Bienzle und der Tod im Tauerntunnel / Bienzle und der falsche Mord - Felix Huby - E-Book

Bienzle und der Tod im Tauerntunnel / Bienzle und der falsche Mord E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Stuttgart: Das Auto rollt nicht vom Zug. Sein Fahrer ist tot. Erschossen. Der Mörder saß vermutlich in einem Wagen weiter vorn und ist längst über alle Berge. Der Tote, ein zwielichtiger Juwelier, erweist sich als Schlüsselfigur der kriminellen Szene Stuttgarts. Führstadt: Optiker Kissling ist tot. Es sieht aus wie eine Hinrichtung. Genickschuss. Schmauchspuren am Einschuss. Keine Tatwaffe - also Mord. Der Tote hatte starke Feinde. Und denen ist jedes Mittel recht.

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Seitenzahl: 373

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Felix Huby

Bienzle und der Tod im Tauerntunnel / Bienzle und der falsche Mord

Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

HinweisBienzle und der Tod im TauerntunnelDie Hauptpersonen[1][2]Bienzle und der falsche MordDie Hauptpersonen[1][2]

›Bienzle und der Tod im Tauerntunnel‹ erschien 1977

unter dem Titel ›Tod im Tauerntunnel‹

 

›Bienzle und der falsche Mord‹ erschien 1979

unter dem Titel ›Sein letzter Wille‹

Bienzle und der Tod im Tauerntunnel

Die Hauptpersonen

Knut Jarosewitch

handelt erst mit Schmuck, dann mit gestohlenem Schmuck und am Ende mit Zitronen.

Hedwig Jarosewitch, geb. Bäuerle,

ist fortan eine schöne, im Übrigen nicht allzu gramgebeugte Witwe.

Geza Korbut

landet trotz ungarischer Vorfahren hinter schwedischen Gardinen.

Hannelore Schmiedinger

weiß mehr, als ihrer Gesundheit zuträglich ist.

Antonio Breda

lebt von kleinen Trinkgeldern und hat Angst, am großen Nebenverdienst zu sterben.

Heinrich (»Heini«) Bemsteiner

tanzt auf mehreren Hochzeiten.

Fontana

setzt sich eben noch rechtzeitig ab.

Irene Korbut

wird geliebt und liebt den Falschen.

R. A. Lothar Bäuerle

scheuet Recht und tuet nie was.

Max Grüner

tut eine ganze Menge und wird aus dem Verkehr gezogen.

Rosemie Stern

schreit, kratzt und kommt nicht mehr zum Beißen.

Die Weiße Wolke

heißt eigentlich Hans Hartmann und hat erstklassige Tischmanieren.

Hanna Bienzle

wartet, wartet, wartet – und hält das Essen warm.

Kriminalanwärter Haußmann

hat Grips, Glück und eine Freundin.

Kriminalmeister Gächter

hat keine Nerven, aber Phantasie.

Kriminalhauptkommissar Bienzle

hat gelegentlich die Nase voll.

Ernst Bienzle sitzt missmutig am häuslichen Küchentisch und stochert mit dem Kaffeelöffel in seinem Joghurtbecher herum. Er blinzelt zu Hanna, seiner Frau, hinüber. Den Bademantel hat sie nun schon seit mindestens zehn Jahren. Ich sollte ihr mal einen neuen schenken, denkt er und dann gleich: Wozu auch? Ein neuer Bademantel würde sie auch nicht verändern … Ernst Bienzle schiebt den Löffel in den Mund. Da lässt er ihn stecken, ohne den wabbeligen Joghurt hinunterzuschlucken.

»Guck net so«, mümmelt seine Frau, »du träumst. Ein Kriminalkommissar, der träumt …«

Er schaut sie unverwandt an und murmelt den Löffelstiel entlang: »Von wegen träumen …« Dann nimmt er den Löffel aus dem Mund, stößt ihn in den Plastikbecher zurück, steht auf, greift seinen Trenchcoat und eine abgewetzte angeschmutzte Aktentasche, imitiert einen Kuss aufs ungeordnete Haar seiner Ehefrau, verlässt das Häuschen am Stadtrand von Stuttgart, klettert in seinen VW-Variant, fährt, ohne zurückzusehen, los, hält drei Straßenecken weiter vor der Metzgerei Schäuffele, verlangt »ein Viertelpfund warmen Leberkäs«, erfährt, dass es um diese Zeit noch keinen warmen Leberkäse gibt, verlangt daraufhin »dreihundert Gramm kalten Leberkäs und ein Brötchen«, verbittet sich, dass die Metzgersfrau das Vesper einwickelt, schiebt das Stück Leberkäse mit einer Hand in den Mund, zahlt mit der andern, wirft der Frau hinter der Theke einen wütenden Blick zu, als sie sagt: »Sie sind wohl zur Zeit gerade wieder auf Diät gesetzt, Herr Bienzle?«, und macht sich auf den Weg ins Büro.

Im Autoradio hört er Nachrichten. Atomgegner haben wieder einmal erfolgreich das Gelände für ein geplantes Kernkraftwerk besetzt, die Polizei ist nach heftigen Auseinandersetzungen abgezogen. Die Besetzer richten sich auf längere Zeit ein, bauen jetzt ein Gemeinschaftshaus …

»Gut so«, murmelt der Kommissar. Vor einem Jahr hatte er den Diebstahl radioaktiven Mülls aus dem Kernkraftwerk in Weihersbronn und einen damit zusammenhängenden Mordfall zu klären. Seitdem sind seine Vorurteile gegen Atomkraftwerke womöglich noch gewachsen. Dann plötzlich richtet er sich hinter seinem Steuer ruckartig um wenige Zentimeter auf.

Knut Jarosewitch, ein in Stuttgart wohlbekannter Schmuckkaufmann, sagt die teilnahmslose Stimme des Sprechers, ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Am Hochtauern in Österreich haben Autofahrer den auf mehrere Millionen Vermögen geschätzten Kaufmann erschossen in seinem Wagen aufgefunden.

»Es gibt doch nichts Ungenaueres als solche Radionachrichten«, schimpft Bienzle. Knut Jarosewitch, der wohlbekannte Stuttgarter Schmuckhändler, der Hehler, den man nie zu fassen kriegte … Jetzt hatte ihn wohl einer zu fassen bekommen.

Bienzle empfindet keine Genugtuung. Er weiß, dass seine Kollegen oft versucht haben, den Juwelier zu überführen. Jeder in Stuttgarts Altstadt wusste, dass er Schmuck aus Einbrüchen aufkaufte, zerlegte, neu fasste und weiterverkaufte. Einmal im Sommerurlaub hatte Bienzle die Weiße Wolke, einen wegen seines Captagon-Verbrauchs so genannten Kleingangster, auf Mallorca getroffen. »Wie kommen Sie denn in so a feins Hotel?«, hatte Bienzle ihn gefragt. Nach drei Abenden und diversen Pernods an der Hotelbar wusste der Kommissar, dass dies erstens kein feines Hotel sei, gemessen an …, und dass zweitens ›eine Reisetasche voller Klunker bei Jarosewitch‹ noch alle Mal einen runden Pauschalbetrag von siebeneinhalb Riesen einbringe. Einzige Bedingung des Schmuckhändlers: der Lieferant müsse für zwei bis drei Monate verschwinden, am besten auf eine Insel weit weg, und da gebe es doch so billige Flüge mit Reisebüros nach Teneriffa oder Mallorca.

