19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €
Was ist Gerechtigkeit? Wie wissen wir, was wir wissen? Was macht ein sinnvolles Leben aus? Mit Fragen wie diesen haben sich viele Philosophen auseinandergesetzt und Ideen formuliert, die unsere Welt beeinflusst und verändert haben. Das Philosophie-Buch führt durch über 2000 Jahre philosophisches Denken und erklärt über 100 große Ideen berühmter Denker - von Platon über Heidegger bis Derrida. Chronologisch geordnete Portraits liefern Informationen zum Leben der einzelnen Philosophen und ihren Hauptwerken. Außerdem wird jede Kernthese durch übersichtliche Querverweise in einen historischen Zusammenhang gestellt. So werden beispielsweise ihre Vordenker und Schüler ersichtlich. Bekannte und unbekannte Zitate wie "Der Zweck rechtfertigt die Mittel" oder "Die Welt war nicht immer da" kombiniert mit einer unkonventionellen Gestaltung der Seiten machen Lust auf ein oft als abstrakt und komplex eingeschätztes Thema. Perfekt für Schüler und Studenten!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 547
EINLEITUNG
DIE ALTE WELT
700 V. CHR.–250 N. CHR.
Alles besteht aus Wasser
Thales von Milet
Das Dao, das man beim Namen nennen kann, ist nicht das ewige Dao
Laotse
Das Wesen des Kosmos ist die Zahl
Pythagoras
Glücklich ist, wer sein Ich überwunden hat
Siddhartha Gautama
Mache Treue und Aufrichtigkeit zu obersten Prinzipien
Konfuzius
Alles fließt
Heraklit
Alles ist eins
Parmenides
Der Mensch ist Maß aller Dinge
Protagoras
Wirft mir jemand einen Pfirsich zu, gebe ich ihm eine Pflaume zurück
Mozi
In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere
Leukipp und Demokrit
Ein Leben ohne Selbsterforschung ist nicht lebenswert
Sokrates
Alles Seiende ist nur ein Schatten
Platon
Die Wahrheit liegt in der Welt um uns
Aristoteles
Tod bedeutet uns nichts
Epikur
Der hat am meisten, der zufrieden mit dem wenigsten ist
Diogenes von Sinope
Das Ziel ist ein Leben im Einklang mit der Natur
Zenon von Kition
DIE WELT DES MITTELALTERS
250–1500
Gott ist nicht der Vater des Bösen
Augustinus
Gott kennt unsere freien Gedanken und Taten im Voraus
Boethius
Die Seele ist vom Körper getrennt
Avicenna
Allein wenn wir Gott denken, können wir wissen, dass er existiert
Anselm von Canterbury
Philosophie und Religion sind nicht unvereinbar
Averroes
Gott hat keine Attribute
Moses Maimonides
Trauere nicht. Was dir in einer Form genommen, wächst dir in anderer wieder zu
Dschalal ad-Din Muhammad-e Rumi
Die Welt war nicht immer da
Thomas von Aquin
Gott ist das Nichtandere
Nikolaus von Kues
Ein gewisses Maß an Ignoranz führt zum Glück
Erasmus von Rotterdam
RENAISSANCE UND RATIONALISMUS
1500–1750
Der Zweck rechtfertigt die Mittel
Niccolò Machiavelli
Ruhm und Ruhe können nicht unter einem Dach wohnen
Michel de Montaigne
Wissen ist Macht
Francis Bacon
Der Mensch ist eine Maschine
Thomas Hobbes
Ich denke, also bin ich
René Descartes
Einbildung entscheidet alles
Blaise Pascal
Gott ist Ursache von allem, was in ihm ist
Baruch de Spinoza
Kein Wissen kann die Erfahrung eines Menschen übersteigen
John Locke
Es gibt zwei Arten von Wahrheiten: Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten
Gottfried Wilhelm Leibniz
Sein ist Wahrgenommenwerden
George Berkeley
DAS ZEITALTER DER REVOLUTION
1750–1900
Zweifel ist kein angenehmer Zustand, Gewissheit jedoch absurd
Voltaire
Gewohnheit ist die Führerin des Lebens
David Hume
Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten
Jean-Jacques Rousseau
Der Mensch ist ein Tier, das Handel treibt
Adam Smith
Es gibt zwei Welten: die Welt, wie sie uns erscheint, und die Welt der Dinge an sich
Immanuel Kant
Die Gesellschaft ist ein Vertrag
Edmund Burke
Das größte Glück für die größte Zahl
Jeremy Bentham
Der Geist hat kein Geschlecht
Mary Wollstonecraft
Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man sei
Johann Gottlieb Fichte
Über keinen Gegenstand philosophieren sie seltner als über die Philosophie
Friedrich Schlegel
Die Wirklichkeit ist ein geschichtlicher Prozess
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Jeder hält die Grenzen seines Gesichtskreises für die Grenzen der Welt
Arthur Schopenhauer
Theologie ist Anthropologie
Ludwig Feuerbach
Über den eigenen Körper und Geist bestimmt jeder souverän
John Stuart Mill
Angst ist der Schwindel der Freiheit
Søren Kierkegaard
Alle bisherige Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen
Karl Marx
Muss ein Bürger sein Gewissen an den Gesetzgeber abtreten?
Henry David Thoreau
Überlege, wie Dinge wirken
Charles Sanders Peirce
Handle, als komme es darauf an, was du tust
William James
DIE MODERNE WELT
1900–1950
Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll
Friedrich Nietzsche
Menschen mit Selbstvertrauen kommen, sehen, erobern
Achad Ha’am
Jede Botschaft besteht aus Zeichen
Ferdinand de Saussure
Bloße Erfahrung ist keine Wissenschaft
Edmund Husserl
Intuition geht den gleichen Weg wie das Leben
Henri Bergson
Wir denken nur, wenn wir mit Problemen konfrontiert werden
John Dewey
Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen
George Santayana
Nur das Leiden macht uns zu Personen
Miguel de Unamuno
Glaube an das Leben
William Du Bois
Der Weg zum Glück liegt in der organisierten Verringerung der Arbeitszeit
Bertrand Russell
Liebe ist eine Brücke von ärmerer zu reicherer Erkenntnis
Max Scheler
Nur als Individuum kann man zum Philosophen werden
Karl Jaspers
Das Leben ist eine Folge von Kollisionen mit der Zukunft
José Ortega y Gasset
Um zu philosophieren, muss man zunächst bekennen
Hajime Tanabe
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt
Ludwig Wittgenstein
Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst
Martin Heidegger
Moralisch hat das Individuum nur eine Wahl: das Opfer für die Gemeinschaft
Tetsuro Watsuji
Logik ist der letzte wissenschaftliche Bestandteil der Philosophie
Rudolf Carnap
Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt
Walter Benjamin
Das, was ist, kann nicht wahr sein
Herbert Marcuse
Die Geschichte gehört nicht uns, sondern wir gehören ihr
Hans-Georg Gadamer
Insofern sich die Sätze einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit beziehen, müssen sie falsifizierbar sein
Karl R. Popper
Intelligenz ist eine moralische Kategorie
Theodor W. Adorno
Die Existenz geht der Essenz voraus
Jean-Paul Sartre
Die Banalität des Bösen
Hannah Arendt
Vernunft lebt in der Sprache
Emmanuel Levinas
Um die Welt zu erfassen, müssen wir mit gewohnten Wahrnehmungsweisen brechen
Maurice Merleau-Ponty
Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es
Simone de Beauvoir
Sprache ist eine soziale Kunstfertigkeit
Willard Van Orman Quine
Freiheit heißt vor allem anderen Freiheit von Ketten
Isaiah Berlin
Denke wie ein Berg
Arne Næss
Das Leben lässt sich einfacher leben, wenn es keinen Sinn hat
Albert Camus
ZEITGENÖSSISCHE PHILOSOPHIE
1950 BIS ZUR GEGENWART
Die Sprache ist eine Haut
Roland Barthes
Wie kämen wir zurecht ohne eine Kultur?
Mary Midgley
Normale Wissenschaft ist nicht auf neues Faktenwissen oder Theorien aus
Thomas S. Kuhn
Gerechtigkeitsprinzipien sollten unter dem Schleier des Nichtwissens ausgewählt werden
John Rawls
Kunst ist eine Lebensform
Richard Wollheim
Anything goes – mach, was du willst
Paul Feyerabend
Wissen wird produziert, um es zu verkaufen
Jean-François Lyotard
Für den schwarzen Menschen gibt es nur ein Ziel. Und das ist weiß
Frantz Fanon
Der Mensch ist eine junge Erfindung
Michel Foucault
Wenn wir wollen, können wir in einer Welt bequemer Illusionen leben
Noam Chomsky
Gesellschaft lebt auch aus der Kritik der eigenen Traditionen
Jürgen Habermas
Es gibt nichts außerhalb des Textes
Jacques Derrida
Es ist nichts tief in uns, was wir nicht selbst dorthin verlegt hätten
Richard Rorty
Jedes Begehren hat einen Bezug zum Wahnsinn
Luce Irigaray
Jedes Imperium erklärt sich und der Welt, es gleiche keinem anderen Imperium
Edward Said
Denken hat stets mit Entgegensetzung gearbeitet
Hélène Cixous
Wer spielt Gott im gegenwärtigen Feminismus?
Julia Kristeva
Philosophie ist keine nur schriftliche Unternehmung
Henry Odera Oruka
Im Leiden sind die Tiere uns gleichgestellt
Peter Singer
Die besten marxistischen Analysen waren stets solche des Scheiterns
Slavoj Žižek
WEITERE PHILOSOPHEN
GLOSSAR
DANK
Philosophie ist nicht nur die Domäne brillanter, aber ein wenig schrulliger Denker. Wir alle philosophieren, wenn wir gerade nicht mit Alltagsdingen beschäftigt sind, sondern den Kopf frei haben nachzudenken, was es mit dem Leben und dem Universum auf sich hat. Von Natur neugierig, können wir Menschen gar nicht anders – wir müssen nach der Welt um uns und unserer Stellung darin fragen. Wir besitzen intellektuelle Fähigkeiten, die uns das Fragen und Denken erlauben. Und immer wenn wir argumentierend denken, denken wir philosophisch.
