Bienzle und der Terrorist / Bienzle und der Puppenspieler - Felix Huby - E-Book

Bienzle und der Terrorist / Bienzle und der Puppenspieler E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Weihersbronn: Radioaktives Material auf der Müllkippe. Kaum hat die Umweltschutzpolizei begonnen zu ermitteln, stirbt ein Mann im Hochsicherheitstrakt des Kernkraftwerks auf mysteriöse Weise. Jetzt ist es ein Fall für die Mordkommission. Kommissar Bienzle ermittelt auf gefährlichem Terrain. Seestadt: Springpferde sterben einen unnatürlichen Tod. Kommissar Bienzle ermittelt lustlos. Doch dann stolpert er plötzlich über die Leiche eines Schauspielers am Seestädter Theater. Was zuerst so zufällig erscheint, ist auf geheimnisvolle Weise miteinander vernetzt.

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Seitenzahl: 418

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Felix Huby

Bienzle und der Terrorist / Bienzle und der Puppenspieler

Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

HinweisBienzle und der TerroristDie Hauptpersonen– 1 –– 2 –– 3 –– 4 –– 5 –– 6 –– 7 –– 8 –– 9 –– 10 –– 11 –– 12 –– 13 –Bienzle und der PuppenspielerDie Hauptpersonen[1][2]

›Bienzle und der Terrorist‹ erschien 1977

unter dem Titel ›Der Atomkrieg in Weihersbronn‹

 

›Bienzle und der Puppenspieler‹ erschien 1978

unter dem Titel ›Ach wie gut, dass niemand weiß …‹

Bienzle und der Terrorist

Die Hauptpersonen

Hans Kilper

ein Zyniker mit Herz.

Anne Muthesius

ein Licht unter dem Scheffel.

Dr. Philipp Steinbach

ein Idealist mit Scheuklappen.

Horst Kanzleiter

ein Opfer mit Selbstbeteiligung.

Erwin (»Luzifer«) Pichowiak

ein Problemfall mit einer Pistole.

Johannes (»Joe«) Heusel

ein Typ, der über Leichen geht.

Kathrin Steinbach

ein Mädchen, das es besser wissen sollte.

Annerose Auerbach

ein Muster an Pflichterfüllung.

Kriminalassistent Haussmann

ein unter Schwaben leidender Norddeutscher.

Hauptkommissar Bienzle

ein Schwabe.

– 1 –

Der Wirt schiebt den Schnaps über die Theke, an der Kilper lehnt – ein fast zwei Meter großer, breitschultriger, bärtig-bulliger Typ, der sich von den dörflichen Gästen in vielem unterscheidet. Sein kariertes Jackett mit den auffallenden Lederflecken auf den Ellbogen hat Kilper vor einem Jahr in London gekauft, dazu trägt er elegante dunkelbraune, feingerippte Kordhosen, die – völlig stilwidrig – in billigen gelben Plastikstiefeln stecken. Zwischen den Zähnen hält er eine gewichtige Pfeife und reckt das Kinn vor, als müsste er ihr zusätzlichen Halt geben.

»Sie werden nichts finden«, stellt der Wirt fest und geht mit vier Weingläsern auf einem Tablett zum Stammtisch, um die Neuigkeit weiterzutragen. »Ein Zeitungsmensch«, sagt er zu den behäbig um den weiß gescheuerten Holztisch sitzenden Einheimischen; »der sucht eine Atombombe bei uns …« Er lacht dröhnend.

»Eine Atombombe?«, ruft einer. »Wir leben im Jahr 1976 und schon lang nimmer im Krieg.«

Kilper ist dem Wirt gefolgt: »Es geht um ein bisschen was anderes«, sagt er. »Was ist, wenn bei eurem Atomkraftwerk dort unten mal ein Störfall eintritt? So sicher sind die dann auch wieder nicht.«

»Die Leut’ dort passen schon auf«, sagt der Wirt. »Seit zehn Jahren machen die da drunten Strom, und bis jetzt ist alles ganz normal gewesen. Das ist doch Panikmache mit der Strahlung. Ich kann nur sagen, unser Dorf hat bis jetzt nur profitiert.«

Für den Wirt ist die Diskussion damit beendet. Er verschwindet in der Küche. Kilper steht unschlüssig mitten in der schwäbischen Wirtschaft – ein Fremdkörper in der ländlichen Idylle.

»Was suchet Sie denn?«, fragt einer der Männer am Stammtisch.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragt Kilper zurück.

»Des wird mr Ihne ja schlecht verbieta könna«, gibt der Weihersbronner zurück.

Dann schweigen erst einmal alle am Tisch. Kilper wird es ungemütlich. Er, der gewohnt ist, ohne großen Respekt mit jenen Leuten zu reden, von denen behauptet wird, dass sie das Sagen haben, findet hier keinen so rechten Anfang. Schließlich sagt einer der Stammtischbrüder in seinem Dialekt: »Ja, ja, so isch’s no au wieder« und verfällt erneut in das Schweigen am runden Tisch. Kilper räuspert sich.

»Vor vier Wochen wurde beim Kernforschungszentrum in Karlsruhe Atommüll gefunden«, sagt er. »Auf einer ganz normalen öffentlichen Müllkippe.«

Die Männer nehmen’s schweigend zur Kenntnis.

»120000 Millirem haben Leute von einer Umweltschutzgruppe gemessen. In Schlammresten, die da schon lange lagern.«

»Was ist das, Millirem?«, fragt einer der Einheimischen und nimmt einen Schluck von seinem samtroten Wein.

»Damit misst man die Strahlung radioaktiver Substanzen … Man kann Krebs davon kriegen«, sagt Kilper.

Die Tischrunde zeigt sich nicht sonderlich beeindruckt. Ein dicker Mann bestellt bei der Bedienung, einer schmalen schwarzhaarigen Jugoslawin, noch einen Wein:

»Geh, Duschankale, breng mr no en Trollinger.«

»Sind Sie Winzer?«, fragt Kilper.

»Mhm!«, bestätigt der Dicke.

»Wissen Sie schon, dass das Weihersbronner Kraftwerk vergrößert werden soll?«

»Mhm.«

»Und haben Sie sich einmal darum gekümmert, wie das die Wetterverhältnisse hier im Neckartal verändern wird?«

»Wieso, was hat das denn mit dem Wetter zu tun?«, fragt der Dicke zurück und fällt dabei in die Schriftsprache des Gastes.

»Pro Tag 960000 Kubikmeter Wasser, das aus dem Neckar genommen und zum Teil als Dampf über die Kühltürme in die Atmosphäre entlassen wird«, doziert Kilper gestelzt, »bei Inversionswetterlagen ergibt das eine enorme Zunahme des Nebels, weniger Sonneneinstrahlung, weniger Süße im Wein, oder?«

Auf einmal blicken alle am Tisch auf. Der dicke Winzer ruft das Mädchen aus Jugoslawien: »Geh, Duschankale, breng dem Herrn a Viertele Trollinger uf mei Rechnung!«

Kilper lächelt in sich hinein. Nächste Woche wird er den Kollegen in Hamburg erzählen, wie er diese verschlossenen Weingärtner und Bauern herumgekriegt hat, und seine Geschichte wird mit den Vorgängen in Weihersbronn gar nicht mehr so viel zu tun haben.

 

Zwei Stunden später verlässt Kilper den Goldenen Adler. Der ungewohnte Rotwein hat seine Glieder schwer gemacht.

Er stapft unschlüssig durch das schlafende Dorf. Am Nachthimmel erkennt er, nur wenig gegen den schmalen, spitzen Kirchturm versetzt, die runde Kuppel des Kernkraftwerks, die nachts von Scheinwerfern angestrahlt wird.

»Scheiße«, murmelt er vor sich hin. Ein richtiger Auftrag ist das nicht, den ihm die Redaktion da gegeben hat …

 

Kaum waren die Meldungen über die Atommüllfunde in Karlsruhe bekannt geworden, da hatte ihn schon sein Chef zu sich kommen lassen.

