Bienenkönigin - Claudia Praxmayer - E-Book
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Claudia Praxmayer

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Beschreibung

Stirbt sie, stirbst auch du

»In meiner zitternden Handfläche liegt, matt in der Sonne schimmernd, eine nachtschwarze Biene.«

Doch jenes unheimliche Wesen, das Mel eines Tages vor dem Bienenstock im Garten ihrer WG findet, ist keine der samtigen Bienen, die sie so liebt. Ganz im Gegenteil: Es ist eine tödliche Miniatur-Drohne, die es offensichtlich auf ihre lebenden »Artgenossen« abgesehen hat. Nur, wer würde die ohnehin bedrohten Bienenvölker um San Francisco ausrotten wollen? Mel und ihre vier WG-Freunde sind entsetzt und beginnen nachzuforschen. Und ihre Ermittlungen führen sie unversehens mitten hinein in eine hochbrisante Verschwörung ...

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© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie

Covermotive: Strocksy/Javier Pardina, shutterstock/Maxim Gaigul

MP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23090-6V003

www.cbj-verlag.de

Für alle Bienen dieser Welt

Prolog

Liebe Melissa,

du hast auf dieser knallrosa Decke mit den eingestickten Elefanten gesessen. Holzklötzchen wie verstreute Zuckerwürfel um dich herum – sie interessierten dich nicht. Dein Blick war in die Ferne gerichtet, auf irgendetwas jenseits des Gartens, das nur du sehen konntest. Du hast gelacht, deine Händchen in die Luft gestreckt. Ich habe dich von meinem Liegestuhl auf der Terrasse aus beobachtet. Wir waren alle so vernarrt in dich, in deine Pausbäckchen, deine dunklen Haare, dein Grübchen am Kinn. Alles hat dich begeistert: jeder Käfer, jede Blume, jeder Stein. Du warst ein so freundliches Kind, ich war die stolzeste Großmutter in ganz Santa Barbara. Wie ein kleiner Buddha saßt du auf deiner Decke, und als die Erste ankam, wurdest du ganz still. Du hast dich keinen Millimeter bewegt, als ob du wüsstest, was dich erwartete und was von dir erwartet wurde. Nur mit den Augen bist du ihrem Flug gefolgt. Aus der einen wurden zwei, vier, dann zehn. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Sie umschwärmten dich wie einen Honigtopf. Und du, du warst ganz ruhig, als ob du die Liebkosung ihres Summens genießen würdest. Wie eine Decke hüllten sie dich ein, ein Schutzwall aus flauschigen Leibern. Tausende Flügel, die dir kühle Luft zufächelten. Plötzlich verschwanden die Bienen, so schnell, wie sie gekommen waren. Du hast einfach weiter still dagesessen und ihnen noch lange lächelnd nachgeschaut.

Du bist besonders, Mel, das wirst du im Laufe deines Lebens herausfinden. Die Bienen haben an diesem Tag davon gesungen, und ich bin sicher, dass auch du es gespürt hast, obwohl du noch so klein warst. Tief in dir schlummert dieses Wissen, aber die Zeit wird es abschleifen, wie Wasser Steine glatt schleift. Du lebst in einer Welt, die solche Phänomene nicht erklären und noch weniger akzeptieren kann. Du lebst in einer lauten Welt, einer Welt des Offensichtlichen, Beweisbaren, Kontrollierbaren. Deshalb möchte ich dieses Erlebnis in dir lebendig halten, damit du daraus Kraft schöpfst, um zu deiner Bestimmung zu finden.

Niemals, Mel, niemals darfst du diese Geschichte vergessen, sie ist wichtig, sie gehört zu dir wie das Fellchen in deinem Nacken. Dieses Fellchen – es ist kein Geburtsfehler, wie alle behaupten, es ist eine Auszeichnung. Trage sie mit Würde. Und erinnere dich an das, was ich zu dir gesagt habe: Geh zu den Bienen und sprich mit ihnen. Sie werden dir zuhören.

Denk daran. Immer.

Deine Nana

Ich lege den Brief meiner Großmutter zur Seite. Vom vielen Lesen ist er so mürbe geworden, dass ich ihn in Folie habe einschweißen lassen. Der Gedanke, dass er irgendwann zwischen meinen Fingern zerfallen, sich in Staub auflösen könnte, ist für mich unerträglich. Über den Verlust könnte mich auch der Scan, sicher abgespeichert in der Cloud, nicht hinwegtrösten. Die blassblaue Tinte, die geneigte Handschrift mit Schleifen, die das Geschriebene wie an winzigen Luftballons über die Zeilen tragen, atmen den Geist meiner Großmutter. Zusammen mit ein paar Fotos und einer seltsamen Melodie in meinem Hinterkopf ist der Brief alles, was mir von meiner Nana geblieben ist. Mein Vater hat ihn mir an meinem zehnten Geburtstag aufs Kopfkissen gelegt. Drei Jahre, nachdem Nana aus Santa Barbara weggezogen war, und kurz nachdem sie bei einer Kajaktour im Meer ertrunken war.

Kapitel 1

Das zarte Gebilde dreht sich ohne Eile um sich selbst und dann, als wäre ihm langweilig geworden, ändert es seine Richtung. Ich beobachte das Lichtspiel, von der milchigen Februarsonne auf seine Seidenflügel gezaubert. Wäre der Papiervogel nicht mit einem Faden an der Decke gefangen, würde er bestimmt davonfliegen. Hinaus in die weite Welt.

Ein Stück weiter baumelt eine Libelle selbstvergessen vorwärts und rückwärts, wie die Kinder auf den Schaukeln im Park. Schwer vorstellbar, dass all diese wundersamen Geschöpfe, die unser Haus bevölkern, aus einem quadratischen Stück Papier entstanden sind. Ich beneide Ozzy um diese Fingerfertigkeit. Seit einem Dreivierteljahr bewohnt er das Eckzimmer in der alten Villa, die wir alle nur den Bienenstock, den Beehive, nennen. Unzählige Stücke Papier haben seither in seinen Fingern zu einer neuen Form gefunden: Eine Herde Nashörner grast auf den Bücherregalen im Salon, filigrane Heuschrecken setzen auf dem Beistelltisch zum Sprung an, Eichhörnchen, Fledermäuse und Krokodile teilen sich friedlich einen Lebensraum in der Küche. Neuerdings versucht Ozzy sich an Kranichen. Er hat irgendwo ein japanisches Sprichwort ausgegraben: »Wer tausend Kraniche faltet, hat einen Wunsch frei.«

Bei dem Gedanken muss ich lächeln, sehe ihn wieder vor mir am Küchentisch sitzen und auf seinem Tablet Faltmuster skizzieren und Kantenlängen berechnen. Er behauptet, das würde ihn entspannen. Als ich ihn dann gefragt habe, was er sich wünscht, wenn er tausend dieser Vögel erschaffen hat, ist er stumm geblieben. Ozzy und seine Geheimnisse. Manchmal wünsche ich mir, in sein Gehirn kriechen zu können und ihm beim Denken zuzusehen. Vermutlich müsste ich mich dort erst durch einen Dschungel aus Zahlen und Formeln kämpfen, um bis zu seinen Gefühlen vorzudringen.

