Bienzle und die schöne Lau / Bienzle und das Narrenspiel - Felix Huby - E-Book

Bienzle und die schöne Lau / Bienzle und das Narrenspiel E-Book

Felix Huby

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Beschreibung

Blaubeuren: Der Höhlentaucher Fritz Laible hat einen Weg zu dem geheimnisumwitterten unterirdischen See weit hinten im Berg gefunden. Ist ihm sein schärfster Rivale gefolgt, um ihn zu töten? Venningen: Der Filialleiter der örtlichen Bank wird mit einem Stecheisen im Rücken tot aufgefunden, während rundherum die Fastnacht tobt. War der Maskenschnitzer Behle sein Mörder?

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Seitenzahl: 384

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Felix Huby

Bienzle und die schöne Lau / Bienzle und das Narrenspiel

Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

Bienzle und die schöne LauDie HauptpersonenMotto– 1 –– 2 –– 3 –– 4 –– 5 –– 6 –– 7 –– 8 –– 9 –– 10 –– 11 –– 12 –– 13 –– 14 –– 15 –– 16 –– 17 –– 18 –– 19 –– 20 –– 21 –– 22 –– 23 –– 24 –– 25 –– 26 –Bienzle und das NarrenspielDie Hauptpersonen[1][2]

Bienzle und die schöne Lau

Die Hauptpersonen

Fritz Laible

war Höhlentaucher, ehe ihm die Luft ausging.

Hanna Laible

wird, frei nach Mörike, die schöne Lau genannt.

Eberhard Laible

hat das Tauchen aufgegeben und sucht, was er für sein Recht hält.

Horst Zeller

wollte unbedingt der Erste sein.

Jakob Weinmann

stirbt an einem Testament.

Thomas Weinmann

ist zeitweilig verschwunden.

Graziella

ist italienischer Abstammung und spricht Schwäbisch.

Franz Pomerenke

hat ein Ohr für Zwischentöne – und Beziehungen.

Holfenter

verkauft – unter anderem – Luft.

Arthur Selneck

sitzt in Untersuchungshaft.

Peter Hakeland

macht heiße Jobs mit kühlem Kopf.

Teltschik

ebenfalls.

Hannelore Schmiedinger

wird fast der Urlaub vermasselt.

Hauptkommissar Ernst Bienzle

bewegt sich leicht außerhalb der Legalität.

Kommissar Gächter

entwickelt auch außerdienstliche Interessen.

»Der Blautopf ist der große runde Kessel eines wundersamen Quells bei einer jähen Felsenwand gleich hinter dem Kloster. Gen Morgen sendet er ein Flüsschen aus, die Blau, welche der Donau zufällt. Dieser Teich ist einwärts wie ein tiefer Trichter, sein Wasser ist von Farbe ganz blau, sehr herrlich, mit Worten nicht wohl zu beschreiben; wenn man es aber schöpft, ist es ganz hell im Gefäß. Zuunterst auf dem Grund saß ehemals eine Wasserfrau mit langen fließenden Haaren … Ihr Angesicht sah weißlich aus, das Haupthaar schwarz, die Augen aber, welche sehr groß waren, blau. Beim Volke hieß sie die arge Lau im Topf, auch wohl die schöne Lau.«

Historie von der schönen Lau, aus ›Das Stuttgarter Hutzelmännlein‹ von Eduard Mörike

– 1 –

In den Frühnachrichten des Süddeutschen Rundfunks gab das Landeskriminalamt Stuttgart die Personenbeschreibung einer als vermisst gemeldeten Frau durch: »Die Verschwundene ist siebenundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, schlank. Sie hat schwarze, lange Haare, die sie meist offen trägt; eine kurze Nase und einen breiten, vollen Mund mit auffallend weißen Zähnen. Zuletzt war sie mit einem bunten Wickelrock, einem tief ausgeschnittenen blauen Wollpulli und hochhackigen Schuhen gekleidet. Sie hat am Samstagabend ihre Wohnung bei Blaubeuren verlassen und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Sachdienliche Hinweise, die auf Wunsch vertraulich behandelt werden, nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«

Hannelore Schmiedinger schaltete das Radio aus.

Ernst Bienzle schob seine Kaffeetasse ein wenig von sich. »Die schöne Lau«, sagte er wie zu sich selbst.

»Heißt sie so?« Hannelore räumte die Kaffeetasse weg.

»Mhm«, machte Bienzle, »so nennt man sie.« Er stand auf und streckte sich. »Wenn sie eines gewaltsamen Todes gestorben ist, wird sie ein Fall für uns.«

»Warum gebt ihr eigentlich eine Suchmeldung durch, wenn eine erwachsene Frau mal drei Tage verschwunden ist?«

»Weil man ihren Pulli und ihre Schuhe gefunden hat. Zwischen Rucken und Klötzle Blei.«

»Wo?«

»Das sind zwei Felsenbergle in Blaubeuren.«

Hannelore lehnte im Türrahmen zu ihrer kleinen Küche. »Fährst du hin?«

»Glaub ich kaum. Die örtliche Polizei ist ja auch noch da, und überhaupt … Sie kann ganz lebensnahe Gründe dafür gehabt haben, Pulli und Schuhe abzulegen.« Er grinste ein wenig.

»Was machst du heute?«, fragte Hannelore, um das Thema zu wechseln.

Bienzle seufzte. »Ich liefere dem Staatsanwalt den Abschlussbericht im Fall Tommer. Mord aus Gewinnsucht. Ein Mann aus dem Männerwohnheim in der Nordbahnhofstraße. Er hat einen Zimmergenossen erschlagen. Eigentlich hat er ihm nur den Brustbeutel wegnehmen wollen. Da waren 180 Mark drin. Gestern sagt dieser Tommer doch zu mir: ›Warum regt ihr euch bloß alle so auf? Der Heinrich‹ – das ist der Getötete –, ›der Heinrich war mir nicht näher bekannt, der hat mir doch gar nichts bedeutet!‹ Aber das Geld, verstehst du, das Geld hat ihm was bedeutet, dem Tommer.« Bienzle schüttelte den massigen Kopf. Er zog seine Zigarilloschachtel aus der Tasche, steckte sie aber wieder zurück. Er wollte das Rauchen reduzieren. »Das ist übrigens ganz und gar unüblich, dass es im Männerwohnheim zu Gewalttaten kommt.«

Hannelore schauderte ein wenig. »Das wäre schön«, sagte sie, »wenn du einen anderen Beruf hättest.«

»Wenigstens bin ich net arbeitslos«, brummelte Bienzle und griff nach seiner abgenutzten Aktentasche. Er hatte ein feines Gespür dafür, wann Hannelore seine Zärtlichkeiten nicht mochte. Und so ging er an diesem Morgen ohne Kuss aus der kleinen Wohnung, in der er sich auch nach drei Jahren ihres Zusammenseins noch immer etwas deplatziert vorkam.

Im Präsidium diktierte er seinen Bericht auf ein kleines, handliches Diktiergerät – eine der wenigen Neuerungen, die Bienzle begrüßte. Tippen war ihm immer ›wie Spitzgras‹ gewesen.

Tommer, ein ausgemergelter Kerl mit einem seltsam starren Blick, der kaum einmal durch einen Wimpernschlag unterbrochen wurde, saß Bienzle zwei Stunden später gegenüber und las das abgetippte Protokoll. Er fuhr mit der Kuppe seines Zeigefingers unter den Zeilen entlang. In seinem linken Mundwinkel hing die Kippe von einer selbst gedrehten Zigarette. Dünner Rauch stieg auf und ließ Tommers linkes Auge leicht verschleiert erscheinen.