»Kilper, der Auftrag mag ein wenig seltsam klingen, aber auch die Chefredaktion hält die Idee für richtig: Sie organisieren sich einen Geigerzähler, und dann nehmen Sie sich Zeit, solange Sie wollen. Sie suchen alle Müllkippen in der Nähe unserer Atomkraftwerke ab – es muss ja leicht herauszukriegen sein, wo die jeweils ihren Dreck hinkarren. Wenn es in Karlsruhe getickt hat, ist es leicht möglich, dass auch noch woanders strahlenintensiver Müll zu finden ist.«

Kilper hatte seinen Chef ungläubig angestarrt und heftig an der erkalteten Pfeife gezogen. »Das ist doch ziemlich unsinnig!«

»Mag sein. Aber erstens haben wir sowieso Saure-Gurken-Zeit, und zweitens ist die Aktion auch dann sinnvoll, wenn die Chance, dass wir beziehungsweise Sie etwas finden, eins zu hundert steht.«

Darüber konnte man streiten. Aber Kilper wusste genau, wie wenig Sinn das hatte, deshalb fragte er nur: »Angenommen, ich finde solches radioaktiv verseuchte Zeug: Was mache ich damit?«

»Sie beschaffen sich am besten die notwendige Ausrüstung, um Proben von dem Müll zu verpacken, wenn Sie einen Verdacht haben. Dann bringen Sie den Mist zu einem einschlägig bewanderten Strahlenfachmann und lassen die Gefährlichkeit bestimmen.«

Kilper hatte widerwillig genickt und überlegt, dass er bei einer solchen Recherchenfahrt eine ganze Menge Spesen machen würde. Zudem war ja gegen einen schlauen Job, der eine Reise durch die ganze Bundesrepublik eintrug und bei dem aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal eine Zeile zu schreiben sein würde, nichts einzuwenden … Als ob sein Chef diese Gedanken erraten hätte, sagte er: »Ein Report über die deutschen Kernkraftwerke, ihre Probleme mit den Menschen im Umland und so weiter – das müsste alle Mal rausspringen dabei.«

 

Wieder murmelt Kilper leise »Scheiße!« und wirft der Betonhaube am Dorfrand einen bösen Blick zu. Er muss an diesen Dr. Steinbach denken, praktischer Arzt und Geburtshelfer in Weihersbronn und Vorsitzender der Bürgerinitiative ›Pro Umwelt – contra KKW‹. Bei ihm hatte er sich die Information darüber beschafft, wo das Kraftwerk gemeinhin seinen Müll hintransportiert. Ein ruhiger, souveräner Mann, der ihm absolute Diskretion zugesichert hat.

»Sobald heraus ist, was Sie hier suchen, wird der Teufel los sein«, hatte der Arzt gemeint. »Sie glauben ja gar nicht, wie emotionsgeladen diese Auseinandersetzung um das Kernkraftwerk ist. Am besten reden Sie mit niemandem darüber.«

Nun hat er doch geredet, und wenn er etwas unternehmen will, noch ehe die Nachricht von seinen Absichten das Kraftwerk erreicht, muss es noch in dieser Nacht sein – das ist ihm klar.

 

Kilper steigt in seinen Wagen und fährt los. Den Weg hat ihm Doktor Steinbach beschrieben. Ein schmales Sträßchen führt vom Kraftwerk bergauf durch Obstbaumwiesen und endet drei Kilometer weiter direkt vor dem hohen Zaun, hinter dem der Müllplatz der Gemeinde Weihersbronn liegt.

Der Müllplatz dampft. Schwaden üblen Verwesungsgeruchs ziehen durch den schmalen Fensterspalt, den Kilper geöffnet hat. Er muss sich überwinden, auszusteigen und den handlichen Geigerzähler aus dem Kofferraum zu holen.

Der Platz ist vorschriftsmäßig eingezäunt und durch ein hohes Lattentor verschlossen. Ob das Hausfriedensbruch oder so etwas ist?, denkt Kilper, als er an dem Maschendrahtzaun hochklettert. Die Taschenlampe, die er dabei zwischen die Zähne klemmt, gibt ihm nur wenig Licht, aber die Nacht ist hell, so dass die Kletterei ziemlich einfach ist. Er steigt über den Kamm des Zauns, lässt sich auf die andere Seite fallen und stößt gleich einen Fluch aus, weil er bis zu den Knöcheln in Schlamm versackt.

Der Strahl der Taschenlampe irrt über die Kippe. Offensichtlich hat eine Planierraupe den oberen Teil plattgewalzt. Nach etwa zwanzig Metern fällt der Müllberg steil ab. Kilper wird übel. Der Gestank ist kaum auszuhalten. Steinbach hat ihm erzählt, dass vom Kraftwerk vor allem der Schlamm heraufgebracht wird, den die Rechen zum Fluss hin festhalten, damit Kühlwasserzufluss und Abwasserabfluss einigermaßen sauber gehalten werden … Tote Fische, vergorener Flussschlamm und so was, denkt Kilper; man sollte ein Paket davon in die Redaktion nach Hamburg schicken!

Dann bleibt er ruckartig stehen.

Der Geigerzähler in seiner Hand scheint verrückt zu spielen. Nach dem langsamen Tack-tack-tack-tack, das er noch am Zaun vernahm, fängt das kleine Gerät plötzlich zu rattern an wie ein Maschinengewehr … Kilper steht da wie versteinert. Das kann nicht sein!, denkt er; das Gerät muss eine Macke haben! Er richtet den Lichtkegel der Taschenlampe auf die Skala.

Sie reicht von Null bis 500000 Millirem; 100000 Millirem haben die Fachleute in Karlsruhe gemessen … Der Zeiger seines Geräts schlägt über den Skalenrand hinaus.

Kilper zieht sich schrittweise zurück bis zum Zaun. Das Rattern geht wieder in das langsamere Tack-tack-tack über, und der Zeiger bleibt nun bei knapp 90000 Millirem stehen.

Kilper klettert über den Zaun und holt aus seinem Wagen eine kleine Schaufel und zwei Plastiksäcke. Und weil ihm der Weg über den Zaun zu mühevoll wird, tritt er kräftig gegen das Lattentor, das ohne großen Widerstand aufspringt.

Rasch, so als ob er sich verbrennen könnte, schaufelt er ein paar Schlammbatzen in die Tüten. Noch einmal leuchtet er die Stelle ab. Da entdeckt er einen kleinen grünen Zettel. Er zieht ihn aus der stinkenden Masse heraus. LAUFZETTEL KKW WEIHERSBRONN steht da gedruckt; darunter, mit Hand geschrieben: Sieben Rohrstücke für Werkstatt II.

Kein Zweifel, der Müll, den er da geschöpft hat, stammt aus dem Kernkraftwerk.

 

Eine halbe Stunde später steht Kilper unter der Dusche seines Hotelzimmers im Goldenen Adler und versucht, den Geruch von toten Fischen und Gärschlamm loszuwerden. Die beiden Plastiksäcke hat er unter dem Waschbecken deponiert.

Ohne ersichtlichen Grund und ohne nachzudenken, steigt er plötzlich aus der Dusche heraus, tapst ins Zimmer, holt sich den Geigerzähler und hält ihn an die beiden Müllpakete. Das Instrument antwortet mit einem minimalen, kaum zu registrierenden Ausschlag. Er öffnet die Säcke trotz des Gestanks – Reaktion des Geräts gleich Null … Noch immer nackt und tropfend geht er zum Telefon.

»Kurz«, antwortet eine verschlafene Stimme.

»Kilper hier; Sie erinnern sich – ich bin der Reporter, dem Sie den Geigerzähler geliehen haben.«

»Sind Sie wahnsinnig? Es ist zwei Uhr nachts!«

»Professor, Sie müssen mir nur eine Frage beantworten!«

»Na, nu bin ich schon mal wach«, knurrt Kurz.

»Wenn auf einer Müllkippe, auf der unzweifelhaft Schlamm aus einem Kernkraftwerk abgelagert ist, der Geigerzähler weit über die Skala hinaus ausschlägt …«

»Machen Sie Witze?«, brüllt Kurz zurück.

»Ich berichte, sonst nichts«, sagt Kilper ziemlich scharf. »Also, wenn der Zeiger weit über die Skala hinaus ausschlägt und wenn ich dann eine Schlammprobe nehme, wegschaffe und eine Stunde später nochmal messe und die Probe praktisch keine Reaktion hervorruft, was …«

»Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen? Haben Sie eine Ahnung, was das bedeuten würde?«, schreit Professor Kurz am anderen Ende der Leitung.

»Nee«, sagt Kilper wahrheitsgemäß.

»Das bedeutet, dass in dem Müllhaufen eine Strahlenquelle stecken muss, die hinter eine dicke Bleiwand gehört!«

»Ich versichere Ihnen, Professor, wenn Ihr Geigerzähler keinen Fehler hat, dann ist dies auf der Müllkippe in Weihersbronn der Fall.«

»Wie weit ist es von hier bis zu Ihnen?«, fragt Kurz knapp.

»Ich schätze, dass man es von Heidelberg aus in eineinhalb Stunden schaffen kann.«

»Erwarten Sie mich in zwei Stunden am Ortseingang«, sagt Kurz und hängt auf.