Philosophie ist weniger ein Kompendium von Antworten auf fundamentale Fragen als der Versuch, solche Antworten zu finden. Statt traditionelle Ansichten oder Autoritäten fraglos zu akzeptieren, geht es darum, unsere Vernunft anzuwenden. Die ersten Philosophen im antiken Griechenland und alten China waren Denker, denen Erklärungen, wie sie Religion und Tradition lieferten, nicht länger genügten: Sie wollten Antworten, die rational gerechtfertigt waren. So wie wir uns mit Freunden und Kollegen austauschen, haben sie ihre Vorstellungen untereinander diskutiert und schließlich »Schulen« gegründet. Auch dort wollten sie nicht nur ihre Erkenntnisse lehren, sondern vor allem die Methoden, mit denen sie dazu gelangt waren. Sie ermutigten ihre Schüler zu Widerspruch und Kritik, denn das sind die Mittel, um Ideen zu präzisieren und neue zu entwickeln. Auch dass ein Philosoph einsam zu seinen Schlüssen gelange, ist ein Missverständnis. Neue Ideen entstehen in der Diskussion, man prüft, untersucht und kritisiert eigene und fremde Ideen.
Philosoph in diesem Sinn war Sokrates, der keinerlei Schriften hinterließ. Er sei, so rühmte er sich, nicht wegen großer Ideen der weiseste unter den Menschen, sondern weil er wisse, dass er nichts wisse. Das nämlich zwang ihn, die Ergebnisse seines Denkens immer wieder zu hinterfragen. Dies ist sein Vermächtnis: Debatte und Diskussion, das methodische Fragen und Hinterfragen eigener und fremder Gedanken, um so zu tieferem Verständnis und fundamentalen Wahrheiten zu gelangen. Auch sein Schüler Platon hat keine Abhandlungen geschrieben, sondern seine Gedanken in sokratischen Lehr- und Streitgesprächen nachgezeichnet. Spätere Philosophen übernahmen die Form des Dialogs, entwickelten ihre Ideen in Meinung und Gegenmeinung, statt sie fix und fertig zu präsentieren.
»Denn gerade das ist ja das eigentliche Erlebnis des Philosophen, das Staunen. Es gibt nämlich keinen anderen Ursprung der Philosophie als diesen …«
Platon, Theaitetos
Jeder Philosoph, der seine Ideen vorstellt, muss gewärtig sein, dass man ihm Kommentare entgegenhält, die mit »Ja, aber …« oder »Was wäre, wenn …« beginnen. Philosophen haben einander in fast jedem Aspekt der Philosophie widersprochen. Auch Platon und sein Schüler Aristoteles vertraten entgegengesetzte Ansichten zu philosophischen Grundfragen. Seither haben beider unterschiedliche Denkweisen die Philosophen gespalten. Ihr Widerspruch hat weitere Debatten provoziert, zu neuen Ideen geführt.
Warum aber sorgen diese uralten philosophischen Fragen noch immer für Kontroversen? Warum haben die Denker keine definitiven Antworten hervorgebracht? Was sind diese Grundfragen, um deren Beantwortung Philosophen alle Epochen hindurch gerungen haben?
Als vor 2500 Jahren im antiken Griechenland die ersten Philosophen von sich reden machten, war es die Welt, die sie zum Staunen brachte. Sie sahen die Erde, die sie bewohnten, das Leben in seinen vielen Formen, sahen Sonne und Mond, Planeten und Sterne. All das wollten sie erklären – jedoch nicht durch traditionelle Mythen oder Göttersagen, sondern durch etwas, was ihre Neugierde und ihren Intellekt befriedigte. Die erste Grundfrage, die diese frühen Philosophen beschäftigte, lautete: »Woraus besteht das Universum?« Sie wurde bald erweitert zu: »Was ist die Natur, das Wesen alles dessen, was existiert?« Diesen Bereich der Philosophie nennen wir Metaphysik. Die ursprüngliche Frage haben die modernen Naturwissenschaften zu großen Teilen beantwortet, eine der metaphysischen Grundfragen aber: »Warum ist etwas und nicht nichts?«, kann die Naturwissenschaft nicht beantworten.
Weil auch wir als Teil des Universums existieren, fragt Metaphysik auch nach der menschlichen Existenz. Was bedeutet es, ein denkendes, ein (selbst)bewusstes Wesen zu sein? Wie nehmen wir die uns umgebende Welt wahr – und existieren die Dinge auch unabhängig von unserer Wahrnehmung? Welche Beziehungen bestehen zwischen Geist und Körper, gibt es so etwas wie eine unsterbliche Seele? Das ist der Bereich der Metaphysik, der sich mit Fragen nach dem Sein befasst, die Ontologie, das Fundament weiter Teile der abendländischen Philosophie.
Kaum hatten Philosophen begonnen, überliefertes Wissen einer rationalen Prüfung zu unterziehen, standen sie vor einer weiteren Grundfrage: »Wie können wir wissen?« Fragen nach Methoden der Naturerkenntnis und den Grenzen des Wissens bestimmen die Erkenntnislehre, einen zweiten Hauptbereich der Philosophie. Ihr geht es um die Verfahren, mit denen wir Wissen erwerben: Woher und warum wissen wir, was wir wissen? Kann bloßes Nachdenken zu Wissen führen? Das sind entscheidende Fragen, denn wenn wir richtig denken wollen, muss auf das Wissen Verlass sein. Wie sollten wir, ohne Geltungsbereich und Grenzen unseres Wissens zu kennen, entscheiden, ob wir tatsächlich wissen, was wir zu wissen meinen, oder ob uns unsere Sinne nicht »getäuscht« haben?
Logisches Denken verlangt, sich der Wahrheit von Urteilen zu versichern, die dann, zu einer Kette von Gedanken ausgebaut, zu einem Schluss führen. Uns mag das selbstverständlich scheinen, aber durch die Vorstellung des vernünftigen Argumentierens unterschied sich die Philosophie von Aberglauben und religiösen Erklärungen. Um diesen zu begegnen, mussten die ersten Philosophen einen Weg finden, die Gültigkeit ihrer Vorstellungen abzusichern. Aus ihrer Art zu denken entwickelte sich die Logik. Sie war zunächst ein nützliches Mittel, um herauszufinden, ob ein Argument wasserdicht war, bildete jedoch bald Regeln und Konventionen, wurde schließlich zu einem weiteren Bereich der Philosophie.
»Aberglaube setzt die ganze Welt in Brand, die Philosophie löscht ihn.«
VoltairePhilosophisches Wörterbuch
Wie viele von deren Themen steht auch die Logik in enger Verbindung zu den Naturwissenschaften und insbesondere zur Mathematik. Die Grundstruktur eines logischen Arguments – der Beginn mit einer Voraussetzung und die schrittweise Erarbeitung eines Schlusses – ist dieselbe wie die eines mathematischen Beweises. Nicht zufällig haben sich Philosophen häufig auf die Mathematik bezogen, wenn sie nach Beispielen unbestreitbarer Wahrheiten suchten. Sicher nicht zufällig waren viele große Denker, von Pythagoras bis zu René Descartes und Gottfried Leibniz, auch große Mathematiker.
Logik mag als das exakteste und »wissenschaftlichste« Gebiet der Philosophie erscheinen, als Feld, auf dem die Dinge entweder wahr oder falsch sind. Doch liegen die Dinge nicht so einfach. Im 19. Jahrhundert stellten Fortschritte in der Mathematik die Regeln der Logik in Frage, die Aristoteles formuliert hatte. Aber schon in der Antike hatte Zenon mit seinen Paradoxa gezeigt, dass man auch mit fehlerfreien Argumenten zu absurden Ergebnissen gelangen kann.
Ein Großteil der logischen Probleme rührt daher, dass die philosophische Logik nicht wie die Mathematik in Zahlen oder Symbolen, sondern in Worten dargestellt wird. Sie ist also abhängig von allen Widersprüchlichkeiten, die der Sprache eigen sind. Ein vernünftiges Argument aufzubauen, verlangt einen sorgfältigen Gebrauch der Sprache. So müssen wir unsere Behauptungen und Argumente genau untersuchen und sicherstellen, dass sie wirklich bedeuten, was wir denken, dass sie bedeuten. Wenn wir Argumente anderer daraufhin prüfen wollen, ob ihre Schlüsse hieb- und stichfest sind, müssen wir nicht nur ihre logischen Schritte, sondern auch ihre Sprache analysieren. Daraus entwickelte sich das Feld der Sprachphilosophie, die im 20. Jahrhundert blühte.
Weil unsere Sprache ungenau ist, haben sich Philosophen seit jeher bemüht, bei der Suche nach Antworten auch Begriffe zu klären. Die Fragen, die Sokrates den Bürgern von Athen stellte, sollten ergründen, was die von ihnen verwendeten Begriffe bedeuteten. Seine Fragen waren scheinbar einfach: »Was ist Gerechtigkeit?« etwa oder »Was ist Schönheit?«. Er suchte nicht nach Definitionen, sondern veranlasste die Menschen, selbst herauszufinden, welche Fragen und Probleme in Begriffen, Vorstellungen oder Regeln steckten, die sie so selbstverständlich verwendeten. Von Sokrates’ Fragen getrieben, stellten seine Gesprächspartner selbst Annahmen in Frage, nach denen sie (oder wir) unser Leben ausrichten und die Dinge bewerten.
