege zu ihnen zu führen.

»Ich bringe Maggiore Alberttina in ihr Hotel. Marco, wir sprechen uns später.« Lorenzo erhob sich. Pellegrini zwang sich auf die Füße, verabschiedete sich förmlich und blieb stehen, bis die Silhouetten der beiden außer Sichtweite waren. Dann zog er sein Jackett aus und ließ sich zurück auf die Bank plumpsen, um weiter auf das Wasser zu starren.

2

»Marco!«

Pellegrini fuhr erschrocken zusammen.

Lorenzo schüttelte missbilligend den Kopf und hielt ihm einen kleinen Pappbecher hin. »Du sitzt seit einer Stunde hier. Trink!«

»Willst du mich umbringen?« Pellegrini schielte auf das schwarze Gebräu. Lauwarm, keine Crema. Er kippte den caffè dennoch hinunter, wie Medizin, und zog eine Grimasse.

»Komm mit.« Lorenzo deutete mit dem Kinn zum See.

»Wohin?«

»Du hattest Alberttina euren Bootsschuppen versprochen.«

Pellegrini lächelte gequält.

Lorenzo verschränkte die Arme. »Keine Diskussion. Na los, ich bin bei dir.«

»Du bist im Dienst.«

»Betreuung der Maggiore Alberttina und Aufklärung der Hintergründe zur Verwicklung von Luca Camerone in einen möglichen Mord inklusive Drogengeldströme zwischen Como und Mailand. Das sind im Moment meine Aufgaben.«

Pellegrini nickte ergeben. Es half nichts, da musste er jetzt durch. Sie schlenderten am Ufer entlang bis zu den Bootsschuppen nahe dem Ruderclub Canottieri Lario nur ein paar Schritte hinter dem Monumento ai Caduti.

»Gefällt sie dir wenigstens, die Dottoressa Alberttina? Ist sie nicht dein Typ?«, fragte Pellegrini, während er umständlich seinen Mitgliedsausweis hervorkramte.

»Bist du wahnsinnig? Entgegen hartnäckiger Gerüchte kommt heutzutage niemand mehr auf so eine Position, weil er oder sie gut aussieht. Die ist ein Bluthund, die verspeist mich zum Frühstück.«

Trotz seiner miesen Stimmung musste Pellegrini lachen. Er hätte nicht gedacht, dass ein Kerl wie Andrea Lorenzo sich wegen so einer Frau in die Hosen machen würde. Andererseits hatte er recht. Niemand, der klar bei Verstand war, ließ sich auf jemanden mit höherem Dienstgrad in der eigenen Einheit ein. Schon gar nicht auf eine gut aussehende Frau aus Mailand.

Lorenzo trat an den Tresen und lieh einen Zweier aus. Mit einem Wink schickte er Pellegrini in Richtung der Spinde.

»Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, mit mir hierherzukommen.«

»Abmarsch, Pellegrini!«

Pellegrini trat an seinen Spind und zog sich um. Er erinnerte sich, dass er vor gut einem Jahr zuletzt gerudert war, als er über seinen damaligen Fall mit einem toten Studenten nachgrübeln musste. Danach war er noch einmal hier gewesen und hatte die Sportkleidung gegen ein neueres, sauberes Set ausgetauscht, falls es ihn mal wieder packte. Doch dazu war es nicht gekommen. Bis heute.

Sie betraten die Bootshalle, trugen den Zweier zum See und ruderten hinaus aufs offene Wasser. Pellegrini saß hinter Lorenzo und war erstaunt, als dieser zunächst einmal schwieg und sich stattdessen auf die Bewegung konzentrierte. Pellegrini tat es ihm nach. Der Anblick des breiten Rückens seines Freundes, der sich vor- und zurückwiegte, der gleichmäßige Takt, die zunehmende Geschwindigkeit beruhigten ihn. Nach nur wenigen Minuten tauchten sie die Ruder in perfektem Gleichtakt ins Wasser und schossen über die ruhige tiefgrüne Oberfläche des Sees. Es war später Vormittag, außer ihnen waren nur zwei weitere Boote auf dem Wasser.