»Zuerst hab ich noch mit ihm geredet. ›Wenn du schon so viel Geld hast‹, hab ich gesagt, ›gib einen aus‹, hab ich gesagt. Aber er hat sich geweigert – einfach geweigert hat er sich! Und dann hat ein Wort das andere gegeben – bis …«

»Ja, ja«, sagte Bienzle behäbig. »Machet no so weiter, hat mei Mutter immer g’sagt, bis am End einer heult!«

»Ja«, sagte Tommer. Und dann: »Ich hab’s eigentlich nicht gewollt, Herr Kommissar.« Er zuckte mit den Achseln. Oswald Tommer, vierunddreißig, ohne Beruf, zurzeit arbeitslos und ohne festen Wohnsitz, hatte sich abgefunden. »Lebenslänglich wegen 180 Mark«, sagte er ohne erkennbare Gemütsbewegung.

Bienzle schüttelte den Kopf. »Zwölf Jahre vielleicht – wir haben ja da reing’schrieben, dass es unter Alkohol und im Affekt …« Er unterbrach sich, schlug den Aktendeckel zu und drückte auf einen Knopf der neuen Gegensprechanlage. »Herrn Tommer bitte abholen.«

Was war das für ein Unterschied – zwölf Jahre oder lebenslänglich?

Ein Beamter kam und nahm den Untersuchungshäftling mit. An der Tür sagte Tommer: »Und vielen Dank auch, Herr Kommissar!«

Bienzle nickte: »Die sollen Sie a bissle rausfuttern im Knast!« Leise schloss sich die Tür hinter Tommer und dem Beamten. Bienzle starrte die Tür an. Sie hatte Risse und Schrunden, und wenn man eine Weile hinsah, wirkte sie wie ein Stück alten Felsgesteins.

Bienzle sah hin, bis sie geöffnet wurde. Dann aber schob er sich ein wenig höher in seinem alten Holzsessel und nahm eine Art Habachtstellung im Sitzen ein. »Du, Karl?«

Er duzte den Präsidenten nur, wenn sie unter sich waren.

»Wie läuft’s, Ernst?«, fragte Karl Hauser, ein kleiner, rotgesichtiger Mann mit lockigen silbergrauen Haaren. Er setzte sich auf den Stuhl, den Tommer vor wenigen Minuten verlassen hatte.

»Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete der Kommissar mit leiser Ironie in der Stimme und fuhr dann fort: »Wo brennt’s, dass du extra runterkommst?«

»Der Selneck ist frei.«

»Er wird sei Strafe abg’sesse habe.«

»Du weißt, warum ich dir das sag!«

»Ja, sicher. Selneck hat mindestens zwanzigmal gedroht, dass er mich umbringt, wenn er wieder draußen ist.«

»So was darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen, Ernst!«

Bienzle zog seine Zigarilloschachtel heraus, bot dem Freund eines an und gab ihm Feuer.

»Der Selneck, der Selneck!«, sagte er. »Stell dir vor, grad eben ist hier ein Mörder raus, überführt und geständig … Und an der Tür hat er sich bedankt!«

»Ja, und?«

»Manche sind froh, wenn man sie einsperrt nach einer Tat, die könnet dann besser umgehn mit dem, was sie getan habet, verstehst. Aber der Selneck, der war anders. Der hat g’meint, er sei im Recht. Dabei hat dem seine Geliebte was bedeutet, während dem Tommer sein Opfer Wurscht war – wenn doch ’s Lebe weniger kompliziert wär!«

Hauser lachte leise: »Nach bald zwanzig Jahr lässt du dich immer noch zu weit ein mit deine Täter.«

Bienzle nickte. »Weil so einer wie der Tommer immer auch ein Opfer ist.«

Es entstand eine Pause, die keinen der beiden nervös machte. Jeder rauchte und dachte nach. Schließlich sagte Hauser:

»Du warst doch mal in Blaubeuren?«

»Vor sechzehn Jahren. Da hab ich noch eine Uniform ang’habt und die Besoffene am Heimfahren g’hindert. Und dann nochmal vor drei Jahr wegen dem Taucher, der im Blautopf ertrunken ist.«

»Fahr für a paar Tag hin!«

»Wer, ich? Etwa wegen der schönen Lau?«

Hauser lächelte wieder. »Du bischt bestimmt der einzige im Präsidium, der sein Mörike g’lesen hat.«

»Außer dir!«

»Außer mir«, sagte Hauser, »stimmt!«

– 2 –

Ein schöner Herbsttag. Zwischen den Tannenwipfeln an den steil abfallenden Hängen lugten die ersten bunten Laubkronen hervor. Wie vereinzelte Zähne ragten die schroffen Felsen auf. Ernst Bienzle erinnerte sich, dass er in der Schule gelernt hatte, die Felsen im Blautal seien die härtesten Brocken aus einer alten Steinmasse – sie hatten der Erosion getrotzt, hatten dem Regenwasser, den Winden, dem abrutschenden Gestein standgehalten. Richtig anachronistisch wirkten die Steintürme, Steingiebel, Steinnadeln in den sanftgrünen und herbstbunten Waldhängen. Vor 150 Millionen Jahren hatte dieses Gebiet in einem bis zu 500 Meter tiefen Meer gelegen, in dem sich allmählich die Kalke bildeten, aus denen heute die Schwäbische Alb besteht. An den Riffen des Meeres hatten sich Schwammkolonien angesetzt und besonders viel Kalkschlamm festgehalten. Bei der späteren Erosion haben diese längst abgestorbenen Kolonien besser widerstanden als die umliegenden Kalkablagerungen.

Bienzles Kollege Gächter machte sich oft über das ›Volkshochschulwissen‹ des Kommissars lustig. Aber das störte den wenig. Er hatte seine Kenntnisse von einem befreundeten Geologen und begnadeten Allround-Naturwissenschaftler, dem er stundenlang gespannt zuhören konnte.

Die Sonne lag auf den rotbraunen Dächern. Bienzle erinnerte sich, früher waren die Dächer mit einem grauen Schleier überzogen gewesen – Staub vom Zementwerk am Ausgang des engen Flusstals. Sie hatten dort wohl inzwischen Filter eingebaut.

Es war überhaupt eine Menge geschehen seit der Zeit, da Bienzle seine Streifengänge durch das verschlafene Städtchen gemacht hatte. Jetzt gab es zum Beispiel eine Umgehungsstraße, die sich breit am Hang entlangzog. Jahrzehntelang hatte sich der Verkehr Richtung Biberach und Ulm durch das enge Nadelöhr am alten Fachwerkrathaus gezwängt.

Bienzle verließ die Bundesstraße und ließ den Wagen langsam die Seißener Steige hinabrollen. Seltsam, wie vertraut plötzlich alles war. Bienzle parkte hinter dem Rathaus und ging langsam zum Brunnen vor dem Gebäude. Er sah in die Gesichter der Leute. Was hatte er erwartet? Natürlich kannte er niemand, und keiner erkannte ihn.

Im Felsen, wo er sich zehn Minuten später ein Viertel Korber Kopf Trollinger bestellte, war es nicht anders. Der Wirt hatte gewechselt. Die Bedienung war damals, als er hier Dienst getan hatte, vermutlich zur Schule gegangen. Bienzle seufzte leise. Was hatte er bloß erwartet?! Er lehnte sich zurück, sah die Bedienung freundlich an und sagte: »Noch ein Viertel, bitte. Wie heißen Sie?«

»Graziella«, sagte sie. »Wollet Sie was esse?«

»Graziella, das ist italienisch, gell?«

»Ja, meine Eltern sind aus Italien, aber i schtamm von hier!«

Er bestellte Schweinskopfsülze in Essig und Öl mit viel Zwiebeln und Röstkartoffeln. Das gefiel ihm, dass die Italienerinnen in Blaubeuren jetzt auch schon Schwäbisch sprachen.