Die Untersuchung dessen, was ein »gutes Leben« ist, was Begriffe wie Gerechtigkeit oder Glück wirklich bedeuten, mit welchem Handeln sie zu erreichen sind, gehört in den Bereich der Moralphilosophie oder Ethik. Aus der Untersuchung dessen, was Schönheit ist, ging der Bereich der philosophischen Ästhetik hervor. Fragen wir in ethischer Absicht nach unserem individuellen Leben, gelangen wir ziemlich direkt auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben möchten – wie ihre Bürger regiert werden, welche Rechte und Pflichten sie haben sollten usw. Damit befasst sich die politische Philosophie, der letzte ihrer Hauptbereiche. Einige Philosophen haben Vorstellungen davon entwickelt, wie eine Gesellschaft aufgebaut sein sollte, das reicht von Platons Der Staat bis zum Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels.
»O Philosophie, Lenkerin des Lebens, Entdeckerin der Tugend, Siegerin über die Laster! Was wären nicht nur wir, sondern das Leben der Menschen überhaupt ohne dich?«
Cicero, Gespräche in Tusculum
Die diversen Gebiete der Philosophie hängen nicht nur inhaltlich zusammen, sie überschneiden sich auch. Zugleich greift Philosophie auch in andere Themenfelder ein, unter anderem in die Naturwissenschaften, Geschichte oder Kunst. Entstanden in der Kritik religiöser Dogmen und Aberglauben, untersucht Philosophie auch die Religion, insbesondere mit den Fragen »Existiert Gott?« oder »Haben wir eine unsterbliche Seele?« – Fragen also, die in der Metaphysik wurzeln, aber auch Folgen für die Ethik haben. So haben einige Philosophen danach gefragt, ob Moral von Gott gegeben oder ein rein menschliches Konstrukt sei – woraus sich die Debatte um den freien Willen des Menschen entsponnen hat.
Bei den östlichen, in China und Indien entstandenen Philosophien (insbesondere in Daoismus und Buddhismus) sind die Grenzen zur Religion unscharf, zumindest im Sinn des westlichen Denkens. Darin zeigt sich einer der Hauptunterschiede zwischen östlichem und westlichem Philosophieren. Auch wenn östliche Philosophien nicht das Ergebnis einer Offenbarung sind oder aus Dogmen folgen, sind sie häufig eng verbunden mit dem, was bei uns als Frage des Glaubens gilt. Dieser gehört zur östlichen Philosophie, während Glaube in der christlich-jüdischen und der islamischen Welt häufig etwas ist, das seinerseits mit rationalen Argumenten zu rechtfertigen ist. Auch in ihren Ausgangspunkten unterscheiden sich beide philosophischen Traditionen. Die alten Griechen stellten metaphysische Fragen. Die ersten chinesischen Philosophen dagegen hielten Grundfragen wie die nach dem Wesen der Dinge oder der Existenz mit dem Glauben bereits zunehmend beantwortet, beschäftigten sich daher eher mit politischer und Moralphilosophie.
»An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.«
William ShakespeareHamlet
Philosophie hat uns einige der bedeutsamsten und einflussreichsten Ideen der Geschichte verschafft. Eine Auswahl davon präsentiert dieses Buch, entweder in Form knapper Zitate namhafter Philosophen oder in prägnanten Zusammenfassungen. Das vielleicht bekannteste Zitat ist Descartes’ »Cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«). Es gilt als eine der wichtigsten Ideen der Philosophiegeschichte, als entscheidender Wendepunkt des Denkens, der den Beginn der Neuzeit markiert. Aus dem Zusammenhang gelöst, sagt ein solches Zitat allerdings wenig. Kein Wunder, als Schlusspunkt einer langen Argumentationskette zur Frage der Erkenntnisgewissheit erschließt es sich erst, wenn man diesen Argumentationsgang verstanden hat. Erst wenn wir die Konsequenzen aus Descartes’ Gedankengang begriffen haben, sehen wir auch, warum er für das abendländische Denken wichtig war und ist.
Viele in diesem Buch dargestellte Ideen werden auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen, manche trivial und selbstverständlich, andere paradox oder hochfliegend. Manche scheinen Bertrand Russells respektlose Bemerkung zu bestätigen, derzufolge Philosophie mit etwas Einfachem, kaum Bemerkenswertem beginne, nur um bei einem Paradoxon zu landen, das uns unglaublich vorkommt. Warum also sind diese Ideen wichtig?
Manche der in diesem Buch präsentierten Theorien waren etwas völlig Neues. Uns mögen ihre Schlussfolgerungen vertraut erscheinen, doch zu ihrer Zeit waren sie verwirrend. Trotz ihrer scheinbaren Einfachheit können sie auch uns dazu bringen, Dinge, die uns selbstverständlich erscheinen, neu zu durchdenken. Und wenn sie uns widersinnig oder intuitiv falsch vorkommen, können sie uns dazu veranlassen, unsere Annahmen über uns und die Welt in Frage zu stellen, können uns Wege zeigen, die Welt ganz anders zu betrachten. Viele dieser Ideen führen zu Fragen, über die sich Philosophen noch immer den Kopf zerbrechen. Manche Ideen können sich auch auf Gedanken und Theorien beziehen, die ein Philosoph in anderen Wissensbereichen entwickelt hat, stammen eventuell auch aus der kritischen Beschäftigung mit dem Werk anderer Philosophen. Solche Auseinandersetzungen können sich über Generationen hingezogen haben, als bestimmte Argumentationsketten auch zum Zentrum einer philosophischen »Schule« geworden sein.
Viele große Philosophen haben ihre Ideen zu umfassenden Systemen entfaltet. Vorstellungen zum Erkenntnisprozess etwa können zu metaphysischen Ansichten über das Weltganze oder die menschliche Seele erweitert werden. Das wiederum hat Folgen für die Frage nach dem richtigen Leben oder der idealen Gesellschaft. Schließlich wurden solche Systeme zum Ausgangspunkt späterer Denker.
Philosophische Ideen, auch das sollten wir festhalten, sind niemals restlos überholt. Selbst wenn sie sich durch die weitere Entwicklung des Denkens oder der Wissenschaften als falsch erwiesen, haben sie uns noch manches zu sagen. Umgekehrt galten viele Ideen lange als falsch und erst später sah man, wie weitblickend sie waren – etwa die Vorstellungen der griechischen Atomisten. Zudem geht es nicht nur um Ideen, sondern darum, dass mit deren Formulierung die Verfahren der Philosophie, ihre Weise, Gedanken zu organisieren, begründet wurden. Ideen sind nur ein kleiner Teil des Denkens eines Philosophen, meist die Quintessenz eines längeren Studiums und Nachdenkens.
Auch außerhalb des engen Fachgebiets Philosophie gewannen Ideen an Einfluss, in der Wissenschaft wie in politischen oder künstlerischen Bewegungen. Die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Philosophie sind meist wechselseitig, beide Seiten befruchten einander. Entwicklungen in der Logik hatten Folgen für die Mathematik, wurden zur Basis der wissenschaftlichen Methode, die sich auf systematische Beobachtung der Welt stützt. Ideen zum Wesen von Selbst und Bewusstsein sind in die wissenschaftliche Psychologie eingegangen. Neurophysiologie hat das Denken über das Denken beeinflusst.
»Skepsis ist der erste Schritt auf dem Weg zur Philosophie.«
Denis DiderotPhilosophische Gedanken
Wechselwirkung bestimmt auch das Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft. Ethische Theorien fanden im Verlauf der Geschichte Anhänger unter politischen Führern, haben die Gesellschaft geprägt, in der wir leben, gar Revolutionen beflügelt. Ethische Entscheidungen, wie sie in allen Berufen gefällt werden müssen, haben moralische Dimensionen, die von Philosophen bestimmt wurden.
Die Ideen in diesem Buch wurden von Menschen entwickelt, und die lebten in Gesellschaften und Kulturen – auch hier gibt es eine Wechselwirkung. Wenn wir Ideen untersuchen, können wir uns ein Bild machen von nationalen und regionalen Eigenarten, vom Geist der Zeit, in der sie entstanden.
Die hier mit ihren Kernthesen – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vorgestellten Philosophen zeigen sich als Persönlichkeiten: manche optimistisch, andere pessimistisch, einige übergenau und sorgfältig, andere in großen Bögen denkend. Manche äußern sich präzise, andere eher poetisch, die meisten in einer dichten, abstrakten Sprache, die aufzuschlüsseln Zeit braucht. Liest man die Originaltexte, wird man den Ideen nicht nur zustimmen oder sie ablehnen, nicht nur den Argumenten folgen, mit denen sie entwickelt wurden, sondern auch erahnen, was für eine Person hinter den Erkenntnissen steckt. Man kann den geistreichen Hume und seine Prosa mögen, sich mit seinen Gedanken aber gar nicht wohlfühlen, kann Schopenhauer mit Genuss lesen und doch spüren: Er war kein angenehmer Zeitgenosse.
Alle diese Denker aber waren (sind) interessant, anregend, große Autoren, deren Schriften man mit ebenso viel Gewinn liest wie gute Literatur. Man wird ihren Sprachstil, darin ihre Art zu denken, ihr Philosophieren zu schätzen lernen. Das verführt zum Selbstdenken und kann begeistern wie ein Kunstwerk.
Philosophie handelt nicht nur von Ideen, nicht nur von richtigen oder falschen Antworten. Vor allem geht es um eine besondere Art zu denken, um das richtige Fragen. Das kann Philosophen zu radikal unterschiedlichen Positionen führen, ihnen aber auch Bereiche eröffnen, in denen die Wissenschaft schweigen muss und in die die Religion keinen Weg weist.