Ein paar Wochen später, daheim in der Weltstadt zwischen Wald und Reben, wollte die Weiße Wolke nichts mehr davon wissen. Der kleine Ganove war in die Polizeidirektion in der Dorotheenstraße gekommen, weil er im Vollrausch versucht hatte, einen Taxifahrer mit vorgehaltener Pistole dazu zu zwingen, einen Zwergesel, den er im Remstal auf einer Jugendfarm gestohlen hatte, in die Stadt zu fahren. Das war das einzige Mal, dass man bei der Weißen Wolke eine Waffe gesehen hatte.

Bienzle schiebt das letzte Stück Brötchen zwischen die Zähne und wischt seine Finger an der Seite seines Fahrersitzes ab. Missmutig schaut er auf seinen Bauch, über dem sich das weiße, jetzt mit Krümeln übersäte Hemd spannt.

 

Im Büro wirft er den Mantel über die offene Hängeregistratur, schiebt den Aktenberg von der rechten auf die linke Schreibtischseite, stellt das Radio an, sucht, bis er ein klassisches Konzert findet, und fixiert Karl Gächter, den schlaksigen Kriminalmeister, der ihm gegenübersitzt.

»Schon gehört?«, fragt der.

»Mhm, der Jarosewitch … Weiß man schon was?«

»Das ist wohl der verrückteste Mord seit langem«, grinst Gächter, der um nichts in der Welt bereit gewesen wäre, seine Story anders zu erzählen als so, wie er sie sich zurechtgelegt hat.

»Na dann, wenn du mal Zeit hast, kannst du’s mir ja erzählen«, sagt Bienzle, der um nichts in der Welt seine Neugierde eingestanden hätte, und griff nach der Akte Pedro Calvari.

»Pass auf«, sagt Gächter, »der Jarosewitch war wohl auf der Fahrt nach Bologna zum Boxkampf.«

»Alle Ganoven treffen sich bei den Boxkämpfen, das ist nicht neu«, mault der Kommissar.

»Richtig. Also, er fährt mit seinem Mercedes 450SE von Badgastein zur Autoverladestation am Tauerntunnel – was weiß ich, warum er den Umweg gemacht hat; durch die Schweiz nach Mailand und von da Autobahn ist viel näher … Na ja; Geschäfte wahrscheinlich. Jedenfalls, irgendwo kurz vor der Verladestation muss ihn der Täter überholt haben.«

»Du hast den Fall wohl schon gelöst? Woher willst du das denn wissen?«

»Weil ich da auch schon gefahren bin. Also: Jarosewitch zahlt seine Gebühr und fährt auf den Autozug … Verstehst du mich?«

»Nein, das ist mir zu kompliziert. Aber nimm keine Rücksicht.«

»Also: Er fährt da rauf, macht seinen Liegesitz lang und streckt sich aus. Der Zug fährt los, und zwar so, dass die Autos sozusagen rückwärts fahren.«

»Sozusagen?«

»Rein in den Tunnel. Und da ist es stockfinster.«

»Was du nicht sagst!«

»Der Täter sitzt drei oder vier Autos vor Jarosewitch. Jetzt macht er vorsichtig die Deckenbeleuchtung aus, öffnet die Tür, lässt sich hinausgleiten, schleicht an den Wagen entlang, unterhalb der Fenster, sodass man ihn nicht sehen kann, bis zum Mercedes von unserem Schmuckmillionär. Dann schnellt er plötzlich hoch, richtet seinen Revolver auf Jarosewitch, drückt ab, lässt sich fallen, kriecht zurück, schlüpft wieder in sein Auto und lässt sich gemächlich in die Polster sinken und nach Mallnitz kutschieren.«

Bienzle schaltet das Radio aus. »Spannend, spannend … Und wie sieht er in der Dunkelheit, wo er hinschießen muss?«

»Taschenlampe.«

»Sieht man doch. Fällt auf.«

»Ach, das merkt doch niemand. Ich meine, da macht doch jeder mal Licht.«

»Mündungsfeuer?«

»Das Gleiche. Da hat sich jemand ’ne Zigarette angesteckt.«M

»Und den Schuss hat keiner gehört?«

»Mitten im Tunnel? Und vielleicht hat er sogar noch einen Schalldämpfer gehabt.«

»Mhm …«

»In Mallnitz auf der anderen Seite des Tunnels wird die Rampe wieder angebracht; die Autos fahren nach vorne runter. Der Täter fährt, dann der Nächste, dann der Übernächste und so weiter. Und dann wäre Jarosewitch dran. Aber der fährt nicht. Liegt da ruhig in seinem zurückgestellten Sitz und fährt nicht. Der Hintermann hupt. Hupt einmal, zweimal – der Mercedes rührt sich nicht von der Stelle. Jetzt steigt der Fahrer aus, und von vorn kommt ein Bahnbeamter. Sie erreichen den Mercedes zur gleichen Zeit und sehen den Toten. Da liegt er mit einem Loch im Kopf, und das Blut rinnt ihm am Nasenbein entlang.«

»Du solltest vielleicht Krimischreiber werden«, brummt Bienzle.

»Der Chef hat gesagt, du sollst gleich rüberkommen, wenn du da bist«, antwortet Gächter unbeeindruckt.

»Das fällt dir jetzt erst ein?«, schimpft Bienzle, und dann brüllt er: »Mensch, iss nicht, solange ich zugucken muss!«

»Du gehst ja jetzt zum Chef«, grinst Gächter und beißt von seinem Leberwurstbrot ab. Und dann: »’tschuldige, ich hab ganz vergessen, dass du wieder mal erfolgreich hungerst.«

An der Tür dreht sich Bienzle noch einmal um und fragt: »Und der Täter?«

»Was ist mit dem Täter?«

»Ja eben – was ist mit ihm? Hat man ihn gefasst?«

»Das sollst ja wohl du tun. Bis die auf dem Zug gemerkt haben, was los war, ist der doch längst davongefahren.«

»Oh, du liabs Herrgöttle von Biberach, wia hent di d’ Mucke verschissa!«

Mit diesem seinem Lieblingsspruch zieht Bienzle die Tür leise hinter sich zu.

 

Der Chef der Kriminalpolizei, Direktor Karl Hauser, Schwabe wie Bienzle, kennt den Leiter der Mordkommission seit gemeinsamen Schultagen. Sie waren beide im traditionsreichen Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasium ›erzogen‹ worden – Bienzle bis zur mittleren Reife, Hauser bis zum Abitur. Trotz allem macht Bienzle mit Hauser eine Ausnahme in seiner abgrundtiefen Abneigung gegen alle ›Schtudierte‹.