Später fragte er den Wirt nach der schönen Lau. »Sie ist und bleibt verschwunden«, sagte dieser.

»Sie ischt kei Hiesige?«

»Nein – aus Rumänien oder so, vom Schwarzen Meer halt.«

»Ja, freilich.« Bienzle nippte an dem samtroten Wein. »Die Blau fließt in die Donau, und die Donau mündet ins Schwarze Meer.« Der Wirt dachte bei sich, dass dieser schwere Mann wohl ein Sonderling sei – aber er hatte ein Zimmer für eine Woche gemietet, und das war um diese Jahreszeit eine Ausnahme.

 

Später ging Bienzle, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Kopf weit vorgeneigt, an der Blau entlang zum Kloster. Es war von Scheinwerfern angestrahlt, und die Fachwerkmauern blitzten weiß im Licht der hellen Lampen. Bienzle hatte ein gutes Gedächtnis. In Gedanken memorierte er: Das Benediktinerkloster Blaubeuren wurde im Jahr 1085 als Stiftung der Pfalzgrafen von Tübingen und der Grafen von Ruck gegründet. Mönche aus Hirsau hatten die neue Niederlassung ihres Ordens bezogen. Zuerst war das Kloster in lupenrein romanischem Stil erbaut worden, aber als es dann den Württembergern zugefallen war, hatten die Baumeister des Grafen Eberhard im Bart das ganze Anwesen auf spätgotisch umgetrimmt. Nur der massige alte Turm war in seiner ganzen romanischen Kraft stehen geblieben und bildete den Schnittpunkt der Klosterkirche, deren Grundriss einem Kreuz nachgebildet war …

Der Kommissar ging rasch durch den Klosterhof, hörte nicht auf das Kichern einiger Mädchen, die mit ihren Freunden auf den Bänken saßen, durchschritt den oberen Torbogen und wendete sich nach rechts zum Blautopf. Das Schaufelrad, mit dem die alte Hammerschmiede tagsüber angetrieben wurde, um den Touristen ein Bild vergangener Zeiten zu geben, stand still. Die glatte Wasseroberfläche spiegelte den Mond und ein paar kräftige Äste wider. Bienzle setzte sich auf die niedrige Mauer. Was suchte er hier? Seine eigene Vergangenheit? Die gab nichts her. Es sei denn … Vor drei Jahren war er hier gewesen, um einen Todesfall im Blautopf zu untersuchen. Sie versuchten es immer wieder, die jungen Männer. Geübte und weniger geübte. Sie stülpten die Tauchermasken übers Gesicht, schulterten die Sauerstoffflasche, schlüpften in die Flossen und verschwanden in der Tiefe, um die unergründliche Höhle zu ertauchen, in der sich die Wasser aus dem Felsgestein der Schwäbischen Alb sammelten. Weit hinten – so erwarteten die Kenner – musste ein riesiger See sein, über dem sich eine mächtige Kuppel wölbte. Alle suchten danach. Sie schwammen hinein in die wassergefüllte Höhle. Viele von ihnen wussten nicht, was sie erwartete.

Der, dessen Leichnam sie vor drei Jahren geborgen hatten, war auf zunächst völlig unerklärliche Weise umgekommen. Seine Sauerstoffflaschen waren noch halb voll gewesen, als er an die Oberfläche getrieben wurde. Er hatte sich den Atemschlauch selber aus dem Mund gerissen. In Panik vermutlich. Dabei war er ein erfahrener Höhlentaucher gewesen. »Das ist eine irrationale Situation«, hatte der Professor, der seit Jahrzehnten die Höhle untersuchte, gesagt. »Unerklärlich für den, der nicht schon mal selbst da drin gewesen ist. Die Höhle verzweigt sich. Man folgt einem Gang, fühlt sich sicher – und dann plötzlich kommen die Zweifel. Man will zurück, kommt wieder an die Verzweigung, weiß nicht, links oder rechts? Man wendet sich in eine Richtung, aber die Zweifel verstärken sich, die Panik wächst. Der Taucher tut, was er immer getan hat: Er will auftauchen. Aber er stößt an die Höhlendecke, ohne aus dem Wasser zu kommen. Plötzlich zappelt er da. Wo ist vorne, wo hinten, wo oben und unten? Die Orientierung ist weg. Die Angst wird übermächtig. Er reißt sich den Atemschlauch aus dem Mund.«

Bienzle fröstelte. Die Tage im September waren kalt. Als er sich von der niedrigen Mauer erhob und in die Stadt zurückging, wirkte er wie ein alter Mann.

Die schöne Lau hieß Hanna Laible und war eine geborene Korn. Ihre Großeltern waren Donauschwaben gewesen; Hannas Eltern waren als Kinder nach Ulm gekommen. Hanna war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Bienzle hätte sich damals vor drei Jahren gern in sie verliebt. Aber für ihn war die Liebe nichts Irrationales. Ein Glück, sagte er sich, dass er sich seinerzeit nicht darauf eingelassen hatte, und zugleich bedauerte er es. Er wollte nicht daran denken. Nicht an die schöne Lau und nicht an den toten Taucher. Bienzle konnte Gedanken abstellen, wie andere Leute das Licht ausknipsen. Und deshalb schlief er gut und fest in dieser Nacht.

– 3 –

Hanna Korn hieß seit fünf Jahren Laible mit Nachnamen. Ihr Mann, Fritz Laible, war ein erfolgsorientierter Mensch. Und für ihn war es selbstverständlich, dass das schönste Mädchen zwischen Bodensee und Ulm seine Frau werden musste. Hanna hatte geglaubt, er liebe sie. Aber so war’s nicht. Fritz Laible war ein junger Mann, der seine Angetraute zu Hause sehen wollte. Er selber ging gern in seine Ställe und auf seine Felder, träumte vom Reichtum und erwarb ihn auch. Zielstrebig und zäh. Kinder wollte er nicht – oder doch erst später. Seine junge Frau zeigte er herum wie ein besonders schönes Zuchttier. Außer seiner Landwirtschaft interessierten Fritz Laible nur noch die Höhlen im Bauch der Schwäbischen Alb. Er war geizig. Aber er zahlte jeden Preis für eine bessere Ausrüstung. Er wollte der Erste sein am großen See in der hohen Halle.

Bienzle hatte die beiden kennen gelernt, als er damals den Tod des Tauchers untersucht hatte. Fritz Laible war fuchsteufelswild geworden, als er gehört hatte, dass ein fremder Taucher ohne sein Wissen in die Höhle vorgedrungen war. Zu oft schon hatte sich der junge Bauer ausgemalt, wie er als Erster dort drin im Berg aus dem Wasser auftauchen würde. Der Professor hatte damals zu Bienzle gesagt: »Haben Sie noch nie davon gehört, dass Männer am Berg den besten Kameraden umbringen, wenn er ihnen die Erstbesteigung wegnehmen will? Bei Tauchern ist das kein Haar anders. Das sind Fanatiker, und Fanatiker sind zu allem fähig!«

»Sonst aber auch zu nix«, hatte Bienzle trocken geantwortet.

Der junge Taucher war seinerzeit allein in das unterirdische Labyrinth hineingeschwommen. Dem hatte kein Neider die Luft abgedreht. Das hatte der selber besorgt.

Ernst Bienzle hätte nicht erklären können, warum ihm alle diese Dinge durch den Kopf gingen. Und das bei einem guten Frühstück nach einer langen, tief durchschlafenen Nacht.

Die schöne Lau bei Mörike konnte erst erlöst werden, als sie das Lachen gelernt hatte. Ernst Bienzle hatte Hanna Laible, geborene Korn, nie lachen gesehen.

Was man aus einem Bauernhof alles machen konnte! Sogar auf der kargen Schwäbischen Alb.