Wenn Staunen und Neugierde menschliche Eigenschaften sind, dann gilt dies auch für die Freude der Entdeckung. Philosophie vermag uns genauso zu »elektrisieren« wie andere Aktivitäten. Wir gewinnen Befriedigung, weil uns unsere Ideen und Einsichten nicht von Gesellschaft, Lehrern, Religion und auch nicht von Philosophen aufgezwungen wurden, sondern weil wir diese Ideen durch eigenes Denken gewonnen haben.
»Der Ursprung des Gedankens liegt im Widerspruch – nicht nur mit anderen, sondern auch mit uns selbst.«
Eric HofferThe Passionate State of Mind
624–546V. CHR.
Thales von Milet, der erste namentlich bekannte griechische Philosoph, sucht rationale Antworten auf Fragen zur Welt, in der wir leben.
551V. CHR.
Vermutliches Geburtsjahr von Konfuzius (Kong Fuzi), der seine Philosophie auf Respekt und Tradition gründete.
480V. CHR.
Tod von Siddartha Gautama, des Buddha, Begründer der Religion und der Philosophie des Buddhismus.
UM460V. CHR.
Empedokles entwickelt die Theorie der Vier Elemente. Er ist der letzte griechische Philosoph, der seine Ideen in Versen festhält.
569V. CHR.
Geburt von Pythagoras, des griechischen Denkers, der Philosophie und Mathematik verbindet.
508V. CHR.
Der mächtige griechische Stadtstaat Athen gibt sich eine demokratische Verfassung.
469V. CHR.
Geburt des Sokrates, sein methodisches Fragen wird zu einer Grundlage der abendländischen Philosophie.
404V. CHR.
Mit der Niederlage im Peloponnesischen Krieg verliert Athen seine politische Macht.
UM385V. CHR.
Platon gründet in Athen seine einflussreiche Akademie.
UM332–265V. CHR.
Zenon von Kition, Begründer der Stoa, deren Lehre auch im Römischen Reich noch Anhänger findet.
UM100–178N. CHR.
Ptolemäus, griechischer Astronom und Philosoph in Alexandria, lehrt, dass die Erde unbewegt im Mittelpunkt des Kosmos steht.
UM150N. CHR.
Galen von Pergamon entwickelt eine methodische, auf Beobachtung fußende Heilkunde, die bis ins 16. Jh. anerkannt bleibt.
335V. CHR.
Aristoteles, Schüler Platons, eröffnet seine Schule in Athen, das Lyceum.
323V. CHR.
Der Tod Alexanders des Großen markiert das Ende der kulturellen und politischen Vorherrschaft Griechenlands.
122N. CHR.
Baubeginn am Hadrianswall in England, der nördlichsten Grenze des Römischen Reiches.
220N. CHR.
Mit dem Ende der Han-Dynastie zerfällt das damalige Reich China, es beginnt die Zeit der Drei Reiche.
Immer schon haben die Menschen die Welt hinterfragt und wollten ihre Stellung darin ergründen. Frühe Gesellschaften fanden Antworten auf ihre fundamentalen Fragen in Mythen und religiösen Kulten: Handlungen der Götter erklärten das Funktionieren des Kosmos und die Gottheiten mussten dazu gebracht werden, dessen Bestand weiter zu sichern.
Irgendwann reichten traditionelle Erklärungen nicht mehr aus, einige Menschen begannen Antworten zu suchen, die auf eigenem Denken und nicht länger auf Traditionen und Erzählungen basierten. Dies war die Geburt der Philosophie. Thales von Milet, der historisch erste Denker, den wir namentlich kennen, versuchte das Wesen des Kosmos mit Vernunft zu ergründen und ermutigte auch andere, das Gleiche zu tun. Denn was er seinen Anhängern weitergab, waren weniger Antworten als vielmehr Methoden rationalen Denkens und Kriterien für befriedigende Erklärungen.
»Woraus ist die Welt gemacht?« Diese Hauptfrage der frühen Philosophen richtet sich auf den Urgrund allen Seins. Mit dieser Frage begründeten sie auch die Tradition des wissenschaftlichen Denkens, die enge Verbindung zwischen Philosophie und Naturwissenschaften besteht bis heute. Einen ersten Wendepunkt, einen weiteren Schritt Richtung Abstraktion, markiert das Werk des Pythagoras, denn er wollte die Welt nicht durch eine Urmaterie erklären, sondern durch mathematische Begriffe. Er und seine Schüler beschrieben die Struktur des Kosmos mit Zahlenverhältnissen und Geometrie. Für die Pythagoreer hatten Zahlen und Zahlenverhältnisse noch mythisch-mystische Bedeutung, doch ihre Art der Welterklärung gab der Entwicklung des (natur)wissenschaftlichen Denkens eine bestimmte Richtung.
Als die griechischen Stadtstaaten mächtiger wurden, verbreiteten sich philosophisches Fragen und Denken in der gesamten griechischen Welt, deren kulturelles Zentrum Athen wurde. Das Spektrum philosophischer Themen erweiterte sich, die Philosophen fragten auch nach ihrem eigenen Tun, und das Denken erhielt einen Selbstbezug: »Wie wissen wir, was wir wissen?« und »Was gehört zu einem guten Leben?« Sokrates, Bürger von Athen, stand am Anfang der kurzen, höchst einflussreichen Periode der klassisch-griechischen Philosophie. Er selbst hinterließ keine Texte, seine Ideen aber prägten die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens. Sein Schüler Platon gründete eine Philosophenschule in Athen, die akademeia, dort lehrte er die Ideen seines Meisters und entwickelte sie weiter. Einer seiner Schüler (und dann 20 Jahre Lehrer an der Akademie) war Aristoteles. Die Ideen und Methoden dieser großen Denker – Sokrates, Platon und Aristoteles – schufen die Grundlage des abendländischen Denkens. Ihre Meinungsverschiedenheiten prägen die Philosophie bis heute.
Die klassische Periode der griechischen Antike endete mit dem Tod Alexanders des Großen 323 v. Chr. Als das Reich, zu dem er Griechenland vereint hatte, wieder zerfiel und die Stadtstaaten erneut zu Rivalen wurden, zerfiel auch die Philosophie in diverse Schulen: Zyniker, Skeptiker, Epikuräer und Stoiker vertraten je eigene Positionen.
Mit dem Aufstieg Roms zum Weltreich verblasste die griechische Kultur. Für das römische Denken wurde vor allem die Stoa wichtig. Die anderen Ideen der griechischen Philosophie erhielten sich in Alexandria und im Vorderen Orient, später in Übersetzungen der arabisch-muslimischen Welt. Von dort fanden sie zu Beginn des Mittelalters Eingang ins jüdisch-christliche Denken.
Auch Denker in Asien stellten das mythisch überlieferte Wissen in Frage. In China entwickelte sich die Philosophie vor dem Hintergrund politischer Unruhen, in der Zeit der Streitenden Reiche, 771–481 v. Chr. Gefragt wurde weniger nach der Natur des Kosmos als nach der bestmöglichen Organisation von Gesellschaft und Staat, nach moralischen Regeln, an denen sich das Handeln der Menschen orientieren konnte. So blühten »Hundert Schulen« des Denkens, als deren bedeutendste sich Konfuzianismus und Daoismus erwiesen, die das chinesische Denken bis ins 20. Jahrhundert geprägt haben.
In Südchina kam die Lehre eines ähnlich einflussreichen Philosophen auf: Siddhartha Gautama, der spätere Buddha. Um 500 v. Chr. war er lehrend durch Nordindien gezogen und von dort verbreitete sich seine Philosophie über den Subkontinent und nach Südasien, wo der Buddhismus bis heute praktiziert wird.
IM KONTEXT
DISZIPLIN
Metaphysik
LEHRE
Monismus
FRÜHER
2500–900 v. Chr. Die minoische Kultur auf Kreta und die mykenische in Griechenland erklären natürliche Phänomene mythisch-religiös.
um 1100 v. Chr. Der babylonische Schöpfungsmythos Enûma Elîš beschreibt den Urzustand der Erde als wässerige Masse.
um 700 v. Chr. Die Theogonie, Hesoids Lehrgedicht, erzählt von der Weltschöpfung durch die Götter.
SPÄTER
Anfang 5. Jh. v. Chr. Empedokles benennt die vier Elemente des Kosmos: Erde, Wasser, Feuer, Luft.
um 400 v. Chr. Leukipp und Demokrit sind der Ansicht, dass der Kosmos aus Atomen und leerem Raum besteht.
Aus Beobachtungen schloss Thales, dass nicht die Anrufung von Göttern, sondern Wetterverhältnisse für eine gute Ernte sorgen. Er soll in Erwartung einer guten Olivenernte die lokalen Olivenpressen aufgekauft und sie, als der Bedarf tatsächlich stieg, profitabel vermietet haben.
Während der archaischen Periode (Mitte 8.–6. Jh. v. Chr.) gründeten die Völker auf der griechischen Halbinsel Stadtstaaten, entwickelten ein Buchstabenalphabet und schufen die Grundlagen der späteren abendländischen Philosophie. In älteren Kulturen wurde die Welt mythisch erklärt: durch das Wirken übernatürlicher Kräfte (Götter oder Geister). Den Bewohnern der Stadtstaaten, die Handel trieben und ihren Wirkungskreis erweiterten, genügte dies nicht, sie suchten natürliche, rationale Erklärungen.
Der erste dieser Denker, dessen Namen wir kennen, war Thales von Milet. Er hinterließ keine Schriften, verfügte Überlieferungen zufolge aber über große Kenntnisse im Bereich der Geometrie und Astronomie und soll die Sonnenfinsternis von 585 v. Chr. vorausgesagt haben. Dieser praktische Erfolg bestärkte ihn in der Annahme, dass alle Ereignisse in der Welt natürliche Ursachen haben müssen. Um sie zu erkennen, sollten Beobachtung und rationales Denken ausreichen.