Ich lümmle auf dem Sofa und warte, dass sich der Samowar aufheizt. Meine Augen wandern ziellos durch das Zimmer, bis sie an den Papierkranichen, die wie ein versprengter Schwarm auf der Fensterbank liegen, hängen bleiben.

Ich kann es immer noch nicht glauben, aber ich bin endlich angekommen, hier im Beehive, in diesem Haus, das seit fast einem Jahr mein Zuhause ist. Die Magie dieses Ortes hatte mich damals vor zehn Monaten sofort gefangengenommen, als ich die ersten Schritte auf den knarzenden Dielen machte. Oder vielleicht den Bruchteil einer Sekunde später, als die Sonne das verblassende Hellgrün der Flurwand wie einen Wald im Frühling zum Leuchten brachte. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was Josh mir bei der ersten Besichtigung über die Villa erzählt hat. Aber woran ich mich deutlich erinnere, ist jener Moment, als ich den Samowar zum ersten Mal sah. Wie ein dicker König thronte er auf dem Tischchen, Patina hatte sein Silber in ein Mosaik verwandelt. Er schien zu atmen, mir in einer fremden Sprache leise etwas zuzugurgeln.

»Muss das alte Ding mal reparieren lassen«, hatte Josh genuschelt und mir Tee angeboten. Genau genommen sagte er: »Darf ich dir eine Tasse Tee im Salon anbieten?«

Jetzt, im Nachhinein, könnte ich nicht mehr sagen, was mich mehr irritiert hat: Joshs altmodische Sprache oder die Tatsache, dass er das Wort »Salon« für ein abgelebtes Wohnzimmer, vollgestopft mit Büchern, benutzte. Und obwohl Josh irgendwie kauzig wirkte, mochte ich ihn sofort. Die Art, wie er gestikulierte, seine Schläfen, die aussahen, als ob eine Spinne Fäden hineingewoben hätte, die Lachfalten.

Ich weiß noch, wie er beim Tee die Geschichte seiner Tante Louise vor mir ausbreitete. Tante Louise, eine exaltierte ältere Dame, die im Salon ihrer Villa regelmäßig Gesellschaften gegeben hatte. Literaten, Philosophen und andere schlaue Köpfe aus San Francisco hatten sich regelmäßig um den Samowar versammelt, um neue Ideen zu diskutieren, Klatsch auszutauschen oder sich zu streiten.

»Tante Louise parliert jetzt allerdings mit Dostojewski und Puschkin im Jenseits und hat deshalb mir, ihrem einzigen noch lebenden Verwandten, diese Villa vermacht. Samt Samowar. Und Schulden. Und mit der Auflage, dass ich sie zehn Jahre lang nicht verkaufen darf.«

Später fand ich heraus, dass Josh als freier Mitarbeiter für eine Feuilleton-Redaktion schreibt. Beim Examiner, einer der letzten Tageszeitungen, die sich zur Online-Ausgabe noch einen Print-Titel in kleiner Auflage leistet. Ich vermute, aus reiner Nostalgie, denn wirtschaftlich betrachtet ergibt so etwas heutzutage kaum mehr Sinn. Schließlich lesen und leben wir online. Die meisten zumindest. Aber ich schätze, Josh ist dort ganz gut aufgehoben, kann seiner Liebe zur Sprache und seiner Abneigung gegen das Netz frönen. Dass ihn sein bescheidenes Gehalt dazu zwingt, vier Zimmer in der Villa zu vermieten, nimmt er billigend in Kauf. Und für mich war und ist es ein Glücksfall.

Die Villa, diese Zeitkapsel aus der Vergangenheit, war genau das, was ich damals brauchte. Balsam auf die Seele meiner inneren Alice, die endlich durch ihr Kaninchenloch gefallen war. Ich war angekommen! Gerade als ich mich so verloren fühlte wie nie zuvor in meinem Leben. Mein ödes Studium am Community College lag hinter mir, die Zukunft in einem dichten Nebel vor mir.

Ich weiß nicht, wie oder warum es passiert ist, aber kaum eingezogen in dieses altmodische Haus, war ich plötzlich zuversichtlich, dass sich hier meine Zukunft entfalten würde. Schon in der ersten Nacht, als ich auf dem Bett saß und den hohlen Baum vor dem Fenster meines neuen Zuhauses betrachtete. Das Mondlicht ließ ihn wie eine Skulptur erscheinen – seine dürren Äste den Wolken entgegengereckt. Ich weiß noch, wie ruhig und friedlich es in der Villa war. Außer einem gelegentlichen Quietschen der Dielen über mir und dem trägen Summen einer Fliege am Fenster war nichts zu hören. Eine solche Stille hatte ich noch an keinem anderen Ort in San Francisco erlebt.

Und fast gleichzeitig wurde mir bewusst, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde, dass ich bald Küche, Bad und Salon mit anderen teilen würde. Knirschende Treppen, Türenschlagen, ein ständiges Kommen und Gehen – wie in einem Bienenstock. Aber zu meinem eigenen Erstaunen machte mir das keine Angst. Ganz im Gegenteil. Ein Vibrieren breitete sich in meinem Bauch aus, kroch durch meine Brust nach oben und erreichte mein Gehirn. Wie in einem Bienenstock – der Gedanke hallte nach, wurde lauter, wirbelte durch meinen Kopf und ließ mich vom Bett aufspringen.

Wie in einem Bienenstock! Warum nicht?

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit alternativen Wohnprojekten nichts am Hut. Ich wusste zwar, dass es in San Francisco einige Communitys gab – meist irgendwelche Techies und Start-up-Gründer – aber weder hatte ich mich dafür interessiert noch Ahnung, ob das Konzept tatsächlich funktionierte. Aber was wäre, wenn? Wenn Menschen zusammenlebten, die alle die gleichen Werte und Ideale teilten? Die nach dem Konsensprinzip gemeinsam Entscheidungen fällten? Statt Joghurts in mein und dein einzuteilen, den Kühlschrank aus einer Haushaltskasse füllten?