»Ich hab mich ganz auf Ferkel spezialisiert«, sagte Fritz Laible, »Spanferkel für die Gastronomie.«

Hauptkommissar Bienzle war gleich nach dem Frühstück hinaufgefahren zu dem Aussiedlerhof. Das stattliche Anwesen lag auf der Albhochfläche. Der Blick ging nach allen Seiten weit über das flache Land.

Laible trug Jeans und ein rot-weiß kariertes Hemd. Er lehnte am Türbalken und hatte einen Fuß lässig auf eine Schubkarre gestellt.

»Ihre Frau wird Ihnen fehlen bei der Arbeit«, sagte Bienzle aufs Geratewohl.

»Da weniger.« Laible spuckte auf den flachen Misthaufen. »Ich hab alles rationalisiert. Brauch niemand.«

»Und wenn Sie beim Tauchen sind?«

»Deshalb hab ich ja keine Milchküh, die man zweimal am Tag melken muss.«

»Glauben Sie, dass Ihrer Frau was zugestoßen ist?«

Fritz Laible sah auf. Er hatte ein fast rechteckiges, helles Gesicht. Die dichten Augenbrauen waren blond und hoben sich kaum von der Gesichtshaut ab. Die wässrig-blauen Augen schienen den Horizont abzusuchen. Ernst Bienzle gelang es nicht, den Blick des jungen Bauern festzuhalten.

»Was ich glaub …?« Laible hob die Schultern. »Jetzt sind’s fünf Tag!« Er sah Bienzle kurz an: »Sie haben sie doch auch kennen gelernt.«

»Das ist drei Jahre her.« Bienzle zündete sich ein Zigarillo an. Er hoffte, der Rauch würde den strengen Geruch des Ferkelmists zurückdrängen.

»Wenn sie Kinder g’habt hätt …« Der Bauer ließ den Satz in der Luft hängen.

»War ihr das wichtig?«

»Sehr!«

»Und?«

»Ich war dagegen. Vorerst hat man andere Sorgen g’habt.«

»Welche?«

»Den Hof hochbringen.«

»Und danach?«

»Soweit waren wir noch nicht.« Fritz Laible nahm den Fuß von der Karre und stellte sich aufrecht hin. »Ein Leben ohne Kinder sei für sie sinnlos, hat sie immer gesagt.«

»Ich hab keine Kinder«, sagte Bienzle. Er warf das angerauchte Zigarillo weg. Ein Huhn rannte herzu und wollte es aufpicken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Dummes Vieh«, sagte Bienzle.

Laible zwinkerte mit seinen blassen Augen. »Man müsst sie doch finden, wenn …« Es schien, als wagte er nicht weiterzureden.

»Eines Morgens, oder eines Abends vielleicht, ist sie plötzlich wieder da«, meinte der Kommissar.

»Ich nehm sie nicht z’rück«, sagte Laible in sachlichem Ton. Er packte die Schubkarre an beiden Holmen und stieß sie vor sich her in den Stall hinein. Fritz Laible war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem breiten, stämmigen Körper. Aber er hatte die Hände eines Riesen.

Bienzle schlenderte über den Hof. Alles war ordentlich an seinem Platz – das Bauernanwesen wirkte eher wie ein kleinerer Industriebetrieb als wie ein Hof.

Ernst Bienzle ließ seinen Dienstwagen stehen und ging mit gleichmäßigen Schritten über die Albhochfläche. Die Schlehenbüsche waren von den Spinnen mit hauchfeinen Netzen überzogen worden. Der Untergrund war steinig. Bienzle fiel ein alter schwäbischer Rundgesang ein, in dem es hieß:

Wenn oiner a stoinigs Äckerle hat

Und au en stumpfe Flueg

Ond no a grätigs Weib dahoim,

No hat er z’kratze gnueg.

Er hob einen Stein auf und warf ihn weit über das Ackerland. Laut schimpfend flog eine Schar Spatzen auf.

– 4 –

Dem Laible ist seine Höhlentaucherei wichtiger als alles andere«, sagte am Abend der Wirt, Franz Pomerenke hieß er. »Kein Wunder, dass die schöne Lau abgehauen ist. Statt ihr mal ein Kleid oder ein paar hübsche Schuhe zu kaufen, hat er dauernd neue Taucherausrüstungen angeschafft. Ein Egoist, wie er im Buch steht.«

Bienzle bestellte mit einer stummen Geste, um den Wirt nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen, bei Graziella noch ein Viertele.

»Die Höhlentaucher haben sonst eine ganz gute Kameradschaft. Das ist ja wie bei Bergsteigern …« Schon wieder dieser Vergleich! »… Die bilden richtige Seilschaften. Einer sichert den anderen. Aber der Laible will immer alles allein machen. Einer von den Tauchern hat erzählt, dass er jetzt Depots anlegt.«

»Depots?« Bienzle sah den Wirt verständnislos an.

»Ja. In der Höhle. Sauerstoffflaschen – also genau heißt’s ja Atemgemischflaschen oder so. Die deponiert er im Abstand von ein- oder zweihundert Metern. Dann kann er nämlich in Etappen vordringen, verstehen Sie?«

»Mhm«, machte Bienzle, »jetzt versteh ich’s.« Er atmete tief ein und hielt die Luft an, bis es nicht mehr ging. Mit hochrotem Kopf stieß er die Luft aus und sagte atemlos: »Nie würd ich so was machen, niemals!«

»Tja«, sagte der Wirt, »der Einstieg in die Höhle ist 21 Meter tief, und dann senkt sie sich noch langsam bis in eine Tiefe von 35 Metern. Am Anfang geht’s ja noch. Da spürt man die Strömung, aber dann so nach 30, 40 Metern, da fühlt man sie nicht mehr. Da machen die Schwimmbewegungen mehr Strömung als das Wasser selber. Und so ein Mann in einer Gummihaut ist ja auch keine Forelle, nicht wahr?«

»Aber die haben doch Lampen dabei.«

Der Wirt winkte ab. »Der Schein der Lampe trügt«, sagte er mit seltsamem Pathos. »Das Wasser ringsum ist schwarz. Und wenn einer die Orientierung verliert, schwimmt er ein Stück, dreht um, weil er denkt, die andere Richtung ist besser – aber das kann die Richtung in den Tod sein.«

»Sie werden öfter danach gefragt, gell?«

»Ja, freilich … Warum? Woran merken Sie das?«

»Sie erzählen’s so plastisch. Und was ist mit dem dünnen Draht, der am Boden entlangführt?«

»Der geht bis zur Position 1000 Meter vom Siphon. Aber …« Der Wirt hob den Zeigefinger. »Wer sagt dem Taucher, in welcher Richtung er dem Draht folgen muss, wenn die Orientierung weg ist?«

Bienzle sah überrascht auf. »Ach so, ja …«

»Ja, so ist das, genauso!« Der Wirt triumphierte mit seinem Wissen. »Und wenn da drin einer rumstrampelt, strudelt er jede Menge Schlamm und Dreck auf. Und dann findet er den Draht gar nicht mehr.«

Bienzle trank aus und bestellte noch ein Viertel. Er sah den Wirt an. Franz Pomerenke war knapp über dreißig, schätzte der Kommissar, und sah aus wie einer, der weiß, was er will. Sein Körper wirkte durchtrainiert. Er hatte etwas von einem Zehnkämpfer an sich: breite Schultern, schmale Hüften, sehr lange Beine und Arme. Einen Wirt stellte man sich gemeinhin anders vor. Der hier jedenfalls gehörte nicht zu denen, die selber ihr bester Kunde sind.

