Bienzle und das ewige Kind - Felix Huby - E-Book

Bienzle und das ewige Kind E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Kommissar Bienzle als väterlicher Freund eines Mordverdächtigen Es ist schon Nacht. Die meisten Standbetreiber in der Stuttgarter Markthalle haben längst Feierabend gemacht. Ein Wachmann dreht seine letzte Runde. Plötzlich hört er Schritte. Eine Tür fällt ins Schloss. Und dann erfasst der Lichtstrahl seiner Taschenlampe ein grausiges Bild: Der Markthändler Joseph Janicek liegt vor seinem Stand im eigenen Blut. Sein behinderter Sohn Geza sitzt vor ihm und hält ein Messer in der Hand. Hauptkommissar Ernst Bienzle nimmt sich des verstörten Jungen an, weil er weiß, der Schlüssel zur Aufklärung des Verbrechens könnte bei Geza liegen. Der geistig zurückgebliebene junge Mann fasst Vertrauen zu dem Kommissar. Nach und nach jedoch entsteht ein Bild, das immer komplizierter wird. Joseph Janicek war nicht nur der Ehrenmann, als der er in seiner Umgebung galt.

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Felix Huby

Bienzle und das ewige Kind

Krimi

Roman

Fischer e-books

Erster Tag – Montag

»Bei so einem Wetter jagt man keinen Hund auf d’ Straß«, knurrte der Wachmann Leo Wissmann. Der Regen peitschte ihm schräg von vorne ins Gesicht. Am Nachmittag hatte noch die Sonne geschienen, aber, na ja, es war April. Der kleine, gedrungene Mann überquerte den Schillerplatz und warf einen Blick auf die mächtigen Mauern des Alten Schlosses. Einer der Scheinwerfer, die das Denkmal des großen Dichters in der Mitte des Platzes beleuchteten, schien falsch justiert zu sein und warf einen vom Regen verwischten Schatten auf die mächtigen Steinquader der Schlossmauer. Wissmann nahm sich vor, dies am nächsten Tag der Stadtverwaltung zu melden.

Der Wachmann freute sich auf das nächste Objekt, das er zu kontrollieren hatte: die Markthalle. Als er eine der schweren bronzenen Eingangstüren aufschloss, riefen von der Stiftskirche her die Glocken zum Abendgottesdienst um halb acht.

Bei keinem seiner Kontrollgänge nahm sich Wissmann so viel Zeit wie in der Markthalle. Er liebte den Geruch, der ihn empfing, sobald er den hohen, langgezogenen Raum des Jugendstilgebäudes betrat. Bis 18 Uhr boten hier die Händler Obst und Gemüse aus aller Herren Länder an: frische Datteln und Feigen, spanische Kakifrüchte, griechische Pfirsiche, Tomaten aus Lanzarote. Es gab aber auch heimische Speisekartoffeln, frisches Sauerkraut von den Filderhöhen im Süden Stuttgarts und an den Metzgerständen Hausmacherwurst und Maultaschen. Über allem schwebte der Geruch, der aus den Kräuter- und Gewürzständen drang. An manchen Abenden war noch der eine oder andere Standbesitzer da, wenn Wissmann seinen Rundgang machte, aber heute war die Halle menschenleer.

 

Die schwere Pforte fiel hinter ihm zu. Wissmann schloss ab und richtete seine starke Handlampe nach oben. Spielerisch zeichnete er mit dem Lichtstrahl Figuren an die gewölbte Decke. Während er den hellen Keil weiter durch die Halle wandern ließ, griff er hinter sich nach dem Kippschalter. Die Deckenlampen gaben während der Nachtschaltung nur ein diffuses Licht ab.

Wissmann nahm bei seinem Kontrollgang immer denselben Weg. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, den Ablauf seiner Überprüfung zu ändern. Sein ganzes Leben verlief nach den immer gleichen Regeln.

Plötzlich hörte er Schritte. Der Wachmann blieb stehen und hielt den Atem an. Da wieder! Dann klang es, als stieße jemand gegen eine Kiste oder ein anderes Hindernis.