Wenn ich mich heute an diesen Moment zurückerinnere, kann ich noch immer das Kribbeln und Herzflattern spüren, das dieses imaginäre Leben bei mir auslöste. Rückblickend glaube ich, dass meine Sehnsucht nach einer greifbaren Welt in der Zeit meiner Orientierungslosigkeit so groß war, dass virtuelle Freundschaften und Social Networks sie nicht mehr stillen konnten. Ich wollte etwas, das mir Halt gab, das in meiner realen Welt und nicht auf einem Bildschirm stattfand.

Ich war in jener Nacht damals so mit Energie aufgeladen, als hätte ich einen Blitz berührt. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Stattdessen beobachtete ich meinen alten Wecker dabei, wie er die Stunden langsam herunterzählte. Tick, tick, tick. Dieses Ungetüm, das ich vor vielen Jahren von Nana bekommen hatte, damit ich die Uhr lesen lernte. Dessen Zeiger sich zitternd in die Kurve legten und unter größter Anstrengung die nächste Minute ansteuerten.

Als das zarte Rosa der ersten Sonnenstrahlen endlich durch mein Fenster schimmerte, sprang ich auf und schlich mich auf Zehenspitzen nach unten in diese wunderbare Küche.

Zwar sind die Schränke abgenutzt und die Arbeitsplatte zerkratzt, aber sie ist fast so geräumig wie die Restaurantküche meines Vaters. Nur viel heller, weil durch die Glastür zum Garten das Sonnenlicht flutet. In der Mitte des Raumes ein Esstisch aus Holz – alt und groß wie ein Kontinent.

An diesem Morgen meines ersten Tages in der Villa wühlte ich mich durch die Schränke, bis ich die Dose mit Kaffee fand. Fremde Schränke, fremder Kaffee. Es fühlte sich trotzdem fast selbstverständlich an. Nur der Kühlschrank dämpfte meine Euphorie etwas: drei Eier, die traurig in einer Ecke rumkugelten, ein Karton mit Milch, verschrumpelter Käse, nachlässig in Folie eingewickelt. Nicht viel, um ein ordentliches Frühstück auf den Tisch zu zaubern, aber genug, um Pfannkuchen zu fabrizieren.

Allerdings war ich noch immer so aufgekratzt, dass ich kaum etwas hinunterbrachte und nach dem ersten Pfannkuchen kapitulierte. Also stellte ich den Rest warm, setzte mich auf einen der Stühle und wartete.

Ich glaube, seit diesem Morgen kenne ich sämtliche Schrammen und Kratzer, die das Leben auf der Oberfläche der Tischplatte eingraviert hat. Es grenzte an ein Wunder, dass ich Josh, als er verschlafen den Kopf zur Tür hereinsteckte, nicht sofort mit meiner Idee überfiel. Stattdessen goss ich zwei Tassen Kaffee ein, stellte den Teller mit den Pfannkuchen auf den Tisch und setzte mich zu ihm. Ich weiß nicht, ob er damals gespürt hat, dass ich etwas auf dem Herzen hatte. Falls ja, ließ er es sich nicht anmerken. Er verputzte seinen Pfannkuchen in aller Seelenruhe, dann stand er auf, um sich eine zweite Tasse Kaffee zu holen. Das war mehr, als ich an Warterei ertragen konnte.

»Könntest du dir vorstellen, in so einer Community zu leben? Ich meine, HIER in der Villa?«, platzte es aus mir heraus. Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. Sein Blick durchleuchtete mich wie eines dieser Lasergeräte. Dann wandte er sich wieder der Kaffeemaschine zu und goss sich eine weitere Tasse ein.

»Was genau meinst du damit?«

Mein Gehirn lief auf Hochtouren, suchte nach Erklärungen und Argumenten, ich wollte klug und überlegt klingen, aber die Worte in meinem Mund kollidierten wie Autos bei einem Verkehrsunfall.

Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich damals ziemlich wirres Zeug gestammelt habe. Aber Josh ließ mich reden, nickte ab und zu, stellte ein paar Fragen und verdrückte in aller Ruhe den letzten Pfannkuchen. Als ich schon nicht mehr daran glaubte, noch eine Antwort zu bekommen, wischte er sich seelenruhig den Mund mit der Serviette ab und sagte: »Ich denke auch, dass fünf vernünftige Menschen imstande sein sollten, in dieser Form zusammenzuleben.«

Es war ihm ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen, als hätte er sich schon Jahre darüber Gedanken gemacht. Ich war so verdutzt, dass ich ihm spontan um den Hals fiel und dabei seine Kaffeetasse auf den Boden beförderte. Er lachte und schob mich weg.

»Hey, nicht so stürmisch! Du kennst meine Bedingungen noch gar nicht.«

Er hätte alles fordern können, ich hätte es gemacht. Dieses innere Vibrieren war wieder da, ließ mich zappeln, grinsen, auf den Zehenspitzen wippen. Aus Joshs Blick war zu lesen, dass ich mich benahm wie ein Teenager. Also setzte ich mein bestes Pokerface auf und hakte nach.

»Okay, schieß los! Was sind deine Bedingungen?«

Josh wollte die Zimmer möglichst schnell vermieten, ich hingegen sicherstellen, dass die Neuen auf derselben Wellenlänge waren und die Idee der Community mittrugen. Keine Hipster, keine Profilneurotiker, keine Faulpelze.

»Wie stellst du dir das vor? Willst du Interviews mit ihnen abhalten?«

»Warum nicht? Wir testen sie einfach mit ein paar Fragen und finden so heraus, ob sie zu uns passen. Lass sie uns einfach fragen, was sie inspiriert. Oder was sie in der Welt verbessern würden, wenn sie die Chance dazu hätten.«

Wir diskutierten noch eine ganze Weile hin und her, aber am Ende stimmte Josh meinem Vorschlag tatsächlich zu. Unter einer Bedingung: Ich musste die geeigneten Kandidaten herbeischaffen und gemeinsam mit ihm die Interviews durchführen. Zwei Wochen gab er mir dafür, dann mussten die Zimmer vermietet sein und Geld auf sein Konto spülen.

Nicht exakt das, was ich mir vorgestellt hatte, aber es war eine Chance – immerhin. Zwischen mir und meinem Glück stand nur noch ein Anzeigentext, den ich in verschiedenen Foren posten musste.