»Und dann erst der Tiefenrausch!«, trumpfte der Wirt auf. Es war klar, dass er sein ganzes Programm abspulen wollte. »Sie müssen mal zuhören, wenn die Taucher davon erzählen. Träume sind das! Herrliche Bilder, die sie plötzlich sehen – blaue Inseln, bunte Blumenfelder, ein sternenübersäter Himmel …«

»Verhebet Sie’s!«, sagte Bienzle schnell. »Verbieten müsste man den Blödsinn.«

Der Wirt sah seinen Gast beleidigt an. »Von den Todesfällen habe ich ja noch gar nichts erzählt.«

»Ja, schon – aber bei Todesfällen kenn ich mich selber aus.«

Der Blick des Wirtes wurde noch argwöhnischer. »Warum?«

»Ich hab so einen komischen Beruf.« Bienzle stemmte sich mit beiden Händen an der Tischkante hoch, zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte sie dem Wirt. Dem blieb der Mund offen stehen. »Mordkommission?«

»Ja, aber ich hab bloß aus allgemeinem Interesse g’fragt. Ich bin eigentlich nicht beruflich hier.«

»Eigentlich?«

»Sie haben ein Ohr für Zwischentöne«, sagte Bienzle. »Wirte haben das oft«, fügte er hinzu.

Die Gaststube war fast leer. Der Kommissar stand unschlüssig in der Mitte des Raumes. Es war gerade erst neun Uhr abends, eigentlich noch nicht die richtige Zeit, um ins Bett zu gehen.

»Der Laible …«, fing er an und hielt inne.

»Welcher?« Der Wirt sah ihn an.

»Der, von dem wir vorhin geredet haben, der mit dem Aussiedlerhof, der Taucher …«

»Der Fritz also?«

»Was gibt’s denn noch für einen?«

»Den Eberhard.«

»Ist der mit dem Fritz verwandt?«

Der Wirt lachte. »Das ist gut, ob der mit dem Fritz … Das ist sein Bruder!«

»Der jüngere?«

»Nein, der ältere.«

»Und warum hat dann nicht der den Hof?«

»Ich hab das Testament nicht gesehen.«

»Ach so!« Bienzle fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das wirre Haar. »Und was macht der?«

»Der Eberhard? Der ist bei der Stadt. Mädchen für alles. Es gibt Leute, die sagen, der Fritz hätt den Vater zum Notar geschleppt, als der schon nicht mehr hat klar denken können.«

»Um das Testament zu seinen Gunsten zu ändern?«

»Ja, wozu denn sonst? Der Eberhard hat seinen Pflichtanteil bekommen, weiter nix.«

Bienzle nickte. Er nahm sich vor, am nächsten Tag den Eberhard Laible zu besuchen.

– 5 –

Am nächsten Morgen regnete es. Die Berghänge, die das Städtchen Blaubeuren einschließen, waren wolkenverhangen. Bienzle hatte lange und tief geschlafen und frühstückte erst gegen zehn Uhr.

Draußen fuhren nacheinander ein Polizeiauto und ein Krankenwagen vorbei. Das Blaulicht zuckte kurz über die regenverschleierten Fenster. Bienzle erhob sich halb, ließ sich dann aber wieder auf die Bank zurückfallen.

»Habt ihr noch was von dem Zwiebelkuchen von gestern Abend?«, fragte er Graziella.

»Schon, aber der schmeckt doch nimmer.«

»Mir schon!«

»Außerdem macht er dick«, sagte das Mädchen.

Bienzle sah auf seinen Bauch hinab. Das Hemd spannte. »Alles Schöne im Leben hat einen Haken«, dozierte der Kommissar, »es ist unmoralisch, illegal oder es macht dick.«

Graziella ging in die Küche. Bienzle aß einstweilen ein Honigbrot. Als das Mädchen zurückkam, stieß es fast mit einem Polizisten zusammen, der völlig außer Atem und mit hochrotem Kopf hereingestürzt kam. Bienzle sah auf und sagte zu Graziella: »Ich glaub, jetzt kann ich den Zwiebelkuchen doch nimmer essen.«

»Herr Hauptkommissar Bienzle?« Der Polizist stand ein wenig stramm.

»Oh, du liabs Herrgöttle von Biberach!«, seufzte Bienzle. »Was ist passiert?«

»Ein Toter im Blautopf.«

Bienzle ging zur Garderobe und griff nach seinem alten Parka. »Ich komm!«

 

Sie gingen zu Fuß; denselben Weg, den Bienzle vor zwei Tagen schon einmal gegangen war, spät am Abend. Jetzt war Betrieb in der Stadt. Auf dem großen Platz vor der Klostermauer parkten mindestens ein Dutzend Busse. Die Touristen standen dicht gedrängt vor der Einfassungsmauer des Blautopfs. Bienzle hatte Mühe, sich einen Weg zu bahnen. Die hatten am Abend alle etwas zu erzählen, wenn sie nach Hause kamen.

Die Leiche war bereits geborgen worden. Zwei junge Taucher aus Ingolstadt hatten den Toten entdeckt.

»Gut 700 Meter im Berg«, berichtete der größere von den beiden.

Und der andere fügte hinzu: »Ein Wahnsinn ist das – absoluter Wahnsinn! Allein bis zur 700-Meter-Marke …«

Bienzle bat einen uniformierten Beamten, die Decke vom Gesicht der Leiche zu nehmen.

Fritz Laible war nicht im beglückenden Tiefenrausch gestorben, soviel stand fest. Sein Gesicht war verzerrt wie unter einer riesigen Anstrengung. Der Eindruck wurde durch die blaurote Färbung der Haut noch verstärkt.

»So schnell wie möglich ins Gerichtsmedizinische Institut«, brummte Bienzle.

Ein Mann, der dem Toten so verblüffend ähnlich sah, dass man in ihm den Bruder sofort erkannte, trat neben Bienzle.

»Der Fritz war der beste Taucher«, sagte Eberhard Laible.

»Bienzle, mein Name«, stellte sich der Kommissar vor.

»Ja, ich weiß.«

Sie sahen sich ein paar Augenblicke an. Bienzle fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar.

»Wollen Sie damit sagen, dass es sich wahrscheinlich nicht um einen Unglücksfall gehandelt hat?«

»Er war immer sehr vorsichtig. Jedenfalls ist eine Nachlässigkeit beim Fritz nicht vorstellbar.«

»Ja, ja«, murmelte Bienzle, »wie ’n Schlamper hat er auf mich auch net g’wirkt.«

Inzwischen war aus Ulm ein ganzer Zug Polizei eingetroffen. Unter den schneidigen Kommandos eines Polizeiobermeisters sperrten die jungen Uniformierten den Platz ab.

Bienzle suchte Eberhard Laible, der sich auf die niedrige Mauer gesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt hatte.

»Stimmt es«, fragte der Kommissar, »dass Ihr Bruder kurz davor stand, die große Höhle zu erreichen?«

»Keine Ahnung. Mich hat das nicht interessiert«, gab Eberhard Laible zurück.

»Er soll Depots angelegt haben, um unterwegs die leeren Flaschen mit neuen austauschen zu können.«

»So?«

»Haben Sie das nicht gewusst?«

»Wir haben nicht miteinander geredet.«

»Waren Sie verfeindet?«

»Ja.« Das kam schlicht und ohne Zögern.

»Warum?«

»Ist das jetzt noch wichtig?«

»Ja, sicher!«

»Eine Erbschaftssach – wie’s halt so ist.«

Bienzle verließ Eberhard Laible. ›Wie’s halt so ist‹ – Fatalismus auf Schwäbisch … Verlogen bis dorthinaus, dachte Bienzle; das drückt nicht aus, dass er resigniert hat, nur dass er beleidigt ist.

Bienzle hatte einmal einem schwäbischen Arbeiter einen Mord auf den Kopf zugesagt: »Ihre Schuld ist unzweifelhaft bewiesen; ich muss Sie verhaften.«

»So isch’s no au wieder«, hatte der Mörder geantwortet.