Nach einer Weile schnaufte Lorenzo und ließ die Ruder los. Da Pellegrini nicht damit gerechnet hatte, machte er noch ein, zwei Schläge und brachte so das Boot dazu, sich zu drehen. Vor ihnen lag die Silhouette Comos mit der Uferpromenade und dem Dom. Ein Fährboot brach am Hafen auf, hielt sich am Ostufer gen Norden und sandte die Ausläufer einiger Bugwellen, die den Zweier zum Schaukeln brachten. Danach wurde es abgesehen von gelegentlichem Straßenlärm, den eine Windbö zu ihnen trug, ruhig.

Lorenzo drehte sich um und schaute Pellegrini mit einem anerkennenden Lächeln an. »Du bist besser in Form, als ich erwartet habe.«

»Vielleicht solltest du aufhören zu rauchen, dann geht dir nicht so schnell die Puste aus.«

»Marco, es wird Zeit.«

Pellegrini richtete seinen Blick auf die Dolle seines linken Ruders.

»Du musst mir nicht erzählen, was du in der gesamten Zeit nach Lucas Tod getrieben hast. Aber Alberttina wird es wissen wollen.«

»Es hatte doch mit Luca gar nichts zu tun.«

»Es hatte mit nichts anderem als mit Luca zu tun.«

Pellegrini knurrte wütend. »Dreh mir nicht das Wort im Mund um. Es hatte mit dem zu tun, was er getan hat. Und damit, dass er tot war. Ich habe von all dem nicht einmal etwas geahnt.« Er schaute aufs Wasser. Einzelne Sonnenstrahlen brachen sich auf der Oberfläche und warfen Lichtfunken zurück. »Und ich kann mir eine Menge vorstellen«, fuhr er fort. »Ich traue Luca zu, dass er als Drogenkurier gearbeitet hat, für jede illegale Substanz dieser Welt. Aber dass er etwas damit zu tun gehabt haben soll, dass Frauen zur Prostitution gezwungen wurden?« Das ging nicht in seinen Kopf. Er konnte sich an keine, wirklich keine einzige Sekunde ihres gemeinsamen Lebens erinnern, in der Luca Frauen nicht respektiert hätte. Ernsthafte Beziehungen war er selten eingegangen, und meistens währten sie nicht lange, da ihn auch beim Sex die Suche nach Abenteuer und Abwechslung trieb, doch er hatte sich immer Partnerinnen auf Augenhöhe gesucht. Darüber hinaus konnte sich Pellegrini nicht erinnern, dass Luca jemals für Sex bezahlt hatte. Das hatte er nie nötig gehabt. Bordelle oder Prostituierte, das war nicht Lucas Welt, sie hatten nicht einmal Nachtlokale besucht. Es war natürlich denkbar, dass Luca solche Ausflüge ohne seinen besten Freund gemacht oder sie vor ihm verheimlicht hatte. Aber warum hätte er das tun sollen?

Weil er ein Doppelleben führte, von dem du nichts erfahren solltest, wisperte eine lautlose Stimme in sein Ohr.

»Nein«, sagte Pellegrini laut und schüttelte den Kopf.

Lorenzo blinzelte zustimmend. »Ich kann es mir beim besten Willen auch nicht vorstellen.«

Pellegrini nickte ihm dankbar zu.

»Dann beweise es.«

»Was soll ich beweisen?«

»Dass Luca nichts damit zu tun hat. Biete Alberttina jegliche Unterstützung an. Klär diesen Mist auf. Erzähl endlich jemandem, was du die ganzen Monate getrieben hast, und beweise, dass es nicht mit Lucas angeblichen Machenschaften zusammenhängt.«

Pellegrini fuhr mit dem Zeigefinger die Bootskante entlang. »Das ist nicht so leicht.«

»Aber du kennst diese Situation von der anderen Seite. Die Maggiore wird so lange misstrauisch bleiben, bis du ihr die Wahrheit sagst, ihr eine Erklärung lieferst, die plausibel klingt und sie zufriedenstellt.«