Wie leicht mir der von der Hand ging, erstaunt mich noch heute. Beflügelt von Glückshormonen, die in ungesunder Menge durch mein Blut rauschten, hatte ich ihn in zehn Minuten in den Rechner gehackt. Es dauerte nur ein paar Stunden, bis ich die erste Mail eines Bewerbers in meinem Posteingang fand: Leo, der wortreich erklärte, warum gerade er der perfekte Kandidat für das Experiment sei. Er hatte ein Foto mitgeschickt – ein blonder Kerl in dreckigen Arbeitsklamotten, ein winziges Pflänzchen in der Hand. Er strahlte in die Kamera, als hielte er sein neugeborenes Baby im Arm. Dieses Bild pflanzte eine Idee in meinen Kopf. Die Idee, Joshs verfilzten Garten in ein Paradies zu verwandeln!

Das Gurgeln des Samowars holt mich in die Gegenwart zurück. Der Wasserkocher hat sich aufgeheizt und erinnert mich daran, dass Arbeit auf mich wartet. Ich falte mich aus dem Sofa, nehme meine Teetasse und lasse heißes Wasser über die Minzblätter laufen, die ich vom Stock neben der Terrassentür gezupft habe. Marokkanische Minze, die nach Bonbon und Kaugummi riecht. Coco, meine Mitbewohnerin, kann Kräutertees nicht ausstehen. Sie findet, sie sehen aus, als hätte jemand einen Frosch ausgekocht. Ihre Droge heißt Roibuschtee. Aktuell steht sie wieder einmal auf Karamell. Ozzy findet beides ekelhaft. Er, ganz Purist, duldet nur Ceylon oder Assam in der Tasse. Leo ist weniger pingelig. Er trinkt, was gerade verfügbar ist.

Sagt die Vorliebe für eine Teesorte etwas über einen Menschen aus? Ich nehme mir vor, das irgendwann zu recherchieren. Was aber auch immer hinter den geschmacklichen Vorlieben meiner Mitbewohner stecken mag, eines ist klar: Der Samowar ist zum dampfenden Herzen unserer Villa geworden.

Ich schlurfe mit meinem Tee in die Küche. Um diese Uhrzeit ist es still im Haus. Die anderen sind längst an der Uni, in der Redaktion oder auf der Farm.

Den Holztisch zieren noch ein paar Marmeladengläser, Brotkrümel sprenkeln die Tischplatte. Ich wische sie mit der Hand auf den Boden und notiere Staubsaugen auf meiner imaginären To-do-Liste.

Für die meisten Menschen, die ich kenne, ist Staubsaugen eine altmodische Angelegenheit. Ich hingegen bin froh, dass Josh ein Technikmuffel ist und keinen dieser kleinen Saugroboter, die einem ständig gegen den Knöchel knallen, im Haus hat. Auch ein Kühlschrank, der fehlende Lebensmittel automatisch nachbestellt, bleibt uns dadurch erspart. Wer will schon ständig den gleichen Joghurt essen?

Ich trinke meinen Tee aus, stelle die Tasse in die Spüle und greife nach dem Messer, das auf der Anrichte liegt. Die Terrassentür knarzt, als ich sie öffne, und ich füge meiner Liste Türangel ölen hinzu. Kühle Februarluft strömt herein, wischt über mein Gesicht wie ein Waschlappen und vertreibt den letzten Rest Müdigkeit. Ich schiele auf meine schmutzigen Gummistiefel, die wie zwei gut erzogene Hunde auf den Holzplanken warten. Wie jeden Morgen graut mir davor, mit den nackten Füßen in dieses klamme Universum einzutauchen. Dass ich Socken anziehen könnte, fällt mir dummerweise immer erst in diesem Moment ein. Und wie jeden Morgen führt mich mein Weg zuallererst hinüber zu dem hohlen Apfelbaum, der von der Februarsonne in goldenes Licht getaucht wird. Überall steigt Feuchtigkeit aus dem Boden auf und webt zarte Nebelschleier zwischen Beete und Büsche. Auch wenn ich dieses Naturschauspiel in den letzten Wochen oft zu Gesicht bekommen habe – die Schönheit des Augenblicks verzaubert mich jedes Mal aufs Neue.

Ich lege das Messer auf dem großen Stein ab, den Leo letztes Jahr angeschleppt und am Kopfende des vorderen Gemüsebeets eingegraben hat. Ich nenne ihn bei mir Stein des Anstoßes, weil Leo sich für seinen Alleingang eine Abreibung von Coco abgeholt hat. Ich fand die Idee mit dem Sitzplatz im Garten genial und Cocos Verhalten etwas kleinlich. Aber sie hatte darauf gepocht, dass alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden müssten. Community eben. Natürlich hatte sie in der Sache recht, trotzdem hätte sie nicht so hart mit Leo ins Gericht gehen müssen. Dass er den Stein doch nicht wieder ausgraben musste, haben wir dann zusammen beschlossen.

Ich gehe noch einen Schritt näher Richtung Baum. Wie immer spüre ich es zuerst auf der Höhe des Magens. Ein Summen, eine Art Vibrieren, das sich in konzentrischen Kreisen immer weiter und weiter ausbreitet. Mein Brustkorb, mein Hals, die Stimmbänder, der Kopf – alles wird davon in Schwingung versetzt. Meine rechte Hand wandert in den Nacken, so als ob ich mich vergewissern müsste, dass mein Fellchen immer noch an Ort und Stelle ist. Natürlich ist es da. Es wird immer da sein. Hypertrichose, haben die Ärzte gesagt, als ich zur Welt gekommen bin. »Das verliert sich«, war sich die Verwandtschaft einig. Meine Mutter hätte ihnen vermutlich gerne geglaubt. Einzig Nana, meine Großmutter, mochte den winzigen goldbraunen Flaum in meinem Nacken. »Er macht dich zu etwas Besonderem, Mel«, hat sie immer gesagt. Dafür bin ich ihr noch heute dankbar.

Ich gehe so nahe an den Baumstamm, dass ich mir die goldenen Waben durch den Spalt im Holz ansehen kann – wie jeden Tag, seit die Bienen bei uns auf dem Grundstück leben.