»Sie haben mich rufen lassen, Herr Direktor.«

»Ich hab g’sagt, do sollscht rüberkomme«, sagt der und stellt damit die zwischen ihnen üblichen Gesprächsbedingungen her. »Du hast ja sicher die Jarosewitch-Sache schon gehört.«

»Ja, aber die spielt in Österreich.«

»Die Sache spielt zum Teil wohl auch hier. Unsere schnellen österreichischen Kollegen haben nämlich festgestellt, dass sich der Täter offensichtlich bereits wieder auf den Rückweg begeben hat.«

»So.«

»Ja, ein grüner Porsche mit Waiblinger Kennzeichen ist einem italienischen Autofahrer aufgefallen, weil er wenige Kilometer nach Mallnitz auf der Straße gewendet hatte, zum Bahnhof zurückgefahren war und sich auf den nächsten Zug stellte, um offensichtlich nach Badgastein zurückzukutschieren.«

»Der hat Nerven. Und warum hat ihn keiner gestellt?«

»Also ehrlich, Ernst – hättest du so schnell geschaltet? Der Gegenzug fuhr sechs Minuten nach Ankunft wieder Richtung Grenze, da hatten sich die Ortspolizisten noch nicht einmal vom Schrecken erholt.«

»Ein Killer mit Konzept«, sagt Bienzle und wuchtet sich aus dem Besuchersessel hoch. »Und wo ist der Waiblinger Porsche jetzt?«

»Zwei Kilometer südlich Ortsausgang Badgastein im Straßengraben. Der Porsche war gestohlen, und die Nummer war gefälscht, die gehört nämlich zu dem Ford Granada eines über jeden Verdacht erhabenen Gastwirts in Murrhardt, Kreis Waiblingen.«

»Sei so gut und red nicht von Gastwirtschaften!«

Hauser grinst unverschämt.

»Also«, sagt Bienzle, »Jarosewitch fährt nach Bologna zum Boxkampf – warum er den Umweg über Österreich macht, wissen wir nicht. Vermutlich ist dort das übliche Ganoventreffen – Hehler, Zuhälter und Einbrecher unter sich; die Gemeinde eben. Das muss einer gewusst haben. Und das mit dem Umweg auch. Sein Killer wartet am Ortsausgang Badgastein, bis der Mercedes auftaucht; er hängt sich dran, schießt rechtzeitig vorbei, um ein paar Wagen vor Jarosewitch auf den Zug zu kommen – und so weiter …«

»Und woher willst du wissen, dass er nicht am Bahnhof gewartet hat?«

»So etwas weiß Gächter, der Episodenerzähler, und meistens geben unsere Ermittlungen seinen phantasievollen Theorien recht … Aber es spricht ja auch so einiges für diese Version: Der Mörder knallt unseren Schmuckhändler im Tunnel ab, fährt vom Zug herunter, wendet, sobald er außer Sichtweite ist, und während auf dem einen Zug die große Verwirrung herrscht, fädelt er sich seelenruhig auf dem Gegenzug ein … Sauber, sauber! Und dann schmeißt er die Karre weg und steigt in das Auto irgendeines freundlichen Komplizen, der ihn erwartet. Wahrscheinlich hat der ihn bis zum nächsten Bahnhof gefahren, und unser Killer hat den nächsten bequemen Zug genommen. Oder er macht wohlverdiente Ferien im sonnigen Badgastein … Do kenntescht auf der Sau naus!«

»Ja, ja, so wird’s schon gewesen sein. Und die Mordwaffe …«

»… liegt in der Breitachklamm oder wie der Bach dort heißt«, sagt Bienzle und lässt sich in den Besuchersessel fallen.

»Die österreichischen Kollegen haben uns freundlicherweise einen Ermittlungsauftrag zukommen lassen. Du musst versuchen, an die Sache ranzukommen«, sagt Hauser, und das klingt überhaupt nicht sonderlich hoffnungsvoll.

»Ein Fall für Bienzle«, höhnt der. »Kein Hinweis, kein Indiz, keine Mordwaffe und allenfalls ein verschwommenes Motiv. Weiß ich denn, ob seine Alte …«

»… die ist gerade fünfundzwanzig geworden …«

»Ist doch mir egal«, sagt Bienzle.

 

Aber so egal ist es ihm dann doch nicht. Als er seinen VW vor der Villa in der Hasenbergsteige abgestellt hat und am Gartentor klingelt, rückt er die Krawatte förmlich zurecht und schaut unbehaglich auf den gepflegten englischen Rasen und die alten Bäume. Zu reichen Leuten geht Bienzle nicht gern. Es macht ihn befangen, in Räumen umherzugehen, die für seine Begriffe allenfalls ins Kino gehören.

Ein junger Mann, begleitet von einer riesigen Dogge, kommt ans Tor. Bienzle zeigt wortlos seinen Ausweis und wird mit einer leichten Verbeugung eingelassen.

Von der Haustür bis zur Zimmertür am Ende der Diele ist es fast so weit wie vom Gartentor zum Haus. Die Frau sitzt am Panoramafenster mit Blick über Stuttgarts Innenstadt bis hinauf zum Fernsehturm. Sie ist in schlichtes Schwarz gekleidet. Bienzle fällt einer der bösesten schwäbischen Männersprüche ein: Manchmal wenn de a andere Frau siehscht, merkscht erscht, was da dahoim für an Kruscht hascht! Dann räuspert er sich, geht auf die Dame zu, von der er aus den Akten weiß, dass sie einst im ›Chez Nous‹ den Gästen Wasser in den Wein tat, gibt ihr die Hand und sagt: »Sie gestatten, dass ich mir Beileidskundgebungen erspare.«

Hedwig Jarosewitch, geborene Bäuerle, Spross aus einer Tuttlinger Schreinerfamilie, ist verwirrt und nickt nur.

Bienzle weiß nicht, wo er anfangen soll. In Krimis ist das immer ganz einfach. Da haben die Edelganoven auch schöne junge Frauen, die ursprünglich aus weniger betuchten Kreisen stammen, aber die sind dann berechnend und versuchen den Polizisten zu verführen.

Bienzle wollte noch keine verführen. Dabei sieht er gar nicht so schlecht aus. Er ist 1,88 Meter groß, breitschultrig und, abgesehen von seinem ausgeprägten Bauchansatz, nicht zu dick. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, die Nase etwas zu lang, das Kinn etwas zu weit vorgestreckt, die Stirn zu hoch im Verhältnis zur übrigen Gesichtsfläche, aber alles in allem ist es ein guter, kantiger Kopf, den er da mit sich herumträgt. Seine schwarzen Haare fallen lockig rechts über die Stirn, wenn er den Kopf bewegt. Und die Augen, eines braun und eines braungrün, sehen immer nachdenklich aus – ›tief‹, sagen manche Frauen und andere ›warm‹. Dass Bienzle keinen Erfolg bei Frauen hat, liegt an seinem Phlegma. Er bemüht sich nicht. Nicht dass er kein Interesse hätte, aber da müsste schon eine einen sehr geschickten Anfang machen, damit es auf ihn nicht berechnend oder nuttig wirken würde, und die keinen Anfang machen, an die traut er sich nicht heran. Und im Übrigen ist da ja auch noch Hanna, die er zwar schon lange nicht mehr liebt, aber mit der es sich leben lässt. Bienzle ist jetzt über vierzig und denkt manchmal, dass er bald anfangen müsste, wenn er nochmal neu anfangen wollte.

Vor dem Fenster blüht ein ausladender Jasminstrauch. Es ist knisternd heiß; so ein Wetter, das einen Kriminalkommissar, der sich nicht an strenge Dienststunden halten muss, schon einmal dazu bringt, einfach hinauszufahren in den Schönbuch oder auf die Schwäbische Alb, sich ins hohe Gras zu legen und in den Himmel zu gucken, wie die Zeit vergeht.

Aber Ernst Bienzle ist in einem Trauerhaus. Er schwitzt und schweigt, bis Hedwig – wie kann eine solche Frau nur Hedwig heißen? – sagt: »Was möchten Sie denn, Herr Inspektor?«

»Ich bin Hauptkommissar, aber das macht nichts.« Er merkt sofort, dass das ein blöder Satz ist.

Sie sagt: »Setzen Sie sich.«

Er tut’s.