 

Die Begrüßung fällt nicht sonderlich freundlich aus. Niemand könnte sagen, wer aufgeregter ist, der Reporter oder der Professor. In Kilpers Wagen kurven die beiden zu der Müllkippe hinauf. Kurz sagt kein Wort, steigt aus, zieht aus einer abgeschabten Aktentasche ein Gerät und schreitet auf die Müllkippe. Kilper zeigt ihm ebenso stumm den Weg zu der Stelle, an der er den heftigsten Ausschlag registriert hat. Nun fängt auch das Gerät des Professors an, Geräusche von sich zu geben.

»1,2 Millionen Millirem …«, murmelt Kurz.

»Sehr gefährlich?«, fragt Kilper.

»Wenn Sie die Strahlenquelle, die das aussendet, in der Hosentasche direkt neben den Hoden tragen, sollten Sie zumindest keine Kinder mehr zeugen«, gibt Kurz bissig zurück und fängt an, mit Kilpers kleiner Schaufel zu graben.

Kilper schimpft sich selbst einen Idioten, dass er keinen Fotografen bestellt hat. Diese gespenstische Szene müsste man im Bild haben. Zwei Meter unter ihm, von der Taschenlampe angestrahlt, schuftet der weißhaarige Physiker wie ein Bauarbeiter im Akkord.

»Da – da ist es!«, ruft er plötzlich; »gehn Sie zur Seite …« Ein kleines Päckchen fliegt knapp an Kilpers Kopf vorbei und landet auf der planierten Fläche der Müllkippe. Kurz steigt herauf. Er atmet schwer.

»Granatensauerei!«, prustet er. »Gehn Sie da weg!« Er rennt zu seiner Tasche und holt ein Bleigefäß, das wie ein großes Marmeladenglas aussieht. Erst als er das Päckchen in dem Behälter hat, atmet er ruhiger. »Ionenaustauscher, eingeschweißt in ein Plastiktäschchen«, erklärt er.

Kilper hat gerade hin- und hergerechnet, ob er seine Geschichte noch für die nächste Ausgabe zustande bringt. »Was ist das, ein Ionenaustauscher?«

»Gibt es in jeder kerntechnischen Anlage. Das sind kleine Kunstharzkügelchen, welche die Fähigkeit haben, bestimmte Materialien, auch radioaktive Materialien, an sich heranzuziehen und dafür ungefährliche abzugeben. So wird beispielsweise leicht verseuchtes Kühlwasser gereinigt.«

»Aha«, sagt Kilper. Das hört sich gut an.

»Wir müssen die Polizei alarmieren«, bestimmt Kurz.

Das hört sich nicht gut an. »Hören Sie mal – das ist eine Exklusiv-Story! Meine Story!«, wendet Kilper ein. »Wenn die Polizei davon weiß, erfährt es auch die Tagespresse; dann ist die Geschichte rum, ehe ich sie bringen kann – schließlich erscheinen wir nur einmal wöchentlich.«

»Jetzt hören Sie mal zu«, sagt Kurz. »Es kümmert mich einen Dreck, was das für euch Zeilenschinder bedeutet; ich trage jetzt die Verantwortung, und ich sage, dass hier die Polizei und der Strahlenschutzzug zu erscheinen haben! Und zwar auf dem schnellstmöglichen Weg.«

Kilper rechnet: Es ist die Nacht zum Samstag; am Montag erscheint sein Blatt … Gefahr droht nur von den Sonntagszeitungen.

»Kein Problem«, sagt der Chefredakteur zwanzig Minuten später; »wir geben eine Meldung an dpa: ›Reporter der WOCHE entdeckt Atommüll‹ – dann sind wir selber Teil der Nachricht, und niemand kann uns das Erstgeburtsrecht nehmen, klar?«

Kilper lächelt: »Klar!« Welcher Reporter träumt nicht davon, selbst einmal Schlagzeilen zu machen?

 

Als Kilper wieder zur Müllkippe zurückkehrt, gleicht das stinkende Plätzchen am Waldrand einer Filmszene. Scheinwerfer leuchten das Gelände aus. Polizisten hasten hin und her. Ein großer Kastenwagen mit der Aufschrift STRAHLENSCHUTZZUG steht direkt am Lattentor. Professor Kurz diskutiert wild gestikulierend mit drei Männern. Kilper tritt hinzu.

»Das ist er«, sagt Kurz.

Ein hagerer, etwa fünfzigjähriger Mann dreht sich um und brüllt Kilper an: »Sie bringe ich ins Gefängnis!«

»Der Bürgermeister«, erklärt Kurz.

Ein drahtiger kahlköpfiger Mann kommt auf den Reporter zu und zischt ihn an: »Wie kommen die Ionenaustauscher auf diese Müllkippe?«

Kilper zuckt die Achseln. »Da müssen Sie schon die Helden vom Kernkraftwerk fragen.«

»Ich bin der technische Leiter des Kernkraftwerks!«, brüllt der andere zurück, »und es ist absolut unmöglich, dass dieses Päckchen mit unserem Müll hier herausgekommen ist – ab-so-lut unmöglich. Wenn es von uns stammt, dann muss es jetzt im ehemaligen Salzbergwerk Asse liegen, tausend Meter unter der Erde, in Glas eingegossen und in einer Tonne versiegelt.«

Kilper schreibt sich die Details ungerührt auf. »Tatsache ist«, sagt er dann, »dass wir es vor eineinhalb Stunden hier gefunden haben.«

»Nachdem Sie’s vorher hineinpraktiziert haben, was?«, schreit der Bürgermeister.

Kilper schaut ihn befremdet an: »Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Sie oder ein anderer«, brüllt der Gemeindevorsteher; »das ist doch ein gemeines, abgefeimtes Spiel gegen den Ausbau des Werks!«

Kilper schreibt eifrig, dann hebt er den Blick und fragt den technischen Leiter ganz ruhig: »Sagen Sie, Herr …?«

»Bindernagel«, knurrt der.

»Sagen Sie, Herr Bindernagel, kann das Päckchen aus Ihrem Werk sein, ja oder nein?«

»Wir verwenden solches Material; es kann von uns sein. Aber es kann nicht auf diese Müllkippe gelangen, darauf kommt es an!«

»Schlamperei ausgeschlossen?«, fragt Kilper.

Bindernagel wendet sich wortlos ab und geht zum Rand der Müllkippe, wo nun Professor Kurz den Polizisten genau den Fundort beschreibt. Ein Beamter steckt nummerierte Täfelchen in den Schlamm; ein Polizeifotograf macht Aufnahmen davon. Kilper geht zu einem Beamten und fragt: »Wer ist denn hier euer Boss?«

Der Polizist deutet auf einen gemütlich aussehenden grauhaarigen Uniformierten: »Dort steht er.«

Kilper geht zu ihm. »Werde ich hier in den nächsten zwei Stunden gebraucht?«, fragt er. »Mein Name ist Kilper, Reporter bei der WOCHE; ich würde gern meinen Artikel durchtelefonieren.«

»Sie haben uns das also eingebrockt«, sagt der Beamte, und sein Lächeln passt nicht zu dem ziemlich grimmig hervorgestoßenen Satz.

»Nein«, sagt Kilper bestimmt. »Ich habe das Zeug zwar entdeckt, aber ich habe es weder hergestellt noch hierher gebracht … Wissen Sie, ich gehöre nicht zu den Reportern, die ein Haus anstecken, nur um über einen Brand berichten zu können.«

»Sie werden morgen vernommen«, sagt der Polizist. »Und wenn wir Sie brauchen, wissen wir ja, wo Sie zu erreichen sind. Gute Nacht!«

»Guten Morgen«, sagt Kilper und schaut zu den Baumwipfeln hinauf, die gerade in das zarte Rot der ersten Sonnenstrahlen getaucht werden.

– 2 –

Kilper hat verschlafen. 10.00 Uhr zeigt der Wecker auf dem schäbigen Hotel-Nachttischchen.

»Mist«, murmelt er und schwingt die Beine aus dem Bett, lässt sich aber sofort wieder zurückfallen. Den stechenden Schmerz knapp oberhalb des linken Hüftknochens kennt er: Bandscheibe.

»Dass mir das gerade jetzt passieren muss«, knurrt er und nimmt einen zweiten Anlauf. Er schafft es bis zur halben Höhe, dann bleibt er gebeugt stehen, verkrampft und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Kilper hangelt sich an der Wand entlang zum Badezimmer und lässt Wasser in die Wanne laufen. Ein heißes Bad wird ihm gut tun. Da klingelt das Telefon.

Er humpelt zum Bett zurück. »Ja, Kilper!«

»Was ist denn mit Ihnen los? Seit wann seufzen Sie Ihren eigenen Namen?«, fragt der Ressortchef aus Hamburg.