Sie sind nur wenige Wochen nach mir eingezogen und haben ihre kleine Republik in diesem abgestorbenen Apfelbaum errichtet. Ich kann mich noch genau an diesen Frühsommertag erinnern. Ich kam gerade vom Einkaufen und war mit schweren Taschen bepackt in die Küche geschwankt. Da sah ich die Traube am Baum hängen. Tausende Leiber, eng zusammengeballt, um die Königin zu schützen. Ein unglaublicher Anblick! Nana sagte immer: »Wo Bienen wohnen, ist das Glück zu Hause.«

Bei diesem Gedanken muss ich auch heute wieder lächeln, ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Das Vibrieren wird jetzt stärker, versetzt meine Stimmbänder in Schwingung. Ein Summen steigt aus meinem Kehlkopf auf, zaghaft erst, dann mit jedem weiteren Ton kräftiger. Die Melodie erwacht zum Leben und fliegt hinaus zu den Bienen.

Die Worte dieses Liedes habe ich längst vergessen, aber das macht nichts, sie verstehen mich auch so. Ich muss die Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass die ersten Bienen aus dem Stock geflogen kommen. Ich kann das zarte Sirren ihrer Flügel hören. Mein Kopf wird leer, nichts existiert mehr außer dieser Melodie, die tief aus meinem Innersten aufsteigt. Töne und Bienen, die mich jetzt zu Hunderten umschwärmen, mich umtanzen, liebkosen. Samtene Insekten, die mir ihre Geheimnisse zuflüstern, mich trösten, mein Herz leicht werden lassen. Sie wissen immer genau, in welcher Stimmung ich mich befinde. Was hätte ich in den letzten Monaten nur ohne sie gemacht. Auf der Suche nach mir selbst, nach meinem Leben.

Das Summen schwillt an und ebbt ab, wie die Wellen eines Ozeans. Ich tauche ein in dieses Meer, gebe mich hin, verliere das Gefühl für Zeit und Raum. Die Bienen bestimmen den Rhythmus. Plötzlich, wie auf einen unsichtbaren Befehl hin, schwärmen sie in alle Himmelsrichtungen davon.

Als das Summen verstummt, öffne ich die Augen, blinzle und stehe eine Weile verwirrt da. Es dauert immer einen Moment, bis ich wieder im Hier und Jetzt ankomme. Noch halb in Trance beobachte ich das geschäftige Treiben am Einflugloch.

Es ist so unglaublich, fast ein Wunder. In einer Zeit, in der Bienen selten geworden sind, hat sich dieses Volk damals ausgerechnet unseren Garten ausgesucht. Über Nacht haben wir unzählige neue Mitbewohner bekommen.

Dass wir unserer Community den Namen Beehive, Bienenstock, gegeben haben, war danach nur eine logische Konsequenz. Genauso wie die Idee mit den Gemüsebeeten. Hier waren die Bienen und hier war Leo. Leo, dessen Hände groß wie Baggerschaufeln sind und der sein Geld in einem Hochhaus verdient, das zur größten Indoor-Farm San Franciscos umgestaltet wurde. Gärten, Beete und Modellfelder auf fünfzehn Stockwerke verteilt.

Tagsüber, auf der Farm, gibt Leo sich akademisch. Zumindest schließe ich das aus seinen Erzählungen. Er grübelt im Hochhaus über die Zusammensetzung von Nährlösungen oder tüftelt an einer computergesteuerten 24-Stunden-Beleuchtung für Keimlinge, die für schnelles Wachstum sorgen soll. Aber abends und am Wochenende kommt dann Leos andere Seite zum Vorschein. Oder wie Coco es einmal formuliert hatte: »Du bist wohl so ’ne Art Öko-Jekyll und -Hyde.« Mit der Leidenschaft eines Bauern in fünfter Generation wühlt Leo mit den Händen in der Erde, setzt Pflanzenjauche an, bringt Saatgut aus und pflanzt Setzlinge.

Alles, was wir hier im Beehive über ökologischen Gemüsebau wissen, haben wir von Leo gelernt. Und fast alles, was in unserem Garten und denen der Nachbarn wächst, haben wir den Bienen zu verdanken.

Ich schnappe mir das Messer vom Stein und stiefle zu den Beeten, wo der Boden rote Rüben, Pastinaken und Feldsalat aus der Erde treibt. Ich werde sie bald verkochen müssen, aber heute brauche ich Grünkohl. Am besten einen ganzen Armvoll. Die dunkelgrünen Rosetten belegen das hinterste Beet, lassen kaum einen Zentimeter nackter Erde frei. Ich bewundere die Hartnäckigkeit, mit der sie Wind und Wetter trotzen. Es tut mir fast ein wenig leid, dass ich diese herrlichen Pflanzengebilde abschneiden und auf dem Altar meiner Küche opfern muss.

Hinter mir ertönt aufgeregtes Gegacker – die Hühner haben mich entdeckt und stolzieren in meine Richtung, bis der Zaun sie stoppt. Ich weiß natürlich, dass nicht Zuneigung, sondern die Hoffnung auf einen Leckerbissen die Tiere in meine Nähe treibt. Sie stehen am Zaun, glotzen zu mir rüber und ruckeln mit den Köpfen. Aber heute muss ich sie enttäuschen – ich habe vergessen, Brot einzustecken. Es dauert nicht lang und die fünf haben verstanden, dass bei mir heute nichts zu holen ist. Beleidigt ziehen sie ab, um weiter nach Käfern und Samen zu scharren.

Die Grünkohlblätter landen in der Spüle, ich lasse Wasser darüberlaufen, um die letzten Krümel Erde abzuwaschen. Mir schwebt ein herzhaftes Wintergericht vor. In Gedanken gehe ich die Zutaten durch, die ich verarbeiten will. Pilze, Zwiebeln, Tomaten, vielleicht Chili – in meinem Kopf formt sich eine Idee: Grünkohl-Lasagne. Bei dem Gedanken an saftige Nudelblätter beginnt mein Magen sofort zu knurren.

Ein gutes Zeichen. Für mich sind diese Gedankenexperimente das Schönste am Kochen. Sich vorzustellen, welche Geschmackskombination dem Gaumen schmeichelt, ihn herausfordert oder überrascht. Ich lasse mich treiben, folge meiner Intuition. Manchmal habe ich das Gefühl, in meinem Inneren eine Datenbank mit Tausenden Aromen, Geschmäckern und Texturen zu tragen.

Vermutlich habe ich das von meinem Vater geerbt. Olives, sein Restaurant in Santa Barbara, ist beliebt, und glaubt man den Kritikern, zählt er zu den besseren Köchen in der Region.