Da muss schon viel passieren, ehe so ein schwäbischer Dickkopf seine Gefühle zeigt – Bienzle eingeschlossen.

 

Aus einem roten Mercedes stieg ein Arzt – weiße Schuhe, weiße Hose, weiße Jacke. Was der auf den Totenschein schrieb, hätte Bienzle auch hinschreiben können: Tod durch Ertrinken. Fremdeinwirkung äußerlich nicht erkennbar. Bienzle trat zu den beiden Tauchern aus Ingolstadt. »Wär’s wohl möglich, die so genannten Depots auszuräumen?«

»Also, wir gehen da heut nicht mehr rein«, antwortete der Größere, »nicht um alles Geld der Welt.«

Bienzle nickte. »So pressiert’s ja dann auch wieder nicht.«

 

»Sozusagen demonstrativ vor Ihren Augen!«, sagte am Abend der Wirt zu Bienzle. »Jeder in Blaubeuren hat doch gewusst, dass Sie hier sind. Das ist doch die reinste Provokation.«

»Na ja, wie man’s nimmt.« Bienzle wollte nicht reden, aber er wollte auch nicht unhöflich sein.

Das Telefongespräch, das er mit seinem Chef Hauser geführt hatte, ging ihm nochmal durch den Kopf.

»Es besteht Einigkeit zwischen allen Stellen, dass du die Ermittlungen leiten sollst«, hatte Hauser gesagt. »Gächter wird morgen kommen, um dich zu unterstützen. Im Hotel wird ja wohl noch Platz sein um diese Jahreszeit.«

Und es hätten ein paar so schöne, ruhige Tage werden können! Am Nachmittag stieg Bienzle den steilen, steinigen Weg zum Rucken hinauf. Unter ihm lag die Stadt. Jede Straße, jedes Haus war zu sehen.

»Hoffentlich war’s ein Unfall«, sagte er laut vor sich hin.

Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Aber es kam nichts Vernünftiges dabei heraus. Ein Mann war gestorben, dem wenige Tage zuvor die Frau weggelaufen war und den sein eigener Bruder hasste – ein respektierter Bürger wohl, kein beliebter Mann. Einer, der seinen Vorteil kannte und nutzte und den die anderen nur zu interessieren schienen, solange sie ihm nützlich waren. Es sah ganz so aus, als ob dem Fritz Laible keiner eine Träne nachweinte.

Die Stadt wirkte verhockt, eingepfercht zwischen den steilen Wänden. Fritz Laible hatte droben auf der Albhochfläche gelebt, wo man weit sehen kann und dem Wetter ausgesetzt ist. Trotzdem war es seine größte Leidenschaft, in die tiefste, finsterste und geheimnisvollste Höhle der Schwäbischen Alb hineinzutauchen.

Lange saß Bienzle auf dem Sockel eines hoch aufragenden Granitkreuzes, das für die Toten aus beiden Weltkriegen errichtet worden war, ganz oben über der Stadt. Er stieg erst wieder hinunter, als es dämmerte. Der ständig rieselnde feine Regen störte ihn kaum.

– 6 –

Tags darauf wurden die Atemluftflaschen aus Laibles Depots geborgen. Techniker des Landeskriminalamtes untersuchten sie. Da seien nur Restmengen drin, sagte einer von ihnen zu Bienzle. Die Polizeitaucher hätten im übrigen Mühe gehabt, die Depots aufzustöbern, denn Laible habe sie versteckt angelegt, sodass ein anderer sie nicht so ohne weiteres finden konnte.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte der Techniker, »ist da eine Riesenschweinerei gelaufen. Irgendwer hat die vollen Flaschen gegen fast leere ausgetauscht.«

»Und die Flasche, die er auf dem Rücken hatte?«, fragte Bienzle.

»Leer!«

Bienzle nickte, als ob er nichts anderes erwartet hätte. »Die genauen technischen Details lass ich mir später erklären.«

Fritz Laible, der Einzelgänger, war also Opfer eines Anschlags geworden.

Bienzle wollte seinen Kollegen Gächter am Bahnhof abholen. Langsam ging er die Hauptstraße hinunter, die genau auf die kleine Station zulief. Da sah er, wie Eberhard Laible das Büro der Südwestpresse betrat. Er folgte ihm, nachdem er eine Weile gewartet und den Zeitungsaushang studiert hatte.

»Der Tod des Tauchers« lautete die Schlagzeile des Aufmachers auf der Lokalseite. Von Mord war nicht die Rede in dem Artikel. Warum auch? Gestern hatte es noch nach einem Unfall ausgesehen.

Eberhard Laible sah auf, als der Kommissar die Zeitungsgeschäftsstelle betrat.

»Was soll ich schreiben?«, fragte er. »Ich muss doch eine Todesanzeige aufgeben.«

Bienzle trat neben ihn an den schmalen Tresen. Auf der anderen Seite stand eine junge Frau.

»Ich weiß nicht, ob ich die Hanna mit reinnehmen soll. Vielleicht lebt sie ja gar nicht mehr …«

»Unterschreiben Sie doch mit ›Die Angehörigen‹ oder ›Die trauernden Hinterbliebenen‹«, sagte die Frau.

»Danke.« Eberhard Laible schrieb Die Angehörigen auf das Formular. Dann sah er Bienzle an. »Komisches Wort; wer gehört wem an?«

Bienzle las den Text: Durch einen tragischen Unfall wurde Fritz Laible aus unserer Mitte gerissen … Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Formularblock. »Tragischer Unfall? Es war glatter Mord!«

Die Frau hinter dem Tresen riss den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus.

»Tragisch ist’s trotzdem«, sagte Eberhard Laible, »wir lassen den Text so.«

Er begleitete Bienzle noch ein Stück.

»Sie hätten ein Motiv gehabt«, sagte Bienzle.

»Aber sicher.«

»Haben Sie ein Alibi?«

Eberhard Laible blieb stehen. »Wann ist es denn passiert?«

»Ach so, ja!« Bienzle blieb ebenfalls stehen. »Das ist schwer zu sagen. Ertrunken ist Ihr Bruder gestern Morgen gegen acht Uhr – wer weiß, warum er so früh da rein ist. Aber irgendwer hat die Flaschen vorher vertauscht. Und da weiß man natürlich nicht, wann. Also war meine Frage nach dem Alibi ziemlich dumm.«

»Wenn’s nicht eine raffinierte Fangfrage war«, knurrte Eberhard Laible.

Bienzle antwortete nicht darauf. »Was meinen Sie, wie viele Taucher es gibt, die genügend Erfahrung haben, um so etwas zu machen?«

»Was?«

»Die Flaschen austauschen.«

»Das sind bestimmt nicht viele.«

»Wie viele?«

»Zehn oder zwölf. Ich kenn mich da ja nicht so aus.«

Kurz vor dem Bahnhof verabschiedete sich Laible und ging nach links in die Ruckenstraße hinein.

 

Gächter stieg widerwillig aus. Er hasste kleine Städte und Dörfer. Selbst Stuttgart war ihm zu eng.

Statt einer Begrüßung sagte Gächter: »Auf dem Ulmer Bahnhof hab ich den Selneck gesehen.«

Bienzle suchte den Bahnsteig mit den Augen ab.

»Aber ich bin nicht zu deinem persönlichen Schutz abgestellt«, fügte Gächter mit schiefem Grinsen hinzu. Er war noch ein bisschen größer als Bienzle und überschlank. Dadurch wirkte er schlaksig, zumal er auf betont lässige Weise ging. Sobald er stehen blieb, suchte er sich eine Wand oder einen Türrahmen, um sich anzulehnen. Gächter redete nie darüber, wie und warum es ihn, den Norddeutschen, nach Württemberg verschlagen hatte.

»Also hat der Selneck rausgekriegt, dass ich hier bin«, sagte Bienzle.