»Andrea, bitte!« Pellegrini ließ sich zurückfallen und schloss die Augen. Die Sonne streifte unerwartet warm sein Gesicht. Er spürte diesen inneren Drang, einen Rucksack zu packen und fortzugehen, genau wie nach Lucas Tod. Doch dieses Mal konnte er ihm nicht nachgeben. Damals hatte er keine Verpflichtungen gehabt, er hatte sich auf unbestimmte Zeit bei der Polstrada beurlauben lassen und war gegangen. Beruflich hatte das niemanden groß interessiert, was die Kolleginnen und Kollegen gedacht oder wie sehr sie ihn vermisst hatten, wusste er nicht. Seine Familie und Freunde, die hatten sich natürlich Sorgen gemacht, aber genau vor denen war er davongelaufen. Vor ihrem Mitleid, ob geheuchelt oder echt, vor ihren besorgten Blicken, vor ihren Fragen, die er nicht hatte beantworten können. Und wenn er gekonnt hätte, nicht hätte beantworten wollen.

Er holte Luft. »Lass uns rudern.«

Lorenzo drehte sich wortlos um und packte die Riemen.

»Deine Kollegen können herausfinden, wo ich war und wie lange, indem sie dem Weg meiner Kreditkarte folgen«, erklärte Pellegrini im Takt der Ruderschläge. »Ich kann dir ungefähr sagen, dass ich von Mailand aus über Monte Carlo nach Nizza bis nach Barcelona gereist bin. Dann die Küste … nein, nach Lyon und Besançon. Glaube ich. Ich weiß es nicht. Sie werden es rausfinden. Ich habe zwischendurch ja auch gearbeitet.«

»Legal?«

»Hoffe ich doch.«

Wenn Pellegrini ehrlich war, hatte er keine Ahnung. Er hatte Gelegenheitsjobs angenommen, wenn er Geld brauchte. Als Kellner, in Hotelküchen, als Lagerarbeiter. Einmal als Türsteher. Was sich gerade anbot. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals nach einer Sozialversicherungsnummer gefragt worden war. Aber er konnte sich an so vieles nicht erinnern. Diese Monate, die er davongelaufen war, würde er nicht gerade als die Sternstunden seines Lebens bezeichnen.

»Was hast du gemacht? Wem bist du begegnet? Hast du selbst Drogen genommen?«

»Alkohol und Zigaretten. Und ich habe mal einen Joint geraucht, aber das war in Eindhoven, dort ist es legal. Danach ging es mir zwei Tage so mies, dass ich dachte, ich würde sterben.« Pellegrini beugte sich vor und hob die Ruder in die Luft. Tropfen perlten von den Ruderblättern ab und fielen zurück ins Wasser.

»Was hast du …«

»Andrea, erspar mir das Verhör. Ich werde Alberttina alles sagen, ich verspreche es dir. Aber diese Geschichte ist vollkommen unspektakulär. Ich bin ziellos durch Europa gereist, habe mich volllaufen lassen und sogar einige Nächte auf Parkbänken geschlafen. Manchmal bin ich einfach in einen Zug gestiegen und so weit gefahren, wie mein Geld reichte. Ab und zu habe ich mich bei meiner Schwester gemeldet, damit meine Mutter nicht durchdreht und mir Europol auf den Hals hetzt. Lexi hat es dann irgendwann geschafft, meinen Cousin zu überreden, mich zu suchen. Er hat mich in Brüssel aufgegabelt und zu sich nach Köln geholt.« Pellegrini schnaufte. Er war außer Atem, und das kam nicht vom Rudern. Er zitterte vor Anspannung, weil er diese Dinge sagen musste. Er würde reden müssen, wenn er Lucas Andenken irgendwie bewahren wollte, das war ihm klar. Wem, wenn nicht Andrea Lorenzo, sollte er sich anvertrauen?