»Wenn Sie mir jetzt alle Fragen stellen wollen, die man immer so hört, also ob mein Mann Feinde hatte, was er vorhatte, ob er mit jemand Streit hatte – ich weiß gar nichts.«

»Natürlich …« Dann gibt er sich einen Ruck: »Ihr Mann hatte Feinde, und die kenne ich zum Teil; was er vorhatte, weiß ich ungefähr, und ob er mit jemand Streit hatte, wird sich herausstellen … Sind Sie gut mit ihm ausgekommen?«

»Er ist … Er war mein Mann!«

»Als ob das was heißen müsste«, sagt Bienzle, mehr zu sich selbst und ohne auf Hedwigs Empörung zu achten. »Hätten Sie einfach ›ja‹ gesagt oder vielleicht ›ich hab ihn lieb gehabt‹ … Aber es ist egal.«

Sie fährt auf, will etwas entgegnen, überlegt sich’s dann aber anders.

Bienzle sitzt da und weiß nicht recht, was er sagen soll. Da ist ein Mordfall, und man fängt an zu recherchieren. Irgendwo. Bienzle hat sich noch nie hingesetzt und einen Plan gemacht, wie er vorgehen wollte. Strategie ist ein Wort, das ihm nichts bedeutet. Aber ein Maigret ist er auch nicht, wenn auch die örtlichen Zeitungen ihn manchmal den ›Nesenbach-Maigret‹ genannt haben (Stuttgart liegt am Nesenbach und nicht am Neckar, wie viele glauben). Bienzle ist zäh, ausdauernd, geduldig, wenn er arbeitet.

Er hat Durst. Schluckt zweimal trocken und fasst sich verstohlen an den Hals. Hedwig fragt sofort, ob er etwas zu trinken wolle, und er kann sich selbst nicht erklären, warum er »Nein, danke« sagt.

Die meisten Fälle löst er, und oft ist er hinterher selbst erstaunt, wie das gekommen ist. Dem fällt alles zu, sagen die gutgesinnten Kollegen, und Leute im Präsidium, die ihn nicht mögen, sagen, dem lauft dr Rotz rückwärts nuff – was freilich nur Schwaben verstehen.

»Was wollte Ihr Mann in Italien?«, fragt Bienzle.

»Er war geschäftlich unterwegs.«

»An- oder Verkauf?«

»Das hat er mir nicht gesagt. Ich weiß nur, dass er zuerst nach Bologna und dann nach Florenz wollte.«

»Wissen Sie, mit wem er verabredet war?«

»Nein.«

»Hat er Ihnen eine Adresse hinterlassen, unter der Sie ihn hätten erreichen können?«

»Nein.«

»Das glaube ich nicht«, sagt Bienzle, »ein so bedeutender Geschäftsmann kann doch nicht für Tage geschäftlich verreisen, ohne zu hinterlassen, wo man ihn erreicht.«

»Ich kann’s nicht ändern«, sagt sie. Und dann mit leicht angehobener Stimme: »Ach, Heini – bring mir doch einen Kaffee!«

Heini, der junge Mann, der Bienzle eingelassen hat, muss die ganze Zeit in Hörweite gestanden haben.

»Kommt gleich«, sagt er von der Tür her.

»Glauben Sie, dass jemand anders eine Ahnung haben könnte, wo er verhandeln wollte, in welchem Hotel er absteigen wollte und so weiter?«, fragt Bienzle müde.

»Vielleicht das Sekretariat.«

Das klingt wie bei einem Minister oder doch bei einem Staatssekretär, denkt Bienzle; das Sekretariat … »Wissen Sie, mit wem er in den letzten Tagen in Verhandlungen stand? Hier in Stuttgart, meine ich.«

»Nein.«

»Kein Besuch?«

»Nur Freunde.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht, was Sie das anginge.«

»Wie alt war der selige Verstorbene?«, fragt Bienzle.

Ehe sich Hedwig wundern kann, sagt sie: »Einundsechzig.«

Der Kaffee kommt. Bienzle bekommt auch eine Tasse und ist froh darüber. Es ist schon nach zwölf, und Bienzle verspürt Hunger. Er denkt an warmen Leberkäs.

»Irgendjemand muss Interesse an seinem Tod gehabt haben – und zwar einer, der sein Handwerk versteht«, philosophiert Bienzle und rührt in seinem Kaffee, »oder einer, der jemand bezahlen kann, der sein Handwerk versteht …« Und nach einer kleinen Pause: »Sie können mir wohl gar nicht helfen, Frau Jarosewitch?«

»Nein.«

»Es sieht – entschuldigen Sie – ganz so aus, als ob Sie gar kein Interesse an der Aufklärung des Mordes hätten. Sie geben sich nicht einmal Mühe, sich zu erinnern«, sagt er lahm.

»Er ist tot.«

Bienzle scheint es, als ob sie dabei ein wenig gelächelt hätte. Er steht auf und sagt: »Ich werde wohl in ein paar Tagen wiederkommen, vielleicht auch früher. Dann weiß ich mehr. Und dann werde ich Ihnen ganz andere Fragen stellen.«

Sie sieht ihn verständnislos an.

Schön, aber dumm, denkt er und ist sicher, dass sie sich nicht verstellt. Er packt seinen hellen Mantel, nickt ihr zu, sagt: »Ich finde raus.« An der Tür steht die Dogge und knurrt.

»Vorsicht!«, sagt der junge Mann.

Bienzle geht auf den Hund zu, krault ihn hinter dem Ohr, fasst ihn unter der Schnauze und sieht ihm in die Augen. »Das wäre der erste Hund, der mich beißt«, sagt er und verlässt die Villa.

 

Vorbei an den Prachtbauten rollt sein Wagen durch die enge Villenstraße talwärts. Da rechts liegt das Haus des berühmten Bildhauers, dessen ›Platzmale‹, bunte Plastiken, in der Stadt herumstehen, als ob sie dem hochragenden Beton etwas anhaben könnten. Unter einer riesigen Kastanie steht ein Telefonhäuschen. Bienzle ruft Gächter an.

»Schick mal einen, der das kann, hier rauf; er soll das Haus der seligen Witwe beobachten. Ich will wissen, wer kommt und geht. Ich bleib hier, bis er da ist.«

Auf der anderen Straßenseite steht eine Bank. Bienzle setzt sich in die Sonne und ärgert sich, weil er Gächter nicht gesagt hat, der Kollege soll ihm etwas zu essen mitbringen. In den Zweigen sitzen zwei Vögel und zwitschern sich zu. Die Sonne scheint auf Bienzles Beine; er streckt sich wohlig aus und zündet sich eine Schimmelpenninck Febrero an. Jede Woche versucht er andere Zigarren und Zigarillos und kehrt immer reumütig zu den Vierzigern in der Blechschachtel zurück.

Ein Volvo kommt den Weg heraufgeschossen. Zu schnell für diese Straßenführung. Bienzle blinzelt und notiert sich die Nummer im Kopf. Kaum ist das Auto außer Sichtweite, da hält es auch schon mit quietschenden Bremsen. Könnte vor Jarosewitchs Haus sein, denkt Bienzle. Er summt vor sich hin: »Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt …« Er denkt an zu Hause. An das Dorf mitten im Wald, an Heu, an Most, Schwarzbrot und Speck. »Lange Sommernächte, lange Gräser«, sagt er vor sich hin, ohne sich richtig daran zu erinnern, dass das aus einem der Gedichte ist, die er als Sechzehnjähriger zu Dutzenden geschrieben hat.