Für mich ist er einfach nur mein Dad, dem ich als kleines Mädchen oft bei seiner Arbeit in der Küche zugesehen habe. Er hatte immer einen Barhocker an die Wand geschoben, auf den ich klettern und alles beobachten konnte. Für mich waren das Momente voller Geborgenheit – eingehüllt in Küchendüfte und Geschirrgeklapper, umgeben von den gestärkten Jacken und Schürzen der Köche. Mittendrin mein Vater, der sein Küchenorchester dirigierte. Immer in Bewegung, die Augen überall. Er gab Anweisungen, schmeckte ab, verlieh den letzten Schliff. Ich war jedes Mal wie verzaubert von dem Schauspiel, wurde der wundersamen Choreografie der Küche nie überdrüssig. Hatte mein Vater eine neue Kreation entwickelt, wurde sie mir auf einem kleinen Tellerchen gereicht. Ein einfaches »Gut« akzeptierte er als Antwort nie. Er wollte mehr, forderte mich auf, nachzuspüren, dem Urteil meiner Geschmackszellen zu lauschen. Er liebte dieses Spiel, war geduldig und nahm mich ernst. Ich erinnere mich noch an ein Gericht mit Garnelen und einem seltsamen Gemüse, das ich noch nie zuvor gegessen hatte.

Es schmeckte seifig, und das habe ich ihm auch gesagt. Sein Gesicht blieb reglos, und als er nicht reagierte, wurde ich nervös. Hatte ich ihn beleidigt? Doch dann fing er an zu grinsen. »Zu viel Ingwer, ich wusste es! Du wirst langsam richtig gut, Prinzessin.«

Und er drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Erst Jahre später verstand ich, dass man mich in dieser Küche geparkt hatte. Nana war fort, meine Mutter mit ihrer Karriere an der Uni beschäftigt und die Babysitter waren unzuverlässig.

Ungeliebt!, hatte alles in mir geschrien, als dieser Gedanke das erste Mal mein Teenagergehirn streifte. Zum Glück verliert sich pubertäres Selbstmitleid wieder und mir wurde irgendwann klar, dass die Momente in der Küche zu den schönsten gehörten, die ich nach Nanas Weggang erlebt habe.

Ich drapiere den nassen Grünkohl so auf der Arbeitsplatte, dass die Wassertropfen das Licht einfangen, und mache ein paar Nahaufnahmen mit unscharfem Hintergrund.

Eine Spielerei, die ich mir angewöhnt habe, seit ich beim Kochen jeden Arbeitsschritt mit der Kamera dokumentiere. Statt für meine neuen Kreationen jedes Mal ein Rezept zu verfassen, speichere ich die Bilder zusammen mit ein paar Notizen auf meinem Tablet. Das reicht mir als Gedächtnisstütze und erspart mir Arbeit. Wenn mein Dad das wüsste … Wann habe ich eigentlich das letzte Mal mit ihm gesprochen?

Spontan tippe ich die Nummer des Restaurants in mein Smartphone – die einzige Telefonnummer, die ich noch auswendig weiß, und die beste Möglichkeit, ihn am frühen Vormittag zu erreichen. Altmodisch, wie er ist, kann man im Olives nur telefonisch reservieren – Online-Booking ist für ihn moderner Schnickschnack. Er und Josh – zwei Brüder im Geiste.

»Hey, Dad, ich bin’s.«

»Prinzessin! Lange nichts mehr von dir gehört! Wie läuft es bei dir da oben?«

»Gut. Ich koche gerade.«

»Dann sind wir schon zwei. Was gibt es?«

Die detaillierte Beschreibung der eben erfundenen Grünkohl-Lasagne klingt, als ob ich das Gericht schon unzählige Male zubereitet hätte. Das passiert immer, wenn mein Vater und ich uns übers Kochen unterhalten. Wir können stundenlang über Zutaten, Zubereitungsmöglichkeiten und neue Kniffe philosophieren.

»Klingt nicht schlecht. Ich würde noch etwas Zitronenschale hineinreiben. Übrigens: Gestern war deine Mutter da.«

Mehr braucht er nicht zu sagen. An seiner Stimme höre ich, dass sie wieder gestritten haben. Und vermutlich war ich der Grund. So geht das, seit ich im Beehive lebe.

Kurz vor meinem Einzug hier hatte ich noch gemeint, mich damit abgefunden zu haben, nach einem vernünftigen Studium irgendwann als Ernährungsberaterin in einer lysoformstinkenden Klinik zu arbeiten. Solider Job, sicheres Einkommen, todlangweilig. Genauso wie das Studium selbst, dieses akademische Ungeheuer, das ich meiner Mutter zuliebe beginnen würde. Meinem Dad hingegen war immer klar, dass ich mein Glück so nicht finden würde.

»War es wieder einmal meinetwegen?«

»Ach, du kennst doch unsere Frau Professor. Sie kommt einfach nicht über ihre missratene Familie hinweg.«

Der Koch und die Akademikerin. Es war mir schon immer ein Rätsel gewesen, wie sich diese beiden so unterschiedlichen Menschen ineinander hatten verlieben können.

»Sie hat dir also wieder die Hölle heißgemacht wegen unserer Vereinbarung?«

Ich weiß noch, wie ich damals meinen Vater angerufen hatte, müde und frustriert nach einem Interview an der Uni. Noch immer habe ich seine wütende Stimme im Ohr: »Mel, du bist wie ich. Du willst kochen, aber später doch nicht irgendwelchen Menschen Haferbrei aufschwatzen.« Diese zwei Sätze hatten meine Fassade zum Einsturz gebracht. Mein Heulkrampf war so beeindruckend, dass er sich an seinem nächsten freien Tag in den Flieger gesetzt und mich in San Francisco in das Sterne-Restaurant eines guten Freundes entführt hatte.

»Hier gehörst du hin und nicht in ein Krankenhaus!« Seine Lieblingsfantasie: wir beide, Seite an Seite in einer Küche.

Ich war mir da nicht so sicher. Zu nah hatte ich miterlebt, was es bedeutet, ein Restaurant zu führen. Hatte die Ehe meiner Eltern scheitern sehen. Ein Leben, wie mein Dad es führt, wollte ich nicht. Leidenschaftliche Hobbyköchin? Sicher! Aber Profiköchin und Restaurantchefin mit allem, was dazugehört?

»Kümmere dich nicht darum. Ich halte das schon aus. Darin habe ich schließlich jahrelange Übung.«

Sein Lachen klingt bitter.

»Ich bin immer noch davon überzeugt, dass es richtig war. Egal, was unsere Frau Professor sagt. Du bist nicht auf dieser Welt, um unsere Träume zu leben. Und jetzt hast du zumindest die Chance herauszufinden, was du wirklich willst.«

Was ich wirklich will … Mir steigen Tränen in die Augen, wenn ich an dieses Mittagessen zurückdenke.