Sein Cousin Damiano und seine Schwester Alessandra waren die Einzigen, die annähernd wussten, wie dreckig es ihm damals gegangen war. Er war fünfzehn Monate umhergereist, eine Zeit, die ihm im Nachhinein lange vorkam und doch nicht lange genug gewesen war. Danach hatte er gut vier Monate bei Damiano in Köln gelebt, und sie hatten einander gegenseitig unterstützt. Denn Damiano hatte sich kurz zuvor als schwul geoutet. Nun war Köln nicht die schlechteste Stadt, in der man als Mann, der Männer liebte, leben konnte, und sowohl seine Mutter als auch seine drei Schwestern standen unerschütterlich zu ihm. Es war die Zurückweisung seines Vaters, Pellegrinis Onkel Tino, unter der Damiano litt. Nicht nur war Pellegrinis Verhältnis zu seinem Vater ebenfalls schwierig genug, sodass er viel Verständnis aufbrachte, sondern gab es ihm überraschend neue Zuversicht, weil er merkte, dass Damiano für diese Hilfe dankbar war. Er konnte etwas geben, er wurde gebraucht. Vielleicht war das ein Grund dafür gewesen, dass er sich nach seiner Rückkehr an den Comer See wieder in den Polizeidienst, und dann ausgerechnet in den Bereich Gewaltverbrechen zurückgemeldet hatte. Um etwas für die Opfer zu bewirken.

Ihm war auch klar, dass er sich nach wie vor beharrlich weigerte, für sich selbst eine ähnliche Unterstützung von Freunden wie Andrea Lorenzo in Anspruch zu nehmen. Vielleicht wurde es Zeit, das zu ändern.

Pellegrini atmete mehrmals tief durch und begann wieder zu rudern. »Hat Sandro noch sein Sportgeschäft?«

»Aber ja.«

»Dann werde ich mich heute Mittag mal nach einem neuen Trainingsoutfit umsehen.«

»Finde ich gut.«

Nur drei Worte, doch Pellegrini hatte den erleichterten Unterton in Lorenzos Stimme sehr wohl vernommen.

Sie ruderten noch eine Weile, bevor sie zurückkehrten. Gerade als Pellegrini aus dem Duschraum kam und zum Spind ging, hörte er sein telefonino. Ihm wurde kurz schwindelig bei dem Gedanken, es könnten die von der Guardia mit weiteren quälenden Fragen sein. Hektisch öffnete er den Schrank und riss das Smartphone aus dem obersten Regal.

»Pronto!«

»Wo bist du? Wir haben einen Einsatz.« Ispettrice Claudia Spagnoli klang genervt, und Pellegrini konnte es ihr nicht verdenken. Er hatte die Questura ohne Erklärung verlassen, sodass Spagnoli sich vermutlich hatte anhören müssen, was ihm denn einfiele, mitten im Dienst einfach zu verschwinden.

»Ich bin am Ruderclub. Kannst du mich hier abholen?«

»Wir müssen zum Autosilo Valduce. Weißt du, wo das ist?«

»Das Parkhaus mit den römischen Ruinen im Keller?«

»Genau. Auf dem obersten Parkdeck wurde ein junger Mann erstochen.«

»Gib mir zwanzig Minuten. Ich komme zu Fuß. Wir treffen uns dort.«

»Bis gleich.«

Pellegrini zerrte seinen Anzug aus dem Spind und zog sich rasch an. Natürlich kam es auf fünf Minuten mehr oder weniger nicht an, aber in diesem Fall kam der Einsatz wie gerufen, denn er gab ihm die Möglichkeit, von der Ermittlung gegen Luca erst einmal Abstand zu gewinnen.

»Andrea? Das war Claudia. Ich muss los. Ich melde mich bei dir, ich verspreche es!«, rief er über die Spinde hinweg.

»Alles klar, viel Erfolg!«

3

Im Laufschritt eilte Pellegrini quer durch die Innenstadt. Es war eine gute Viertelstunde zu Fuß, doch mit dem Auto würde es vermutlich nicht viel schneller gehen, da man die Altstadt einmal umrunden müsste, und das bei mehr oder weniger ständig verstopften Straßen.