»Ist da wer?« Die Schritte entfernten sich schnell. »Wer ist da?«, rief der Wachmann. Er rannte in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Eine Tür wurde aufgerissen. Ganz am Ende des Ganges. Dort ging es in die weitläufigen unterirdischen Räume hinab, wo jeder Händler seinen eigenen Keller hatte, sauber abgeteilt durch Lattenwände. Der Wachmann erreichte die Kellertür. Als er nach ihr fasste, schwang sie von alleine auf.

Gleich hinter dem Eingang ging es eine steile Treppe hinab. Zögernd blieb Wissmann stehen. Nichts war zu hören.

Der Flüchtige konnte sich hinter jeder Ecke verstecken, er konnte auch eine der eisernen Luken aufgestoßen haben, durch die über Rutschen Waren in den Keller herabgelassen wurden, und auf die Straße hinausgestiegen sein. Außerdem gab es unterirdische Gänge, die in mehrere Richtungen führten. Der Wachmann horchte.

Die unterirdischen Räume gehörten nicht zu seinem Kontrollgebiet. Wissmann drückte einen Schalter neben der Tür. Blaues Neonlicht flammte zuckend auf, ehe es sich gleichmäßig ausbreitete. Alles war ruhig. Wissmann kamen Zweifel, ob er nicht einer Täuschung erlegen war. Er machte kehrt und stieg wieder zur Halle hinauf. Sorgsam schloss er die Tür hinter sich ab und schritt dann langsam durch den Mittelgang auf die Empore am anderen Ende zu, auf der sich ein feines italienisches Restaurant befand, das um diese Zeit freilich längst geschlossen war. Als er den Scheitelpunkt erreicht hatte, bog er um einen Stand, der Schwarzwälder Würste, Schinken und Schnäpse anbot und der genauso mit festen Planen verhängt war wie alle anderen. Jetzt ging er durch den linken Gang zurück.

Plötzlich blieb er abrupt stehen. Etwa zwanzig Meter vor ihm war ein Stand nicht aufgeräumt. Kisten stapelten sich unordentlich oder waren umgestürzt. Ein Teil der Waren lag auf dem Boden. Der Verkaufstisch war nicht abgedeckt.

Jetzt hörte der Wachmann ein leises Schluchzen. Er rannte los.

»Geza!« Der junge Mann, den Wissmann gerufen hatte, kauerte zwischen Obstkisten. Er stieß jetzt laute Klagelaute aus. Sein Körper pendelte hin und her, vor und zurück, vor und zurück, und immer wieder stieß er hervor: »Papa! Papa!« In der Hand hielt er ein Fleischermesser, dessen Scheide mit einer schartigen rotschwarzen Blutkruste überzogen war. Vor ihm lag auf dem Rücken Joseph Janicek, Gezas Vater.

»Was ist denn passiert?«, fragte Leo Wissmann mit zitternder Stimme.

Der junge Mann starrte ihn nur an und wiederholte: »Papa!«

»Komm, gib mir das Messer!« Der Wachmann streckte seine rechte Hand aus. Mit der linken riss er nacheinander zwei Plastiktüten vom Haken, in die sonst Obst eingefüllt wurde. Eine zog er wie einen Handschuh über, in die andere ließ er das Messer gleiten, das ihm der junge Mann bereitwillig aushändigte.

Geza starrte unverwandt auf den Toten. »Papa?« Wissmann griff nach seinem Handy und wählte die 110.

 

Ernst Bienzle gähnte verstohlen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er schon vor einer Stunde Schluss gemacht. Aber Hannelore, die ohnehin nur selten vor Mitternacht ins Bett fand, ignorierte alle Signale ihres Partners. Auf dem runden Tischchen zwischen ihnen lag ein Stapel Reiseprospekte.

»Also St. Petersburg – ich weiß net«, sagte Bienzle.