»Na, so schwierig war das nun auch wieder nicht. In der Zeitung stand nämlich, dass die Aufklärung des mysteriösen Todesfalles in Blaubeuren dem bekannten Kriminalkommissar Ernst Bienzle übertragen worden sei.«

»Soso!« Bienzle trat wütend gegen eine zusammengeknüllte Plastikmülltüte auf dem Gehsteig.

 

Gächter stellte seine Reisetasche im Gasthof ab und ging dann mit Bienzle zum Blautopf. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen. In der glatten, blauen, fast kreisrunden Wasserfläche spiegelten sich der Turm der Klosterkirche und die bunten Baumkronen der Laubbäume, die den kleinen See säumen. Das Mühlrad, angetrieben vom abfließenden Teichwasser, drehte sich träge.

»Nun?« Gächter sah Bienzle fragend an.

»Was?«

»Erzähl, was du weißt.«

»Mein Volkshochschulwissen?«

»Ich denke, du kennst da einen ganz fabelhaften Professor und Höhlenforscher?«

Bienzle nickte. »Ja, das ist interessant, wie der Blautopf entstanden ist: Die Albhochfläche, musst du wissen, besteht aus porösem und brüchigem Kalkgestein, das in sich stark zerklüftet und verwittert ist. Regen sammelt sich auf der Alb droben nicht in Flüssen oder Seen. Er versickert sofort. Innen drin in der Alb sind in Jahrtausenden weit verzweigte Höhlensysteme entstanden, die das Wasser auffangen. Also, je nach Wasserspiegel führen die Höhlen Wasser, oder sie sind auch im Lauf der Zeit zu Trockenhöhlen geworden. Ein besonders großes Höhlensystem ist da drin …« Bienzle deutete auf den jäh ansteigenden Steilhang hinter dem See. »Da werden ungeheure Wassermassen gesammelt. Früher konnte das Wasser über die Urdonau abfließen. Blaubeuren liegt in einer ehemaligen Donauschleife. Aber dann wurde dieser Ausgang durch Flussschotter verschüttet. Bloß das Höhlenwasser da drin hat sich freigestrudelt und eine Art Trichter gebildet. Direkt vor deinen Füßen sozusagen. Da ist dann dieser Quelltopf entstanden, 21 Meter tief … Übrigens, das Wasser hat Sommer wie Winter dieselbe Temperatur, 9 Grad Celsius, und es stammt aus einem Einzugsgebiet von 160 Quadratkilometern. Bei Regen oder in der Zeit der Schneeschmelze schießen da unten über 25000 Liter Wasser pro Sekunde raus!«

Gächter schüttelte fast unmerklich seinen schmalen Kopf. »Und da tauchen die also rein?«

»Der reine Forschungsdrang. Dabei ist das saumäßig schwierig, hab ich mir sagen lassen, weil die Strömung manchmal zu stark ist – zumindest an manchen Stellen, wo sich die unterirdischen Gänge verengen und dann wie Düsen wirken.«

»Komisch«, meinte Gächter, »wie kann ein Mensch bloß neugierig darauf sein.« Er wendete sich ab. Bienzle starrte noch immer auf das Wasser.

– 7 –

Ein alter VW-Bus näherte sich und hielt dicht bei der Hammerschmiede, die von dem Schaufelwasserrad getrieben wurde. Ein junger Mann stieg aus und begann, ein paar wuchtige Holzkisten auszuladen.

Bienzle und Gächter gingen zu ihm hinüber. »Was haben Sie vor?«, fragte Bienzle. Der Mann sah ihn überrascht an. Er mochte fünfundzwanzig Jahre alt sein und wirkte athletisch.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Haben Sie keine Zeitung gelesen?«, fragte Gächter.

»Ich geh morgens um sechs zur Schicht, da ist die Zeitung noch nicht ausgetragen.« Der junge Mann sah sich immer wieder misstrauisch um und suchte mit den Augen die Gegend ab.

»Sie können heute nicht tauchen«, sagte Bienzle.

»Wer sagt das?«

Bienzle zog seinen Dienstausweis und hielt ihn dem jungen Mann unter die Nase.

Das Gesicht des Tauchers verfärbte sich. Er nahm Bienzle den Ausweis aus der Hand und studierte ihn. »Aber …« Er redete nicht weiter.

Gächter beobachtete ihn genau. »Sieht ja ganz so aus, als ob Sie Angst hätten vor der Polizei.«

»Angst? Warum denn Angst?«

»Woher kommen Sie?«, fragte Bienzle.

»Aus Ulm. Ich bin oft hier. Ich hab auch eine Erlaubnis vom Rathaus.« Er kramte in seinen Taschen und brachte ein zerknittertes Blatt Papier mit dem Briefkopf des Bürgermeisteramtes hervor. Bienzle beachtete den Zettel nicht weiter.

»Es hat einen Toten gegeben«, sagte Gächter. »Die Untersuchungen sind noch nicht ganz abgeschlossen.«

»Wer … Ich meine, wer ist tot?«

»Fritz Laible«, sagte Bienzle.

Der junge Mann ließ sich auf die niedrige Umgrenzungsmauer fallen. »Nein … Um Gottes willen!« Er schluckte. »Wie ist das denn passiert?«

»Kennen Sie … Ich meine, kannten Sie den Laible?«

»Sicher; den kennt jeder Taucher.«

»Es sieht so aus, als ob jemand genau gewusst hätte, was der Fritz Laible vorhatte.« Gächter ließ den jungen Mann nicht aus den Augen.

»Haben Sie’s gewusst?«, stieß Bienzle nach.

Der Taucher starrte ihn an, gab aber keine Antwort.

Gächter ging zu dem VW-Bus und schob die Seitentür auf. »Wie viele Atemluftflaschen führen Sie mit?«

»Zwei Doppelflaschen. Warum?«

»Nur so …« Gächter schob die Tür wieder zu.

»Wie heißen Sie?«, fragte Bienzle.

»Horst Zeller.«

»Sie machen Ihre Tauchgänge … Sagt man so?«

»Ja, genau.«

»Machen Sie die allein?«

»Meistens ja.«

Bienzle ging eine Weile auf und ab. Gächter lehnte an einem Baumstamm und drehte sich eine Zigarette, während Zeller unruhig von einem Bein aufs andere trat.

»Was ist denn jetzt?«, fragte der junge Mann schließlich ziemlich ungehalten.

Bienzle blieb vor ihm stehen. »Ich habe keine Ahnung, wie so was geht. Ich meine, wie Sie sich auf den Tauchgang vorbereiten und so. Könnten Sie uns das nicht mal zeigen?«

»Jetzt, gleich hier?«

»Mhm.«

»Ja, ich weiß nicht …«

»Haben Sie etwas zu verbergen?«, fragte Gächter scharf.

»Quatsch!«

»Also, dann tun Sie uns doch den Gefallen.«

»Bis ich angezogen bin – das dauert schon eine Stunde.«

»Wir haben Zeit.« Bienzle zündete sich ein Zigarillo an.

»Früher …« Zeller öffnete eine der Kisten und holte einen schwarzen Gummianzug heraus. »Früher hat man Nasstauchanzüge verwendet, aber die sind veraltet. Jetzt zieht man diese Trockenanzüge an, darunter möglichst viel Wolle: Strumpfhosen, Pullover – so viel wie möglich übereinander. Die Stiefel sind übrigens beheizt. Das geht über Batterie.«

Er schien froh zu sein, endlich etwas tun zu können. Über eine halbe Stunde brauchte er, bis er endlich im Taucheranzug dastand.

»Seit es die neuen Anzüge gibt, kann man fünfmal so lang unten bleiben«, sagte Zeller.