»Diese Scheißbandscheibe!«

»Ausgerechnet jetzt? Das sollten Sie sich für später aufsparen!«

»Ich wusste doch, Mitgefühl ist Ihre starke Seite«, knurrt Kilper und kriecht wieder unter die Bettdecke.

»Was ich Ihnen sagen wollte: Die Story ist top, und wir haben sie noch untergekriegt. Eine Vorausmeldung an dpa ist noch in der Nacht abgegangen, muss heute überall in den Nachrichten laufen … Sie sind am nächsten dran, und Sie bleiben dran. Und sorgen Sie dafür, dass Sie vorne bleiben, klar?«

»Also, da wär ich nie drauf gekommen«, raunzt Kilper.

»Soll ich Ihnen noch einen Mann schicken?«

»Wenn, dann höchstens eine Frau.«

»Auch das können Sie sich sparen«, bellt der Chef.

Kilper bellt zurück: »Dieser Verlag hat keine echten Sozialleistungen!«

Es klopft an der Tür.

»Chef, bei mir klopft es – ich muss auflegen«, sagt Kilper. »Ich denke, das ist die Polizei; die haben sich schon angekündigt.«

»Also, nicht vergessen: Wir müssen immer das Doppelte von den anderen wissen, und das noch doppelt so schnell.«

»Ja doch«, knurrt Kilper, »sollen Sie haben. Soll ich’s als Schmuckblatt-Telegramm durchgeben?« Er knallt den Hörer auf die Gabel und stemmt sich ächzend von seinem Lager hoch.

Wieder klopft es. Kilper humpelt gebeugt zur Tür, so wie er aufsteht, nackt. »Komme ja schon!« Er macht die Tür auf, und im gleichen Moment steht er kerzengerade.

 

Anne Muthesius starrt entgeistert auf den nackten Riesen im Türrahmen. Umdrehen? Augen schließen? Wegrennen? Eintreten, als ob nichts wäre? Schließlich tut sie nichts von alledem, sondern bleibt einfach stehen und starrt auf den breiten, dicht behaarten Brustkasten des Mannes.

»Sie haben meine Bandscheibe geheilt«, sagt Kilper. »Eine Art Schockbehandlung; das hilft manchmal …« Er macht zur Probe ein paar Drehungen in der Hüfte, die in dieser Situation ein bisschen lasziv wirken.

»Was … Was habe ich?«, stottert Anne Muthesius.

»Moment«, sagt Kilper; mit ein paar raschen Schritten geht er ins Zimmer und holt sich einen flauschigen braunen Bademantel. »Alles in Ordnung!«, ruft er. »Sie können eintreten.«

Anne Muthesius geht hinein.

Auf dem einzigen Stuhl im Zimmer liegen Kilpers unordentlich hingeworfenen Kleider, das Bett ist zerwühlt. Im Bad rauscht noch immer das Wasser. Kilper stellt es ab und lehnt sich in den Rahmen der Badezimmertür.

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragt er und schaut die verlegen dastehende junge Frau an. Sie mag einssiebzig groß sein; das halb lang geschnittene, frisch gewaschene Haar umrahmt ein attraktives, slawisch anmutendes Gesicht mit hohen Backenknochen, schmalen blauen Augen, einer etwas zu kleinen Nase und einem vollen, wunderschönen Mund. Die Figur ist zierlich: schmale Hüften, kleine, vermutlich feste Brüste; die Beine schlank, aber etwas zu kurz … Sie sollte Schuhe mit höheren Absätzen tragen, denkt Kilper. Das Faszinierendste aber ist dann ihre Stimme – samtweich, leise und ein wenig zu tief.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagt sie.

Kilper macht eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gefrühstückt?«, fragt er.

Sie nickt. »Schließlich ist es schon nach zehn Uhr.«

»Na, dann können wir ja zur Sache kommen.«

»Ich bin eine Kollegin von Ihnen«, sagt Anne Muthesius zögernd. »Vom Weihersbronner Tagesanzeiger, das ist ein Kopfblatt der Neckarzeitung.«

»Volontärin?«

»Jungredakteurin im zweiten Jahr …« Vergeblich sucht sie nach Spott in seinen Augen.

»Aha. Und nun soll ich Ihnen erzählen, was das alles war, heute Nacht?«

»Am liebsten ja.« Sie zieht einen Block aus ihrer Umhängetasche.

»Stört es Sie, wenn ich das von der Badewanne aus mache?«

Sie schüttelt irritiert den Kopf.

Mit einem tiefen Seufzer lässt sich Kilper in das heiße Wasser gleiten. »Schmeißen Sie die Klamotten vom Stuhl und machen Sie es sich bequem«, ruft er vom Bad her. »Also, dann … Ich habe von meinen Bossen einen idiotischen Auftrag bekommen …« Er erzählt knapp und präzise. Anne Muthesius hat Mühe mitzuschreiben.

Als er fertig ist, sagt sie: »Danke schön … das war sehr nett von Ihnen. Sie glauben gar nicht, wie sehr mir das hilft. Damit komme ich zum ersten Mal auf die überregionalen Seiten.«

Kilper tritt, in ein Frotteetuch gewickelt, aus dem Badezimmer. »Vor zwölf Jahren hatte ich auch einmal Ihren Job. Nicht hier natürlich, in Pinneberg bei Hamburg. Ich hatte damals fürchterliche Angst, ich könnte mich blamieren. Kein Abi, kein Studium – dass die mich genommen hatten, war das reine Wunder … Na ja. Ich bin dann auf dem Rückweg von meinen Recherchen immer zuerst auf meine Bude gerannt, habe den Artikel in den Notizblock geschrieben, also fertig ausformuliert. Dann bin ich in die Redaktion gerast, habe den Block neben meine Maschine gelegt, kurz nachgedacht und dann das Werk ohne abzusetzen ins Manuskript gehämmert. Keine Probleme mit Überschrift, Unterzeile, Vorspann oder gar Artikelanfang. Schon nach ein paar Tagen hatte ich den Spitznamen ›Naturtalent‹, und nach einem Jahr wurde ich Redakteur.«

»Sie haben den fertigen Artikel als Notizen ausgegeben? Das war aber doch der reine Bluff«, sagt Anne Muthesius.

»Stimmt«, lacht Kilper. »Und wenn Sie jetzt mal aus dem Fenster sehen, kann ich mich rasch anziehen.«

»Ich kann doch gehen – wir sind ja fertig.«

»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, mit hinauszufahren zum Kernkraftwerk.«

»Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann«, sagt sie und dreht sich zum Fenster.

»Au, verdammte Scheiße!«, brüllt Kilper Sekunden später.

Anne Muthesius fährt herum. Tief gekrümmt steht er mitten im Zimmer, die Hose bis knapp zu den Knien hochgezogen, regungslos, erstarrt, schmerzverzerrt.

»Es ist lächerlich«, stöhnt er, »ich bin ein Krüppel … Am besten wird es sein, Sie fahren allein los. Ich muss irgendwie sehen, wie ich wieder in die Senkrechte komme.«

»Unsinn«, sagt Anne Muthesius resolut, »ich helfe Ihnen.« Sie geht zu ihm hinüber. »Stützen Sie sich auf meine Schulter.« Ohne ein Wort zu sagen, hält sich Kilper an ihr fest. Mit geschickten Handgriffen zieht Anne Muthesius den Kollegen vollends an. »Können Sie gehen?«

»Ich kann’s versuchen.«

»Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich«, sagt Anne Muthesius und wirft ihre Tasche über die Schulter.