»Du weißt, wie lange ich mir das schon wünsche. Drei, vier Tage würden wir alleine für die Eremitage brauchen.«

»Vier Tage für ein Museum?«

»Die Eremitage ist nicht nur ein Museum. Die ist ein Kulturereignis!«

»Aber der russische Wein ist bestimmt kein Kulturereignis.«

»Zehn Tage wirst du doch ohne Maultaschen und deinen Trollinger auskommen! Ich denke, wir sollten Anfang Juni fahren. Geht das bei dir?«

»Den Termin müsst ich mit der Personalabteilung abklären.«

»Ja, bitte, mach das.«

Bienzle wiegte seinen Kopf hin und her, als ob er sich nicht sicher sei. »Vielleicht fahren wir nach meiner Pensionierung!«

»Fängst du jetzt schon wieder damit an. Du hast noch fünf Jahre Zeit.«

»Das glaub ich nicht!« Bienzles Antwort kam so ernst, dass Hannelore unwillkürlich aufschaute. »Ja«, fuhr er fort, »ich mach ja nicht irgend so einen Bürojob. Und es sind nicht nur die körperlichen Strapazen. Jeden Tag kommt was Neues. Erst letzte Woche hab ich mich wieder saumäßig blamiert, weil ich nicht g’wusst hab, dass man jedes Handygespräch über den Telefonanbieter zurückverfolgen kann bis zu dem, der gesprochen hat. Auch wenn der seine Nummer unterdrückt hat. Jedes, verstehst?«

»Ist ja nicht so schwierig. Aber so etwas ist doch noch lange kein Grund aufzugeben. Du löst deinen nächsten Fall genauso brillant wie die meisten bisher, und dann reden wir wieder.«

»Ja, ja, dann reden wir wieder. Aber ich muss auch noch entscheiden, ob ich zu meinem vierzigjährigen Abiturjubiläum nach Tübingen fahre.«

»Tübingen ist natürlich näher als St. Petersburg«, sagte Hannelore mit leiser Ironie in der Stimme.

Das Telefon klingelte. Bienzle ging sofort ran, froh, dass er auf Hannelores kleine Gemeinheit nicht antworten musste. »Ja, Bienzle hier – Gächter, wo brennt’s denn?«

»In der Markthalle«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Einer der Standbesitzer ist erstochen worden.«

»Ich bin in zehn Minuten vor Ort!«, sagte Bienzle.

»Das kommt ja wie bestellt.« Mit einem kleinen Seufzer schob Hannelore die Prospekte zusammen.

 

Als Bienzle und Gächter in der Markthalle eintrafen, war der Gerichtsmediziner Dr.Kocher schon da. Ohne aufzusehen, sagte er: »Der ist schon länger als eine Stunde tot.«

»Wie viel länger?«, fragte Bienzle.

»Alles Weitere nach … «

Bienzle hob die Hände. »Nach der Obduktion, ich weiß.« Geza Janicek saß auf einer umgekippten Obstkiste und pendelte mit seinem Oberkörper. Die Hände hatte er vor das Gesicht geschlagen. »Ich bin schuld«, jammerte er ein ums andere Mal. »Ich bin schuld!«

Bienzle schaute den jungen Mann verwundert an. »Und wer sind Sie?«

Der Wachmann Leo Wissmann hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten. Jetzt trat er vor und sagte: »Das ist der Sohn von ihm.« Er nickte zu der Leiche hin. »Aber er ist nicht so ganz richtig im Kopf. Ich habe ihn bei dem Toten gefunden. Das Messer hat er in der Hand g’habt.«

Der Mann, der noch immer wimmernd auf der Obstkiste kauerte, nahm jetzt die Hände von seinem tränenüberströmten Gesicht. Bienzle schätzte ihn auf zwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahre. Fast unnatürlich blaue Augen starrten den Kommissar an. Die schwarzen Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab.

»Hat es einen Kampf gegeben?« Der Kommissar deutete auf ein paar Kisten und Bretter, die wild durcheinanderlagen.

Kocher meldete sich: »Nach den Verletzungen zu schließen, ist der Mann nach hinten gekippt und hat die Sachen umgerissen.«

»Da ist übrigens noch einer g’wesen«, berichtete Wissmann.