Außer Atem erreichte er schließlich das Parkhaus und blieb kurz stehen, um Luft zu holen. Das Autosilo Valduce war ein durchaus faszinierendes Bauwerk. Im Erdgeschoss, zwei Meter unter dem heutigen Straßenniveau, lagen die Überreste der römischen Therme Comos aus dem ersten bis dritten Jahrhundert nach Christus. Darüber erhoben sich vier Parkdecks, die komplett mit rostigen Lochplatten verkleidet waren. Vermutlich war das architektonisch etwas sehr Besonderes und die rötliche Farbe gar kein Rost, sondern Absicht, womöglich eine ästhetisch ansprechende Gestaltung. Für Pellegrini blieben es rostige Lochplatten, und dafür durfte ihn, wer wollte, aus vollem Herzen Banause schimpfen. Aber wer wie er in einer Villa des Stile Liberty in Brunate aufgewachsen war, dem konnte eine solche Riesenrostwand unmöglich gefallen.

Pellegrini überquerte die Straße und sah sich vergeblich nach seinem Team um. Daher rief er Spagnoli an, und sie lotste ihn zum Treppenhaus. Auf dem obersten Parkdeck angekommen, fand er, dass es mehr als genug Sport für heute gewesen war. Immerhin hatte der Lauf durch Como ihm den Kopf von den schweren Gedanken um Luca befreit. Was konnte er schon ausrichten? Das würde sich alles irgendwie klären.

Die Zugangstür zum Parkdeck wurde von einer uniformierten Polizistin bewacht, die Pellegrini vom Sehen kannte und die ihm höflich zunickte.

»Ispettrice Spagnoli erwartet Sie bereits, Signor Commissario.« Sie drückte mit einer Hand die Metalltür auf und wies mit der anderen über das fast leere Parkdeck zum äußersten Rand, an dem ein Auto und ein gutes Dutzend Menschen standen. Direkt neben dem Treppenaufgang parkten fünf weitere Wagen, darunter zwei Polizeifahrzeuge und der schwarze Touran von Dottor Giovanni El Gato, dem Rechtsmediziner.

Pellegrini bedankte sich, trat hinaus und schnappte erst einmal nach Luft. Ungefähr die Hälfte des Parkdecks war mit Sonnenkollektoren überdacht, den übrigen blendend hellgrün gestrichenen Boden hatte die Sonne aufgeheizt. Pellegrini zog seine Sonnenbrille aus der Innentasche seines Jacketts und überlegte, ob dieser Fleck wohl besonders viel Wärme speicherte und die Römer die Therme deshalb hier erbaut hatten. Aber vermutlich war es jetzt nur die Kombination aus Beton und dem Sonnenstand.

Beim Näherkommen wunderte er sich über die vielen Leute. Er erkannte Aldo Zanotti, den Leiter der Spurensicherung, neben ihm Sonia Borghese, seine fähigste Mitarbeiterin. Ispettrice Claudia Spagnoli und Vice Ispettore Fabio Cunego standen dahinter und hatten die Köpfe in seltener Eintracht zusammengesteckt. Außerdem waren vier Uniformierte am Schauplatz. Das war alles nichts Besonderes. Es lungerten aber auch ein Junge und vier Mädchen im Alter von circa sechzehn Jahren herum. Zwei Frauen Ende dreißig unterhielten sich in ein paar Metern Entfernung und warfen immer wieder verstohlene Blicke auf die Polizei und die Jugendlichen. Waren das hier alles Zeugen?

Pellegrini nickte allen freundlich zu und tastete dabei unwillkürlich mit dem Zeigefinger über die kleine Narbe auf seinem Wangenknochen. Es war ungefähr ein Jahr her, als ihm ein junger Mann, nicht viel älter als die ragazzi, die hier herumstanden, ein Wasserglas ins Gesicht gedonnert hatte, um vor ihm und seinen Fragen zu fliehen.