Als der junge Kriminalanwärter Haußmann kommt, ärgert sich Bienzle, denn jetzt muss er aufstehen und weitermachen. »Ein stahlblauer Volvo, S-ZW984«, sagt er. »Ein Mann drin, Schnauzbart und Schiebermütze. Ich muss wissen, wer er ist und was er da will.«

»Klar«, sagt der junge Kollege. Er hat seinen Ford hinter Bienzles VW geparkt.

»Das Auto lassen Sie hier stehen. Das Haus ist zirka hundert Meter weiter oben. Und Vorsicht – es gibt da einen bissigen Hund.«

Haußmann nickt und fragt: »Haben Sie hier irgendwo einen Blumenladen gesehen?«

»Nein, aber wenn Sie Blumen für Ihre Braut kaufen wollen, verwelken die nur, bis Sie das Mädchen treffen.«

»Ich dachte mehr an einen Trauerstrauß«, sagt der junge Beamte.

»Pfiffig«, meint Bienzle und denkt dann doch, den werde ich mir mal merken; kreativer junger Beamter … Dann fährt er stadtwärts.

Stuttgarts City ist ein Kessel, in dem die Luft stockt, weil besonders begabte Städtebauer Straßen und Häuserblocks im Süden der Stadt so platziert haben, dass eine Luftzirkulation nicht mehr möglich ist. Der Kommissar atmet schwer, als er das Juweliergeschäft Jarosewitch in der Königstraße durch den Hintereingang betritt. Vorn hängt ein Schild Wegen Trauerfalls geschlossen. Vor der Bürotür bleibt er stehen.

Drinnen scheint die Trauerfeier im Gang zu sein. Lachende, lärmende Stimmen dringen heraus. Bienzle klingelt. Eine junge Frau öffnet. Sie trägt ein schwarzes Kleid und lacht.

»Kann man ein bisschen mitfeiern?«, fragt Bienzle und zeigt seinen Ausweis.

Drinnen ist die Luft zum Schneiden. Ein Fünf-Liter-Fässchen Bier steht auf dem Tisch; Käsestückchen, Brezeln und belegte Brötchen sind wohlgeordnet auf einem Tablett aufgebaut. Außer der Frau, die ihm geöffnet hat, sind noch zwei junge, adrett gekleidete Männer und zwei Mädchen im Zimmer. Die Atmosphäre riecht nach Betriebsfest.

Die werden trinken bis heute Abend, dann – leicht besäuselt – werden sie das Licht nicht anschalten, wenn’s dunkel wird, ein wenig tanzen, sich anfassen, girren, lachen, sich sträuben und nachgeben … Wer mit wem?, denkt Bienzle und sieht sie der Reihe nach an. »Sie sind alle hier angestellt?«, fragt er.

Die fünf jungen Leute nicken.

»Kein Grund, außer Stimmung zu kommen«, sagt Bienzle. »Das Leben geht weiter; Spaß muss sein, und wenn’s bei der Beerdigung ist …«

Betretene Gesichter.

»Machen wir’s kurz«, sagt Bienzle. »Wer ist die Sekretärin von Herrn Jarosewitch?«

Die Dame, die ihm geöffnet hat, meldet sich wie eine ertappte Schülerin in der Untertertia.

»Ich nehme an, Sie wissen auch nicht, was Ihr Chef in Italien vorhatte?«

Ehe die Frau etwas sagen kann, antwortet einer der jungen Männer schnell: »Er hat uns nie etwas gesagt. Ich habe noch nirgendwo gearbeitet, wo man so wenig über das wusste, was eigentlich im Geschäft los ist. Wir haben verkauft – weiter nichts.«

Bienzle registriert, wie die andern den vorschnellen Redner erstaunt anschauen. »Dann möchte ich einmal mit Ihnen und der Sekretärin unter sechs Augen reden«, sagt er. »Gibt’s hier noch ein anderes Zimmer?«

»Natürlich – das vom Chef«, sagt die junge Frau.

»Na denn … Die andern können weiterfeiern.« Bienzle geht zum Tisch, nimmt sich das größte Wurstbrötchen und geht durch die gepolsterte Tür an der Stirnseite. Und dann bleibt er erst einmal stehen, um tief einzuatmen.

Das Büro ist mindestens achtzig Quadratmeter groß. Dicke, vermutlich echte Teppiche liegen in Schichten übereinander. An der Wand hängen offensichtlich originale Werke des Malers und Bildhauers, an dessen Villa Bienzle vor einer Stunde vorübergefahren ist. Breite Ledersessel, zu einem Halbkreis gruppiert, stehen um einen acht Quadratmeter großen niedrigen Tisch, dessen Platte aussieht, als sei sie aus Onyx oder sonst etwas Wertvollem. Hinter dem ausladenden Schreibtisch steht ein Recaro-Autorennsitz auf einem Rollengestell. Bienzle zwängt sich hinein und stellt fest, dass er wie angegossen sitzt. Gar nicht einmal unbequem.

»Herr Jarosewitch hatte es mit der Bandscheibe«, sagt die Sekretärin, »und seit er auf die Idee kam, diesen Spezialsessel anzuschaffen, bekam er viel weniger Schmerzen beim Sitzen.«

»Gute Idee.« Bienzle schaut die Frau genauer an: rote Haare, schmales weißes Gesicht. Sie hat grüne Augen wie eine Katze, denkt er und stellt fest, dass sie sehr zierlich gebaut ist. Ein zerbrechliches Wesen, zu dem die tiefe Altstimme nicht passt … »Wie heißen Sie?«, fragt er und weiß sogleich, dass er ihren Namen nicht vergessen wird.

»Hannelore Schmiedinger.«

»Und Sie?«, fragt Bienzle den Mann, einen knapp 1,65 Meter großen stämmigen Kerl von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Seine schwarzen Haare sind straff nach hinten gekämmt; straff wirkt auch der schmale Oberlippenbart. Die Augen sind ebenfalls schwarz, und die Backenknochen stehen etwas vor. Schmale Augenbrauen, über der Nasenwurzel zusammengewachsen … Gibt ihm was Verschlagenes, denkt Bienzle. Aber er weiß auch, dass man sich auf solche ersten Eindrücke nicht verlassen kann.

»Ich heiße Korbut – Geza Korbut.«

»Das ist auch nicht gerade ein schwäbischer Name.«

»Meine Eltern stammen aus Ungarn«, sagt Korbut.

»Setzen Sie sich doch«, sagt Bienzle, »und erzählen Sie mir einmal, warum Sie so lustig sind.«

Langes Schweigen.

Dann sagt die junge Frau: »Er war kein guter Mensch, aber er hat hervorragend bezahlt.«

»Hanni!« Korbut schüttelt den Kopf.

»Ich kannte ihn«, sagt Bienzle und sieht das Mädchen an.

Hannelore Schmiedinger hält dem Blick stand, bleibt daran hängen. Der hat einmal schöne Augen, denkt sie. Sie kann nicht wegschauen, und ihm geht es ähnlich … Sie sieht aus wie jemand, der Schutz braucht, denkt er.

Geza Korbut wird unruhig. »Sie sind hier nicht richtig, Herr Polizist«, sagt er. »Wir wissen nichts.«

»Ihr wisst, dass Jarosewitch mit den Ganoven aus der Altstadt gehandelt hat. Dass er Schmuck wie Ramsch aufkaufte, bearbeiten ließ und dann wieder verscherbelte … Herr Korbut, was haben Sie für eine Berufsausbildung?«

»Ich bin Schmuckverkäufer.« Es kommt ein bisschen hastig.