Bienzle fuhr zu ihm herum. »Noch einer? Hier in der Halle?«

Wissmann nickte. »Wie ich Licht angemacht hab, isch jemand weggerannt.«

»Weg? Wohin?«

»Er ist durch den Keller abgehauen. Zur Tür hat er net rauskönne. Die hab ich ja hinter mir abg’schlossen.«

»Haben Sie die Person erkannt?«

»Nein!«

»Wann war das?«

»Kurz bevor ich den Toten und den Geza hier gefunden hab. Ich kann’s Ihnen auch genau sagen: 19 Uhr 27. Das ist eine Berufskrankheit, dass ich automatisch auf mei Uhr guck, wenn was passiert!«

Bienzle beugte sich über die Leiche. »Wie heißt er überhaupt?«

»Janicek. Joseph Janicek«, antwortete der Wachmann.

»Au net grad a schwäbischer Name.«

»Er stammt aus Tschechien, wenn ich’s recht weiß.«

Gächter, der sich sofort nach ihrer Ankunft zu den Beamten der Spurensicherung gesellt hatte, trat nun zu Bienzle.

»Da, die haben wir bei dem Toten gefunden.« Er streckte Bienzle eine Brieftasche hin.

»Zeig!« Bienzle zog Plastikhandschuhe an und öffnete die Brieftasche, ein feines Stück aus weichem, dunklem Leder. Neben einem Führerschein und den Fahrzeugpapieren für eine teure Luxuslimousine sowie ein paar Restaurantbelegen kamen zwei Fotos zum Vorschein. Das eine zeigte den Toten mit einer Frau, Mitte, Ende dreißig. Sie war einen halben Kopf größer als Janicek, sehr schlank und sah mit einem herausfordernden Blick in die Kamera. An Selbstbewusstsein schien es ihr nicht zu mangeln. Das zweite Bild war eine Porträtaufnahme derselben Frau. Hier lächelte sie mädchenhaft mit schiefgelegtem Kopf. »Als ob sie kein Wässerle trüben könnt«, sagte Bienzle mehr zu sich selbst.

»Das ist in Prag aufgenommen worden.« Gächter zeigte auf das Bild des Paares. »Da, schau, das ist auf der Karlsbrücke.«

Bienzle nickte und überlegte, ob er Hannelore nicht Prag statt St. Petersburg vorschlagen sollte.

»Das Handy da haben wir auch bei dem Toten gefunden«, sagte Gächter. Er hob eine durchsichtige Plastiktüte hoch, in der sich das Mobiltelefon befand. »Es ist nur ein Anruf auf der Mailbox. Die anderen Anrufer haben nichts draufgesprochen.«

Gächter wählte durch die Tüte hindurch die Nummer der Mailbox und hielt das Handy an Bienzles Ohr. Eine aufgeregte weibliche Stimme war zu hören: »Ich bin’s, Joseph, warum meldest du dich nicht? Bitte, melde dich doch!« Es klang gedämpft, aber das konnte an der Plastikummantelung liegen.

»Wann war der Anruf?«, fragte Bienzle.

»Heute Nachmittag, 15 Uhr 18.«

Bienzle machte sich eine Notiz in ein kleines Büchlein, das er sich erst kürzlich angeschafft hatte. Früher hatte er sich alles so merken können. Aber in letzter Zeit hatte er immer häufiger festgestellt, dass er Einzelheiten vergaß. »Man muss feststellen, wer die Anrufer waren, die nix g’sagt habet!«

»Ja, logisch.«

»Und alle Nummern, die er selber angerufen hat. Und noch was, Gächter!«

»Ja?«

»Lass dir von dem Wachmann den Fluchtweg von dem Mann zeigen, der verschwunden ist. Vielleicht findet ihr ja was.«

Die Leiche lag jetzt in einem Blechsarg. Der Deckel wurde von zwei Beamten geschlossen. Plötzlich sprang Geza auf. Er verkrallte sich in der Uniformjacke eines der beiden Polizisten. »Nicht«, schrie er, »nicht!« Mit dem Fuß trat er gegen den Sargdeckel. Der junge Mann entwickelte erstaunliche Kräfte. Zwei Schutzpolizisten eilten ihrem Kollegen zu Hilfe. Sie griffen nach Gezas Armen und versuchten, den Jungen zu bändigen, aber das schien seine Kräfte zu verdoppeln. Er schlug um sich, biss, kratzte und heulte dabei auf wie ein wildes Tier. Endlich gelang es einem der Beamten, dem Jungen einen Arm auf den Rücken zu drehen. Gemeinsam drückten er und sein Kollege Geza, der sich auch jetzt noch wehrte, auf den Boden. »Nein! Nein! Das dürft ihr nicht. Das ist gemein. Das dürft ihr nicht!« Einer der Polizisten griff nach den Handschellen, die er an seinem Hosenbund festgehakt hatte.