Ich hatte ihm meine Lebensplanungs-Bankrotterklärung zum Dessert serviert. »Dad, ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll.« Was danach folgte, hat sich tief in mein Herz eingebrannt.

Er hatte seine Pranke auf meine Hand gelegt, mich lange angesehen und gesagt: »Also gut, ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe dir ein Jahr, in dem du herausfinden kannst, was du wirklich willst. Du wirst mit dem Geld, das ich dir monatlich überweisen werde, zwar keine großen Sprünge machen, aber es wird zum Leben reichen. Wenn du danach immer noch nicht weißt, wo es dich hinzieht, kommst du zurück nach Santa Barbara und kochst mit mir. Zumindest für eine Weile. Einverstanden?« Ich erinnere mich noch genau an diesen Sturm, den diese Sätze in mir ausgelöst hatten. Frei! Ich war endlich frei! Zumindest für ein Jahr. Kurz nach diesem Mittagessen zog ich im Beehive ein.

»Ich habe seit zwei Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Ruf sie an.«

»Wozu? Damit sie mir sagen kann, dass ich eine Versagerin bin? Mit meinen Collegenoten als billige Küchenhilfe in einer WG arbeite? Nein, danke!«

»Ich weiß, sie ist ein harter Brocken. Aber sie ist immerhin deine Mutter …«

»Du hast auch schon überzeugender geklungen.«

»Wann kommst du mich wieder einmal in Santa Barbara besuchen?«

Typisch Dad. Man kann sich an ihm die Zähne ausbeißen, wenn er über ein Thema partout nicht sprechen will. Vielleicht auch ein Grund, warum meine Eltern nicht mehr verheiratet sind.

»Mal sehen. Gegenvorschlag: Du kommst mich besuchen. Du weißt, meine Mitbewohner vergöttern dich.«

»Hat ihnen das Abendessen beim letzten Mal so gut geschmeckt, ja? Die sollen sich bloß nicht beschweren, du versorgst sie bestimmt bestens.«

»Schon, aber an deine Raffinesse beim Kochen komme ich einfach nicht heran.«

Sein Lachen macht mich glücklich. Das Telefon an die Schulter geklemmt, angle ich die getrockneten Pilze aus dem Regal und weiche sie in warmem Wasser ein.

»Dad, ich muss …«

»Verstehe, Prinzessin, lass dich nicht aufhalten. Bis bald!«

Schnell schäle ich die Schalotten und würfle sie klein. Dann noch Knoblauch.

Mein Dad. Mir zuliebe hat er sich mit meiner Mutter angelegt. Wahrscheinlich war dieser Befreiungsschlag nicht nur für mich wichtig.

Ich wuchte den großen Topf auf den Gasherd, gieße Öl hinein und füge die Schalotten hinzu. Ein betörendes Aroma steigt mir in die Nase.

»Zwiebeln um diese Uhrzeit sind ehrlich gesagt nicht so mein Ding.«

In der Tür steht Josh, der mich verschlafen anblinzelt. Das Kopfkissen hat deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

»Ich dachte, du bist schon längst in der Redaktion«, antworte ich, während ich umrühre und den Kohl hinzufüge. Josh rümpft die Nase.

»Die brauchen mich heute nicht. Das Schicksal des freien Schreibknechtes. Was wirfst du uns heute zum Fraß vor?«

Sein Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen.

»Grünkohl-Lasagne mit Pilzen. Willst du Kaffee?«

»Ich mach mir lieber erst eine Tasse Tee – hab schon genug Gift in meinem Körper.«

Josh bewohnt das oberste Stockwerk der Villa alleine, und die knarzenden Treppen haben mir verraten, dass er gestern Nacht spät nach Hause gekommen ist. Vermutlich ist er wieder mit den alten Kollegen vom San Francisco Chronicle versackt. Josh ist, wie seine Villa, in einer anderen Zeit stecken geblieben. Ein lebender Anachronismus. Er würde eher zum Gärtner umschulen, als Online-Redakteur werden.

»Da wäre ich wenigstens an der frischen Luft«, hatte er geknurrt, als ich ihn irgendwann danach fragte.

»Dein Kohl stinkt übrigens zur Hölle.«

Josh setzt sich mit seiner Teetasse an den Tisch und folgt jeder meiner Bewegungen aus müden Augen. Ich ignoriere seinen Kommentar und rühre einfach weiter im Topf, bis Kohl, Schalotten und Pilze eine homogene Masse bilden, dann drehe ich die Flamme zurück und setze den Deckel auf.

»Du wirst deine Meinung über Kohl heute Abend noch revidieren, da bin ich sicher.«

»Bestimmt gesund, was du da fabrizierst.«

»Du siehst aus, als könntest du heute ein paar Extra-Vitamine gut gebrauchen.«

»Sprich nicht so unflätig mit einem alten Mann!«

»Unflätig? Ich glaube, du bist der letzte Mensch, der dieses Wort noch benutzt.«

»Was, du nennst mich einen Dinosaurier?«

Das Küchentuch, das ich nach Josh werfe, verfehlt ihn um mehr als einen Meter.

»Jetzt lass mich endlich meinen Job machen«, lache ich und kippe die geschälten Tomaten in den Topf. Meinen Job. Langsam gewöhne ich mich daran. Der Deal war Leos Idee gewesen. Natürlich. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir einen Nebenjob in einem der kleinen Restaurants zu suchen, um meine angespannte finanzielle Situation in den Griff zu bekommen. Bis Leo diesen Vorschlag servierte.

»Sag mal, Mel, warum kochst du nicht stattdessen für uns? Ich meine, nicht nur ab und zu, so wie jetzt, sondern täglich? Oder an fünf Tagen die Woche? Macht dir doch Spaß …«

»Vielleicht weil ich Geld verdienen muss?«

»Schon klar. Aber wenn du dafür im Gegenzug deutlich weniger in die Haushaltskasse einzahlen müsstest? Wäre doch win-win – wir kriegen anständiges Essen und du musst nicht in irgendeiner blöden Restaurantküche jobben.«

Ich krame im Schrank nach den Lasagneblättern. Eckige Nudeln, ovale Auflaufform – jedes Mal wieder eine Herausforderung. Ich fluche, als die spröden Dinger nicht so brechen, wie ich es will.

»Du solltest vielleicht Ozzy in deine Kochprojekte einbeziehen. Unser Mathe-Genie kann dir bestimmt für jede Form die ideale Bruchkante berechnen«, flachst Josh.