»Er ist Goldschmied«, sagt die Sekretärin ganz ruhig und ohne Korbut anzusehen.

»Danke Ihnen«, sagt Bienzle, zu der Frau gewandt, und steht auf. »Wo hätten Sie Ihren Chef erreicht, wenn Sie ihn heute oder morgen in Bologna oder Florenz hätten auftreiben müssen?«

»Er wollte nicht nach Bologna oder Florenz«, sagt Frau Schmiedinger. »Im Hotel Palazzo in Venedig … Da sollte auch Geza morgen hin …«

»Sag mal – bist du verrückt?« Korbut springt auf. Dann, zu Bienzle gewandt: »Die weiß ja gar nicht, wovon sie redet!«

So ein Glücksfall, denkt Bienzle; die andern werden wieder sagen, dem fällt alles zu … Hätte ich die Frau alleine vernommen, dann hätte der Korbut hinterher einfach alles geleugnet. Jetzt hat er sich verraten … »Gut«, sagt er zu Korbut, »Sie wären also morgen hingeflogen. Kurier aus Stuttgart; jede Menge gestohlenen Schmuck im Koffer …«

»Das ist doch alles kompletter Unsinn!« Der junge Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Das muss nicht Angst sein«, sagt Bienzle, »wenn Sie jetzt schwitzen – mir ist auch warm. Aber es könnte Angst sein …« Er notiert sich die Adressen der beiden und sagt zu Korbut: »Ich würde Sie gern heute Abend in die Altstadt auf ein Bier einladen. Beim Quellenwirt.«

Korbut glotzt ihn entgeistert an. Dann rafft er sich zusammen: »Ich gehe Bier trinken, mit wem ich will. Und mit Ihnen will ich bestimmt nicht!«

»Macht nichts«, sagt Bienzle, »ich werde da sein – so gegen neun. Und wenn Sie Lust haben …« Ohne Korbut anzusehen, geht er zurück ins Sekretariat, zapft sich ein Bier und leert das Glas in einem Zug. Dann fragt er in den Raum hinein, ohne jemand anzusehen: »Warum ist er durch den Tauerntunnel, wenn er nach Venedig wollte – ist doch ein Umweg?« Er bekommt keine Antwort und fährt deshalb unvermittelt fort: »Wir werden hier alles durchsuchen müssen … Ist irgendetwas verändert worden, seit der Tod bekannt ist?«

»Der Bruder von Frau Jarosewitch war heute Morgen da. Herr Bäuerle, der Rechtsanwalt«, sagt Hannelore Schmiedinger.

»Wie die Tuttlinger Schreinerkinder doch alle Karriere machen!«, staunt Bienzle. Er spricht nicht sehr deutlich, denn er hat sich eine Brezel geangelt und ein großes Stück abgebissen. »Weiß jemand, was der Herr Bäuerle für einen Wagen fährt?«

»Einen blauen Volvo«, sagt einer der jungen Schmuckverkäufer.

»Das habe ich mir gedacht …« Man erfährt ja allerlei, denkt Bienzle, wenn man dumme Fragen stellt. Aber im Mordfall Jarosewitch bin ich nicht wesentlich weitergekommen … Die Pflicht ruft.

Bienzle beschließt spontan, der Pflichterfüllung die angenehmste Seite abzugewinnen. Er wird sich diese Frau Schmiedinger später noch einmal vornehmen – allein.

 

Klingenbergstraße 17. Das Haus steht an einer der vielen Treppen in Stuttgart. Mit dem Wagen ist da nicht ranzukommen. Bienzle muss sich entscheiden, ob er oben oder unten an der Treppe parkt. Natürlich entschließt er sich für oben. Wäre ich die Stufen von unten hinaufgestiegen, wären das bestimmt ein paar Kalorien gewesen, denkt er, aber dann wäre ich ziemlich atemlos bei der Schmiedinger angekommen … Der Gedanke war ihm unangenehm.

»Darf ich reinkommen?«, fragt er die junge Frau.

»Bitte«, sagt sie.

Sie trägt einen bequemen, türkisfarbenen gestrickten Hausanzug. Achtundzwanzig, schätzt Bienzle; höchstens dreißig … Die Wohnung ist klein, aber originell eingerichtet. Die Stereoanlage gibt die Originalmusik aus dem ›Clou‹ wieder. Bienzle pfeift ein bisschen mit. Das Haus ist eng an den Berg gebaut. Am Eingang hatte er ein paar Stufen bis zur Tür hinaufklettern müssen. Hier in ihrer Wohnung, auf der anderen Seite des Hauses, steigt die Böschung vom Fensterbrett an steil nach oben, bis zu einem schmalen Kamm, auf dem ein Spazierweg entlangführt.

»Haben Sie hier auch manchmal Sonne?«, fragt er.

»Nein, nie. Aber es macht mir nichts aus. Ich bin ja nur abends da, und am Wochenende fahr ich meistens weg.«

Bienzle setzt sich in einen Safarisessel und schaut auf ein schmales, hohes Poster, von dem ihn eine Katze anstarrt. Sekunden später springt ihr Ebenbild auf seinen Schoß. Bienzle krault das Tier und überlegt, wie wohl Hanna in einem solchen gestrickten Hosenanzug aussehen würde. Er schüttelt sich ein wenig.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragt seine Gastgeberin.

»Nicht besonders«, murmelt er und weiß nicht einmal, ob er Recht hat. Dann sagt er unvermittelt: »Sie wissen mehr, als Sie mir heute Vormittag gesagt haben.«

Und zu seinem Erstaunen sagt sie: »Viel mehr. Sehr viel mehr, und wenn Sie nicht zu mir gekommen wären, hätte ich Sie aufgesucht … Ich habe schon vor einigen Wochen angefangen, mir Gedanken zu machen. Da kamen gewisse Leute, die sich immer vorher angemeldet hatten, telefonisch, meine ich, bei mir … Die nannten sich Max oder Philipp oder Axel – nie ein Nachname oder so. Die gaben mir eine Zeit an, und der Chef schickte mich jedes Mal weg, ehe die Leute eintrafen. Einmal bin ich aber nur zur Toilette gegangen und wollte dann nochmal zurück in mein Zimmer. Da merkte ich, dass die Gegensprechanlage noch eingeschaltet war. Ich weiß nicht, warum, auf jeden Fall hörte ich, dass einer der Besucher – an diesem Tag hatten sich einer namens Max und einer namens Willi angemeldet – dem Chef drohte. Genau weiß ich nicht mehr, was sie sagten, aber irgendetwas mit reinlegen, und entweder er spiele mit, oder er müsse die Konsequenzen tragen … So ähnlich.« Sie lächelt. »Ich bin neugierig, das gebe ich zu, aber …«

Den Schuss und das Fensterklirren hört Bienzle gleichzeitig, Bruchteile von Sekunden später Hannelore Schmiedingers Schrei. Die Katze stößt ihre Krallen in seinen Schenkel; er springt auf und rennt mit dem beißenden und schreienden Vieh am Bein zum Fenster, reißt es auf, krabbelt den Hang hinauf, die Katze lässt nicht los, er hört einen zweiten Schuss pfeifen, wirft sich hin, robbt weiter; ein Motor heult auf – ein Motorrad? Ein Moped? Er richtet sich auf, stolpert, setzt sich auf den Hintern und lässt sich zum Fenster zurückrutschen.