Bienzle fing den verzweifelten Blick des jungen Janicek auf. »Lasst ihn los!«, sagte der Kommissar.

Die Beamten reagierten nicht. Bienzle wurde scharf: »Loslassen, hab ich g’sagt!« Und dann: »Ruhig! Ganz ruhig!« Das galt den Polizisten genauso wie dem jungen Mann. Geza beruhigte sich. Die Beamten lockerten ihre Griffe.

Der Kommissar beugte sich weit zu dem Jungen hinab, in dessen Mundwinkel sich Speichel angesammelt hatte. »Ich bin der Bienzle.« Geza Janicek schaute nur stumm zu dem schweren Mann auf, der jetzt sanft fortfuhr: »Und Sie? Wie heißen Sie?« Geza reagierte nicht darauf. Geduldig fragte der Kommissar weiter: »Verraten Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Ich bin doch der Geza.« Erst jetzt fiel Bienzle auf, wie weich die Gesichtszüge des jungen Mannes waren, wie die eines kleinen Kindes.

»Geza Janicek?«

Der junge Mann nickte.

»Herr Janicek, wir müssen Sie mitnehmen.«

»Warum?«

»Wir zwei müssen irgendwo ganz in Ruhe miteinander reden.«

»Ja«, sagte Geza. Die Beamten waren ein paar Schritte zurückgetreten. Der junge Janicek stand auf. »Ja«, sagte er noch einmal und griff nach Bienzles Hand. Der Kommissar registrierte diese Geste überrascht, und fast schien es, als geniere er sich ein wenig. Aber er führte Geza Janicek dann wie ein Kind zu einer der Hallentüren.

Draußen regnete es noch immer, und der Wind hatte noch zugenommen. Zwischen Markthalle und der Südseite des Alten Schlosses standen hintereinander mehrere Einsatzwagen der Polizei auf der Dorotheenstraße. Geza hielt noch immer Bienzles Hand fest. Unwillkürlich wechselte der Kommissar zum Du: »Magst mit mir im Polizeiauto fahren?«

Geza nickte heftig.

»Na, dann komm!«

Ein Schutzpolizist schob die Seitentür zu einem der Polizeibusse auf. Bienzle und Geza stiegen hinein. »Zum Präsidium, bitte«, sagte der Kommissar.

Der Fahrer drehte sich zu Bienzle um. »Ist das nicht der mit dem Messer, also, ich mein, der mutmaßliche Täter?«

»Das ist der Geza Janicek«, sagte Bienzle.

»Ja, aber so ungesichert … «

»Jetzt fahren Sie bitte, Kollege. Auf meine Verantwortung!«

Der Fahrer zuckte die Achseln, startete den Motor, schaltete den Scheibenwischer ein und fuhr los. Bis zu diesem Augenblick hatte der junge Mann Bienzles Hand festgehalten. Jetzt ließ er sie los. Leise sagte er: »Mein Papa. Wo ist mein Papa?«

»Ich werde dir das alles nach und nach erklären. Jetzt fahren wir erst mal zu mir ins Polizeipräsidium. Dort müssen wir dich ein paar Sachen fragen, und dann musst du wahrscheinlich auch dort übernachten.«

»Bei dir?«

»Nein, im Präsidium. Du kriegst da ein eigenes Zimmer.«

»Ganz allein?« Geza begann zu zittern.

Plötzlich packte den Kommissar tiefes Mitleid mit dem jungen Mann, und zugleich überkam ihn selbst eine leichte Panik. Er fühlte sich von der Situation überfordert. Man würde ganz schnell einen Psychologen brauchen. Er sah zu Geza hinüber, der jetzt stammelte: »Ich will nicht allein sein.«

Was war los mit diesem jungen Mann, der mindestens zwanzig Jahre alt war und doch redete wie ein Kind?