Um das zu beweisen, musste Thales ein erstes Prinzip, den Ausgangspunkt, begründen. Also fragte er: »Was ist der Urstoff des Kosmos?« Wenn er alles Wirkliche auf eine einzige Substanz zurückführen konnte, hatte er den Urgrund alles Seins erfasst – eine Vorstellung, die man Monismus (von griech. mónos, allein) nennt: Tatsächlich haben Thales und seine Anhänger den Götterhimmel entrümpelt und die Welt auf ein Prinzip zurückgeführt. Urstoff konnte nur etwas sein, aus dem sich alles andere formen lässt, ohne das kein Leben möglich ist, das sich bewegen und darum auch ändern kann. Aus Naturbeobachtungen wusste er, dass ohne Wasser kein Leben möglich ist, dass es sich bewegt und verwandelt – es existiert in fester, flüssiger und in Gasform. Daraus schloss Thales, dass alle Materie, gleich in welcher äußeren Erscheinungsform, Wasser in bestimmter Transformation sein muss. Außerdem ende jede Landmasse irgendwo an einer Küstenlinie, also schloss er, dass die Erde, aus Wasser hervorgegangen, auf diesem schwimmt »wie ein Stück Holz«. Wenn etwas auf diesem Wasser Wellen verursacht, so Thales, erleben wir das als Erdbeben.
Doch nicht dank solcher Einzelheiten gilt Thales als große Gestalt der Philosophiegeschichte, sondern weil er der Erste war, der systematisch versucht hat, die Vielfalt der natürlichen Erscheinungen auf ein rational erfassbares Prinzip zurückzuführen. Kein Objekt oder Ereignis sollte von den Launen der Götter abhängen. Auch insofern sind die Philosophen der Milesischen Schule die ersten Philosophen und Begründer des abendländischwissenschaftlichen Denkens.
Thales von Milet
Thales wurde in der Hafenstadt Milet (in der heutigen Türkei) geboren und lebte dort. Viel mehr wissen wir nicht über ihn. Von ihm sind auch keine Schriften überliefert. Seinen Ruhm als einer der ersten frühen griechischen Philosophen verdankt er seiner ausführlichen Erwähnung bei Aristoteles und Diogenes Laertius, dem Biographen der antiken griechischen Philosophen.
In Anekdoten ist überliefert, dass der Philosoph auch als Politiker aktiv und vor allem als Geschäftsmann erfolgreich war. Er reiste viel im östlichen Mittelmeerraum. Man nimmt an, dass er in Ägypten die empirisch gefundenen Regeln zur Feldvermessung kennenlernte und so den Grund der theoretischen Geometrie legen konnte, wie überhaupt die Geometrie zur Basis seines deduktiven Denkens wurde.
Vor allem aber war Thales Lehrer, der erste der Milesischen Schule. Sein Schüler Anaximander erweiterte seine Theorien, wurde seinerseits Mentor von Anaximenes, der sein Wissen wiederum an den jungen Pythagoras weitergegeben haben soll.
IM KONTEXT
TRADITION
Chinesische Philosophie
LEHRE
Daoismus
FRÜHER
1600–1046 v. Chr. Die Menschen der Shang-Dynastie glaubten, Götter bestimmten das Schicksal. Sie verehrten die Ahnen als Mittler.
1045–256 v. Chr. Die Herrscher der Zhou-Dynastie begründeten ihre Macht mit dem Mandat des Himmels.
SPÄTER
5. Jh. v. Chr. Konfuzius formuliert die Regeln für die persönliche Entwicklung und eine moralische Regierung.
4. Jh. v. Chr. Der Philosoph Zhuangzi lenkt die Lehre des Daoismus weg vom Handeln des Staats auf das des Einzelnen.
3. Jh. n. Chr. Die Gelehrten Wang Bi und Guo Xiang schaffen eine Neue Schule des Daoismus.
Im 6. Jahrhundert v. Chr., mit dem Niedergang der nördlichen Zhou-Dynastie, begann in China eine Zeit innerer Kriege. An den Höfen entstand eine Klasse von Verwaltern und Beamten, die versuchten, neue Regeln der Staatsführung zu entwickeln. Die Menge ihrer Ideen und Theorien nennt man die »Hundert Schulen«.
Zeitlich fiel dies mit der Entstehung der griechischen Philosophie zusammen. Beide Entwicklungen teilen Motive – wie die Suche nach Beständigkeit in einer sich ändernden Welt und nach Alternativen zu den Regeln und Vorschriften der Religion. Doch die chinesische Philosophie, die im Kontext praktischer Politik entstand, befasste sich eher mit Fragen der Moral und des guten Lebens. Die bedeutendsten Ideen dieser Zeit finden sich im Daodejing (»Das Buch vom Dao und vom De«), das Laotse zugeschrieben wird. Es ist einer der ersten Versuche, eine Theorie gerechter Herrschaft zu entwickeln, die auf de (der Tugend) gründet und die man findet, wenn man dao (dem Weg) folgt.
Leben im Einklang mit der Natur ist ein Weg, den das Daodejing vorschreibt. Der Fischer auf seinem Kahn sollte das ökologische Gleichgewicht beachten und den See nicht überfischen.
Um zu erfassen, was mit dao gemeint ist, muss man wissen, wie die alten Chinesen die sich stets wandelnde Welt wahrnahmen. Wandel sahen sie zyklisch, als immerwährenden Übergang von einem Zustand in einen anderen, so wie vom Tag zur Nacht oder vom Sommer zum Winter. Dabei galten die verschiedenen Zustände nicht als Gegensätze, sondern als miteinander verbunden, das eine aus dem anderen hervorgehend. Ihre komplementären Eigenschaften machen erst zusammen ein Ganzes aus. Der Prozess des Wandels ist eine Erscheinungsweise des dao und führt zu den 10 000 Erscheinungen, aus denen die Welt besteht. Die Menschen, heißt es im Daodejing, sind eine dieser Erscheinungen und haben keinen besonderen Status. Wegen unseres Begehrens und des freien Willens können wir vom dao »abirren« und den Einklang der Welt stören. Ein tugendhaftes Leben führen heißt im Einklang mit dem dao handeln.
»Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist weise.«
LaotseDaodejing
Das allerdings ist nicht einfach. Über das dao zu philosophieren, ist sinnlos, denn es übersteigt alles menschliche Begreifen. Weil es durch wu (etwa: das Nichtsein) bestimmt ist, können wir nur durch wu wei im Einklang mit dao leben, durch Nichteingreifen. Nicht Passivität ist damit gemeint, sondern Handeln in Einklang mit der Natur; spontanes und intuitives Handeln, das nicht bestimmt ist durch Begehren, Absicht oder gesellschaftliche Konventionen.
Laotse
Man nimmt an, dass Laotse das Daodejing verfasst hat. Wir wissen aber so wenig über den Autor, dass er darüber zu einer fast mythischen Figur wurde. Manche glauben, das Buch sei vielmehr eine Sammlung von Lehrsprüchen vieler Gelehrter. Gesichert ist allerdings, dass es eine Geistesgröße namens Li Er oder Lao Tan gab, der zur Zeit der Zhou im Staat Chu geboren und später als Laotse oder Alter Meister bekannt wurde. Einige Texte geben Hinweise, dass er als Archivar am Hof der Zhou arbeitete und dass Konfuzius ihn, wenn es um Riten und Zeremonien ging, um Rat fragte. Der Legende nach hat Laotse mit dem Niedergang der Zhou den Hof verlassen und ist auf der Suche nach Einsamkeit in den Westen gereist. An der Grenze soll ihn einer der Posten erkannt und um die Niederschrift seines Wissens gebeten haben – so sei das Daodejing entstanden. Laotse setzte seine Reise fort und ward nie wieder gesehen.
Hauptwerke
um 6. Jh. v. Chr.
Daodejing (Tao Te King)
IM KONTEXT
DISZIPLIN
Metaphysik
LEHRE
Pythagoreismus
FRÜHER
6. Jh. v. Chr. Thales sucht eine nichtreligiöse Erklärung des Kosmos.
SPÄTER
um 535–475 v. Chr. Veränderung, so Heraklit, bestimmt den Kosmos. Er kritisiert damit die pythagoreische Lehre.
um 428 v. Chr. Platon entwickelt den Begriff der Ideen, die nur durch Vernunft, nicht durch die Sinne zu erfassen sind.
um 300 v. Chr. Der griechische Mathematiker Euklid beweist die Prinzipien der Geometrie.
1619 Der Mathematiker Johannes Kepler beschreibt das Verhältnis von Geometrie und physischen Phänomenen.
Als Pythagoras geboren wurde, war die abendländische Philosophie im Entstehen – nur eine Generation zuvor hatte eine Gruppe junger Philosophen in Milet begonnen, Naturereignisse rational zu erklären. Pythagoras, der seine Jugend nicht weit von Milet verbrachte, könnte die Milesische Schule gekannt, sogar dort studiert haben. Wie Thales, der Begründer dieser Schule, soll auch Pythagoras die Anfangsgründe der Geometrie in Ägypten kennengelernt haben. Dann wäre nicht erstaunlich, dass er sich dem philosophischen Denken auf wissenschaftlichmathematische Weise näherte.