»Kennen Sie einen Arzt hier, der mir auf die Schnelle eine Spritze verpassen könnte?«

»Klar, Dr. Steinbach.«

»Das ist doch der Umweltschützer, nicht?«

»Ja, genau.«

Im Auto bittet Kilper: »Erzählen Sie mir mehr von diesem Umweltdoktor.«

»Ach, der ist ganz in Ordnung … Nur mit seinen Mitgliedern, da hat er manchmal Kummer.«

»Kummer? Wieso?«

»Na ja, gelegentlich schießt da mal einer übers Ziel hinaus. Letztes Jahr hat man einen Sprengsatz im inneren Bereich des Kernkraftwerks gefunden, eine Plastikbombe oder so etwas.«

»Davon habe ich nirgendwo etwas gelesen.«

»Können Sie auch nicht. ›Im übergeordneten Sicherheitsinteresse‹, oder wie das heißt, hat die Presse darauf verzichtet, darüber zu berichten.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Klar. Die Macht der Presse liegt hier in den Händen von zwei leitenden Lokalredakteuren, und die spielen Skat mit dem Bürgermeister und dem KKW-Chef Bindernagel.«

»Und wer hat die Bombe gelegt?«

»Das wurde nie ganz geklärt.«

»Was heißt ›nie ganz‹? Wurde es denn halb geklärt?«

»Der Verdacht fiel auf einen Mechanikermeister im Kernkraftwerk, der Mitglied von Steinbachs Umweltschutztruppe ist. Dieser Mann gilt als besonders harter Gegner des Kraftwerkausbaus.«

»Ein Mitarbeiter des Atomkraftwerks?«

»Ja. Die Umweltschützer haben eine ganze Reihe Mitglieder im KKW, das ist nichts Ungewöhnliches hier. Aber dieser Horst Kanzleiter, so heißt der Mechaniker, hat in irgendeiner Wirtschaft eben mal geäußert, man müsste eine Bombe legen, um die Welt aufzurütteln.«

»Sagen Sie das nochmal! Ein Mann, der im Kernkraftwerk sein Brot verdient, will es in die Luft jagen? Das gibt doch gar keinen Sinn.«

»Sie müssen wissen, dass viele der Umweltschützer sich mit dem KKW abgefunden haben; sie verlangen nur mehr Sicherheitsvorkehrungen, und vor allem wollen sie den Ausbau verhindern. Ihnen genügt es sozusagen, den Status quo zu erhalten. Und der Kanzleiter gehört zu diesen Leuten, aber er ist auch ein Hitzkopf, vor allem, wenn er was getrunken hat. Und außerdem gilt er als einer der besten Techniker im Werk … Ich habe übrigens keine Sekunde geglaubt, dass er es war.«

Kilper, der nun sehr nachdenklich geworden ist, sagt lange nichts. Anne Muthesius hält auf dem kleinen Weihersbronner Marktplatz. Unter einem riesigen Kastanienbaum plätschert ein Brunnen, die Fachwerkhäuser umstehen den Platz wie die penibel gemalte Kulisse eines Kasperletheaters.

»Wir sind da; dort drüben ist Steinbachs Praxis.«

»Moment noch«, sagt Kilper. »Wenn es im Kernkraftwerk Leute gibt, die so vehement gegen einen weiteren Ausbau sind, und wenn wir mal annehmen, dass einer dieser Leute, vielleicht dieser Kanzleiter, durch Zufall davon erfahren hat, dass ich auf der Müllkippe nach Atomabfall suchen wollte, dann liegt es doch nahe …« Kilper bricht ab.

Anne Muthesius sieht zu ihm hinüber. In seine Stirn hat sich eine tiefe Falte eingegraben.

»Ich muss mit diesem Kanzleiter sprechen«, sagt Kilper. »Heute noch.«

»Glauben Sie denn tatsächlich …?«

»Ich glaube gar nichts. Vor allem glaube ich genauso wenig an Zufälle wie die Polizei. Und der Gedanke, das Werkzeug eines fanatisierten Umweltschützers geworden zu sein, sagt mir überhaupt nicht zu!«

Mit Anne Muthesius’ Hilfe wuchtet sich Kilper aus dem engen VW-Käfer. Sie gehen an dem Brunnen vorbei auf das Haus Dr. Steinbachs zu.

»Hallo!«, ruft Anne Muthesius zu ein paar Halbwüchsigen hinüber, die auf dem Brunnenrand sitzen und gelangweilt in die Gassen stieren, die strahlenförmig von dem Platz wegführen.

»Was hosch denn da für oin ufgabelt?«, ruft einer der Jungen, und ein anderer: »an Typ uf Abbruch?«

Kilper, der sich nur mühsam fortbewegen kann, sieht sich die Burschen näher an, dann geht er auf sie zu und grinst. »Passt mal auf«, sagt er, »sobald ich mich aufrichten kann, seht ihr keinen Unterschied mehr zwischen mir und Cassius Clay – außer der Farbe natürlich.«

Ein vielleicht sechzehn Jahre alter Junge in einem ölverschmierten blauen Overall, der sich im Hintergrund gehalten hat, sagt leise: »Auf anderen rumhacken, das könnt ihr, sonst nichts.«

»Du hältscht dei Gosch!«, fährt ihn einer der anderen an. »Sonscht machet mir dir deine Füaß gleich kurz.«

Der Angesprochene versucht etwas zu entgegnen, aber seine Antwort geht im Gelächter der anderen unter.

Kilper humpelt auf die Arztpraxis zu. Anne Muthesius bleibt an seiner Seite, traut sich aber nicht, ihn zu stützen. In der Tür dreht er sich noch einmal um, und da sieht er, wie der Junge im Overall über den Platz hastet. Er hinkt stark. Offensichtlich hat er ein kürzeres Bein.

»He, Luzifer!«, brüllt ihm einer nach. »Tritt nicht auf deinen Schwanz!«

»Er hat es schwer«, sagt Anne Muthesius. »Erstens ist er nicht von hier, ein Reingeschmeckter, wie das hier heißt; und zweitens hat er noch dieses Leiden. Dabei gilt er als ungewöhnlich begabt.«

»Trotzdem – was braucht er sich mit den anderen anzulegen?«, brummt Kilper und geht in das Haus des Arztes.

– 3 –

In einer halben Stunde beginnt die Betriebsversammlung«, sagt Herbert Bindernagel, technischer Direktor des Kernkraftwerks. »Ich wollte vorher mit Ihnen gesprochen haben.«

Ihm gegenüber sitzt ein auffallend kleiner und schmaler Mann mit gelblicher Gesichtsfarbe. Seine dunklen Augen starren Bindernagel unverwandt an. Er schweigt.

»Hören Sie, Herr Kanzleiter, Sie wissen, dass ich Sie für einen ausgezeichneten Mann halte und dass ich Ihnen im Grunde so etwas nicht zutraue, aber Sie müssen nun eben auch mal akzeptieren, dass nach dem Vorfall im letzten Jahr sofort Ihr Name fällt, wenn so etwas geschieht.«

»Was heißt im Grunde?«, fragt Kanzleiter mit einer seltsam dünnen Stimme. »Trauen Sie mir’s zu oder nicht?«

Bindernagel steht auf und geht zu dem großflächigen Fenster an der Stirnseite seines Büros. Er schaut auf den menschenleeren Hof hinab. Zwei Container mit Klärschlamm stehen an der Mauer des Reaktorgebäudes. »Können Sie sich vorstellen, dass ein Ionenaustauscher ausgerechnet in den Klärschlamm gerät?«, fragt er zurück.

»Sie sind mir eine Antwort schuldig«, sagt Kanzleiter.

»Was soll ich sagen … Wir wissen, dass gelegentlich der Gaul mit Ihnen durchgeht.«

»Ich hab damals die Bombe nicht gelegt, und ich hab auch keinen Atommüll rausgeschmuggelt«, sagt Kanzleiter knapp und ruhig. »Und im Übrigen haben wir vor vier Stunden den Reaktor auf Null gefahren, weil am Ventil 4 die Dichtung ausgetauscht werden muss. Wir verlieren Zeit, wenn das nicht gleich geschieht.«

»Sie haben mir also nichts zu sagen?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was zu sagen ist. Unser Kampf gegen den Ausbau des Werks ist legitim. Wenn wir keinen Erfolg haben, kann man auch nichts machen. Man muss es versuchen, wenn man der Meinung ist, dass der Ausbau gefährlich werden kann. Aber Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich etwas unternehmen würde, was anderen schadet.«

Bindernagel wendet sich um. Er ist unausgeschlafen; die Augen liegen in tiefen Höhlen. Müde lässt er sich in seinen bequemen Schreibtischsessel sinken. »Als ob man nicht Sorgen genug hätte«, murmelt er.

Kanzleiter erhebt sich aus seinem Stuhl und geht zögernd zur Tür. Dann bleibt er plötzlich stehen und dreht sich langsam um. »Chef …« Seine Stimme hat plötzlich einen anderen Klang.

»Ja?« Bindernagel blickt auf.

»Da ist eine Sache …« Der Satz bleibt in der Luft hängen.

»Nun?«

»Das Dumme ist, ich kann nichts beweisen«, sagt Kanzleiter und wendet sich wieder der Tür zu.

»Stopp!«, sagt Bindernagel scharf. »Raus mit der Sprache!«

»Ein paar Beobachtungen, ein paar komische Zusammenhänge – weiter nichts. Ein vager Verdacht eben«, murmelt Kanzleiter.