»Arbeitest du in der Markthalle?«, fragte Bienzle.

»Ja, bei meinem Papa!« Die Frage schien Geza beruhigt zu haben.

»Hast du das richtig gelernt?«

»Ich kann alles! Sogar besser als der Siggi!«

»Und wer ist der Siggi?«

»Der Siggi halt.«

Die nächtlichen Straßen in Stuttgart waren fast leer. Das Polizeifahrzeug erreichte das Präsidium schon nach wenigen Minuten. Als sie ausstiegen, rannte Geza los. Er war schnell. Der Fahrer holte seine Waffe aus dem Holster.

»Halt!«, schrie er. »Stehen bleiben!« Und zu Bienzle: »Der haut ab!«

»Ach was, der will boß net nass werden.«

Tatsächlich rannte der junge Janicek auf den Eingang zu und blieb unter dem Vordach stehen. »Mach doch, Bienzle«, rief er, »es regnet doch!«

 

»Und Sie sind ganz sicher, dass da noch einer war?«, fragte Gächter den Wachmann, als sie ins Kellergewölbe unter der Markthalle hinabstiegen.

Leo Wissmann blieb stehen. »Ich bin mir ja auch nicht ganz sicher g’wesen, weil er so plötzlich verschwunde war. Wie vom Erdboden verschluckt! Zwischendurch hab ich tatsächlich denkt … , also gedacht, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Aber ich hab doch seine Schritte gehört, und ganz kurz hab ich ihn auch gesehen, wie er durch die Tür ist.«

»Könnten Sie ihn beschreiben?«

»Nein, mit dem besten Willen nicht. Also größer als ich war er bestimmt, und er könnt einen schwarzen Mantel angehabt haben. Aber das Licht war ja nicht so gut.« Leo Wissmann gab sich große Mühe, hochdeutsch mit dem Kommissar zu reden.

Gächter sah sich um. Sie hatten einen Platz erreicht, von dem in mehreren Richtungen lange Gänge abgingen. Ein Kellerraum reihte sich an den anderen, und alle waren durch akkurate Lattenwände voneinander abgeteilt. Die Türen, ebenfalls aus Holzlatten gefertigt, trugen Nummernschilder.

»Der ganze Keller steht unter Denkmalschutz«, wusste der Wachmann.

Gächter versuchte sich zu orientieren. »Wenn man hier rausgeht«, er zeigte auf ein paar Steinstufen, die in einen ummauerten Gang führten, »wo kommt man da hin?«

»Zum Marktplatz und dann weiter bis zur Marienstraße. Die ganze Innenstadt ist untertunnelt. Unterirdisch ischt die Stuttgarter Innenstadt wie ein Schweizer Käs. Gänge überall. Aber er hätt auch dort durch die Luke rauskönnen.«

Leo Wissmann kletterte auf einen Steinsockel und stemmte eine Art Falltür hoch. Regen stiebte herein. Gächter stieg zu Wissmann hinauf und streckte seinen Kopf ins Freie. Er schaute über die Münzstraße zum Kaufhaus Breuninger hinüber. Ein Pärchen, das durch die Arkaden kam, erschrak und konnte gerade noch ausweichen. »Dem hätt ich jetzt beinah den Kopf abgestolpert«, sagte der Mann.

»Hier könnt er raus sein«, hörte Gächter Leo Wissmann sagen.

 

»Jetzt dreh dich zur Seite«, sagte Bienzle.

Geza Janicek schien die Prozedur zu gefallen. Er lächelte und zeigte sein schönstes Fotolächeln. »Krieg ich dann auch ein Bild?«, fragte er.

Bienzle schaute den Polizeifotografen an. »Eigentlich nicht!«, sagte der. »Das sind amtliche Fotos zur Identifikation.«

»Ich schau mal, was sich machen lässt.« Bienzle trat zu Geza. »Und jetzt noch die Fingerabdrücke.«

»Hier rüber!«, sagte der Beamte.