Doch Pythagoras war zugleich tief religiös und abergläubisch, glaubte an Wiedergeburt und Seelenwanderung und begründete in Kroton einen religiösen Kult, in dem er so etwas wie die Rolle eines Messias übernahm. Seine Schüler lebten in einer Art Kommune nach strengen Verhaltens- und Ernährungsregeln und studierten religiöse und philosophische Theorien. Die Pythagoreer, wie seine Schüler genannt wurden, betrachteten seine Ideen als mystische Offenbarungen, wobei einige der ihm zugeschriebenen Erkenntnisse auch von seinen Anhängern selbst stammen können. Jedenfalls zeichneten sie die Ideen des Meisters auf, woran auch seine Frau Theano von Kroton und seine Töchter mitgewirkt haben sollen.
Im Grunde sind die beiden Seiten seiner Überzeugungen, die mystische und die wissenschaftliche, unvereinbar, Pythagoras selbst hat den Widerspruch aber nicht erkannt. Als Ziel des Lebens sah er die Befreiung von der Wiedergeburt an, sie sei, so glaubte er, nur durch ein an strengen Regeln orientiertes Leben zu erreichen, zu dem auch Kontemplation gehörte, für Pythagoras die Schau des Kosmos durch strikt wissenschaftliches Denken. Die Wahrheiten, die er in Geometrie und Mathematik fand, betrachtete er als gottgegeben, seine mathematischen Beweise als göttliche Offenbarungen.
Der Satz des Pythagoras zeigt, dass Formen und Verhältnisse von Prinzipien bestimmt werden. Es erschien also prinzipiell möglich, die Struktur des gesamten Kosmos herauszuarbeiten.
Insofern diese mathematischen Entdeckungen Resultate reinen Denkens waren, erschienen sie ihm bedeutsamer als sinnliche Beobachtungen. So hatten die Ägypter entdeckt, dass ein Dreieck mit einem Seitenverhältnis von 3 : 4 : 5 stets einen rechten Winkel enthält, eine etwa für Vermessung und Bauwesen nützliche Erkenntnis. Pythagoras nun entdeckte das dem zugrunde liegende Gesetz: Bei allen rechtwinkligen Dreiecken ist das Quadrat über der Hypotenuse gleich der Summe der Kathetenquadrate. Und er konnte dessen universelle Geltung beweisen. Diese beeindruckende Entdeckung verstanden die Pythagoreer als göttliche Offenbarung.
Pythagoras schloss weiter, dass der gesamte Kosmos von mathematischen Gesetzen bestimmt sein müsse. Mithilfe der Zahl (also Zahlenverhältnissen und mathematischen Axiomen), so dachte er, könne man die Grundstruktur des Kosmos erklären. Die Vorstellung der Milesier, nach der das Universum aus einer Ursubstanz aufgebaut sei, verwarf er nicht völlig, doch verlagerte er die Untersuchung von der Substanz auf die (abstraktere) Form.
Das war eine so tiefgreifende Neuorientierung der Weltbetrachtung, dass wir Pythagoras und seinen Schülern ihre obsessive Beschäftigung mit mystischen Zahlenbedeutungen nachsehen sollten. Sie waren es, die als erste das Verhältnis von Geometrie und Zahlen erkundet und dabei entdeckt haben, was wir heute Quadrat- und Kubikzahlen nennen. Zugleich haben sie den Zahlen auch qualitative Eigenschaften zugeschrieben, die geraden Zahlen als »gut« betrachtet, ungerade als »böse«, die Zahl 4 stand ihnen für Gerechtigkeit. Die Zahl 10, dargestellt als »Tertraktys« (Vierheit: die »10« als Summe der vier ersten Zahlen 1, 2, 3 und 4, dargestellt als gleichseitiges Dreieck der übereinander angeordneten Zählpunkte) hat für pythagoreische Rituale besondere Beutung: »1« – die Spitze – war der Punkt, aus dem alles entstehen konnte, »2« stellt die Linie dar, »3« bestimmt die Ebene, »4« die Basis, einen festen Körper.
»Es ist Geometrie im Summen der Saiten, Musik im Zwischenraum der Sphären.«
Pythagoras
So folgt die pythagoreische Erklärung der Weltschöpfung einem mathematischen Muster: Dem Unbegrenzten (dem Unbestimmten, das vor dem Universum existierte) habe Gott eine Begrenzung auferlegt, sodass alles Existierende eine bestimmte Größe erhielt. Damit habe der Schöpfergott eine messbare Einheit geschaffen, aus der alles andere entstehen konnte.
Pythagoras’ wichtigste Untersuchungen galten den Zahlenverhältnisse, sie nahmen ihren Ausgangspunkt in Untersuchungen zur Musik, insbesondere der Verhältnisse zwischen Tönen, die angenehm zusammenklingen. Man erzählt, er sei darauf gestoßen, als er Schmieden bei der Arbeit zuhörte. Einer habe an einem Amboss gearbeitet, der halb so groß gewesen sei wie ein anderer, und die Töne, die bei Hammerschlägen auf beide entstanden, hätten genau eine Oktave auseinander gelegen. Wahrscheinlicher ist, dass Pythagoras die Zahlenverhältnisse von konsonanten, harmonisch klingenden Intervallen an gezupften Saiten des Monochords erforscht hat. Jedenfalls entdeckte er, dass Intervalle immer dann harmonisch klingen, wenn zwischen den Einzeltönen glatte Zahlenverhältnisse bestehen. Dies, heute als harmonische Reihe bezeichnet, bestätigte ihn in der Überzeugung, dass die Eleganz der Mathematik, die er in der Geometrie entdeckt hatte, auch in der natürlichen Welt herrscht.
Pythagoras hat damit nicht nur nachgewiesen, dass man die Struktur des Kosmos in mathematischen Begriffen darstellen kann – »die Zahl ist Herrscher der Formen« – sondern auch, dass die Akustik eine exakte Wissenschaft ist, in der Zahlen die Harmonien bestimmen. Nun machte er sich daran, seine Theorien auf den ganzen Kosmos auszudehnen und harmonische Beziehungen auch zwischen Sternen, Planeten und Elementen zu demonstrieren. Seine Vorstellung von harmonischen Verhältnissen zwischen den Sternen wurde von Astronomen in Mittelalter und Renaissance begeistert aufgenommen, sie entwickelten ganze Theorien um die Sphärenharmonien. Auch seine Vorstellung einer harmonischen Anordnung der Elemente wurde später wiederentdeckt. Der englische Chemiker Newlands fand 1865 heraus, dass bei Ordnung der Elemente nach steigendem Atomgewicht an jeder achten Stelle solche mit ähnlichen Eigenschaften auftauchen, wie bei den Noten der Musik. Dieses »Gesetz der Oktaven« stützte Newlands’ Entwicklung des Periodensystems der Elemente.
Einer von Pythagoras’ wichtigsten Beiträgen zur Entwicklung der Philosophie war seine Behauptung, dass abstraktes Denken der sinnlichen Evidenz überlegen ist. Platon hat dies mit seiner Ideenlehre aufgegriffen. Erneut wirksam wurde es in den Methoden des Rationalismus im 17. Jahrhundert. Mit dem pythagoreischen Versuch, das Rationale mit dem Religiös-Mythischen zu verbinden, beginnt die Auseinandersetzung mit einem Problem, an dem sich Philosophie und Religion bis heute abarbeiten.
»Vernunft ist unsterblich, alles andere sterblich.«
Pythagoras
Fast alles, was wir über Pythagoras wissen, stammt aus zweiter Hand. Gleichwohl haben die ihm zugeschriebenen Ideen nahezu legendären Status gewonnen (woran seine Schule selbst bereits mitgewirkt hat). Ob er tatsächlich ihr Urheber war, ist nicht entscheidend, in jedem Fall beeinflussten sie das philosophische Denken nachhaltig.
Die klassische Architektur folgt den von Pythagoras erkannten Maßverhältnissen. Durchweg werden harmonische Formen und Verhältnisse verwendet, im Kleinen wie im Großen.
Pythagoras
Wenig ist über Pythagoras’ Leben bekannt, er hat keine Schriften hinterlassen und wie der griechische Philosoph Porphyrios in seiner Vita Pythagorae schreibt, »weiß niemand, was Pythagoras seinen Anhängern sagte, denn sie bewahrten ein ungewöhnliches Stillschweigen«. Heute geht man davon aus, dass er wahrscheinlich auf Samos geboren wurde, vor der Küste der heutigen Türkei. Als junger Mann ist er viel gereist, vermutlich studierte er bei den Milesiern, besuchte Ägypten, das damalige Zentrum der Gelehrsamkeit. Im Alter von 40 Jahren gründete er in Kroton (Süditalien) eine Schule mit rund 300 Mitgliedern, die zum Zentrum eines Kults mit mystischen Zügen wurde. Es gab kollektive Strukturen, an der Spitze aber stand eindeutig Pythagoras, ein großer Redner. Mit 60 soll er die viel jüngere Theano von Kroton geheiratet haben.
Spannungen zwischen den Pythagoreern und der Gemeinde Kroton zwangen Pythagoras nach Metapontum (Süditalien) zu fliehen, wo er bald darauf starb. Bis Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. löste sich die von ihm gestiftete Gemeinschaft auf.
IM KONTEXT
TRADITION
Östliche Philosophie
LEHRE
Buddhismus
FRÜHER
um 1500 v. Chr. Der Vedismus erreicht den indischen Subkontinent.
10.–5. Jh. v. Chr. Der Brahmanismus verdrängt vedische Kulte.
SPÄTER
3. Jh. v. Chr. Der Buddhismus verbreitet sich aus dem Gangestal nach Westen.
1. Jh. v. Chr. Siddhartha Gautamas Lehren werden niedergeschrieben.
1. Jh. Der Buddhismus verbreitet sich bis China und Südostasien, wodurch sich regional unterschiedliche Schulen entwickeln.