Bindernagel wird ungeduldig: »Nun gackern Sie mal nicht nur; legen Sie endlich!«

Langsam geht Kanzleiter wieder auf den Schreibtisch des Direktors zu. »Sehen Sie«, sagt er, »ich habe Sie gefragt, ob Sie mir trauen. Und da sind Sie mir ausgewichen … Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man in einen Verdacht gerät. Seit einem Jahr schlag ich mich damit herum. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass ich rausbringen will, was hier wirklich gespielt wird. Nun hab ich einen Verdacht, zugegeben; aber der ist vielleicht auch nicht mehr wert, als der Verdacht gegen mich … Was soll’s also? Wo Sie mir eh nicht trauen …«

»Es ist Ihre verdammte Pflicht, mich über Ihren Verdacht zu unterrichten!«

»Ihre Pflicht wäre es gewesen, für mich einzutreten«, gibt Kanzleiter bockig zurück.

»Hören Sie doch, Kanzleiter – was heute Nacht passiert ist, kann immer wieder geschehen! Es ist Ihre und meine Pflicht …«

»Es hat keinen Sinn«, sagt Kanzleiter müde.

»Zum Donnerwetter nochmal!«, brüllt der Direktor, »wir wissen seit heute Morgen, dass das Päckchen aus unserem Laden ist, und ich muss rauskriegen, wie es aus dem Werk hinauskommen konnte!«

»Sie wissen, dass es von uns ist?«

»Ja, zum Teufel! Ich weiß noch mehr: Das Päckchen ist nur eins von sieben, die an ein und demselben Tag herausgenommen wurden.«

»Und die anderen sechs?«

»Das lässt sich nicht mehr klären. Wir können ja nicht alle Fässer im Salzbergwerk Asse aufmachen lassen, um nachzuschauen, ob die Ionenaustauscher dort sind oder im Keller irgendeines verrückten Umweltschützers! …« Das Telefon klingelt. Hastig reißt Bindernagel den Hörer von der Gabel. »Ja?«, brüllt er in die Muschel. Dann wird sein Gesicht schlagartig bleich. Er drückt rasch auf einen Knopf; jetzt hört auch Kanzleiter eine verzerrte Stimme aus der Mithöranlage:

»… und Schweine vom Kapital. Das ist das Ende. Das heißt, das war erst der Anfang. Ich sage nur: Sieben minus eins, bleiben sechs … Nieder mit den Ausbeutern, den Leuteschindern, den Schweinen. Euch wird noch Hören und Sehen vergehen! – Dies war eine Durchsage des Roten Bataillons.«

Dann ein Klicken und Stille.

Bindernagel wischt sich den Schweiß ab. Kanzleiter steht da wie versteinert.

»Ein Verrückter!«, stöhnt der Direktor.

»Aber er weiß von den sieben Päckchen«, sagt der Meister tonlos.

»Wollen Sie mir wenigstens jetzt …«

»Geben Sie mir zwei Stunden Zeit«, sagt Kanzleiter. »Ich gehe jetzt das Ventil reparieren.« Langsam verlässt er das Chefzimmer.

Bindernagel wählt hastig eine Stuttgarter Nummer. Der Telefonistin am anderen Ende sagt er knapp: »Hier ist Bindernagel, Kernkraftwerk Weihersbronn. Ich muss Ihren Präsidenten sprechen.«

»Der hat dienstfrei«, säuselt es am anderen Ende.

»Und seine Privatnummer?«

»Kann ich Ihnen nicht geben … Ich verbinde Sie mit dem Bereitschaftsdienst.«

»Nein, das tun Sie nicht. Hier geht es um einen Fall, der mehr als diskret zu behandeln ist. Ich wende mich direkt an den Innenminister.«

Eine Viertelstunde später klingelt Bindernagels Telefon.

»Hauser«, sagt eine gemütliche Baritonstimme, »Landeskriminalamt.«

Bindernagel berichtet in abgehackten Sätzen, unterbrochen nur durch einige präzise Zwischenfragen.

»Ich denke, ich habe alles verstanden«, sagt schließlich der Polizeipräsident. »Ich schicke Ihnen meinen besten Mann, wenn ich ihn erreichen kann – Hauptkommissar Bienzle. Und bitte wundern Sie sich nicht allzu sehr über seine Methoden; in aller Regel führen sie zum Erfolg.«

 

Kilper lehnt sich auf dem Beifahrersitz des VW zurück.

»Der Steinbach hat gesagt, das mit den Spritzen ist alles Quatsch«, berichtet er. »Dann ist er auf einen stabilen Stuhl gestiegen, hat mich aufgefordert, die Hände hinter dem Nacken zu verschränken, ist mit seinen Armen unter meinen Achseln hindurchgefahren und hat seine eigenen Hände fest gegen meinen Hinterkopf gedrückt. ›Hau ruck!‹, hat er gebrüllt, und noch einmal ›Hau ruck!‹ Ich spürte, wie ich ausgehoben wurde, hörte ein fürchterliches Krachen im Rückgrat, plumpste auf die Füße zurück … ›Sind Sie nun Menschen- oder Pferdedoktor?‹, hab ich ihn gefragt. Fragt er zurück: ›Noch Schmerzen?‹ Ich hatte tatsächlich keine mehr.« Kilper pfeift leise vor sich hin.

»Sie pfeifen falsch«, sagt Anne Muthesius.

»Stimmt«, sagt er, »aber wenn ich singe, wird’s noch schlimmer.«

Anne Muthesius stoppt ihren Wagen direkt vor der Pforte des Kernkraftwerks unter einem Schild mit der Aufschrift Hier parkende Fahrzeuge werden kostenpflichtig abgeschleppt.

Der Pförtner kommt aus seinem Gehäuse und begrüßt sie fröhlich: »Hallo, Frau Doktor! Auch mal wieder da?«

»Sagen Sie, wem gehören denn die vielen Autos auf dem Parkplatz?«, fragt Anne Muthesius den grauhaarigen Mann.

»Alles solche Zeitungsfritzen. Die kommen von überall her – richtiges Geschmeiß … Oh, Entschuldigung!«

Das Mädchen lacht und legt dem alten Mann den Arm um die Schulter. »Ich bin nicht empfindlich. Der Herr dort ist ein Kollege von mir, Herr Kilper aus Hamburg.«

Sofort verfinstert sich die Miene des Pförtners: »Und mit dem fahren Sie in einem Auto?«

»Ja – warum denn nicht?«

»Das ist doch der Lump, der uns das alles eingebrockt hat!«

»Psst!«, macht sie. »Wenn er das hört …«

»Soll er ruhig hören, dieser elende Schnüffler! Bringt mein Kraftwerk in Verruf … Also, den soll doch gleich der Teufel holen …«

Kilper hat von alledem nichts mitbekommen. Er mustert interessiert das Werk und wird erst abgelenkt, als ein Moped mit elegantem Schwung die Zufahrt zum Werk herauffährt.

»Wie oft hat er dir schon gesagt, dass du nicht bis vors Tor fahren kannst?«, schimpft der Pförtner. »Der Parkplatz für Werkangehörige ist immer noch da hinten!«

Wortlos lehnt der Fahrer sein Moped an den Zaun und hinkt auf das Tor zu. »Tag«, grüßt er knapp und hält routinemäßig seine Ausweiskarte hoch. »Ich muss doch zur Betriebsversammlung, und ich bin schon spät dran.«

Der alte Pförtner brummelt etwas von der Jugend von heute.

»Das war doch Luzifer?«, sagt Kilper und tritt zu Anne Muthesius und dem Pförtner.

»Ein Lehrling«, gibt der Pförtner Auskunft, »tüchtiger Kerl, aber maulfaul und renitent.«

»Schnell fertig mit der Jugend ist das Wort«, lacht Kilper und hofft, dass wenigstens diese nette Frau Muthesius das zum Bonmot verballhornte Zitat kennt – schließlich hat sie ’n Doktor, offenbar. »Können wir rein?«

»Ausweis!«, befiehlt der Zerberus.

»Da geht Kanzleiter über den Hof«, ruft Anne Muthesius.

»Haben Sie wirklich einen Doktortitel?«, fragt Kilper.

»Ja. So einen, mit dem man nichts anfangen kann – Soziologie.«

»Dann haben Sie Ihr Abitur wohl mit vierzehn gemacht.«

»Oh, vielen Dank … Hallo, Herr Kanzleiter!«

Der Mechanikermeister kommt auf das Tor zu. »Tag, Frau Doktor Muthesius.«

»Wie geht’s Ihnen?«

Bekümmert schüttelt er den Kopf. »Es ist furchtbar, was sich hier anbahnt!«

Sofort ist Kilper hellwach: »Anbahnt?«

»Wer ist das?«, fragt Kanzleiter misstrauisch.