Geza folgte ihm willig, aber als der Polizist die Hand des jungen Mannes nehmen und die Finger aufs Stempelkissen drücken wollte, zog der mit einem Aufschrei die Hand zurück. »Nicht! Das darf der nicht!«

Bienzle gab dem Kollegen ein Zeichen, und zu Geza sagte er: »Komm, das tut doch nicht weh. Gib mir bitte deine Hand!«

Und so kam es, dass der leitende Hauptkommissar Ernst Bienzle zum ersten Mal in seiner Laufbahn die Fingerabdrücke eines Verdächtigen abnahm.

Zwei uniformierte Beamte traten ein. »Die Männer kümmern sich jetzt um dich«, sagte Bienzle.

Gezas Augen weiteten sich vor Schreck. »Nein!«, schrie er.

»Ich will zu meinem Papa!«

»Ich versteh dich ja.« Bienzle versuchte, seiner Stimme einen besonders beruhigenden Ton zu geben. »Aber das geht jetzt nicht. Leider!«

»Aber ich will zu meinem Papa!«

»Sie müssen heute Nacht hier bleiben, Herr Janicek«, sagte Bienzle nun sehr bestimmt.

»Ich will heim. Zu meinem Papa.«

»Jetzt komm, sei vernünftig, Kerle«, sagte einer der uniformierten Beamten, und Bienzle sagte beruhigend: »Es passiert dir nichts.«

Überraschend fügte sich Geza plötzlich, aber als er abgeführt wurde, schaute er noch einmal in Bienzles Augen. Mit seinem Blick flehte er den Kommissar förmlich an. Doch dann fiel die Tür ins Schloss.

Draußen hatte der Regen noch immer nicht nachgelassen. Der Kommissar hätte sich von der Fahrbereitschaft ein Auto geben lassen können, aber er zog es vor, ein Stück zu Fuß zu gehen. Später konnte er sich ja dann immer noch ein Taxi rufen. Bienzle drückte seinen Hut tief in die Stirn, zog den Schal fester um den Hals und stapfte die Heilbronner Straße hinunter. Der Gedanke, seinen Beruf aufzugeben, war schon lange in Bienzles Kopf. Es gab ja die Möglichkeit, sich frühzeitig pensionieren zu lassen. Jeder würde es verstehen, wenn ein Sechzigjähriger sagte: »Ich fühle mich den Aufgaben nicht mehr gewachsen.«

Er hatte ja eigentlich gar nicht Polizist werden wollen, sondern Lehrer wie sein Vater. Aber dann hatte er das Abitur nicht geschafft – »zu viele andere Interessen«, hatte sein Klassenlehrer damals missbilligend gesagt. Eigentlich war es gar nicht richtig, zu der Feier des vierzigjährigen Abiturjubiläums zu fahren. Aber sie hatten ihn eingeladen, und immerhin hatte er viele Jahre zu der Klasse gehört.

Bienzle blieb stehen und schnäuzte sich die Nase. Von seinem Hutrand herab ergoss sich ein kleines Rinnsal direkt vor seine Schuhspitzen.

Er hatte sich damals strikt geweigert, noch ein Jahr dranzuhängen und die Prüfung zu wiederholen. Stattdessen hatte er sich an der Polizeischule beworben und war ohne Probleme aufgenommen worden. Und er hatte sich hochgedient bis zum leitenden Hauptkommissar. War das eine Karriere? Was war überhaupt eine Karriere? Bienzle faltete sorgfältig sein Taschentuch zusammen und steckte es in die Hosentasche.

»Wir leben auf einem laufenden Band«, hatte er einmal bei Max Frisch gelesen. »Und es gibt keine Hoffnung, dass wir uns selber nachholen und einen Augenblick unseres Lebens verbessern könnten. Wir sind das Damals genauso wie das Heute, und was würde es nützen, das, was war, jetzt zu verwerfen?«

»Chabis«, würde sein Schweizer Kollege Hunkeler sagen. Aber so ein schönes Wort für das, was man nicht wichtig nehmen sollte, gab es im Schwäbischen nicht. Zumindest kannte er keins.