Siddhartha Gautama, später der Buddha, »der Erwachte«, genannt, lebte zu einer Zeit, in der in Indien religiöse und mythische Erzählungen in Frage gestellt wurden. Gleichzeitig untersuchten Denker in Griechenland wie Pythagoras den Kosmos mithilfe der Vernunft. In China versuchten Laotse und Konfuzius, die Moral ohne die Religion zu begründen. Auf dem indischen Subkontinent herrschte im 6. Jahrhundert v. Chr. als Glaube der Brahmanismus vor. Er baute auf alten vedischen Texten und Kulten auf. Siddhartha Gautama hat dessen Lehren als Erster mit philosophischen Argumenten hinterfragt. Er wird von den Buddhisten wegen seiner Weisheit verehrt und war weder Messias noch Prophet, agierte auch nicht als Medium zwischen Göttern und Menschen. Seine Ideen empfing er nicht als Offenbarung, er entwickelte sie durch Nachdenken. Insofern ist der Buddhismus Philosophie und Religion. Seine Methode ist philosophisch, ebenso das Ziel: die Suche nach Wahrheit.
Gautama bestand darauf, dass seine Lehre jedem Menschen zugänglich sei, allein durch die Vernunft. Wie die meisten östlichen Philosophen interessierte er sich nicht für die unbeantwortbaren Fragen der Metaphysik, wie sie die Griechen beschäftigten. Er hielt es für sinnlose Spekulation, sich mit Dingen jenseits der Erfahrung zu befassen. Ihm ging es darum, mit Vernunft das Ziel des Lebens zu erfassen. Voraussetzung dafür war die Klärung von Begriffen wie Glück, Tugend und »gutes Leben«.
In seiner Jugend lebte Gautama in Luxus. Erst als er die Welt des Adelshofs verließ, in der er aufwuchs, sah er das Leiden in der Welt, sah dessen Ursache in Krankheit, Alter und Tod, und darin, dass den Menschen fehlt, was sie brauchen. Er erkannte, dass sein bisheriges Leben zum wahren Glück nicht ausreichte. Sinnenfreuden, denen wir uns überlassen, um das Leiden zu vergessen oder zu mildern, bleiben meist unbefriedigend, Erleichterung bringen sie nur vorübergehend. Doch ebenso unbefriedigend empfand er die Erfahrungen strenger Askese: Sie lehre nichts über das Glück.
Der Buddha schnitt sich zum Zeichen seines Verzichts auf die materielle Welt die Haare ab. Seiner Lehre nach sind die Versuchungen der Welt die Quelle allen Leidens.
So kam Gautama zu der Erkenntnis, es müsse einen mittleren Pfad geben zwischen Maßlosigkeit und Selbstkasteiung. Dieser Pfad sollte zum Glück, zum »Erwachen« führen und um ihn zu finden, richtete er sein Denken auf seine eigenen Erfahrungen. Leiden, so erkannte er, ist universell, ein integraler Bestandteil des Lebens, und seine Quelle liegt in der Enttäuschung unserer Begierden und Erwartungen. Zu den Begierden, die uns binden, gehören nicht nur Sinnenlust und weltlicher Ehrgeiz, sondern auch der Grundinstinkt der Selbsterhaltung. Erfüllt man sich solche Wünsche, dann führt dies, wie Gautama sagt, bestenfalls zu flüchtiger Befriedigung, nicht aber zum Glück im Sinn von Zufriedenheit und Seelenfrieden.
Der nächste Gedankenschritt ist, so zeigte Gautama, dass man sich von Bindungen lösen muss, wenn man Enttäuschung verhindern und damit Leiden vermeiden will. Darin, dass wir uns von unseren Begierden lenken lassen, Erwartungen hegen und nicht davon lassen können, sah er die Hauptursache des Leidens, also auch in unserer Ichbezogenheit. Gautama fasst sie weiter als Suche nach Befriedigungen, als Selbstbezogenheit und Selbstliebe – als den großen Raum, den wir unserem »Ego« einräumen. Daraus folgt: Wenn wir uns von den Bindungen befreien wollen, die Leiden schaffen, müssen wir uns nicht nur von den Dingen lösen, die wir begehren, sondern auch unsere Bindung an das überwinden, was da aktiv begehrt: das Ich.
Doch wie ist das zu erreichen? Begehren, Ehrgeiz und Erwartung sind Teil unserer Natur und bilden für die meisten von uns auch den eigentlichen Lebensgrund. Wir müssen, so Gautamas Lösung, zu der Erkenntnis finden, dass die Welt des Ich illusorisch ist – und das ist eine Einsicht, die allein der Vernunft möglich ist. Nichts im Universum, so argumentiert er, ist durch sich selbst verursacht, alles ist Ergebnis vorangegangener Handlungen und wir alle sind nur flüchtige Elemente im ewigen Kreislauf, letztlich unbeständig und substanzlos. So betrachtet gibt es also kein Ich oder Selbst, das nicht Teil des größeren Ganzen – des Nicht-Ich – wäre. Also ist der einzige, der eigentliche Grund unseres Leidens, dass wir dies nicht erkennen. Es geht also nicht darum, unsere Existenz oder persönliche Identität aufzugeben, sondern darum, sie als das zu begreifen, was sie sind – flüchtig und ohne Substanz. Wir müssen begreifen, was es bedeutet, Teil des ewigen »Nicht-Ich« zu sein. Verabschieden wir uns von der Vorstellung, ein einzigartiges »Ich« zu sein, haben wir den Schlüssel zum (Er)Lösen von Bindungen und Leiden gefunden.
»Glaube nichts, ganz gleich, wo du es gelesen hast oder wer es gesagt hat – es sei denn, es entspricht deiner Vernunft.«
Siddhartha Gautama
Gautamas Denken, so wie es ihn von den Ursachen des Leidens zum Glück geführt hat, ist niedergelegt in der buddhistischen Lehre von den vier Edlen Wahrheiten: von der Universalität des Leidens, der Begierde als dessen Ursache, dem Vermeiden des Leidens durch Ausschalten der Begierde und dem Achtfachen Pfad, durch den dies gelingen kann. Diese letzte Wahrheit ist auch als eine Art Leitfaden zum »mittleren Weg« zu verstehen, den Gautama für seine Anhänger als den Weg zum Erwachen beschrieben hat. Der Edle Achtfache Pfad – rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechtes Sich-Versenken – ist im Grunde ein ethischer Kodex, die Regel für ein gutes Leben und das Glück, das Gautama suchte.
»Frieden kommt von innen. Suche ihn nicht im Äußeren.«
Siddhartha Gautama
Ziel des Erdenlebens ist nach Gautama, samsara zu beenden, den Kreislauf des Leidens (Geburt, Tod, Wiedergeburt), in den wir hineingeboren werden. Dem Achtfachen Pfad folgend kann jeder Mensch sein Ego überwinden und ein Leben ohne Leiden führen, kann als Erwachter den Schmerz der Wiedergeburt in ein anderes Leben vermeiden. Denn wer erwacht, erkennt den eigenen Platz im »Nicht-Ich«, hat damit den Status des Nirvana erreicht, das unterschiedlich übersetzt wird, als Nichtbindung, Nichtsein, als Erlöschen oder Verwehen (wie eine Kerze).
Im Brahmanismus zu Gautamas Zeit, auch im späteren Hinduismus wurde Nirvana begriffen als Einswerden mit Gott. Gautama dagegen vermeidet jede Erwähnung einer Gottheit oder eines höchsten Lebenszwecks. Nirvana wird nur beschrieben – ungeboren, ungeschaffen und ungeformt, übersteigt es jede sinnliche Erfahrung. Es ist kein Ort (auch kein »Jenseits«), sondern ein Zustand, nach Überwindung aller Leid stiftenden Vorstellungen und Wunschgestalten.
»Der Geist ist alles. Was du denkst, wirst du auch erlangen.«
Siddhartha Gautama
Gautama ist nach seinem Erwachen viele Jahre predigend und lehrend durch Indien gewandert und gewann eine beträchtliche Anhängerschaft. Der Buddhismus wurde anerkannt als bedeutende Religion und Philosophie. Seine Lehren wurden erst mündlich tradiert, dann, im 1. Jahrhundert n. Chr., niedergeschrieben. Als sich die Lehre in Indien und dann nach China und Südostasien verbreitete, entstanden, auch in Auseinandersetzung mit Daoismus und Konfuzianismus, verschiedene Schulen.
Im 3. Jahrhundert v. Chr. erreichten Gautamas Lehren sogar Griechenland, gewannen dort aber wenig Einfluss. Gleichwohl bestanden Ähnlichkeiten zur griechischen Philosophie, nicht zuletzt im Hinblick auf Gautamas Betonung des vernünftigen Denkens und im Gebrauch der Dialogform, mit der seine Schüler seine Lehren erläuterten. Seine Gedanken fanden ein Echo auch in späteren Vorstellungen abendländischer Philosophen, etwa in Humes Konzept des Selbst oder in Schopenhauers Ansichten zur Condition humaine. Erst im 20. Jahrhundert gewann der Buddhismus direkten Einfluss auf das westliche Denken, seither finden immer mehr Menschen aus westlichen Gesellschaften im Buddhismus Orientierung für ihr Leben.
Das Rad des Dharma, eines der ältesten buddhistischen Symbole, zeigt den Achtfachen Pfad zum Nirvana. Im Buddhismus bezieht sich das Wort dharma auf die Lehren des Buddha.