Plötzlich erblickte er El Gato, der hinter dem Auto gehockt hatte und sich jetzt zu seiner vollen Größe aufrichtete. Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die schweißnasse Glatze.

»Pellegrini, gut, dass Sie kommen.« Er winkte ihn zu sich.

Mit einem Seitenblick auf Zanotti, der gnädig nickte, umrundete Pellegrini den VW Polo. Er achtete darauf, den dunkelroten Flecken auszuweichen, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, da bereits alles Blut von der Sonne getrocknet war. Aber es war eine auffällig große Menge. Und als er auf den Toten zutrat, wusste er auch, warum.

»Madonna mia«, murmelte er bestürzt.

El Gato atmete hörbar aus und trat einen Schritt zurück.

Zwischen ihnen befand sich die Leiche eines Jungen. Er lag in Embryohaltung auf der Seite, die Beine mit der knöchellangen Chino angezogen. Von seinem hellgrauen T-Shirt waren nur blutige Fetzen übrig geblieben. Auf seinen Oberkörper war mehrmals eingestochen worden. Neben ihm lag ein Klappmesser, das bereits mit einer Nummer markiert war. Eine Baseballkappe befand sich oberhalb seines Kopfes, ebenfalls markiert.

Pellegrini hielt inne, senkte das Kinn auf die Brust und blickte den Toten ruhig an. Er konnte sich nicht die Zeit nehmen, die er einem Opfer üblicherweise widmete, denn es waren zu viele Augen auf ihn gerichtet. Es wurde ohnehin schon über diese Angewohnheit gesprochen, als wäre sie eine esoterische Spinnerei. Dabei fand Pellegrini, dass es das Mindeste war, dem Toten Respekt zu zollen, aber auch, der Ermittlung bewusst einen Startpunkt zu geben.

Er nahm die Sonnenbrille ab, hockte sich hin und sah dem Jungen ins Gesicht. Er sah weder besonders gut aus noch war er hässlich. Die Augen waren geschlossen, Blutspritzer klebten auf den Wangen und auf dem linken Augenlid. Bartflaum bedeckte den Unterkiefer und das Kinn. Die Gesichtszüge wollten nicht so recht zusammenpassen, die Augen waren noch kindlich groß, die Kinnpartie dagegen männlich ausgeprägt. In einem Nasenloch hatte er ein Piercing, an dem Rotz klebte. Säuerlicher Schweißgeruch ging vom Körper aus.

Pellegrini erhob sich. »Wer macht so was?«, sagte er halblaut zu niemandem.

»Das ist die Frage des Tages.«

Er zuckte zusammen und fuhr herum, als Spagnolis Stimme direkt hinter ihm ertönte.

Sie musterte ihn erstaunt. »Alles in Ordnung?«

»Natürlich, wieso?« Er setzte die Sonnenbrille wieder auf.

»Ich dachte nur … Du bist ja sonst nicht so schreckhaft.«

Er fixierte sie. Sie wusste Bescheid über den Besuch der Guardia aus Mailand. Lorenzo hatte ihr schon alles erzählt, er konnte es ihr ansehen.

Sie hatten leise gesprochen, dennoch fühlte Pellegrini sich ertappt, als Cunego herantrat und mit dem Kinn auf die Gruppe Jugendlicher wies. »Die Truppe da und das Opfer haben sich hier getroffen. Der Polo gehört der Braunhaarigen mit dem Pferdeschwanz und der langen Strickjacke.«

»Die darf schon Auto fahren?« Pellegrini stieß ein verwundertes Schnauben aus. Er hatte sie alle auf höchstens sechzehn geschätzt.

»Seit zwei Wochen«, ergänzte Spagnoli.

»Der Junge und die andere Braunhaarige mit dem Pagenschnitt und der Brille waren im Treppenhaus, als es passiert ist. Die übrigen drei Mädchen waren mit dem Opfer allein.«

»Haben die vielleicht auch Namen?«, unterbrach ihn Pellegrini unwirsch. »Das macht es vielleicht etwas übersichtlicher.« Er konnte sich Namen besser merken als Gesichter oder gar Frisuren.