Bienzle nahm seinen Weg wieder auf. Links von ihm gähnte ein riesiges schwarzes Feld. Hier war einmal der Güterbahnhof gewesen. Jetzt bauten sie »Stuttgart 21« – unter der Erde einen weltstädtischen Bahnhof, oben ein teures Einkaufs-, Wohn- und Büroviertel. Als ob man nicht von allem schon genug hätte. Und was das Geld kostete! Und was man mit diesem Geld Besseres hätte anfangen können! Da wäre ihm viel eingefallen. Aber bis dieses Angeberprojekt fertig war, lebte er vermutlich gar nicht mehr, oder er war so alt, dass er sich nicht mehr dafür interessierte. Warum gab es bloß im Schwäbischen kein so schönes Wort wie das schweizerische »Chabis«?

Er war dann am Schlossplatz in die Straßenbahn Richtung Sillenbuch eingestiegen, hatte sie an der Haltestelle Stafflenbergstraße verlassen und war die zweihundert Meter zu seiner Wohnung in schnellem Schritt zu Fuß gegangen. Er war ein wenig atemlos, als er die Tür zur Wohnung aufschloss.

Hannelore war schon im Bett. Auf dem Couchtisch lagen noch die bunten Reiseprospekte. Zwei Angebote hatte Hannelore rot angekreuzt. Bienzle ging in die Küche, zog den Kork von einer halbgeleerten Rotweinflasche, goss sich ein Glas Spätburgunder ein und kehrte zurück. »Tu ihr doch den Gefallen«, hörte er sich leise selber sagen. »Was tut sie nicht alles für dich!« Auch das war neu, dass er jetzt manchmal mit sich selber sprach.

Zweiter Tag – Dienstag

Als Ernst Bienzle am nächsten Morgen schon gegen halb neun Uhr in Gezas Zelle trat, fand er den jungen Janicek unter dessen Bett. Er hatte sich aus der überhängenden Decke eine Art Schlafhöhle gebaut, in der er zusammengekauert auf der Seite lag.

Bienzle beugte sich hinunter. »Guten Morgen, Herr Janicek. Wie geht’s Ihnen?«

Geza zeigte keine Reaktion. Er starrte Bienzle nur an. Der Kommissar setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, was ihm sichtlich schwerfiel. Ein leiser Schmerz zog sich vom Steißbein bis zu den Halswirbeln hinauf. Ächzend lehnte sich der Kommissar an die Wand. Jetzt war er annähernd auf gleicher Augenhöhe mit Geza. »Sie wissen, was gestern passiert ist?«

Geza drehte sich um, das Gesicht zur Wand hinterm Bett.

»Ihr Vater ist ermordet worden. Mit einem Messer!«

Keine Reaktion. Allerdings schien es, als ziehe der junge Mann seinen Körper noch enger zusammen.

»Das Messer haben Sie in der Hand gehabt, Geza. Sie erinnern sich? Haben Sie damit zugestochen?«

Geza antwortete nicht.

»Oder haben Sie Ihren Vater mit dem Messer in der Brust gefunden?« Jetzt stieß Geza ein paar Laute aus. Bienzle beugte sich weit vor, und nun verstand er: »Ich bin schuld. Ich bin schuld.«

»Das wollen wir ja grad rauskriegen, ob Sie schuld sind … « Mühsam stemmte sich Bienzle hoch, zuerst auf ein Knie, legte dann beide Hände flach auf den Oberschenkel und wuchtete seinen schweren Körper in die Senkrechte. Dann streckte er die Arme senkrecht nach oben, als ob er sich erst einmal geradeziehen müsste, und machte ein paar Schritte durch den Raum. Dicht vor dem Bett blieb er wieder stehen und sah auf den Jungen hinab, der immer noch unter der Klappliege kauerte. »Aber dazu müssen Sie reden … «

Geza schwieg.

»Also so kommen wir nicht weiter«, sagte der Kommissar nun streng. Er wollte zur Tür gehen, aber da fühlte er, wie sich zwei Hände um seinen Knöchel schlossen. Der Griff war kräftig. Bienzle hatte ein Gefühl, als stecke sein Bein plötzlich in einem Schraubstock.

»Nicht gehen. Bleib hier. Wo ist der Papa? Papa.«