Hannelore Schmiedinger liegt regungslos am Boden. Ihre schmale Brust hebt und senkt sich kaum merklich. Blut sickert unter dem roten Haar hervor – ein anderes, tieferes Rot. Bienzle greift automatisch zum Telefon, alarmiert die Kollegen, bittet um einen Krankenwagen und wirft sich in den Sessel. Der Kommissar, dem alles wie von selbst gelingt, dem alles zufällt … Der Nesenbach-Maigret hat zugesehen, wie man seine wichtigste Zeugin zu ermorden versuchte … Er starrt die Frau an. Wie schön sie ist, denkt er, und wie zerbrechlich. Sie hätte Schutz gebraucht und Hilfe …

Draußen flirrt der Sommerabend. Die Katze ist zurückgekommen und sitzt mauzend am offenen Fenster. Bienzle ist wie gelähmt. Er fürchtet sich vor der Apathie, die ihn überfällt. Seine Hände schließen und öffnen sich mechanisch; er merkt es nicht.

Als die Streife kommt, sitzt er noch immer da wie betäubt. Er lässt die Kollegen die Arbeit machen, geht hinaus, steigt langsam hinauf zum Eugensplatz. Er zählt die Stufen, kommt auf vierhundert. Die glatte Zahl befriedigt ihn irgendwie. Er setzt sich in sein Auto und hockt reglos hinter dem Lenkrad.

Nach einer Weile lässt er den Motor an, reißt den ersten Gang hinein, gibt Gas und lässt die Kupplung schnappen. Der Wagen macht einen Satz nach vorn und nimmt einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt. Bienzle hat ein Gesicht, das selbst seine Frau nicht wieder erkennen würde.

Der Kommissar ist auf dem Weg zum Quellenwirt in die Altstadt.

 

Den Wagen stellt Bienzle hinter der Leonhardskirche ab und geht die paar Schritte zum Quellenwirt zu Fuß. In der Kneipe ist es laut wie immer, und die Luft ist zum Schneiden. Ein Musiker spielt auf der Hammondorgel, begleitet von einem automatischen Rhythmusgerät, ›Blue Spanish Eyes‹. Der Wirt, breit und behäbig, wischt mit einem feuchten Tuch die Theke ab und starrt dem Kommissar ins Gesicht.

»Des bedeutet nix Gut’s, wenn Sie kommet«, murmelt er und stellt Bienzle ungefragt ein Bier hin.

Ein paar Männer verdrücken sich. Anna, die Bedienung, sammelt das Geld ein, das sie auf den Tischen zurückgelassen haben, und kommt zur Theke. Sie ist zu dick. Ihre weiße Bluse kämpft ständig um den Anschluss an den Rockbund. Ohne Erfolg.

»Ja«, sagt Bienzle, »das bedeutet nichts Gutes.«

»Es hat noch nie was Gutes bedeutet«, sagt der Wirt. »Aber wenn Sie’s schon zugeben …«

»Stuttgart war mal eine ganz anständige Stadt«, sagt Bienzle, »sogar in der Altstadt.« Das Bier trinkt er in einem Zug leer und schiebt das Glas über den Tresen.

»So isch’s no au wieder«, sagt der Wirt und dreht den Bierhahn auf.

Bienzle geht zu einem Ecktisch, an dem drei Stammgäste mit einem Mann, dem leicht anzusehen ist, dass er vom Land in die Stadt gekommen ist, um etwas zu erleben, ›Fingerhütchen‹ spielen. Eine Erbse wird auf den Tisch gelegt, der Spieler schiebt eines von drei Fingerhütchen darüber, fährt mit allen dreien hin und her, wechselt blitzschnell von einer Hand in die andere und fragt schließlich: »Na, wo steckt sie?« Der fremde Gast deutet auf einen Fingerhut; der Spieler hebt ihn hoch. »Nichts«, sagt er; »fünf Mark für mich.«

Bienzle hebt die drei Fingerhüte hoch, zieht aus einem einen Wattebausch mit der Erbse drin. »So einfach ist das«, sagt er. »Die Erbse steckt in der Watte. Egal welchen Fingerhut man hochhebt, die Erbse findet man nie auf dem Tisch … Verbotenes Glücksspiel. Gebt dem Mann sein Geld zurück.«

Die drei schieben Geldscheine über den Tisch. Bienzle geht zum Tresen zurück. ›Der Polizist unterliegt dem Verfolgungszwang‹ – so hat er es gelernt. Eigentlich müsste er die Personalien der drei aufnehmen und den Kollegen vom Betrugsdezernat weitergeben. Er dreht sich nochmal um: »Haut ab, bevor ich mir’s anders überleg!« Das Ganoventrio zahlt und verdrückt sich hastig. Der Provinzonkel auch.

Bienzle schüttet das nächste Bier in sich hinein und schiebt das leere Glas unter den Hahn. An der Tür ist Korbut erschienen. Bienzle sieht ihn aus den Augenwinkeln, ohne zu zeigen, dass er ihn bemerkt hat.

»Ja, Frankfurt – das ist was anderes«, sagt er nachdenklich; »da sitzen die Waffen lockerer, da geht es um größere Beträge, da ist das Verbrechen brutal. Bei uns war’s bisher ein bisschen gemütlicher. Kein Klein-Chicago.«

Der Wirt wird unruhig, würde offenbar gern in die Küche verschwinden, traut sich nicht, bleibt stehen.

»Dass sich irgendwer einen Killer kauft, um einen Hehler umzulegen – gut, das kann auch hier passieren. Obwohl es für uns ziemlich neu ist. Aber dass eine harmlose, hilflose junge Frau, die nichts auf dem Kerbholz hat, die immer nur gearbeitet, ihr kleines Leben gelebt hat, vielleicht sogar ein bisschen glücklich war – dass eine solche liebenswerte Person …« Bienzle dreht sich blitzschnell um und macht drei energische Schritte auf Korbut zu, der noch immer in der Tür steht. »… kaltblütig niedergeschossen wird wie ein Stück Vieh im Schlachthof«, brüllt er plötzlich los, hat Korbut am Revers gepackt und fährt dann ganz leise, fast flüsternd fort: »… das ist wirklich neu für unser Stuttgart.«

Beim Quellenwirt ist es mäuschenstill geworden.

Korbut ist kreidebleich und zittert. »Herr Kommissar …«, stottert er.

»Ich hab Sie zum Bier eingeladen; setzen wir uns«, sagt Bienzle fast im Plauderton. »Was kann ich für Sie bestellen?«

Anna kommt an den Tisch und wischt ihn blank, obwohl er völlig sauber ist.

»Zwei Halbe und zwei Kirsch«, sagt Bienzle.

Kriminalanwärter Haußmann kommt herein, sieht seinen Chef und setzt sich unauffällig drei Tische weiter hin. So unauffällig, dass ihn jeder der Gäste aus größter Entfernung als Bullen erkennt.

»Kommen Sie her, Haußmann«, ruft Bienzle. Der junge Polizist setzt sich zu den beiden an den Tisch und bestellt ein Viertel Wein. »Na, was haben Sie herausbekommen?«, fragt Bienzle.