»Der Mann, der den Atommüll gefunden hat«, sagt Anne Muthesius.

»Da kann er ja noch eine Menge finden«, sagt Kanzleiter bitter. »Irgendein Verrückter will hier alles kaputtmachen.«

»Wie war das?«, hakt Kilper nach.

»Wie ich’s sage – es fehlen …« Er bricht ab. »Ich bin wohl von den letzten guten Geistern verlassen«, sagt er und geht davon.

»Moment!«, ruft Anne Muthesius. »Ich begleite Sie ein Stück.«

Der Pförtner lässt sie durch die Tür, hält aber Kilper zurück: »Da sind noch ein paar Formalitäten zu erledigen.«

»Und die Frau Doktor?«

»Gehört quasi zum Haus. Ein gern gesehener Gast, im Unterschied zu manchem anderen. Und überhaupt, sie war die Einzige, die sich damals für Kanzleiter eingesetzt hat … Also, Ihren Ausweis.«

Kilper kramt seinen Pass hervor, aber der Pförtner hat noch kaum die ersten Buchstaben auf einen Besucherschein gemalt, da hebt er den Kopf und sagt: »Jetzt geht das los – alles Ihre Schuld! Man sollte Sie im Reaktor zu Asche machen.«

»Was geht los?«, fragt Kilper ungerührt.

»Na, das sehen Sie doch!« Der alte Mann zeigt ins Neckartal hinab, von dem eine kurvenreiche Straße zum Werk heraufführt.

Kilper wendet sich um. Ein Zug von mindestens hundert Menschen wälzt sich die Straße herauf. Transparente flattern über den Köpfen der Leute. Zu hören ist nichts.

»Ein Schweigemarsch«, sagt Kilper.

»Die bleiben nicht so still, das können Sie mir glauben«, sagt der Pförtner. Er setzt ein Fernglas an die Augen und buchstabiert: »Lieber heut aktiv als morgen radioaktiv …«

Kilper zieht einen Block aus der Tasche und schreibt sich den Satz auf. Anne Muthesius kommt über den Hof zum Tor gerannt und zieht Kilper zur Seite.

»Nun?«, sagt er.

»Es ist ungeheuerlich: Es fehlen noch sechs Ionenaustauscher, und vorhin hat einer bei Bindernagel angerufen und irgendwas gefaselt – ein Terrorist oder so was. Er hat gesagt, dass er … Warten Sie, ich hab’s aufgeschrieben … Er hat gesagt: ›sieben minus eins, bleiben sechs‹ und irgend so etwas wie ›Rote Armee‹.«

Kilper starrt Anne Muthesius an, dann lacht er und sagt: »Und das erzählen Sie einem Kollegen von der Konkurrenz?«

Verwirrt schaut sie zu ihm auf. »Aber«, sagt sie, »aber können Sie denn jetzt an nichts anderes denken? Das ist doch eine Katastrophe!«

»Und eine Top Nachricht.«

»Hören Sie auf! Das ist doch widerlich.«

»Stellen wir das mal zurück«, sagt Kilper kalt, »ich schlage vor, wir tun uns zusammen. Mit diesem Wissen haben wir einen weiten Vorsprung vor allen anderen; lassen Sie uns vernünftig damit umgehen. Und wenn Sie ein bisschen nachdenken, kommen Sie vielleicht sogar auf den Gedanken, dass wir durchaus nützlich sein können, auch im Interesse einer guten Sache.«

»Das klingt nicht echt«, murmelt Anne Muthesius.

Kilper schweigt einen Moment betroffen. »Sie haben Recht, es ist reines Routinegequatsche … Ich merke das schon gar nicht mehr; sorry!«

»Ihr Laufzettel«, sagt der Pförtner. »Die Pressekonferenz ist um halb vier im großen Besprechungsraum.«

»Wollen wir pokern, wer hingeht?« Kilper sieht Anne Muthesius an.

»Gehen wir denn nicht beide hin?«

»Getrennt marschieren, vereint schlagen.«

»Diese Gemeinplätze!«

»Ihnen kann man es wohl nie recht machen … Also: Wer geht?«

»Sie stellen bestimmt die besseren Fragen«, sagt das Mädchen.

»Nie im Beisein von Kollegen«, gibt Kilper zurück. »Ich mache mich doch nicht um die Konkurrenz verdient!«

»Und wenn das alle so machen?«

»Tun sie ja! Was meinen Sie denn, warum Pressekonferenzen so nichtssagend sind?«

»Also gehe ich«, sagt sie resignierend.

»Okay … Wo ist denn unser Freund Kanzleiter?«

»Schon durch die Schleuse.«

»Und was bedeutet das?«

»Er muss im Reaktorraum irgendeine Reparatur vornehmen. Sie müssen schon warten, bis er wieder rauskommt.«

– 4 –

Horst Kanzleiter passiert die Schleuse, duscht sich und zieht sich den Schutzanzug an. Jeder Handgriff sitzt; tausendmal hat er diese Prozedur hinter sich gebracht. Sein Werkzeugkasten passiert auf einem speziellen Weg die Kontrollen. Ein Blick auf den Dosimeter: alles in Ordnung. Im Reaktorgebäude trifft er auf Fritz Schuster, seinen Kollegen. Sie nicken sich zu, ein eingespieltes Team.

»Der Reaktor ist vorschriftsmäßig runtergefahren«, sagt Fritz.

»Schieber zu?«, fragt Kanzleiter; und als der Kollege nickt: »Na, dann woll’n wir mal.«

Auf dem Weg zum Ventil sagt Fritz Schuster: »Haben sie dich wieder im Verdacht?«

»Weiß nicht.«

»Muss doch ein Scheißgefühl sein.«

»Ist es auch.«

»Und was machst du dagegen?«

»Ich geb den Job auf.«

»Du gibst … Das ist nicht dein Ernst!«

»Sicher … Was soll’s? Ich kann mich nicht noch mehr kaputtmachen.«

»Es gibt weit und breit keinen Fachmann wie dich.«

»Quatsch doch nicht! Das ist doch kein Hexenwerk hier.«

Die beiden Mechaniker steigen eine Eisenleiter hinab. Der Ventilkopf, knapp vierzig Zentimeter im Durchmesser, wird mit vier mächtigen Schrauben festgehalten.

»Wir setzen eine neue Brille drauf«, sagt Kanzleiter.

»Okay.«

Dann arbeiten sie.

Kanzleiter setzt einen gewaltigen Schraubenschlüssel an die erste Vierkantschraube an. »Wer hat das Ventil dekomprimiert?«, fragt er beiläufig.

»Weiß ich nicht. War die andere Schicht …«

»Na gut«, sagt Kanzleiter. Er setzt für einen Moment ab. »Hast du das gehört?«

»Nee. Was?«

»Da oben läuft doch einer rum … Ich denke, wir sind allein hier drin?«

»Da musst du dich verhört haben.«

»Hm… «

Pause. Sie horchen.

»Doch, da tigert einer rum«, sagt nun auch Schuster. »Ich schau mal nach.« Er geht zu der Eisenleiter, die aus dem engen Schacht nach oben führt. Er hat die dritte Sprosse erreicht … Ein gewaltiger Schlag. Ein ohrenbetäubendes Zischen. Ein markerschütternder Schrei … Und dann überfällt es ihn, wirft ihn gegen die Wand, zerschneidet die Haut mit tausend Messern, reißt ihm die Fetzen vom Leib … Brüllend hastet er die Leiter hinauf, wirft sich auf das eiserne Laufgitter und schreit, schreit, schreit …

Als die Sirenen aufheulen, hört er sie nicht mehr. Er hat das Bewusstsein verloren.

Horst Kanzleiter, der direkt vor dem Ventil stand, hat nicht mehr fliehen können. Er liegt im Schacht, tot, von 800 Grad heißem, radioaktiv verseuchtem Dampf geschmort.

 

Hundert Demonstranten vor dem Werkstor glauben, die Alarmsirenen heulten ihretwegen. Sie brüllen dagegen an: »KKW-Ausbau – niemals …« Sie skandieren: »Wir-wollen-leben-und nicht nur nach Profiten-streben …« Immer lauter. Sie drängen sich gegen das Gittertor, schütteln die Fäuste …

Gleichmäßig heult die Sirene. Weißgekleidete Männer hasten über den Hof.

»Wir wollen le-ben, wir wollen le-ben, wir wollen le-ben!«, brüllt der Chor der Aufgebrachten vor dem Tor. Die erste Reihe wird durch die nachfolgenden gegen das Gitter gedrängt. Schmerzensschreie mischen sich unter die rhythmisch gerufenen Parolen. Von hinten hört man das Martinshorn eines Krankenwagens.