Siddhartha Gautama
Fast alles, was wir über Siddhartha Gautamas Leben wissen, stammt aus Biographien, die seine Anhänger Jahrhunderte nach seinem Tod verfasst haben und die sehr voneinander abweichen. Sicher ist, dass er um 560 v. Chr. in Lumbini (heutiges Nepal) geboren wurde. Sein Vater war ein lokaler Herrscher oder Klanoberhaupt, sodass Gautama in Reichtum und privilegiert aufwuchs. Als er das wirkliche Leben und Leiden kennenlernte, verließ er Hof, Weib und Sohn und suchte einen spirituellen Pfad, die Mitte zwischen sinnlichen Freuden und Askese. Erleuchtung widerfuhr ihm unter dem »Bodhi-Baum«, Begierde und Unwissenheit fielen ab von ihm, er war »erwacht«, ein Buddha. So durchwanderte er Indien und predigte. 400 Jahre wurden seine Lehren mündlich tradiert, dann von seinen Anhängern in Pali im Werk Tipitaka (Drei Körbe) niedergeschrieben.
Hauptwerke
1. Jh. n. Chr.
Tipitaka enthält: Vinayapitaka, Sutta-pitaka, Abhidhamma-pitaka
IM KONTEXT
TRADITION
Chinesische Philosophie
LEHRE
Konfuzianismus
FRÜHER
7. Jh. v. Chr. Zeit der Hundert Schulen
6. Jh. v. Chr. Laotse lehrt Handeln im Einklang mit dem Dao.
SPÄTER
um 470–380 v. Chr. Der chinesische Philosoph Mozi kritisiert konfuzianische Ideen.
372–289 v. Chr. Wiederbelebung des Konfuzianismus durch den Philosophen Meng Zi.
221–202 v. Chr. Qin-Dynastie unterdrückt Konfuzianismus.
136 v. Chr. Die Han-Dynastie führt Beamtenprüfungen ein, die auf konfuzianischen Texten basieren.
9. Jh. n. Chr. Konfuzianismus wird als Neokonfuzianismus neu belebt.
Von 770 bis 220 v. Chr. durchlief China große Umbrüche und kulturelle Veränderungen, philosophisch gespiegelt in den praktisch orientierten »Hundert Schulen« des Denkens. Mit dem Zerfall der Zhou-Dynastie ging die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen über in jene der Streitenden Reiche (476–221 v. Chr.). In diese Zeit der Unruhen wurde Kong Fuzi, latinisiert Konfuzius, geboren. Umbruch herrschte auch in Griechenland, und wie dort Thales, Pythagoras oder Heraklit, suchte auch Konfuzius nach dem Bleibenden in einer erschütterten Welt. Für ihn konnten dies nur moralische Werte sein, die Grundlage eines gerechten Regierens.
Anders als die Hundert Schulen suchte Konfuzius Inspiration in der Vergangenheit. Er war ein konservativer Mensch mit großem Respekt vor traditionellen Riten und der Ahnenverehrung. Beides war im alten China auch insofern bedeutsam, als Könige und Fürsten ihre Autorität aus einem Mandat der Götter zogen. Die Gesellschaft war strikt hierarchisch organisiert, Konfuzius allerdings gehörte zu einer neuen Klasse von Gelehrten, die an den Adelshöfen als Berater wirkten. Ihr Status war nicht erblich, sondern wurde durch Verdienste erworben. Indem Konfuzius diese neue Meritokratie mit den alten Idealen verband, entstand eine Moralphilosophie, die – wie Sokrates in Athen – den Einzelnen und sein Tun in den Blick nahm.
»Der Edle tut, was seiner Stellung angemessen ist; er begehrt nicht, darüber hinauszugehen.«
Konfuzius
Hauptquelle für die Lehren des Konfuzius sind die Analekten oder Lehrgespräche – chinesisch Lunyu –, Fragmente, die seine Schüler gesammelt haben. Es ist eine vornehmlich politische Abhandlung, realisiert in Aphorismen und Anekdoten, die zusammen eine Art Regelwerk für gerechtes Regieren ergeben. Doch wenn Konfuzius, um einen tugendhaften Mann zu bezeichnen, das Wort junzi (Edelmann) benutzt, zeigt dies, dass es ihm nicht nur um den Staat, sondern auch um das gesellschaftliche Leben ging. Über weite Strecken lesen sich die Analekten tatsächlich wie ein Benimmbuch. Gleichwohl sind sie mehr als eine politischsoziale Abhandlung: Im Zentrum steht eine ausgearbeitete Ethik.
Vor der Zeit der Hundert Schulen wurde die Welt auch in China mythisch-religiös erklärt. Macht und moralische Autorität galten als von den Göttern gegeben. Zu diesen äußert Konfuzius sich nicht, nur auf tian bezieht er sich, den Himmel als Quelle der moralischen Ordnung. Den Menschen sieht er als Stellvertreter, vom Himmel dazu erwählt, dessen Willen umzusetzen und die Welt mit der moralischen Ordnung in Einklang zu bringen – eine Denkfigur, die der chinesischen Tradition entspringt. Mit ihr bricht Konfuzius jedoch dort, wo er sagt, dass de – die Tugend – nichts ist, was der Himmel den herrschenden Klassen schickt, sondern etwas, das Menschen (und zwar alle) erwerben und pflegen müssen. Selbst zum Minister am Hof der Zhou aufgestiegen, glaubte Konfuzius, nicht nur die Herrschenden, sondern auch die Mittelklasse hätten die Pflicht, sich um Tugend und Mitmenschlichkeit – ren – zu bemühen. Nur so entstehe eine stabile und gerechte Gesellschaft.
Um die Tatsache, dass die Gesellschaft ein rigides Klassensystem war, mit seiner Überzeugung zu vereinen, alle Menschen könnten die Segnungen des himmlischen Mandats empfangen, betrachtet Konfuzius nicht nur jene als tugendhaft, die an der Spitze einer Hierarchie stehen, sondern alle, die ihre Stellung in der Gesellschaft kennen und sich entsprechend verhalten. Im Einklang mit de zu handeln, ist möglich, wenn man sich an den traditionellen chinesischen Werten orientiert: an zhong, der Treue; an xiao, der kindlichen Pietät; an li, den Riten, und shu, der Wechselseitigkeit. Wer sich, gleich in welcher Stellung, aufrichtig um diese Werte bemüht, wird junzi, zum Edlen, einem Menschen mit Anstand, Bildung und guten Manieren.
Die Werte des de hatten sich in der herrschenden Klasse herausgebildet, in der zerfallenden Welt der Zhou-Dynastie aber waren sie zu leeren Gesten geworden. Konfuzius versuchte, die Regenten zurück auf den Weg der von de bestimmten Werte zu bringen. Dabei vertraute er auch auf die Macht vorbildlicher Menschlichkeit: Wer nicht durch Furcht, sondern durch ein gutes Vorbild regiere, werde die Menschen anregen, ein ähnlich tugendhaftes Leben zu führen. Und das gilt in allen menschlichen Beziehungen.
Wenn er diese Beziehungen untersucht, macht Konfuzius zhong – die Treue – zum leitenden Prinzip. Er beginnt bei der Treue eines Ministers zu seinem Fürsten, um die Treue zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder und zwischen Freunden zu untersuchen. Die Reihenfolge, die Konfuzius aufstellt, ist bezeichnend: von der politischen Loyalität zu der in Familie und Klan bis zu der gegenüber Freunden und Fremden. Eine Hierarchie, in der Konfuzius die Forderung erkannte, dass jede Person ihre Stellung im Ganzen der Gesellschaft kennen sollte, ebenso wie ihren Platz in Familie und Klan.
Dieses Seine-Stellung-Kennen äußert sich in xiao – der kindlichen Pietät, die für Konfuzius viel mehr ist als Ehrfurcht vor den Eltern. An dieser Stelle kommen die Analekten religiösen Vorstellungen am nächsten: Xiao ist verbunden mit traditionellen Praktiken des Ahnenkults. Vor allem aber stärkt es die Beziehung des Schwächeren zum Überlegenen, ein für Konfuzius zentraler Gedanke.
Am konservativsten ist Konfuzius im Beharren auf li – dem angemessenen Ritual. Wobei sich li nicht nur auf die Riten des Ahnenkults bezieht, sondern auch auf gesellschaftliche Normen, die damals jeden Aspekt des Lebens in China regelten: auf Zeremonien wie Heirat, Bestattung und Opfer, auf die Etikette der Gastfreundschaft, des Schenkens und auch auf die schlichten Gesten der Höflichkeit wie Verbeugung und gehörige Anrede. Alles das betrachtet Konfuzius als äußere Zeichen des inneren de – allerdings nur wenn die Rituale aufrichtig vollzogen werden. Zeigt aber der Edle allen sichtbar und mit innerem Ernst seine Treue, kann er die Gesellschaft verändern.
Ritual und Tradition binden für Konfuzius den Einzelnen an die Gesellschaft. Wer seinen Platz in der Gesellschaft kennt, ist frei, junzi zu werden, ein Edler.
Beispielhaftes Leben, davon war Konfuzius überzeugt, ändert die Gesellschaft. So heißt es: »Aufrichtigkeit wird sichtbar und, sichtbar geworden, manifest. Manifestiert beginnt sie zu leuchten. Leuchtend beeinflusst sie andere. Diese, unter solchem Leuchten, verändern sich. Nur wer von vollständigster Aufrichtigkeit ist, die vor dem Himmel bestehen kann, kann verändern.« An dieser Stelle ist Konfuzius am wenigsten konservativ, hier betont er Veränderung. Sie kann auf zweierlei Art wirken. Das Konzept des zhong (der Treue) hat auch die Bedeutung »Achtung der anderen«. Man kann lernen, zum edlen Menschen zu werden, indem man zunächst erkennt, was man nicht weiß (eine Idee, die ein Jahrhundert später auch bei Sokrates auftaucht), und dann andere Menschen beobachtet. Zeigen sie wahre Tugend, versuche man ihnen gleich zu werden. Ist ihre Tugend gering, leite man sie.
»Was man weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lassen: Das ist Wissen.«
Konfuzius, Analekten
Zhong als das Achten der anderen ist verbunden mit dem letzten der konfuzianischen Werte des de, mit shu