»Eine ganze Menge«, flüstert Haußmann. »Ziemlich belastend für manche Leute …«

Die Idee mit dem Trauerstrauß war also kein Zufallstreffer, denkt Bienzle; helles Köpfchen; spielt mit … »Ja, ja«, sagt er laut, »einen Bruch machen, das ist eine Sache; die Beute zu versilbern ist eine andere – na, immerhin, darauf verstehen sich viele. Aber …« Er wird schon wieder laut: »… wehrlose Menschen kaltblütig zu erschießen, das ist wieder was anderes. Wir haben jetzt Killer in der Stadt, richtige große Gangster … Korbut, trinken Sie doch! Was haben Sie denn?«

»Korbut?«, fragt Haußmann interessiert. »Ach, das hier ist Korbut?«

Der Junge ist wirklich klasse, denkt Bienzle und sagt laut: »Nun aber sachte, Kollege Haußmann; wir wollen unser Pulver nicht verschießen.«

Korbut rutscht auf der Bank hin und her und kippt seinen Kirsch. »Herr Kommissar, was sollen denn die Andeutungen!«, sagt er dann. »Sie wissen genau, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe.«

»Mit welcher Sache?«, fragt Bienzle scheinheilig.

»Na, mit dem Mord an Jarosewitch.«

»Aber wer behauptet das denn?« Bienzle schaut seinem Gegenüber verschlagen ins Gesicht. »Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen … Und ihr könnt alle zuhören«, ruft er ins Lokal. »Also: Da kommt ein Polizist in das Geschäft eines Juweliers, der am Tag zuvor ermordet worden ist. Die Angestellten haben es sich gemütlich gemacht, sie feiern ein bisschen … Aber das spielt ja keine Rolle. Auf jeden Fall, der Polizist fragt … Ist ja sein Job, nicht wahr? Er fragt, und eine der Angestellten antwortet auch. Sie sagt nicht viel, aber was sie sagt, macht einen anderen Angestellten ganz verwirrt. Er fährt dem Mädchen über den Mund, versucht statt ihrer die Antworten zu geben, brüllt sie an – gerade so, als ob er unbedingt verhindern müsste, dass sie was ausplaudert … Natürlich besucht der Polizist das Mädchen nochmal; will mehr wissen. Und erfährt auch mehr – freilich nicht genug, denn bevor das Mädchen richtig auspacken kann, hat sie schon eine Kugel im Kopf … Das ist die Geschichte, Korbut. Und jetzt kommt das Quiz: Wer wusste davon, dass jenes Mädchen mir etwas erzählen konnte und auch bereit dazu war? Na? Die Frage ist doch nicht so furchtbar schwer.« Und lauter: »Na, Korbut, wird’s bald?«

Beim Quellenwirt könnte man eine Stecknadel fallen hören. Haußmann hält den Atem an. Bienzle starrt dem bleichen Korbut ins Gesicht. Der sitzt völlig erstarrt auf der Bank. Seine Hand greift zum Glas und bewegt sich dann langsam zurück.

Plötzlich lehnt sich Bienzle wie erschöpft zurück und sagt ziemlich leise: »Ich muss noch schnell was essen, dann verhafte ich Sie.«

Keiner beim Quellenwirt lacht, denn jeder kennt Bienzle gut genug, um zu wissen, in welcher Stimmung er ist. Wortlos schiebt der Wirt dem Kommissar einen Teller mit einem Knöchle auf Sauerkraut hin.

Bienzle denkt, ich muss das essen, sonst bin ich nach dem nächsten Glas hinüber … Er schlingt das halbwarme Eisbein hinunter. Spricht kein Wort. Das Mädchen fällt ihm ein. Rotes Blut unter rotem Haar … Er schiebt den Teller von sich und sagt laut in das Gemurmel im Wirtshaus: »Jeder, der was über die Geschäfte des Herrn Jarosewitch weiß, sollte es mir möglichst bald sagen – Diskretion Ehrensache, versteht sich.« Dann: »Herr Korbut, Sie kommen mit.«

 

Es ist schon nach Mitternacht, als Bienzle, Haußmann und Korbut in der Polizeidirektion in der Taubenheimstraße ankommen. Bienzle ist müde und überreizt. Er hat vergessen, Hanna anzurufen. Darauf legt sie Wert. Morgen beim Frühstück wird sie sagen, ich hab mich halb zu Tode gesorgt – man weiß doch nie, was passiert … Wenn er nach Hause kommt, wird sie tief und fest schlafen. Trotzdem wird sie morgen glauben, dass sie kein Auge zugetan hat in der Nacht.

Er sieht Korbut an und sagt zu einem Uniformierten: »Passen Sie mal ein bisschen auf den Typ auf; ich muss mit Haußmann reden.« Sie gehen in Bienzles Büro. Er setzt sich langsam in seinen Sessel und holt aus dem Aktenschrank eine Cognacflasche. Er gießt beiden ein.

»Wie war’s bei der Witwe?«, fragt er.

Haußmann hat sich tatsächlich Blumen beschafft, ein Kärtchen dazu geschrieben und ist dann hinmarschiert. »Ich sagte, Konsul Hermanndung schickt mich – ein anderer Name ist mir nicht eingefallen … Sie hat mich selber empfangen. Da war ein Herr Bäuerle, ihr Bruder. Der Fahrer des Volvos. Ich hab irgendwas gesagt von Geschäften, die da noch abzuwickeln seien, und der Herr Konsul besteht auf einem baldigen Gespräch … Sie hat gesagt, sie kommt mit ihrem Bruder vorbei, sobald die Trauerfeierlichkeiten überstanden sind – ihr Bruder führt das Geschäft weiter. Ob sie denn das Testament schon kenne, hab ich noch gefragt, aber da hat mich der Bruder ziemlich kompromisslos hinauskomplimentiert.«

»Sonstige Beobachtungen?«, fragt Bienzle müde.

»Zuerst dachte ich, sie hat was mit dem Diener oder was der ist, aber da ist wohl nichts dran. Der Bruder, dieser Rechtsanwalt Bäuerle, spielt den großen Macker. Das ist so ein Aufsteigertyp … Ich hab mich ein bisschen umgehört. Ein Bekannter von mir ist Anwalt und kennt den Herrn Bäuerle. Er sagt, die Geschwister seien ganz dick miteinander, aber Jarosewitch habe seinen Schwager nur verachtet. Alle Versuche von Hedwig, ihren Anwaltsbruder ins Geschäft zu bringen, seien gescheitert. ›Winkeladvokat‹ habe er ihn genannt … Sein Geld verdient Bäuerle vor allem mit Scheidungsfällen und so. Außerdem gilt er als Frauenheld. Er soll auf ziemlich großem Fuß leben, aber niemand weiß so recht, wie er das finanziert. Ob ihm sein Schwesterherz was zuschießt, wusste mein Bekannter nicht, aber er hält’s für möglich.«

»Komisch«, sagt Bienzle, »aber er war der Erste, der im Büro war … Und er hat da offensichtlich rumgestöbert.«

»Ob die beiden Jarosewitch auf dem Gewissen haben?«, überlegt Haußmann.

»Schon möglich, aber unwahrscheinlich«, meint Bienzle. »Ich glaube eher, dass sie absahnen wollen, ehe zu viel gefragt wird.« Und dann: »Nehmen Sie sich doch mal Korbut vor.«

Haußmann ist geschmeichelt. Er lässt sich vom Nesenbach-Maigret die Details geben und geht Richtung Vernehmungszimmer. Der erste große Fall, den er vor die Nase bekommt, und Bienzle zieht ihn gleich so mit hinein … Auf dem Weg zum Verhör ruft Haußmann noch schnell seine Freundin an und erzählt ihr von den Fortschritten in seiner Polizeikarriere.