Bienzle erinnerte sich an einen Ausspruch des Professors: ›Es gibt kaum etwas Schwierigeres als die Höhlentaucherei. Da gehören Mut, Ausdauer und jahrelange Erfahrung dazu; ein kühler Kopf und kaltes Blut – auch unter extremen Bedingungen …‹ Na ja.

»Jede Stahlflasche fasst 5000 Liter Luft und steht unter Druck von 200 Bar – das ist das Hundertfache eines Autoreifens«, rief Zeller vom See her, wo er jetzt bis zu den Hüften im Wasser stand und seine Flaschenbatterie zusammenbaute. »Ein untrainierter Mann könnte damit viereinhalb Stunden unten bleiben, aber wenn man richtig schwimmt und sparsam atmet, schafft man es sieben Stunden.«

Gächter beobachtete Zeller genau. »Was erwarten Sie eigentlich da drin im Berg?«

»So bei 1000 Metern hebt sich der Untergrund; da musste ich neulich umdrehen. Aber heute wollte ich weiterkommen, vielleicht einen Teil des Flusshöhlensystems erreichen, in dem man auftauchen kann.«

»Mit den vier Flaschen?«, fragte Gächter lauernd.

»Ja.«

»Und Sie wollten die Dinger nicht unterwegs austauschen?«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Zellers Stimme klang unsicher. Er hakte den Tiefenmesser an einem Gummiband fest, daneben das Manometer, und vermied es, zu den beiden Beamten aufzusehen.

»Weil in den Höhlen Depots angelegt worden sind«, sagte Gächter. »Luftversorgungsdepots sozusagen.«

Zeller stapfte langsam durchs Wasser und blieb unterhalb der beiden stehen. Er trug einen seltsamen Helm, der aus beweglichen Platten bestand, die dem Schädel nachgeformt waren. Vorn am Helm waren vier Lampen angebracht. »Kann ich wenigstens eine Proberunde hier im See drehen?«, fragte er.

»Und was sieht man da?«, fragte Bienzle.

»Grünzeug halt.«

Bienzle schüttelte seinen schweren Kopf. »Die Spielwiese der schönen Lau. Dort unten hat sie ihre Kränze gewunden aus Brunnenkresse, Wasserpeterlein, Algenbärten, Laichkräutern und Wasserhahnenfuß.«

»Ich denk, Sie sind Polizist?«, fragte Zeller frech.

»Wie ist das eigentlich mit dem Tiefenrausch?«, fragte Gächter.

»Im Blut löst sich zu viel Stickstoff, das gibt dann so eine Art Narkose.«

»Gedankenflucht und Entscheidungsschwäche«, murmelte Bienzle.

»Sagt dein Professor?«

»Ja, sagt mein Professor.«

»In welcher Tiefe?«, fragte Gächter.

»Bei 30 Metern etwa.«

»Beim zweiten Siphon«, ergänzte Zeller.

Gächter wandte sich an Bienzle. »Und wo hat es den Laible erwischt?«

»Genau dort.«

»Wäre das eine Erklärung?«

»Kaum. Die Stahlflasche hatte nur noch eine kleine Menge Atemluft.«

»Nein!«, schrie Zeller, und das Entsetzen, das ihn so plötzlich gepackt hatte, war ihm anzusehen.

»Was ist denn?« Bienzle beugte sich vor.

»Kommen Sie raus da!«, befahl Gächter.

Zeller stieg aus dem Wasser. »Die Flaschen waren also leer?«

»Fast.«

»Aber er hat sie doch selber …«

»Sie wissen’s also doch?«

»Ja, sicher. Ich … Ich …« Er unterbrach sich und riss den Helm vom Kopf. Dann gab er sich einen Ruck: »Ich wollte sie benutzen.«

»Laibles Atemgeräte?«

»Ich hätt’s ihm sofort gesagt und die Dinger ersetzt.«

»Aber warum?«, fragte Gächter.

»Na, das ischt doch klar«, brummte Bienzle, »jeder will der Erste sein, und da scheuen diese blindwütigen Fanatiker vor gar nichts zurück.«

»Stimmt das?«, fragte Gächter scharf.

»Ja …« Zeller nickte.

»Das versteh, wer will!«, knurrte Gächter.

»Ich tauch schon seit sechs Jahren. Länger und intensiver als der Laible. Aber der hat Geld. Und deshalb hat er auch die bessere Ausrüstung … Meinen Sie, ich könnt alle paar Meter ein ganzes Atemversorgungssystem verstecken?«

Bienzle stapfte auf dem Kiesweg auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf weit vorgebeugt. »Woher haben Sie’s gewusst?«

»Man hat davon gesprochen.«

»Wer ist man?«

»Die Fachleut halt.«

»Wie ich gehört habe, gibt’s davon nicht mehr als ein Dutzend«, sagte Bienzle.

Zeller antwortete nicht. Er begann, sich aus seiner Taucherausrüstung zu schälen. Auf dem Wasser dümpelten die Stahlflaschen.

»Also?«, rief Bienzle. »Raus mit der Sprache!«

»Vielleicht gehen Sie ja von falschen Voraussetzungen aus«, murmelte Zeller.

»Aha … Und welche wären das?«

»Die Atemflaschen können schadhaft gewesen sein. Oder irgendwer hat sie vertauscht, ehe der Laible sie in die Höhle geschafft hat.«

»Mhm«, machte Bienzle. »Aber das wäre dann ja wohl auch Absicht gewesen.«

»Schon«, sagte Zeller, »aber dazu muss man nicht tauchen können!«

– 8 –

Die Beerdigung war am Freitagnachmittag. Der Himmel hatte sich schon in den frühen Morgenstunden grau überzogen, und der Regen wurde von Stunde zu Stunde stärker. Bienzle lehnte an einer alten Birke und säuberte mit dem Daumennagel der rechten Hand die Fingernägel der linken. Gächter hatte keine Lust gehabt, mitzukommen. Er saß im Gasthof und studierte den Abschlussbericht der technischen Abteilung über den Zustand der geborgenen Atemluftflaschen.

Wohl selten konnte der Pfarrer vor einer so großen Gemeinde predigen. Die Leute trugen feierliches Schwarz, aber niemand weinte. Selbst als der Sarg hinabgelassen wurde, schienen die Menschen ringsum gleichmütig zuzuschauen. Danach verließen die meisten den Friedhof fast fluchtartig. Sie mussten alle an Bienzle vorbei, der, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Oberkörper leicht vorgebeugt, am Tor stand.

Die Männer, die den Sarg an Seilen in die Tiefe gelassen hatten, warfen nun in schnellem Rhythmus Schaufeln voller lehmiger Erde hinterher. Die Frau, die als Einzige regungslos vor der Grube stehen geblieben war, schienen sie nicht zu bemerken. Langsam stapfte Bienzle über den aufgeweichten Weg hinüber und blieb neben der schmalen Gestalt stehen.

Hanna Laible hob den Kopf ein wenig und wandte sich dem Kommissar zu.

»Müssen Sie nicht zum Leichenschmaus?«, fragte Bienzle.

Sie schüttelte stumm den Kopf. Dann warf sie einen kleinen Blumenstrauß, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, in das Grab und stöckelte auf ihren hochhackigen Schuhen dem Ausgang zu.

Bienzle hielt sich dicht neben ihr. »Wo haben Sie’s erfahren?«

»Ich hab’s gelesen.«

»Ich hab nicht gefragt wie, sondern wo.«

Sie antwortete nicht.

»Immerhin sind Sie polizeilich gesucht worden, Frau Laible.«

»Warum?«

»Man hat Sie als vermisst gemeldet!«

»Wer?«

»Ihr Mann. Ihr verstorbener … Fritz Laible eben.«

»Das sieht ihm ähnlich.«

»Und man hat Kleidungsstücke von Ihnen gefunden.«