Aufruhr entstand an der Auffahrt, als ein Auto auftauchte und die Polizistin am Treppenaufgang es zunächst nicht passieren lassen wollte, bis sie erkannte, dass es sich um einen Leichenwagen handelte.

»Spricht etwas dagegen, wenn wir den Toten abtransportieren?«, mischte sich El Gato ein. »Sein Zustand wird nicht besser, je länger er hier in der Hitze herumliegt.«

Pellegrini blickte erst Spagnoli, dann Cunego an. Beide nickten.

»Was können Sie sagen, Dottore?«, fragte er El Gato, der dem Leichenwagen ungeduldig zuwinkte. Zu Pellegrini gewandt hob er abwehrend eine Hand und wischte sich mit der anderen abermals über die Glatze. »Wenig, außer dem Todeszeitpunkt, der ziemlich klar sein dürfte, also vor circa einer Stunde. Mehrere Stiche mit großer Wucht. Alles Weitere später.«

Pellegrini, Spagnoli und Cunego traten mehrere Meter zurück und beobachteten, wie der Tote in einen Metallsarg gelegt wurde.

»Du wolltest Namen«, nahm Spagnoli den Faden wieder auf.

»Nora Brambilla und Mauro Fabricci sind die beiden, die mutmaßlich nicht unmittelbar beteiligt waren, weil anderweitig beschäftigt. Der Tote heißt Angelo Pisaroni.« Sie schaute Cunego auffordernd an.

Der nahm seine verspiegelte Sonnenbrille ab und blickte auf sein Handy. »Die übrigen drei Damen sind Isabella Ghielmetti, das ist die Autofahrerin, Eva Bergamaschi und Naomi Callegaro.«

»Und eine der drei ist die Täterin?«

»Ja«, erwiderte Spagnoli gedehnt. »Das muss wohl so sein, aber hier wird es kompliziert.«

»Inwiefern?«

Cunego steckte sein telefonino ein. »Sie alle drei wollen es gewesen sein, behaupten, sie hätten sich wehren müssen, weil das Opfer sie sexuell …« Er stockte kurz, als sei ihm das Wort peinlich. »… genötigt haben soll.«

»Drei Täterinnen?« Pellegrini blickte zu der Gruppe. Die Größte des Trios hielt die Kleinste in den Armen, ihre Schultern bebten. Die Dritte trat von einem Bein aufs andere und schwitzte.

»Sie alle hatten Blut an den Händen. Zanotti hat Proben und Fingerabdrücke von Ghielmetti und Bergamaschi genommen.«

»Und von der Dritten? Was ist hier eigentlich los?« Pellegrini zog sein Jackett aus. Er merkte, dass sein Kreislauf allmählich aus dem Takt geriet. Er musste unbedingt etwas trinken, sonst würde er hier gleich vor aller Augen ohnmächtig werden. Vielleicht war sein körperlicher Zustand auch der Grund, dass nichts von dem, was El Gato oder seine beiden Ispettori sagten, wirklich Sinn ergab.

»Außer der Autofahrerin sind alle minderjährig. Die eine Frau dort drüben hat die Polizei alarmiert. Die andere ist Evas Mutter, sie hat uns die Erlaubnis zur erkennungsdienstlichen Erfassung ihrer Tochter gegeben.«

Pellegrini grinste verstohlen. Cunego liebte solche Formulierungen, sie klangen so schön wichtig.

Er wandte sich an Zanotti, der seine Mitarbeiterin gerade anwies, das Messer und die Baseballkappe einzusammeln. »Braucht ihr uns noch?«

»Nein, wir kehren alles zusammen und wischen feucht durch, Signor Commissario.«

El Gato hatte den Abtransport des Leichnams überwacht und begab sich mit einem Abschiedsgruß zu seinem Auto, während der Leichenwagen wendete und davonfuhr.

Pellegrini setzte die Sonnenbrille auf. Ihm war heiß und schwindelig. Er beugte sich zu Spagnoli. »Spricht etwas dagegen, wenn wir diesen Haufen irgendwo im Schatten vernehmen?«, fragte er leise.