Wieso fängt er jetzt mit Ozzy an? Ich schweige und beuge mich über die Auflaufform, als ob ich meine Arbeit kontrollieren würde. Ohne dass ich es will, sehe ich Ozzy vor mir, wie er gestern in die Küche kam. Seine Arme schlenkerten, als wären sie nur über ein Gummiband mit dem Rest seines Körpers verbunden. Ohne ein Wort hatte er sich auf einen Stuhl fallen lassen und mich beobachtet, wie eine Katze, die einem Vogel auflauert. Ozzy ist für mich wie ein Buch in Brailleschrift. Unentzifferbar.

»Ich arbeite an einer Biene. Ich dachte, das interessiert dich«, hatte er gesagt.

»Und was ist mit deinen Kranichen?«

Er hatte mit den Schultern gezuckt.

»Mir fehlen noch 940. Etwas Abwechslung kann nicht schaden.«

Es ist mir ein Rätsel, wie Ozzy alles unter einen Hut bringt. Sein Mathestudium, den Nebenjob als Verpackungsdesigner und seine Origami-Obsession.

Bevor ich ihn weiter ausfragen konnte, war er verschwunden. Ein Geist im schwarzen Kapuzenshirt. Alles, was er zurückgelassen hatte, war ein Stück Papier mit der Skizze einer Biene.

Kapitel 2

»Hey Leute, ich muss mal wieder den Hausdrachen spielen. Keiner von euch hat bis jetzt auf meine Orga-Mail geantwortet. Und nur Leo hat sich in die Arbeitsliste eingetragen.«

Coco legt Messer und Gabel auf ihrem Teller ab und blickt vorwurfsvoll in die Runde. Das kann sie gut. Coco ist so etwas wie unser Majordomus und sorgt dafür, dass unser Leben im Beehive halbwegs reibungslos läuft. Mit Online-Listen, gemeinsamer Kalenderverwaltung und Gruppenmails rückt sie uns regelmäßig zuleibe. Sie managt die gemeinsame Haushaltskasse, die Arbeitslisten und die Beehive-Events. Eben alles, außer dem Essen und den Einkäufen. Das fällt in meinen Aufgabenbereich. Wir haben Coco damals einstimmig in diese Funktion gewählt, nicht nur, wie sie immer behauptet, weil kein anderer Bock auf diesen Mist hat, sondern weil sie ein durch und durch strukturierter Mensch ist.

»Erledigt das bitte spätestens bis morgen. Was wir aber dringend heute Abend noch besprechen müssen, ist der nächste Grüne Salon. Ist ja nicht mehr lange hin. Irgendeine Idee?«

In regelmäßigen Abständen verwandelt sich unser Salon mit dem Samowar in den Grünen Salon – einen Treffpunkt für Menschen, die sich so wie wir für nachhaltiges Leben interessieren.

Was ursprünglich als Treffen mit ein paar Freunden begann, hat sich mittlerweile zu einem beliebten Happening unter Studis und jungen Öko-Interessierten ausgewachsen. Manchmal wissen wir nicht, wohin mit all unseren Gästen. Dann quetschen sich Menschen auf Sofas, zwängen sich auf Fensterbänke oder sitzen auf dem Boden. Ich liebe diese Atmosphäre – die Wärme, das gedämpfte Flüstern, die Erwartung, die im Raum schwingt.

Das Thema des Abends legen wir fest und suchen einen Experten dazu. Ich finde es spannend zu beobachten, dass die Abende immer nach einem ähnlichen Muster ablaufen. Anfänglich sind die Leute eher zurückhaltend. Bis Coco die ersten Fragen stellt und die Diskussion in Gang bringt. Mein Ding wäre das nicht, aber Coco macht das richtig gut. Ich habe sogar den Verdacht, dass sie es genießt, so im Mittelpunkt zu stehen. Ist das Eis erst einmal gebrochen, wird diskutiert, die Welt gerettet und gestritten, was das Zeug hält. Oft bis spät in die Nacht. Das macht Spaß, bedeutet aber für uns vier wenig Schlaf.

Wir müssen nämlich früh raus, um dem Salon seine alte Würde zurückzugeben. Das ist Joshs Bedingung, unter der er diesen monatlichen Treffen zugestimmt hat. Alles muss wieder an seinem Platz und sauber sein, bis er aufsteht und sich seine erste Tasse Tee zubereitet. Auch Ozzys Papiertiere werden dann wieder aus den Schubladen befreit. Leider eine notwendige Maßnahme, denn nach dem ersten Grünen Salon war es zu einem großen Artenschwund gekommen. Sämtliche Elefanten, einige Käfer, Heuschrecken und eine Giraffe mit ihrem Jungen waren einfach verschwunden.

»Wie wäre es mit den steigenden Lebensmittelpreisen? Gemüse und Obst sind teurer geworden, ein Pfund Mandeln kostet mittlerweile ein halbes Vermögen«, schlägt Leo vor.

Cocos Augen werden schmal, wie immer, wenn sie nachdenkt. Sie zwirbelt eine Strähne ihrer lackschwarzen Haare zwischen den Fingern und schüttelt den Kopf.

»Zu kurz gegriffen. Was meint ihr?«

Ozzy schaufelt sich Quinoa in den Mund und scheint wenig Interesse zu haben, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wer weiß schon, was ihm immer durch den Kopf geht.

»Vielleicht alternative Gemüse-Anbauformen? Ich könnte die Einführung dazu machen«, schiebt Leo hinterher.

Ozzy wischt sich den Mund mit der Serviette ab, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

»Ich finde, unsere Bienenkönigin sollte endlich mal etwas über ihre geflügelten Freunde da draußen erzählen.«

Ich? Wie kommt Ozzy plötzlich auf mich? Ich habe mit einem Mal das Gefühl, am Stuhl festgetackert zu sein, mein Mund wird ganz trocken. Warum tut er das? Will er mich provozieren? Ich forsche in seinem Gesicht, aber ich kann keine Spur von Gehässigkeit darin finden.

Vermutlich hat er mich heute wieder beim Singen mit den Bienen beobachtet. Das macht er in letzter Zeit öfter, wenn er nicht früh an die Uni muss. Bisher habe ich ihm gegenüber noch mit keinem Wort erwähnt, dass sich seine Silhouette dabei jedes Mal so deutlich wie ein Scherenschnitt hinter seinem Fenster abzeichnet.

Ganz automatisch fasse ich mir in den Nacken und spüre das vertraute Weich. Die Vorstellung, vor unbe