Bindernagel stürmt aus dem Reaktorgebäude auf das Tor zu, gefolgt von einem Kameramann des Fernsehens und einer Traube von Journalisten. Der Direktor wedelt mit den Armen, als könnte er die Menschen vertreiben wie Fliegen.

»Verschwindet! Haut ab … Wir haben einen Toten!«, brüllt er.

Niemand hört ihm zu. »WIR WOLLEN LE-BEN, WIR WOLLEN LE-BEN, WIR WOLLEN LE-BEN! …«

»Ein Unfall!«, kreischt Bindernagel hysterisch, »versteht doch – es geht um Leben und Tod!«

»WIR WOLLEN LE-BEN, WIR WOLLEN LE-BEN, WIR WOLLEN LE-BEN! …«, brüllt die Masse. Noch immer heult die Sirene. Der Krankenwagen ist eingekeilt. Das Blaulicht bricht sich in den Fenstern des Gebäudes.

»Aufhören!«, brüllt Bindernagel.

»Wir wollen le-ben, wir wollen le-ben, wir wollen le-ben! …« Jetzt sind es nur noch die ersten Reihen, die durch das Gebrüll ihr eigenes Gehör übertönen wollen.

Dann plötzlich ist es still. Der Sirenenton heult weiter.

Die Menschen bilden eine Gasse für den Krankenwagen. Bindernagel lässt die Arme sinken. Erschöpft lehnt er sich gegen den Drahtzaun.

»Er ist tot«, sagt er tonlos. »Er ist tot.«

Die Sirene bricht ab. Dann verstummt das Signalhorn. Die Stille bricht herein wie ein Gewitter. Dicht aneinander gedrängt stehen die Menschen vor dem Tor, das der alte Pförtner öffnet. Man hört das Knattern eines Hubschraubers. Ein Auto rast heran. Doktor Steinbach springt heraus. Er rennt auf das Tor zu. »Was ist passiert?«, ruft er.

Bindernagel formt mit den Lippen einen Satz, bringt aber keinen Ton heraus. Zwei Männer bringen Fritz Schuster auf einer Trage. Der Hubschrauber landet. Mit geübten Griffen schnallen die Sanitäter die Krankentrage fest. Sekunden später startet der Helikopter wieder. Als seine Rotoren nicht mehr zu hören sind, lastet ein unerträgliches Schweigen über den Menschen.

Plötzlich tönt aus der Masse eine Stimme: »Da seht ihr’s!« Und eine zweite: »Ja, nun hat’s die ersten Toten gegeben … Bald sind wir alle dran!« Und dann, monoton: »Wir wollen le-ben, wir wollen le-ben …« Andere fallen ein; es werden mehr, immer mehr, gewaltig anschwellend dröhnt, kreischt, brüllt die Menge: »Wir wollen le-ben! Wir wollen le-ben!WIR WOLLEN LE-BEN! WIR WOLLEN LE-BEN… «

Apathisch lehnt Bindernagel am Zaun. Die Menschen formieren sich wieder, schließen die Gasse und bewegen sich auf das offene Tor zu.

 

Kilper fühlt plötzlich, wie sich jemand an seinem Arm festklammert. Er schaut in das tränenüberströmte Gesicht von Anne Muthesius.

»Tun Sie doch was!«, schluchzt sie, »es kommt zur Katastrophe …«

Kilper zuckt die Achseln; er ist voll konzentriert auf die Ereignisse. In einer halben Stunde muss er sie niederschreiben. Nichts darf ihm entgehen. Die ersten der langsam drohend näher rückenden Menschen sind auf seiner Höhe.

»Tun Sie was … Tun Sie was …«

Er hört es und nimmt es nicht wahr. Doch dann plötzlich gellt es ihm in die Ohren:

»Reporterschwein …«

Langsam löst sich Kilper von Anne Muthesius. Er reckt seine breiten Schultern. Ihn friert. Drei schnelle Schritte, dann steht er vor den Demonstranten, die auf ihn zukommen, als ob sie von einer riesigen Planierraupe geschoben würden. Für Sekunden bricht der Sprechchor ab. Kilpers Hirn arbeitet fieberhaft. Wie beruhigt man Menschen? Das ist nicht seine Sache; ihm fällt dazu nichts ein … Oder doch?

»Moment!«, brüllt er. »Wenn hier Strahlen austreten, sind alle gefährdet!«

Schlagartig brechen auch die letzten Rufe ab. Für Sekunden verhält die Masse. Kilper glaubt zu sehen, wie manche im Schritt innehalten, den Fuß zwanzig Zentimeter über der Erde … Und dann rennen die ersten in Richtung Tal. Die Menschenmauer vor Kilper bröckelt, bricht zusammen, löst sich auf. Viele rennen, manche gehen, einige bleiben auch in kleinen Gruppen stehen.

Bindernagel erwacht aus einem tranceartigen Zustand und nickt Kilper zu. »Danke«, sagt er mit tonloser Stimme.

»Danken Sie mir nicht«, sagt Kilper, »morgen werden Sie mich verfluchen.« Noch immer fröstelt er. Ihm ist, als ob er körperlich schwer gearbeitet hätte. Müde dreht er sich um, und sein Blick trifft die Augen der Kollegin, bleibt sekundenlang hängen … Dann schüttelt Kilper den Kopf und sagt leise: »Reporterschwein …«

Doktor Steinbach führt Bindernagel zum Verwaltungsgebäude. Noch stehen die Journalisten herum, gerade so, als sei noch nicht genug passiert. Ein dpa-Mann hat das Telefon des Pförtners als Erster gekeilt, Kilper hört mit halbem Ohr die aus dem Stegreif formulierte Meldung des Agentur-Kollegen. Nur einen Satz nimmt er wirklich auf:

»Das beherzte Eingreifen eines Reporters der ›WOCHE‹, desselben Mannes übrigens, der gestern den Atommüll fand, hat eine schlimmere Katastrophe verhindert. Die aufgebrachte Masse war …«

Kilper geht auf den Pförtner zu. »Wer ist tot?«, fragt er.

»Der Kanzleiter …«

»Seltsamer Zufall!«, murmelte Kilper und geht nachdenklich zu Annes Auto. Beinahe wäre er dabei über das Moped gestolpert, das am Zaun steht. Noch einmal wendet er sich zu dem Pförtner um: »Was ist mit der Betriebsversammlung?«

»Die Männer sind jetzt alle im Einsatz«, gibt der alte Mann zurück. »Das ist so beim Katastrophenalarm.«

»Ja … Ja, natürlich …« Kilper wendet sich zu Anne Muthesius: »Kommen Sie – sonst wird Ihr Bericht nicht fertig.«

»Ich … Ich kann jetzt nicht schreiben«, stammelt das Mädchen.

»Ein Journalist kann immer schreiben«, sagt Kilper und wundert sich ein wenig darüber, dass Anne Muthesius ihm diesen blöden Satz durchgehen lässt.

– 5 –

Die Redaktion des Weihersbronner Tagesanzeigers besteht aus zwei kleinen, ineinander gehenden muffigen Räumen. Alte braungelbe Büromöbel stehen ohne sichtbare Ordnung herum, so als ob sie eben dort stehen geblieben wären, wo sie die Möbelträger aus den Tragbändern rutschen ließen.

Der Lokalchef geht gerade, als Kilper und Anne Muthesius eintreffen. »Schöne Schweinerei«, sagt er. »Sie bekommen den Aufmacher auf der Titelseite.«

Ob er mit Schweinerei den Unfall im Kraftwerk meint oder die Tatsache, dass seine junge Kollegin auf die Titelseite kommt, ist nicht auszumachen. Als Kilper sich vorstellt, verzieht der Lokalchef das Gesicht.

»Wissen Sie«, sagt er, »ich hatte auch einmal das Angebot, nach Hamburg zu gehen. Aber wahrer Journalismus, echte Zeitungsarbeit wird noch alle Mal hier an der Front gemacht, nicht wahr …« Dann geht er.

»Lässt er Sie das jetzt allein machen?«, fragt Kilper.

Anne Muthesius zuckt die Achseln. »Sieht ja wohl so aus.«

»Na denn«, sagt Kilper, »wenn Sie mir ein Plätzchen einräumen, beginne ich zu dichten.«

Müde weist Anne Muthesius auf einen Schreibmaschinentisch. Sie selbst setzt sich auf einen Bürostuhl und stemmt den Kopf in beide Hände. »Ich kann nicht«, sagt sie.

Kilper beachtet sie nicht.

»Haben Sie nicht gehört?«

»Was geht mich das an?«

»Sie sind ein Unmensch! Können Sie mir nicht helfen?«