»Nein, ich denke nicht. Ist wirklich alles in Ordnung? Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen«, flüsterte sie.

Pellegrini zögerte. Normalerweise würde er ausweichen, ihre Besorgnis abwehren. Aber seit heute Morgen war alles anders. Sie wusste ohnehin Bescheid, warum sollte er sich verstellen? »Nein«, brummte er leise. »Nichts ist in Ordnung. Ich war vorhin mit Andrea rudern, habe mich ziemlich verausgabt und seitdem nichts getrunken. Mein Kreislauf hängt mir in den Knien.«

Spagnoli wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem strengen Knoten gelöst hatte. Mit derselben Bewegung nahm sie die Sonnenbrille vom Kopf und setzte sie auf.

»Gut. Alle mal herhören!«, rief sie laut. »Wir werden Sie alle jetzt mit nach unten nehmen und uns in den Ruinen der Therme eine kühlere Ecke suchen. Dort werden wir auf Ihre Eltern warten und Ihnen einige Fragen stellen. Colombo, Sie begleiten die Gruppe.«

Agente Colombo, ein Anwärter, der kaum älter war als die Zeugen, nickte eifrig und begab sich zu den Jugendlichen.

Spagnolis Blick wanderte von Pellegrini zu Cunego. »Fabio, kannst du bitte ein paar Flaschen Wasser und Cola besorgen? Unten an der Straße solltest du etwas bekommen.«

»Ich?« Er setzte an, schien widersprechen zu wollen. Außer ihm stand noch ein Sergente herum, der keine Anweisungen oder Aufträge erhalten hatte. Cunego kniff empört die Lippen zusammen und wandte Spagnoli demonstrativ den Rücken zu.

»Gute Idee. Mach das«, bekräftigte Pellegrini rasch die Aufforderung seiner Ispettrice. Das Letzte, was er jetzt noch brauchen konnte, waren die Befindlichkeiten der beiden.

Ohne ein weiteres Wort stapfte Cunego davon. Seine angespannte Haltung zeigte deutlich, wie wenig es ihm passte, von Spagnoli Anweisungen entgegenzunehmen.

Da sie nicht alle in den Aufzug passten, nahmen Spagnoli und Pellegrini die Treppe, da er keine Sekunde länger als nötig in der Hitze braten wollte. In seinem Kopf flimmerten noch die Bilder des Toten, dieses unfassbar viele Blut, die jungen Gesichter der anderen.

»Was ist hier passiert?«

»Die Mädchen widersprechen sich.«

Er erschrak. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte.

Spagnoli schien es zum Glück nicht bemerkt zu haben und fuhr fort: »Das eine Mädchen hat mit dem anderen Burschen im Treppenhaus geknutscht, so viel ist sicher. Die übrigen drei behaupten alle, sie hätten Angelo Pisaroni erstochen. Muss ein äußerst liebenswürdiger Kerl gewesen sein, wenn sie sich so darum reißen, die Täterin zu sein.«

»Bei den Stichen muss Wut im Spiel gewesen sein.«

»Ja, so weit hat El Gato sich schon auf eine Vermutung eingelassen. Sechs bis acht Stiche mit ziemlicher Wucht in den Oberkörper.«

»So? Mir wollte er nichts sagen.«

Spagnoli lächelte. Im Laufen angelte sie ihre Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. »Ich habe in der Nähe gestanden, als er das in sein Diktiergerät gesprochen hat. Gesagt hat er mir auch nichts, keine Sorge.«

Pellegrini blieb stehen und wischte sich über die Stirn. Er hatte unterwegs sein Jackett wieder angezogen, weil es ihm zu lästig wurde, es zu tragen. Spagnoli nahm die Sonnenbrille ab und klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. Dann hielt sie Pellegrini das Päckchen hin.

»Ich rauche nicht, das weißt du doch.«

»Wenn du sehr gestresst bist, schon.«

Er setzte an, um zu protestieren, doch etwas ließ ihn innehalten.